Der Apfelbaum im Schnee - Bernd Saal - E-Book

Der Apfelbaum im Schnee E-Book

Bernd Saal

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Beschreibung

Manchmal braucht man eine kleine Geschichte, um lächeln zu können, um Hoffnung zu schöpfen oder sich mit Vergangenem auszusöhnen. Bernd Saal, Pfarrer aus Coburg, hat viele dieser Geschichten geschrieben und vorgelesen. Mit diesem Buch liegen einige seiner kleinen Erzählungen erstmals in gebundener Form vor. Es sind kurze Geschichten für ältere Menschen. Sie handeln vom Jungbleiben und Altwerden, eignen sich als kleine Einstimmung auf den Tag, vor allem aber als Vorlesegeschichten für Seniorengruppen. Angeordnet im Jahreskreis geht es um Blütenträume, Sommerfreuden, mildes Herbstlicht und frostigen Winter. Diese Geschichten sind Atempausen – ideal für eine Aktivierung zwischendurch und als Auftakt für Gespräche rund um die Dinge des Lebens.

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Seitenzahl: 158

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Titelei

Bernd Saal

Der Apfelbaum im Schnee

Vorlesebuch für Senioren

Heiter-besinnliche Kurzgeschichten

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN (EPUB) 978-3-8426-8490-4

ISBN der gedruckten Originalausgabe: 978-3-89993-300-0

ISBN des PDF-eBooks: 978-3-8426-8408-9

© 2012 Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannover

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle muss vom Verlag schriftlich genehmigt werden.

Alle Angaben erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Autoren und des Verlages. Für Änderungen und Fehler, die trotz der sorgfältigen Überprüfung aller Angaben nicht völlig auszuschließen sind, kann keinerlei Verantwortung oder Haftung übernommen werden.

Ein Markenzeichen kann warenrechtlich geschützt sein, ohne dass dieses be­­sonders gekennzeichnet wurde.

Umschlaggestaltung: Michael Fröhlich

Titelbilder: Volker Z; Kautz 15 – fotolia.com

Bildnachweis: Jahreszeitenbilder: photomic; Irina Fischer; R. Roulet; Dinadesign. Alle fotolia.com;

Porträt Bernd Saal: Norbert Pieschel

ePUB: PER Medien+Marketing GmbH, Braunschweig

Vorwort

Vorwort

Bernd Saal war ein ungewöhnlicher Mann, nachdenklich, oft unkonventionell, manchmal unbequem, aber immer auf der Seite der Menschen und der Menschlichkeit.

In seinem Beruf als Pfarrer in Coburg konnte er lange Jahre in seiner unnachahmlichen Art wirken und viele Menschen ein Stück ihres Lebens begleiten.

Dabei half ihm eine besondere Gabe: Er konnte Geschichten erzählen. Berührende Geschichten, die es verstehen, Saiten der Seele des Hörenden oder Lesenden zum Klingen zu bringen. Dabei ist alles offen. Niemals zwingt der Autor eine Deutung seiner Erzählungen auf.

Man kann die Geschichten lesen und sich dabei einfach an der Sprache oder den kräftigen Farben der Bilder freuen, man kann entspannen und einen Augenblick zur Ruhe kommen.

Man kann die Geschichten aber auch tief in sich sinken lassen, auf die feinen Töne achten, sie weiterdenken, dem Sinn für das eigene Leben nachspüren, ungewohnte Gedanken zulassen und sie mit hinein nehmen in das eigene Erleben.

Bernd Saal – ein ungewöhnlicher Mann mit einem weiten und auch weisen Blick auf das Leben.

Einige seiner Geschichten sind jetzt in diesem Band veröffentlicht.

Sie laden ein, selbst Erfahrungen zu sammeln mit diesen besonderen Erzählungen. Diese guten Erfahrungen wünsche ich allen, die dieses Buch in die Hand nehmen.

Gabriele Töpfer

Pfarrerin in Coburg

Frühling

Frühlingsträume

Der Frühling kündigte sich an, und er konnte sein Kommen spüren. Die Luft wehte mild. Die Vögel sangen fröhlich ihre Lieder. Die Erde roch würzig. Und überall: helles, lebendiges Grün. Er atmete durch, als er am Teich im Park entlangging. Die Enten quakten, die Schwäne schwammen – alles war in Bewegung. Ach, der lange und kalte Winter war endlich vorbei! Leben regte sich, und Leben berührte ihn.

In dieser Zeit wurden ihm immer besondere Träume geschenkt, mitten am Tag: Tagträume. Es war, als ob ein Engel sie ihm in die Augen streuen würde, und er ahnte dann, wie das Paradies sein könnte.

Im Sommer war das nicht der Fall. Da wogte alles hin und her, da breitete sich alles aus, da drängte alles zur Frucht. Im Herbst nahm er die Müdigkeit in allem wahr, nahm wahr, wie die Kraft nachließ, und wie alles bereit war, loszulassen. Und im Winter schien alles zu erstarren, und es schien ihm dann, als könnte nie etwas Lebendiges wieder wachsen. Doch nun war der Winter vorbei. Nun kündigte sich der Frühling an, und ihm wurden diese Träume geschenkt.

So stellte er sich dann das Paradies vor. Neu, wachsend, jung. Wie ein Garten, der aufblüht. Wie ein klarer Bach, der dahinplätschert. Mit frischem Grün und hellblauem Himmel. Alles war lebendig. In allem lag ein Lächeln. Alles war ursprünglich, schöpferisch, ja spielerisch.

Neben ihm schimmerte eine Gestalt auf, flüchtig und durchscheinend. In der Hand trug sie einen Adler aus Kristallglas. „Glaubst du“, sagte die Gestalt zu ihm, „wir sind nur auf den Frühling beschränkt?“

Er stand ein wenig erschrocken da. Er hatte noch nie erlebt, dass seine Tagträume lebendig wurden. Er zupfte sich am Ohr, um festzustellen, ob die Gestalt eine Einbildung war oder nicht. „Im ganzen Leben gibt es dieses Wundersame“, fuhr die Gestalt fort, „auch wenn alles älter wird und vergeht. Wer das Leben zulässt, bleibt jung. Wer es nicht einsperrt, durch den fließt es hindurch. Wer es nicht vergiftet, lässt die Frucht wachsen.“

„Aber“, er widersprach, „aber das Alter und die Krankheiten. Der Schmerz und die Einsamkeit. Das kannst du doch nicht übersehen.“

„Nein“, sagte die Gestalt neben ihm. „Wir übersehen das nicht. Wir nehmen es an. Auch der Bach muss sich durch die Felsen des Berges quälen. Auch die Blume muss die schwere Erde durchstoßen. Doch sie leben weiter. Im Fluss oder im Meer. In der Blüte oder im Duft. Wir leben alle weiter, nur anders. Und für manche ist der Weg schwer.“

„Wir leben weiter?“, fragte er zweifelnd. „Es ist doch nur die Erinnerung, in der wir leben.“

„Das meine ich nicht“, sagte die Gestalt. „Denn die Erinnerung ist nur vorübergehend. Du brauchst nur über die Friedhöfe zu gehen und die aufgelassenen Gräber zu betrachten. Nein, das meine ich nicht.“

„Und was meinst du dann?“, fragte er. „Vielleicht sind meine Träume ja nichts weiter als meine Wunschträume, nichts weiter. Und in dir verkörpern sie sich.“

Die Gestalt schaute ihn an. „In allem liegt eine Kraft, die erneuert“, sagte sie ruhig, „eine ursprüngliche, schöpferische Kraft. Sie verwandelt dich in etwas anderes. Und im anderen lebst du weiter. Siehst du den Adler in meiner Hand? Er ist ein Symbol für den Lebensweg. Hoch steigt er auf, der Sonne entgegen, und ihre Strahlen spiegeln sich in seinen Augen. Er strebt der Weite entgegen auf seinem mühsamen Weg durch die Zeit. So, wie wir alle es tun.“ Die Gestalt löste sich langsam auf und verschwand.

Er stand da und sah die Enten auf dem Teich und die Schwäne. Er roch das frische Grün und spürte, wie die Luft ihn sanft berührte. Alles war von Leben erfüllt, und alles ging auf neues Leben zu. Als er in seine Manteltasche langte, berührten seine Finger eine Figur. Es war der Adler aus Kristallglas.

Blütenblätter

Eine eigenartige Erwartung lag über allem. Die Bäume schauten in alle Himmelsrichtungen. Aber es war nichts zu sehen. Und sie flüsterten ihren Knospen zu: „Wartet noch, wartet noch, noch ist es nicht so weit!“ Doch die Erwartung war überall zu spüren.

Einige Blumen hatten es schon gewagt, ihre Blüten zu öffnen und sich vom sanften Wind wiegen zu lassen. Die Meisen zwitscherten und hüpften aufgeregt zwischen den Zweigen herum. Sogar eine Maus schaute neugierig aus ihrem Loch heraus. Alle warteten. Aber noch war niemand gekommen.

Bei den Kindern war es ähnlich. Sie kamen gerade von der Schule und stapften nach Hause. Sie hatten noch ihre Wintermäntel an, doch einige hatten die Handschuhe schon ausgezogen. Immer wieder schauten sie hinüber zum nahe gelegenen Wald. Sie spürten, dass die Bäume warteten, so als würde heute oder morgen jemand kommen in all seiner Pracht.

Als die Kinder nach Hause kamen, sahen sie, wie ihre Mütter die Wohnungen putzten. Was gab es da nicht alles zu tun! Die Böden mussten gewischt werden, die Teppiche geklopft und die Fenster gereinigt. „Warum macht ihr das?“, fragten die Kinder. „Das muss sein“, antworteten die Mütter. „Wenn er kommt, muss alles wieder ordentlich und sauber sein.“ „Wer soll denn kommen?“, fragten die Kinder. Die Mütter lachten: „Ein Prinz wird kommen, ein Prinz in all seiner Pracht.“ Und dann mussten die Kinder ihre Schulranzen ablegen und mithelfen, denn auch für Kinderhände gab es genug zu tun.

Als die kleine Gerda am Abend im Bett lag, fragte sie ihren Vater, der gerade von der nahe gelegenen Schreinerei gekommen war: „Die Mutter hat gesagt, wir warten auf einen Prinzen. Stimmt das? Kommt der Prinz aus der großen Hauptstadt wirklich zu uns? In seiner Kutsche, mit den vielen Reitern und mit der großen Fahne?“ Der Vater lächelte und sagte: „Es gibt auch andere Prinzen. Die brauchen keine Kutschen. Die reiten auf dem Wind daher, und in ihrer Hand halten sie ein großes Füllhorn voller Blumenblätter. Die werfen sie in die Luft, damit überall Blumen blühen. Und sie rufen den Bäumen zu: ‚Weckt eure Knospen auf!‘ Und sie rufen den Tieren zu: ‚Heraus aus den Winterlöchern!‘“

„Solche Prinzen gibt es auch?“, dachte die kleine Gerda, und dann fielen ihr die Augen zu. Und in ihrem Traum sah sie den Prinzen. Er lächelte ihr zu und sagte: „Ich will dir auch ein paar Blütenblätter zuwerfen, damit du immer schön träumen kannst. Und wenn Drachen in deinen Träumen erscheinen, dann hältst du ihnen einfach Blütenblätter vor die Nase. Sie verwandeln sich in Kuscheltiere, wenn sie deren Duft einatmen.“ „Das ist gut“, sagte die kleine Gerda in ihrem Traum zum Prinzen. „Solche Blütenblätter könnte ich im normalen Leben auch gebrauchen.“ Da lächelte der Prinz und sagte: „Im normalen Leben gibt es sie auch. Man muss sie nur sammeln“. „Wirklich?“, meinte die kleine Gerda im Traum. „Wirklich?“ Der Prinz lächelte: „Ich streue sie zu jedem Jahresbeginn aus. Da musst du sie sammeln für das ganze Jahr. Doch nun schlaf, kleine Gerda.“ Und die kleine Gerda legte sich im Traum zum Schlafen zurecht und schlief ein.

Als sie am nächsten Morgen zum Fenster hinausschaute, da sah sie, wie alles blühte. Die Blumen wiegten sich im Wind, die Knospen der Bäume waren aufgesprungen, die Vögel zwitscherten und hüpften voller Freude in den Zweigen. Da nahm die kleine Gerda sich nicht einmal Zeit, sich anzuziehen, sondern lief sogleich in ihrem Schlafanzug hinaus in den Garten.

„Was machst du?“, rief ihre Mutter erstaunt. „Ich muss Blütenblätter sammeln“, rief die kleine Gerda zurück. „Ich brauche sie, wenn Drachen in meinen Träumen erscheinen. Und ich kann sie auch im normalen Leben verwenden. Das ganze Jahr über. So hat es mir der Prinz gesagt. Aber ich muss die Blütenblätter jetzt sammeln. Jetzt, zu Jahresbeginn.“ Die Mutter schüttelte den Kopf. „Was Kinder manchmal träumen“, sagte sie. Doch in ihren Augen konnte man lesen, dass sie ihr Kind verstanden hatte.

Die kleine Maus

Das Mädchen lag in seinem Bett am Fenster seines Zimmers. Es hörte das Lachen der Kinder, die draußen herumtollten. Aber es durfte nicht mit ihnen herumtollen, es musste im Bett bleiben. Eine Woche lang, hatte der Arzt gesagt, – eine lange Woche, und die Tage wollten kein Ende nehmen.

Als es dunkel wurde, kam sein Vater mit einem Buch herein und setzte sich zur ihm ans Bett. „Ich will dir wieder eine Geschichte vorlesen“, sagte er. „Diesmal ist es die Geschichte von der kleinen Maus.“ Er rückte ihr das Kissen zurecht und machte die Nachttischlampe an. Dann schlug er das Buch auf und begann zu lesen.

„Unten in der Erde lebte eine Mäusefamilie, Vater und Mutter und fünf Mäusekinder. Es war warm unten in der kleinen Wohnung, und sie hatten es sich gemütlich gemacht. Sie unterhielten sich, sie holten Gesellschaftsspiele hervor, um sich die Zeit zu vertreiben, und sie tobten in den weitläufigen Gängen herum, die sie unter der Erde angelegt hatten.

An die Erdoberfläche konnten sie nicht. Denn es war Winter, und dicker Schnee lag über ihrer Wohnung. Der Frost stapfte jeden Tag vorbei, aber was viel schlimmer war, die Raubvögel warteten auf sie. Mit wachen Augen schwebten sie über die Schneedecke und warteten darauf, dass sich eine von ihnen zeigen würde.

Die Kleinste der Mäusefamilie war wach und neugierig. Nachdem sie alle Gesellschaftsspiele gespielt hatte und alle Gänge erforscht hatte, langweilte sie sich. Sie beschloss, nach oben auf die Erdoberfläche zu gehen, mochten die Eltern sie noch so sehr vor den Raubvögeln warnen. ‚Ach‘, sagte sie nur. ‚Eltern müssen einem immer alles vorschreiben.‘

Einmal hätte sie es beinahe schon geschafft, doch die ganze Familie hing an ihrem Mauseschwanz und zog sie wieder zurück. Den dunklen Schatten draußen sah die kleine Maus nicht, so verärgert war sie, dass es ihr nicht gelungen war, hinauszukommen. Aber beim zweiten Mal wollte sie es klüger anstellen.

Sie ging ganz brav ins Bett und tat so, als würde sie gleich einschlafen. Doch in Wirklichkeit wartete sie nur auf eine günstige Gelegenheit. Die kam, als alle schliefen. Da schlüpfte sie leise aus ihrem Bett und verließ die sichere Wohnung. Sie ging an die Erdoberfläche.

Ach, wie schön war das! So still und so herrlich! Der Mond schickte sein Licht und verwandelte alles in einen glänzenden Palast voller schneebedeckter Tannen. Und die kleine Maus dachte: wirklich, sie hatte es immer schon gewusst. Die Eltern würden einem nichts gönnen, nur vorschreiben konnten sie!

Jetzt bekam sie richtig Lust auf mehr Abenteuer, und sie stapfte fröhlich über das weite, offene Feld. Da spürte sie, wie ein Schatten über sie fiel und über ihr verharrte. Ihr Herz begann zu pochen. Der Mond lachte ihr hämisch zu, die schneebedeckten Tannen kicherten vor sich hin, sodass ihnen der Schnee herunterfiel. Ja, wer sich so dumm in Gefahr begibt, der muss büßen! Um den ist es nicht schade!

Doch die kleine Maus gab nicht auf. Sie kehrte auf der Stelle um, lief zurück, so schnell sie konnte, ihre Fußspuren entlang, hinein in das Mauseloch – und entkam. Sie hörte nur noch den bösen Schrei des Raubvogels. Leise schlüpfte sie wieder in ihr Bett und sagte kein Wort am nächsten Tag. Doch gedulden wollte sie sich von nun an, bis der Frühling kam.“

Der Vater klappte das Buch zu und schaute seine Tochter an. „Ich bin wohl die kleine Maus?“, fragte die Tochter und lächelte. „Sie gefällt mir, sie ist so neugierig und wagemutig.“ „Aber“, seufzte sie, „es gibt wohl Situationen, da muss ein jeder sich gedulden, ob er nun neugierig und wagemutig ist oder nicht.“

Der goldene Lebensfaden

Der Mann stand am Fenster seines Arbeitszimmers und schaute hinaus. Draußen herrschte ein reges Treiben. Die Autos verstopften die Straßen, die Fußgänger schauten in die Auslagen der Geschäfte. Hunde bellten und Kinder lachten.

Er zog die Gardinen seines Fensters zurück, um mehr zu sehen. Doch das Fenster öffnete er nicht. Denn es war noch Winter, und er hatte gerade eine Erkältung überstanden. Ja, draußen war Leben! Geschäftiges, sprudelndes Leben! Er seufzte, denn er fühlte sich nicht mehr dazugehörig. „Ich bin zu alt“, murmelte er halblaut vor sich hin. „Meine Zeit ist vorbei.“

Da hörte er ein leises Kichern. Ein Wichtelmännchen stand neben ihm mit seiner roten Zipfelmütze und seinem langen weißen Bart.

„Wo kommst du her?“, fragte er das Wichtelmännchen und griff sich dabei an die Stirn, um festzustellen, ob er träumte oder nicht. Vielleicht hatte ja der Grog, den er gestern noch gegen die Erkältung getrunken hatte, solch seltsame Auswirkungen.

„Du hast vergessen, mich aufzuräumen“, antwortete das Wichtelmännchen. „In deinem Eifer, all den schönen Weihnachtsschmuck wieder wegzupacken, hast du mich einfach übersehen“, das Wichtelmännchen schaute ihn dabei etwas missbilligend an. „Und nun stehst du am Fenster und bejammerst dein Schicksal.“

Der Mann musste ihm recht geben. Ja, er stand am Fenster und schaute hinaus und fühlte sich nicht mehr dazugehörig. Gut, er war vor einiger Zeit in Rente gegangen. Gut, er hatte bisher keine schweren Krankheiten zu tragen gehabt, nur da und dort zwickte es ein wenig. Und eigentlich hatte er sich damals, als er noch gearbeitet hatte, so viel vorgenommen. Was wollte er nicht alles in seinem Ruhestand tun! Doch nun war sein Ruhestand ein Stillstand geworden. Er hatte keine Energie mehr und war nur noch unzufrieden. Das Wichtelmännchen hatte nicht ganz unrecht.

„Du hast mich übersehen, als du die Weihnachtssachen weggeräumt hast. Du bist ja sonst ein ordentlicher Mensch, aber diesmal ist dir etwas durch die Lappen gegangen. Also sieh mich als deine Chance an.“ Das Wichtelmännchen lachte bei diesem Gedanken, ehe es fortfuhr: „Man soll nicht immer alles wegräumen. Sonst räumt man auch noch das weg, das bereits da ist, aber das man noch nicht sieht.“

„Sprecht ihr Wichtelmännchen immer in Rätseln?“, fragte der Mann.

„Oh, entschuldige“, antwortete das Wichtelmännchen. „Ich war zu ungenau. Ihr Menschen seht es nicht, wir schon. Wir haben die besseren Augen. Und deshalb sehen wir schon im Alten, wie etwas Neues heranwächst. Für euch ist es unsichtbar, aber es bereitet sich schon vor. Ihr aber räumt einfach alles weg. Das Alte und das Neue, das sich erst vorbereitet. Und dann steht ihr am Fenster und jammert.“

Das Wichtelmännchen kam ein wenig aus der Puste. Offensichtlich hielt es sonst nicht so lange Reden. Doch seine Worte zeigten ihre Wirkung. Der Mann öffnete das Fenster und schaute hinaus. „Es gibt einen goldenen Faden“, sagte er nachdenklich. „Einen goldenen Lebensfaden in einem jeden Leben. Und der hört nicht auf, wenn ein Lebensabschnitt zu Ende ist. Er will weitergewebt werden.“ Er stand auf und zog seinen Mantel an. „Und ich will das auch“, sagte er. Dann öffnete er die Tür zur Treppe. Als er die Tür hinter sich zugemacht hatte, schüttelte das Wichtelmännchen ein wenig den Kopf. „Die Menschen sind so schnell dabei, den goldenen Lebensfaden zu übersehen. Dabei ist er immer bei ihnen.“ Das Wichtelmännchen sagte dies ohne Vorwurf, es sagte es eher nachsichtig.

Der freie Stuhl

Die Jubilarin hatte zu ihrem 80. Geburtstag eingeladen, und alle waren gekommen. Ihre Kinder und ihre Enkelkinder. Ihre Bekannten und ihre Freunde. Sogar ihr Bruder, der gerade einen Herzinfarkt überstanden hatte, ließ es sich nicht nehmen, ihr persönlich zu gratulieren. Selbst der Pfarrer war da, und selbst der Bürgermeister hatte vorbeigeschaut.

Die Oma saß mitten an dem festlich geschmückten Tisch. Sie hatte eine kurze Rede gehalten und sich dafür bedankt, dass alle ihrer Einladung gefolgt waren. Einer ihrer Söhne hatte humorvoll die vergangenen 80 Jahre vorüberziehen lassen, und sie hatten ihr Sektglas erhoben zur Ehre der Jubilarin. Das Essen war vorzüglich gewesen, der Wein über jeden Tadel erhaben. Und dann war man zum allgemeinen Teil übergegangen.

Die Jubilarin saß da und lächelte. Niemand kümmerte sich mehr um sie, denn viele Gäste hatten sich schon lange nicht mehr gesehen und freuten sich nun darauf, miteinander ins Gespräch zu kommen. Außerdem war sie ein wenig schwerhörig, nicht viel, aber immerhin, man musste etwas lauter reden, damit man sich mit ihr verständigen konnte. Sie wusste darum. Doch sie freute sich, dass alle gekommen waren, und lächelte.

Ihr Mann war vor einigen Jahren gestorben, damals waren viele der Gäste auch da gewesen, der Kreis der Bekannten und Freunde wird im Alter überschaubar. Und nun trafen sie sich wieder. So gab es viel Gesprächsstoff unter den Gästen.

Einer ihrer Enkel schaute immer wieder zu ihr hin. Ihm war aufgefallen, dass sich niemand mit ihr unterhielt. Und als der Stuhl neben ihr frei wurde, da setzte er sich zu ihr und begann sich mit ihr zu unterhalten.

Er erzählte ihr von der Schule und von seinen Lieblingsspielen am Computer, und die Jubilarin hörte ihm zu, fragte manchmal nach und war ganz und gar interessiert daran, ihren Enkel zu verstehen. Er lebte ja in einer anderen Welt als sie. Vieles, was es heute gab, das gab es in ihrer Jugend nicht. Vieles, was ihrem Enkelkind heute erlaubt war, das war früher verboten.