Der Atem der Vergangenheit - Juli Summer - E-Book
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Der Atem der Vergangenheit E-Book

Juli Summer

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Beschreibung

Ein Familiengeheimnis, das Generationen zurückreicht, und die Möglichkeit, die Vergangenheit zu bewältigen. Ist Hayleys und Leos Liebe stark genug? Ein spannender, gefühlvoller Roman vor der Kulisse Texas' und Englands. Für Fans von Ricarda Martin. Hayley Bennett arbeitet als Lehrerin in Austin, Texas. Schon früh verlor sie ihre Eltern und wuchs bei ihrer Großmutter auf. Als diese sich entschließt, das Haus der Familie zu verkaufen, kommen ungeahnte Dinge ans Licht. Hayley findet beim Entrümpeln des Speichers alte Tagebücher ihrer Urgroßmutter. Die alte Dame, mit der Hayley nie richtig warm wurde, trug Geheimnisse mit sich herum, von denen selbst die eigene Tochter nichts wusste. Fasziniert taucht Hayley in die Vergangenheit ein und kann sich der Geschichte schon bald nicht mehr entziehen. Eine geheimnisvolle Verbindung zur englischen Familie Whitmore führt sie schließlich nach Europa. Auf der Suche nach der Wahrheit trifft sie auf Leo, den Nachkommen der Familie Whitmore, und verliebt sich gegen ihren Willen in ihn. Wiederholt sich das generationenübergreifende Schicksal ihrer beiden Familien oder sind sie stark genug, den Fluch zu brechen? »Der Atem der Vergangenheit« von Juli Summer ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite. Genieße jede Woche eine neue Liebesgeschichte - wir freuen uns auf Dich!

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Juli Summer

Der Atem der Vergangenheit

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ein Familiengeheimnis, das Generationen zurückreicht, und die Möglichkeit, die Vergangenheit zu bewältigen. Ist Hayleys und Leos Liebe stark genug? Ein spannender, gefühlvoller Roman vor der Kulisse Texas und Englands. Für Fans von Riccarda Martin.

Hayley Bennett arbeitet als Lehrerin in Austin, Texas. Schon früh verlor sie ihre Eltern und wuchs bei ihrer Großmutter auf. Als diese sich entschließt, das Haus der Familie zu verkaufen, kommen ungeahnte Dinge ans Licht. Hayley findet beim Entrümpeln des Speichers alte Erinnerungsbücher ihrer Urgroßmutter. Die alte Dame, mit der Hayley nie richtig warm wurde, trug Geheimnisse mit sich herum, von denen selbst die eigene Tochter nichts wusste.

Fasziniert taucht Hayley in die Vergangenheit ein und kann sich der Geschichte schon bald nicht mehr entziehen. Eine geheimnisvolle Verbindung zur englischen Familie Whitmore führt sie schließlich nach Europa. Auf der Suche nach der Wahrheit trifft sie auf Leo, den Nachkommen der Familie Whitmore, und verliebt sich gegen ihren Willen in ihn. Wiederholt sich das generationenübergreifende Schicksal ihrer beiden Familien, oder sind sie stark genug, den Fluch zu brechen?

Inhaltsübersicht

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Heute

Hayley fächerte sich mit dem Taschenbuch Luft zu. Mit überkreuzten Beinen lehnte sie am Stamm des dicken Apfelbaums, der mitten im Garten stand. Bei der Hitze war es unmöglich, sich zu konzentrieren. Selbst atmen strengte an. Der Sommer hatte seinen Höhepunkt erreicht. Verlässlich stieg das Thermometer jeden Tag über die Fünfunddreißig-Grad-Marke und weigerte sich konsequent, an diesem Zustand etwas zu ändern.

Für Hayley war es nichts Neues. Sie war in Texas aufgewachsen, konnte sich nicht vorstellen, woanders als in Austin zu leben. Die Stadt übte einen magischen Charme auf sie aus, dem sie sich nicht entziehen konnte. Und auch nicht wollte. Vor einem Jahr hatte sie ihren Abschluss gemacht und unterrichtete seitdem an einer Grundschule Downtown. Die kleine Wohnung ganz in der Nähe war nichts Besonderes, aber sie gehörte ihr. Ihr persönlicher Rückzugsort, ihre Ruheoase.

Von ihrem Platz aus betrachtete sie ihr Elternhaus. Seufzend schüttelte sie den Kopf. Der Abschied würde ihr schwerfallen, aber es war die richtige Entscheidung. Ihre Großmutter Rose hatte wegen des Verkaufs lange mit sich gehadert und gehofft, Hayley umstimmen zu können. Das Haus war vollgestopft mit Erinnerungen, doch es waren eben nicht nur die guten. Vielleicht waren es die Geister der Vergangenheit, die sich ihr in den Weg stellten. Vielleicht war ihre Entscheidung auch nur der Tatsache geschuldet, dass sie sich mit dreiundzwanzig nicht an ein Haus binden wollte. Sie kam gern her, genoss die Stunden mit Grandma Rose, wie sie sie liebevoll nannte. Die langen Spieleabende, bei denen ihre Großmutter stets ihr Talent zu schummeln zum Besten gab.

Hayleys Blick glitt zu den Äpfeln über ihr im Baum. Zu Dutzenden glänzten sie im strahlenden Sonnenschein. Der Geschmack selbst gemachten Gelees legte sich auf ihre Zunge. Ihr Vorrat ging allmählich zur Neige. Gut möglich, dass es das letzte Jahr werden würde, in dem Grandma Rose Apfelgelee einkochte. Vieles würde anders werden.

Hayley blies sich die Ponyfransen aus der Stirn. Das Buch lag unangerührt auf ihrem Schoß. Während das Gedankenkarussell sich drehte, fand sie zu den Worten darin keinen Zugang. Und irgendwie war sowieso nicht der richtige Tag für einen Thriller. Sie rutschte weiter vor, um sich auf der Decke ausstrecken zu können. Die langen Beine ragten nun ein Stück darüber hinaus. Das Blätterdach schirmte sie vor der Sonne ab. Die friedliche Stille, nur durchsetzt vom lieblichen Gezwitscher der Vögel, hüllte sie ein. Sie schloss die Augen und versuchte, Zukunft und Vergangenheit auszublenden. Geschehenes konnte nicht rückgängig gemacht werden, und die Zukunft hatte Zeit bis morgen.

Der Duft frisch gebackenen Apfelkuchens stieg ihr in die Nase und ließ sie erwachen. Auf die Unterarme gestützt sah sie sich blinzelnd um. Vor ihr stand Grandma Rose mit einem Tablett.

»Ich wäre doch zur Veranda gekommen.«

»Hier ist es ebenfalls sehr schön.« Lächelnd hielt sie ihr das Tablett hin.

Hayley griff danach und nahm erst da den Klappstuhl wahr. Sie musste tatsächlich fest eingeschlafen sein. Grandma Rose setzte sich und verlangte nach einem der beiden Kuchenteller. Wie auf Kommando fing Hayleys eigener Magen zu knurren an. Der Teig war luftig leicht, die Äpfel traumhaft saftig. Sie musste schmunzeln bei dem Gedanken, in welcher Katastrophe der einzige Backversuch geendet hatte, den sie je unternommen hatte. Überhaupt hatte sie, was den gesamten Küchenbereich anging, zwei linke Hände. Sollte es irgendwann einmal einen Mann in ihrem Leben geben, wäre es besser für ihn, wenn er den Kochlöffel selbst schwingen konnte. Oder er müsste reich genug sein, um sich darüber keine Gedanken machen zu müssen. Hayley ihrerseits war inzwischen mit dem Pizzaboten per Du. Zum Glück hatten die Frauen in ihrer Familie gute Gene, die Kalorien konnten ihnen nichts anhaben.

»Am Freitag kommt die Maklerin.« Grandma Rose’ Miene blieb ausdruckslos, den Blick fest auf das Haus gerichtet.

Hayley hatte sich geschworen, kein schlechtes Gewissen zu bekommen. Sie wollte sich nun mal nicht festlegen, war zufrieden, so wie es war. Wenn Grandma Rose das Gefühl hatte, mit Haus und Grundstück allein überfordert zu sein, standen ihr diese Gedanken in gleichem Maße zu.

»Wie viele Interessenten gibt es denn?«

»Mehrere, soweit ich weiß. Ein junges Paar sieht es sich Freitag an.« Sie atmete hörbar aus. »Die Entscheidung, deines Großvaters und mein Haus zu verkaufen, ist uns damals um einiges leichtergefallen.«

»Das war eine völlig andere Situation.«

»Mag sein. Vielleicht bin ich auch nur zu gefühlsduselig. Es ist und bleibt ein Haus. Und ich allein schaffe es körperlich nicht mehr. Vom Finanziellen ganz zu schweigen.«

Hayley fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand der Kaffeetasse. Sie war Grandma Rose für all das, was sie für sie getan hatte, unbeschreiblich dankbar. Und sie würde es bis an ihr Lebensende bleiben. Ihre Großeltern hatten ohne zu zögern ihr eigenes Leben hintangestellt, um für ein zwölfjähriges Mädchen da zu sein, das gerade die Hölle auf Erden durchleben musste.

Vor elf Jahren verlor Hayley durch einen tragischen Autounfall beide Elternteile. Sie konnte sich noch lebhaft an das Gefühl erinnern, wie es gewesen war, den Boden unter den Füßen weggezogen zu bekommen. Danach verschwand lange Zeit vieles im Nebel. Nach einem Jahr der Trauer, Wut und Antriebslosigkeit bekam sie, wenn auch nicht unerwartet, einen schulischen Dämpfer und wurde nicht versetzt. Das war der Moment, in dem Grandma Rose entschieden hatte, sie in ihr natürliches Umfeld zurückzubringen. Sie und Grandpa Arthur verkauften ihr eigenes Haus und zogen mit Hayley zurück in ihr Elternhaus. Anfangs hatte sie hysterisch auf diese Idee reagiert. Sie hatten sich gemeinsam auf eine Art Probezeit geeinigt. Daraus waren zehn Jahre geworden, bis sie ausgezogen war, um allein zu leben.

Sie liebte dieses Haus, trotzdem hing ihr Herz nicht daran. Für Grandma Rose jedoch war es nicht nur das Haus ihrer Tochter, es war zudem auch ihr Elternhaus. Mit zwei Jahren waren sie und ihre Eltern, Hayleys Urgroßeltern, hergezogen. Eine lange Zeit. Genug, um Wehmut zu empfinden. Würde Grandpa Arthur noch leben, müsste heute und morgen keine Entscheidung gefällt werden. Doch so war es nun mal nicht.

Mit ihren neunundsechzig Jahren gab es Dinge, die Hayleys Großmutter nicht allein bewältigen konnte. Die Reparaturen wurden unterdessen nicht weniger. Ein Grund mehr, weshalb Hayley dieses Erbe nicht antreten wollte. Sie mochte ihre Unabhängigkeit, wollte fremde Länder bereisen. Dafür sparte sie. Und nicht dafür, die nächsten rostigen Leitungen austauschen zu können. Manchmal empfand sie sich selbst als zu hart und egoistisch. Dann wieder war sie stolz, ihren eigenen Weg zu gehen und den Willen zu haben, ihre Meinung auch nach außen hin zu vertreten.

»Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wird es sich richtig anfühlen«, versuchte sie aufmunternde Worte zu finden.

»Bis es so weit ist, beginnen wir mit dem Entrümpeln.«

»Habe mir fürs Wochenende nichts vorgenommen.«

Zwar konnte sie sich durchaus Schöneres vorstellen, als sich bei diesen tropischen Temperaturen auf einem Dachboden durch staubige Gegenstände zu wühlen, aber vielleicht wurde es ganz nett und es gab sogar einen Schatz zu entdecken. Selbst Grandma Rose wusste nicht, was genau sich alles dort oben befand.

Sie schwiegen einen Moment, während die Sonne ihren Weg Richtung Westen fortsetzte und die Schatten länger wurden. Hayley sah auf die Uhr. Am Abend hatte sie sich mit Freunden in einer Bar in der 6th Street verabredet. Seufzend stellte sie die Teller übereinander und zurück auf das Tablett. Das Eis in der Karaffe war längst geschmolzen, die Zitronenscheiben schwammen ausgelaugt darin herum. Sie fühlte sich ähnlich. Ein ereignisloser und fauler Tag war herrlich, entzog einem jedoch gänzlich die Energie. In Gedanken stand sie bereits unter dem kalten Strahl ihrer Dusche.

Grandma Rose erhob sich als Erste. »Mach dich auf zu deinen Freunden, meine Liebe. Ich werde mich einen Moment hinlegen.«

»Ist alles in Ordnung?« Besorgt richtete sie den Blick auf ihre Großmutter.

»Natürlich, keine Sorge. Aber ich hätte gegen den Herbst nichts einzuwenden.« Sie griff nach Hayleys Hand und legte ihre flach darüber.

Manchmal vergaß Hayley, dass Grandma Rose nicht mehr die toughe, aktive Ersatzmutter war, sondern eben ihre Grandma. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters war sie eine flotte Frau, deren Haar noch immer mehr blond als grau war. Sie war groß gewachsen wie alle Frauen der Familie. Straffe Haut, große Augen und freundlich sanfte Gesichtszüge ließen sie jünger wirken. Es war erstaunlich, wenn man bedachte, welche Schicksalsschläge sie in ihrem Leben zu bewältigen gehabt hatte. Tochter und Schwiegersohn im Alter von sechsunddreißig und siebenunddreißig zu Grabe tragen, die Kraft aufwenden, das Enkelkind bei sich aufzunehmen und großzuziehen. Vor sechs Jahren dann verstarb Ehemann Arthur unerwartet an einer Lungenembolie, ein Jahr später die Mutter. Trotz allem hatte Rose ihr Lächeln nie verloren. Es hatte sich nur stets eine Zeit lang zurückgezogen, anderen Gefühlen Platz gemacht, aber es hatte nie an Intensität eingebüßt.

In Momenten, in denen Hayley selbst mit dem Schicksal haderte, versuchte sie gern die mentale Kraft von Grandma Rose anzuzapfen. Es würde immer Phasen der Trauer geben, dessen war sie sich bewusst. Nach so vielen vergangenen Jahren waren diese Augenblicke allerdings eher selten. Zu dumm, dass sie sie dann heimsuchten, wenn sie doch eigentlich überglücklich sein müsste. Wie beim Bestehen des Führerscheins, dem Uni-Abschluss oder der Jobzusage.

Die Frauen in ihrer Familie waren in ihrem Alter alle verheiratet gewesen. Ja, es waren damals andere Zeiten gewesen. Heute heiratete man nicht mehr mit zwanzig, sondern bekam das erste Kind frühestens mit sechsunddreißig. Sie war also absolut im Soll. Dennoch konnte sie nicht umhin, über die Zukunft nachzudenken. Eine Zukunft mit oder ohne Mann. Mit Kind oder ohne. Glück wollte man mit den Menschen teilen, die man liebte. In Hayleys Fall war nur Grandma Rose übrig geblieben. Hinzu kam, dass die Liebe zum anderen Geschlecht bisher immer einen bitteren Beigeschmack gehabt hatte.

Von ihrer Urgroßmutter Christel wusste sie nicht viel. Obwohl sie fast achtzehn Jahre mit ihr unter einem Dach gelebt hatte, war es ihr nie möglich gewesen, eine tiefere Bindung zu der Frau aufzubauen. Stets hatte sie eine gewisse Distanz ausgestrahlt. Hayley hatte sich mit der Zeit daran gewöhnt und nicht weiter darüber nachgedacht. Vielleicht, weil es auch ihrer Mutter und Großmutter ähnlich ergangen war.

Urgroßmutter Christel hatte das Haus zusammen mit ihrem Mann Isaac vor fünfundsechzig Jahren erbaut. Grandma Rose hatte erzählt, dass ihr Vater ein sehr stiller Mann gewesen war. Sie konnte nicht sagen, ob sich ihre Eltern geliebt hatten. Sie waren bis an ihr Lebensende zusammengeblieben, aber an Zärtlichkeiten hatte sie sich nicht erinnern können. Anders lief es in der Beziehung zwischen Grandma Rose und Grandpa Arthur. Doch dem Tod war es egal gewesen, er hatte ihn viel zu früh zu sich geholt. Was ihre eigenen Eltern betraf, hatte Hayley zweierlei Bilder im Kopf. Einmal das Bild einer fröhlichen Familie, die Ausflüge unternahm und Spaß hatte. Doch dazwischen schoben sich Erinnerungen von Streit, dem Knallen von Türen und dem verweinten Gesicht ihrer Mutter. Ausgerechnet dieses Bild verfestigte sich, als sie vor Jahren heimlich ihre Großeltern belauscht hatte. Dabei erfuhr sie, dass ihre Mutter vorgehabt hatte, ihren Vater zu verlassen.

Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, das Schicksal hatte es auf die eine oder andere Art nie wirklich gut gemeint mit den Frauen ihrer Familie. Es gab also keinen Grund, sich einen Mann zu angeln, der einem nur Scherereien machte, um am Ende allein mit einem Kind vor dem Nichts zu stehen. Ja, sie übertrieb manchmal ein wenig. Möglicherweise änderte sie ihre Meinung, wenn der Richtige vor der Tür stand. Damit konnte er sich allerdings gern noch Zeit lassen.

Einige Tage später saß sie in der gemütlichen Küche ihres Elternhauses und stärkte sich mit einer Tasse Kaffee, bevor sie mit dem Entrümpeln beginnen würden. Sie wollten der Sonne zu dieser frühen Stunde zuvorkommen. Die hatte den Kampf aufgenommen und entlud an einem wolkenlosen Himmel die Energie ihrer Strahlen über der Stadt.

»War das Pärchen gestern mit der Maklerin hier?«

»Ja, es hat ihnen gut gefallen. Sie ist schwanger, deshalb suchen sie nach einem Haus.«

»Für ein Kind ist es der perfekte Platz, um aufzuwachsen.«

Das stimmte, hier in der Nähe des Colorado River war die Gegend saftig grün, die Luft besser als zwischen Hochhäusern und Autoabgasen. Und trotzdem lag das Grundstück zentral genug, um Kindergärten und Schulen in der Nähe zu haben.

Es würde ein gutes Gefühl sein, einer jungen Familie das Haus zu überlassen. Es mit neuem Leben und neuen Erinnerungen zu füllen.

»Meinst du, sie nehmen es?«

»Wir werden sehen.«

Es war kein Thema, über das man mit Grandma Rose reden konnte. Und bevor sich das schlechte Gewissen meldete, stand Hayley auf. »Zeit, dem Dachboden Guten Morgen zu sagen.«

Wie in vielen amerikanischen Häusern gelangte man durch eine große Luke auf den Spitzboden. Die schmale Treppe, die dorthin führte, hatten ihre Eltern damals fest einbauen lassen. Sie schob die Luke auf und trat in die Dunkelheit. Unter sich hörte sie ein Klicken, dann erhellte mattes Licht den Raum. »Danke«, rief sie ihrer Großmutter zu. Hayley konnte sich nicht erinnern, je hier gewesen zu sein. In jungen Jahren hätte sie die Luke nie allein aufbekommen. Hinzu kam, dass sie mit ihrer lebhaften Fantasie nicht sonderlich scharf darauf war, Keller oder Dachböden aufzusuchen.

Die Treppe knarrte. »Oh, Mann.« Grandma Rose blickte auf das Chaos. »Warum haben Menschen die Angewohnheit, alles aufzuheben?«

»Weil es aufregend sein kann, in Erinnerungen zu stöbern. Weil es nun mal die materiellen Dinge sind, die die Zeit überdauern. Zu dumm, dass auch der Staub materielle Dinge sehr anziehend findet.« Sie wischte mit dem Zeigefinger über das Glas einer Stehlampe und hinterließ eine Spur. Trotzdem glitt ihr Blick neugierig von einer Seite zu anderen. Vieles war mit Laken abgedeckt, und anderes sah schon von Weitem nach Sperrmüll aus.

»Ich würde vorschlagen, wir schauen erst nach den Sachen, die definitiv wegkönnen. Dann arbeiten wir uns vor.«

Vorsichtig, um nicht zusätzlichen Staub aufzuwirbeln, begannen sie, die Sachen zu sortieren. Im vorderen Bereich befand sich hauptsächlich Zeug, das Grandma Rose oder ihr Ehemann dort gelagert hatten. Auch von Hayleys Eltern waren Dinge dazwischen. Zum Beispiel die Weihnachtsdeko, die nach ihrem Tod in Vergessenheit geraten war. Ein alter Schaukelstuhl, dessen Sitzfläche aus einem riesigen Loch bestand. Wahrscheinlich hatte sich jemand vorgenommen, ihn irgendwann reparieren zu lassen, und nicht mehr daran gedacht. In der Ecke stand eine eingestaubte Vitrine, gefüllt mit Geschirr. An einer Wand lagen zwei zerschlissene Koffer übereinander.

»Hier, mein erstes Fahrrad.« Oder was davon übrig war. Das Gummi der Reifen sah aus, als würde es zerfallen, wenn man es berührte. Trotzdem konnte Hayley sich einer nostalgischen Anwandlung nicht entziehen.

Am Mittag erklärten sie die Aufräumaktion vorerst für beendet. Der Staub hatte sich wie eine zweite Haut über sie gelegt. Sie betrachteten sich gegenseitig und lachten bei ihrem Anblick lauthals los.

»Man könnte meinen, wir hätten ebenfalls die vergangenen Jahre auf dem Speicher verbracht.«

Grandma Rose sah im Gesicht aus wie ein Waschbär. Ihre Augen stachen unnatürlich aus dem Grau hervor. Bei ihr selbst musste es ähnlich sein. Hinzu kamen die Schmerzen im Rücken vom ständigen Bücken. Die saunaähnlichen Temperaturen taten ihr Übriges. Hayley sehnte sich nach einer Dusche. Deshalb hielt sie sich nicht mehr lange auf und verabschiedete sich gleich nach einer kleinen Stärkung. Dankbar stieg sie in das kleine Auto. Es gehörte ihrer Großmutter, und sie tauschte es ausnahmsweise gegen ihr Fahrrad. Nicht, weil sie zu faul war, um nach Hause zu radeln. Sie hatte in den beiden alten Koffern Kleidung aus den Fünfziger- oder Sechzigerjahren gefunden. Ein bisschen modrig vielleicht, dafür noch gut erhalten. An der Uni gab es eine Theatergruppe. Sollten die Sachen nach dem Waschen etwas taugen, würde sie dort fragen, ob sie Verwendung dafür hätten. Wegschmeißen konnte man sie immer noch.

Hayley betrat ihre Wohnung, die selbst mit aufgeheizten sechsundzwanzig Grad ein kühler Segen war. Sie stellte die Koffer in eine Ecke des Wohnzimmers, zog sich aus und legte sich nackt aufs Bett. So wäre sie den restlichen Abend liegen geblieben, wenn nicht ihr Handy begonnen hätte zu klingeln. Sobald die Mailbox ansprang, verstummte die Melodie von Ed Sheerans Hit Perfect. Sie liebte dieses Lied. Auch wenn ein Mann in ihrer Lebensplanung keine vorrangige Rolle spielte, war sie schließlich auch nur eine Frau. Die Vorstellung, dass jemand seiner großen Liebe einen Song mit derart hingebungsvollem Text widmete, konnte romantischer nicht sein.

Ed Sheeran begann erneut zu singen. Hayley wusste, es war zwecklos, den Anrufer zu ignorieren. Ihre Freundin Liv war der Inbegriff von Hartnäckigkeit.

»Hey Liv.«

»In einer Stunde bin ich bei dir. Nur, falls du vorhattest zu schwänzen.«

»Niemals.« Sie grinste vor sich hin.

»Schön, dann sind wir uns einig. Bis später«, trällerte Liv ihr abschließend entgegen.

Hayley verharrte noch ein Weilchen in ihrer Position, bevor sie sich unter die Dusche stellte. Erfrischter als erwartet, trat sie vor den Spiegel. Ihr Teint war durch die Sonne angenehm dunkel und bildete zu ihrem blonden Haar einen tollen Kontrast. Die blauen Augen, die alle in ihrer Familie besaßen, funkelten ihr entgegen. Mit einem Meter achtundsiebzig war sie recht groß. Ebenfalls ein genetisches Erbe. Oft vermied sie hohe Schuhe. Wenn sie doch einmal welche trug, überragte sie Liv einen ganzen Kopf. Sie war zufrieden mit dem, was ihr entgegenblickte. Natürlich könnte die Nase ein wenig schmaler, die Brüste eine Nummer größer und der Po etwas fester sein, aber sie war nicht der Typ, der sich darüber aufregte.

Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu und begann, ihre Haare zu einer Hochsteckfrisur zusammenzustecken. Nachdem sie geschminkt war, suchte sie in ihrem Schrank nach einem leichten Sommerkleid, griff sich aus der Obstschale einen Apfel und wartete auf Liv.

Als ihre quirlige Freundin eintraf, waren die angedrohten sechzig Minuten längst überschritten. Liv mochte hartnäckig sein, doch pünktlich war sie nie. Aber man konnte schließlich nicht alles haben. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg in die 6th Street. Da Hayleys Wohnung sich ebenfalls Downtown befand, brauchten sie zum abgemachten Treffpunkt nicht lange. Im Innenhof der Bar warteten bereits die beiden anderen Mädels auf sie. Donna und Kelly hatten sie an der Uni kennengelernt, alle vier hatten Lehramt studiert.

Der Abend verging schnell. Sie hatten ausgiebig gegessen und teilten sich die zweite Flasche Wein, während sich die Nacht über Austin legte. Hayleys Müdigkeit war gemeinsam mit der Hitze des Tages verschwunden. Erst weit nach Mitternacht verabschiedeten sie sich voneinander und gingen in verschiedene Richtungen nach Hause. Aus den Bars um sie herum drang Musik an Hayleys Ohr. Mit federnden Schritten tanzte sie über den Gehweg. Als sie sich unbeobachtet fühlte, drehte sie sich lachend einmal um sich selbst. Ihr Kleid wehte auf, bevor es sich wieder sanft an ihre Schenkel schmiegte. Glücklich öffnete sie die Tür zu ihrer Wohnung. Sie liebte Tage wie diese. Dann hatte sie das Gefühl, dass es ihr an nichts fehlte und es für immer so weitergehen konnte.

Sie schloss die Augen und ahnte nicht, wie sehr sich ihr Leben schon bald ändern würde.

»Wo hast du die denn her?« Liv, Donna und Kelly saßen in ihrem Wohnzimmer. Alle drei mit Proseccodosen und Strohhalmen bewaffnet.

Hayley erzählte in Kürze von dem Fund und seiner Herkunft. Als hätte sie ihnen gesagt, darin befänden sich Designerkleider von Chanel oder Prada, fielen ihre Freundinnen über die Koffer her.

»Überleg mal, wie alt die Sachen sind. Bestimmt hatte eine deiner Vorfahren die Kleider an.« Liv war überwältigt und bekam sich nicht mehr ein. »Hier, gar nicht schlecht. Könnte man heute ebenso tragen.« Sie zog die Nase kraus. »Riecht bloß ein bisschen streng.«

»Genau deshalb will ich sie waschen.«

Nur wenige Minuten später war fast der gesamte Inhalt der Koffer in ihrem Wohnzimmer verteilt. Tja, wenn ich nicht zur Arbeit will, kommt die eben zu mir. Zumindest wusste sie nun, was sie am nächsten Tag vorhaben würde.

»Wow, hast du das schon gesehen? Sieht aus wie ein altes Notizbuch. Da ist noch eins.« Donna hob ein Buch mit braunem Ledereinband in die Höhe. »Sie haben unter dem Futter des Koffers gesteckt.«

Liv reagierte als Erste, schnappte sich eins und klappte es auf. »Hier steht ein Name. Christel Sturm. Sagt dir der was?«

Hayley legte die Stirn in Falten und dachte nach. »Meine Urgroßmutter hieß mit Vornamen so. Vielleicht ist Sturm ihr Mädchenname.«

»Klingt aber nicht amerikanisch«, warf Kelly ein.

Hayley zuckte die Achseln. »Ich weiß so gut wie nichts über sie. Grandma Rose müsste es wissen. Zeig mal her.«

Die Seiten waren mit geschwungener Schrift und in flüssigem Englisch gefüllt. Liv hatte in der Zwischenzeit das zweite Buch an sich genommen.

»Wenn mich nicht alles täuscht, steht hier was auf Deutsch. Aber nicht viel, und dann kommt das. Hört zu:

Lieber Unbekannter, mein Name ist Christel Davis, und ich habe mir überlegt, meine Geschichte aufzuschreiben. Es ist bestimmt kein Stoff für einen dieser Hollywoodstreifen, aber es ist mein Leben, zumindest ein Teil davon. An viele Dinge habe ich lange nicht gedacht, weil ich es nicht wollte oder geschafft habe, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Obwohl, nein, mein Herz wird niemals Ruhe finden, auch wenn ich gelernt habe, damit zu leben. Vielleicht kommt gerade alles hoch, weil meine süße Enkelin Megan geboren wurde. Ich wünsche ihr alles Glück dieser Erde.

Christel

24. August 1971.«

Liv legte das Buch zur Seite. Alle schwiegen bedächtig. So wie es aussah, gehörten die Sachen tatsächlich Hayleys Urgroßmutter. Und sie war Deutsche gewesen. Warum wusste Hayley davon nichts? Sie verfiel in Grübeleien. Nie hätte sie damit gerechnet, einen solchen Schatz zu finden. Die Bücher waren siebenundvierzig Jahre alt. Kurz vor diesem Eintrag war ihre Mum geboren worden. Ob über die Geburt von Grandma Rose auch etwas darin stand? Wie würde ihre Großmutter auf diesen Fund reagieren? Sie konnte es kaum erwarten, ihr davon zu erzählen.

Den restlichen Abend drehte sich alles um Hayleys Familie. Keine ihrer Freundinnen wagte es, weitere Seiten zu lesen. Sie respektierten die Privatsphäre, die mit den Büchern verbunden war, selbst wenn die Verfasserin schon lange nicht mehr lebte.

Bevor sie gingen, räumten sie die Kleider und Blusen zurück in die Koffer und stellten diese wieder an ihren ursprünglichen Platz. Anschließend war Hayley mit dem Erbe ihrer Urgroßmutter allein. Sie zog sich ihr T-Shirt für die Nacht an, setzte sich auf die Couch und starrte lange auf das Vermächtnis einer verstorbenen Verwandten. Einen Moment schloss sie die Augen, dann hielt sie es nicht mehr aus und begann zu lesen.

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Damals

Der 25. April 1945 sollte mein Leben für immer verändern. An diesem Tag wurde meine Heimat von sowjetischen Truppen eingenommen. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen.

»Morgen früh um acht seid ihr hier verschwunden.« Mehrere Soldaten standen an der Schwelle zum Hauseingang. Ihr drohender Gesichtsausdruck machte unmissverständlich klar, hier handelte es sich nicht um eine Bitte. Es war eine Drohung.

Mit meinen sechzehn Jahren verstand ich, was das zu bedeuten hatte, und es machte mir Angst. Doch anders als meine beiden achtjährigen Zwillingsbrüder weinte ich nicht. Kein Laut verließ meine Kehle. Mit pochendem Herzen half ich meiner Mutter, die wenigen Habseligkeiten in einen alten Leinensack zu packen, während sie versuchte, die Kleinen zu beruhigen.

Noch vor Tagesanbruch weckte Vater die Familie. Vom Flüstern und Wimmern anderer Vertriebener begleitet, machten wir uns auf den Weg in ein Sammellager, um von dort aus in eine unsichere Zukunft zu starten. Doch vor der Zukunft hieß es warten. Wochenlang hausten wir zu Dutzenden in Baracken. Während meine Eltern Zwangsarbeit auf tschechischen Bauernhöfen leisten mussten, passte ich auf meine beiden Geschwister auf. Das schmerzverzerrte Gesicht meines Vaters sprach Bände. Er hatte im Krieg einen Arm verloren, sein rechtes Bein war stark beeinträchtigt. Niemanden interessierte es. Er war am Leben, er war da, also musste er arbeiten, genau wie alle anderen. Sein Anblick brachte mich nicht nur einmal an den Rand der Verzweiflung. Hinzu kamen die katastrophalen Zustände im Lager. Kaum Nahrung, und an die mangelnde Hygiene wollte ich gar nicht erst denken. Ich hatte das Gefühl, den Geruch von Schweiß nie wieder loszuwerden. Wie ein Brandmal hatte er sich in meine Haut geätzt. In den Augen der amerikanischen Besatzungsmacht waren wir nichts weiter als Ungeziefer. Für die tschechischen Bewohner weniger wert als das eigene Vieh.

Die Zeit verging im Schneckentempo. Jeder Tag hatte den gleichen Ablauf. Ich vermisste mein Zuhause. Meine beste Freundin war schon vor Wochen mit ihrer Familie geflüchtet. Wir hatten uns gegenseitig versprochen, uns zu suchen, wenn der Krieg zu Ende war. Doch im Inneren wusste ich, dass ich Martha nie wiedersehen würde. Ich war nicht gläubig, bin es bis heute nicht, trotzdem betete ich jeden Abend, in der Hoffnung, dass sich endlich etwas tat.

Ende Mai war es so weit. Fünf Wochen nachdem wir unser Zuhause hatten verlassen müssen, kam Bewegung in das Lager. Wieder einmal war kaum Zeit, die wenigen Habseligkeiten einzupacken. Meine Brüder Lorenz und Heinrich klammerten sich ängstlich an den verschmutzten Rockzipfel unserer Mutter.

»Alles wird gut«, flüsterte sie ihnen im Stakkato zu. In ihrem Blick war zu lesen, dass die wenigen Worte auch ihr selbst Mut geben sollten.

Auf den Schienen, die in den vergangenen Wochen wie vergessen in der Landschaft gelegen hatten, stand ein Güterzug. An seine Lok waren mindestens dreißig Waggons angehängt. Nach und nach füllten diese sich mit Menschen. Verdreckte, ausgezehrte Gesichter blickten mir entgegen. Alle wussten, sie würden nun das Land verlassen. In den Augen suchte ich fast verzweifelt nach einem Funken Hoffnung. Dem Glauben an ein gutes Ende. Aber alles, was ich sah, war die Gewissheit an eine Reise ohne Wiederkehr.

Ruckelnd setzte sich der Zug in Bewegung. Und während meine eigene Angst zunahm, wurden meine Brüder wieder zu dem, was sie waren: neugierige Achtjährige. Binnen Sekunden rückten die vergangenen Wochen in den Hintergrund. Aufregung strömte aus jeder Pore. Das Leuchten in den Augen überstrahlte die darunterliegenden dunklen Ringe. Gemeinsam mit anderen Kindern spähten sie durch die Schlitze in den Waggonwänden. Sanft legte sich ihre Fröhlichkeit auch über die älteren Reisenden. Vielleicht nur oberflächlich und für einen Augenblick. Aber alles war besser, als diese tonnenschwere Leere zu empfinden.

»Wir halten. Wir halten.«

Wie lange wir in dem immer stickiger werdenden Kasten eingepfercht gewesen waren, kann ich nicht mehr sagen. Was weniger an der fehlenden Erinnerung liegt, sondern eher an der Tatsache, dass mir in diesem Waggon jegliches Zeitgefühl abhandengekommen war. Das monotone Rattern und die schlechte Luft hatten mich schläfrig werden lassen. Nicht dass ich geschlafen hätte. Seit Wochen kam ich nicht richtig zur Ruhe. Jedes Geräusch ließ mich aufschrecken. Wie ein ungebetener Gast klopfte die Angst ständig an, und es gelang mir nicht mal ein paar Stunden lang, diesem Albtraum zu entfliehen.

Als der Zug tatsächlich mit einem Ruck zum Stehen kam, ging ein Raunen durch die Menge. Was erwartete uns hinter den geschlossenen Türen? Zuerst konnte ich überhaupt nichts sehen. Grelles Sonnenlicht flutete den Waggon. Geblendet hielt ich mir den angewinkelten Arm vors Gesicht. In englischer Sprache redete man auf uns ein. Der Ton war weniger aggressiv als der der Soldaten in unserem Heimatdorf. Doch die fremde Sprache verunsicherte mich. Mein Vater griff nach meiner Hand und half mir aus dem Zug. In größeren Gruppen führte man uns durch einen Ort. Hinter den Fenstern spähten die Bewohner abschätzig auf die Neuankömmlinge. Manche im Verborgenen, manche mit unverhohlener Neugier. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Wir mussten uns nur gegenseitig Zeit geben, redete ich mir ein. Doch die Zeit änderte nichts an der Feindseligkeit, die uns jeden Tag aufs Neue entgegenschlug. Die Menschen sahen uns als Eindringlinge.

Nachdem wir abermals in einem Sammellager untergekommen waren, verteilte man uns auf die umliegenden bayrischen Ortschaften. Während viele in provisorischen Baracken oder umfunktionierten Turnhallen unterkamen, wurde meiner Familie eine Wohnung zur Verfügung gestellt. Da die Bewohner des Hauses dies nur unter Zwang taten, rückte das Gefühl von Erleichterung in weite Ferne.

»Mama, warum mögen die uns nicht?« Lorenz saß mit traurigen Augen auf seiner Matratze.

»Sie meinen es nicht böse. Alles wird gut.«

Da waren sie wieder, die drei Worte. Wie oft hatte ich die in den vergangenen Monaten gehört? Natürlich war vieles besser geworden. Wir mussten nicht mehr derart hungern, hatten fließend Wasser und waren nicht mit Dutzenden Fremden dicht an dicht wie Vieh eingepfercht. Aber das Wort »gut« hatten diese Umstände noch lange nicht verdient. Nur die Sonne, die unermüdlich jeden Tag strahlend am Himmel stand, verscheuchte die Schwermut.

Lorenz und Heinrich bekamen davon nichts mit. Sie spielten wie früher, streiften durch die Straßen, sammelten Beeren und ließen ihren kindlichen Einfällen freien Lauf.

Weil Vater keine Arbeit fand, was nicht ausschließlich an seiner Beeinträchtigung scheiterte, entschied ich, es selbst zu versuchen. Doch egal wo ich anfragte, war ein Kopfschütteln die Antwort. Ich saß auf einem Mauervorsprung und dachte nach, als ein Wiehern die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Neugierig hüpfte ich von der Mauer und folgte dem Weg, der aus dem Ort hinausführte. Als ich ein Stück gegangen war, sah ich ein prächtiges schwarzes Pferd über die Wiese galoppieren. Irritiert blickte ich mich um, denn ich fand nirgends einen Zaun, der eine Grenze darstellen würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Besitzer es einfach so durch die Gegend laufen ließ. Ob jemand heruntergefallen war? Vorsichtig, um das Pferd nicht zu erschrecken, verließ ich die Straße und hielt dabei Ausschau nach einer auf dem Boden liegenden Person. Hinter dem Pferd machte ich plötzlich eine Gestalt aus, die sich dem Tier mit langsamen Schritten näherte. Dann ging alles ganz schnell, obwohl es sich anfühlte, als hätte jemand die Zeitlupentaste gedrückt. Das Pferd bäumte sich auf und galoppierte davon. Direkt auf mich zu. Ein schwarzer Pfeil, dachte ich noch, ohne mich auch nur einen Millimeter zu rühren. Ob vor Schreck oder Faszination konnte ich später nicht sagen. Im nächsten Augenblick wurde mein Arm mit einem Ruck zur Seite gezogen. Der Rest meines Körpers folgte ebenso unfreiwillig. Fremde Hände drückten mich gegen einen festen Widerstand. Es war der Stamm eines Baumes, den ich zuvor nur flüchtig wahrgenommen hatte. Ängstlich kniff ich die Augen zu.

»Bist du lebensmüde?«, fragte eine männliche Stimme in englischer Sprache schroff.

Ich schüttelte, noch immer verängstigt, den Kopf. Die Härchen an meinen Armen stellten sich auf. Zwar hatte ich in den letzten Wochen unter amerikanischer Aufsicht die Sprache recht gut zu verstehen und sprechen gelernt, doch die Bilder, die ich damit verband, jagten mir Schauder über den Rücken. Es musste sich um einen Soldaten handeln. Was würde nun mit mir geschehen? Meine Lider blieben weiter geschlossen.

»Du kannst deine Augen ruhig öffnen. Lucifer ist eingefangen.« Der Ton wurde sanfter. »Kannst du mich verstehen?«

Ich nickte und zwang mich, ihn anzusehen. Mein Gegenüber war kaum größer als ich selbst und auch nicht viel älter, höchstens zwanzig. Tiefbraune Augen musterten mich halb skeptisch, halb amüsiert. Er trug keine Uniform, stellte ich mit einem schnellen Blick fest.

»Lucifer?«

»Das Pferd, das dich vor ein paar Sekunden fast über den Haufen gerannt hätte.«

»Der Teufel.«

»Den Namen hat er nicht umsonst.« Seine Züge wurden wieder ernst. »Was hast du dir dabei gedacht?«

Wenn ich das wüsste, ging es mir durch den Kopf. Ich hatte dagestanden und zugesehen. Mein Körper hatte sich einfach nicht bewegen wollen. Meine Knie wurden weich, als mir schlagartig klar wurde, in welcher Gefahr ich mich befunden hatte. Ein Tier in der Größe? Ein Schlag und …

»Hey, alles gut? Kipp mir hier nicht um.«

Der Fremde umfasste beherzt meine Hüften. Kontaktscheu war er definitiv nicht. Das Kribbeln, das sich in meinem Körper ausbreitete, war nicht sehr hilfreich, um den Kopf klarzubekommen. Überhaupt hatte ich wenig Erfahrung, was Männer oder Jungs betraf. Mit meinen sechzehn Jahren hatte ich zwar schon geküsst, aber ich hatte danach keinen Drang verspürt, es zu wiederholen. Es war ein Junge aus dem Dorf gewesen, ich hatte ihn nett gefunden. Mehr war daraus nie geworden. Ich war irritiert, dass die braunen Augen, die mich gerade sorgenvoll ansahen, die Macht zu haben schienen, bis in meine Seele vorzudringen. Peinlich berührt räusperte ich mich und straffte die Schultern.

»Geht’s wieder?« Der Fremde ließ los und trat einen Schritt zurück. »Eigentlich ist Lucifer nicht gefährlich, er ist noch jung, auch wenn man es bei der Größe nicht vermutet. Er ist mir abgehauen, als ich ihn auf den Reitplatz bringen wollte.« Er lachte und zeigte dabei zwei Reihen makellos weißer Zähne. »Möchtest du ihm Hallo sagen? Er würde sich bestimmt gern entschuldigen.«

Skeptisch zog ich die Augenbrauen hoch. Ich folgte seinem Blick und schaute seitlich um den Baum herum. Tatsächlich stand in einigem Abstand jemand und hielt wartend das Pferd am Führstrick. Mein Verstand riet mir, den Vorschlag abzulehnen. Immerhin hatte dieses Vieh mich fast umgebracht. Doch sein Anblick zog mich magisch an. Das schwarze Fell glänzte in der Sonne. Hals und Kopf waren würdevoll in die Höhe gereckt. Nichts deutete auf eine weitere Gefahr hin.

»Okay, gern.«

Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ob er hoffte, den Vorfall damit vergessen machen zu können? Ich gab ihm keine Schuld. Schließlich hätte ich vorsichtiger sein können.

»Die Rasse nennt sich Hack«, redete er schon wieder weiter. »Tolle, anmutige Tiere. Es ist ein Vollblüter, daher auch sein Temperament. Meine Familie ist hier, um ihn und ein paar gute Stuten zu kaufen. Mein Vater hat einen Rennstall, aber er hier soll unser erster Zuchthengst werden, wenn er sich beweist.«

Wir standen nur noch wenige Schritte von Lucifer entfernt. Mit seinen dunklen Augen beobachtete er jede unserer Bewegungen.

»Hey, mein Junge, alles gut.« Der Fremde nahm dem anderen das Zaumzeug aus der Hand und strich Lucifer sanft über die Nüstern. »Mit deinem Temperament hast du der zauberhaften Lady einen ziemlichen Schreck eingejagt. Du hast Glück, dass sie trotzdem hier steht. Deine Ausstrahlung müsste man haben.«

Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. Flirtete er mit mir? Das war absolut fremdes Terrain. Und ich wusste nicht, ob ich schreiend die Flucht ergreifen oder hingerissen lächeln sollte.

»Komm ruhig her.« Er streckte die Hand nach mir aus. »Wie heißt du eigentlich?«

»Christel.«

»Lucifer, das ist Christel. Christel, Lucifer. Ich bin übrigens William, nur so am Rande.«

Ich legte die Hand in seine und ließ mich nach vorn ziehen. Der warme Atem des Pferdes streifte meine erhitzte Haut. Vorsichtig hob ich die freie Hand und strich zögerlich über den Nasenrücken.

»Trau dich ruhig. Er tut nichts, versprochen.«

Diesmal setzte ich weiter oben auf der Stirn an und fuhr mit der flachen Hand zwischen den Augen hindurch bis zu den Nüstern. Allmählich verflog die Aufregung, und meine Mundwinkel zogen sich glücklich auseinander.

Als ich mich zu William umdrehte, trafen sich unsere Blicke. In seinem lag ein Ausdruck, der mein Herz zum Stolpern brachte.

»Ich sollte lieber gehen.« Schnell drehte ich mich um.

Nach wenigen Sekunden hatte William mich eingeholt. »Wo wohnst du? Ich bringe dich nach Hause.«

»Bring du mal lieber dein Pferd nach Hause.«

»Ich hatte gehofft, du begleitest mich ein Stück.«

Wie gern hätte ich Ja gesagt. »Nein, das geht nicht.«

»Wieso?«

Konnte er meine Entscheidung denn nicht einfach akzeptieren? »Dort wo du herkommst und hingehst, gehöre ich nicht hin. Ich möchte keinen Ärger.« Ich hätte lügen können, doch seine Augen hielten mich davon ab.

»Was redest du da?«

»Du verstehst es nicht.« Wie sollte er auch. Er war auf der Durchreise, seine Eltern kauften mal eben ein teures Reitpferd. Mit Sicherheit hatte er keine Ahnung, was Hungern bedeutete. Bestimmt hatte er ständig Menschen um sich herum, die ihm jeden Wunsch von den Lippen ablasen. Ich war nicht sauer oder neidisch. Er hatte sich sein Leben genauso wenig ausgesucht wie ich mir das meine. Er war in seine Verhältnisse hineingeboren worden, ich in meine. Aber wir lebten eben in zwei völlig verschiedenen Welten.

»Erklär es mir.«

»Mein Englisch ist nicht gut genug, um es dir zu erklären.«

»Reiche Leute sind auch nur Menschen. Schau mich an, bin ich angsteinflößend? Hey Karl, findest du mich nett?« Er wandte sich an seinen Begleiter.

»Sehr nett, Mr Whitmore.«

»Siehst du?«

»Das musste er jetzt sagen, sonst bekommt er keinen Lohn.« Mir schmeichelte es, wie er mich zu überreden versuchte, ihn zu begleiten. Ich spürte bereits meinen Widerstand bröckeln. Ein Schmunzeln huschte über mein Gesicht. »Na gut, aber nur ein Stück.«

William schickte Karl vor. Nebeneinander schlenderten wir über die Wiese, Lucifer trottete am Zügel ein Stück hinter uns her. Fast wirkte er enttäuscht, dass sein kleiner Ausflug schon vorbei war. Nach ein paar Hundert Metern trafen wir auf eine Straße, der wir bergauf folgten. Bis hierher war ich nie gegangen. Dabei war es ein gutes Gefühl, dem Dorf den Rücken zuzukehren. Jeden Tag erinnerte es mich an die Vertreibung aus der Heimat. Das Wort »Sudentendeutsche« hatte sich zu einem allgemeinen Begriff für unsere Herkunft entwickelt. Was nicht schlimm gewesen wäre, wenn nicht jedes Mal, wenn ich es hörte, ein abfälliger Tonfall mitgeschwungen hätte. Kaum einer hatte die Feindseligkeit abgelegt. Niemand gab uns eine Chance. Als wären wir absichtlich in ihre Dörfer eingefallen und hätten uns in ihrem Eigentum breitgemacht. Dass wir Opfer des Krieges waren, interessierte nicht. Stattdessen siegte der menschliche Egoismus.

»Über was denkst du nach?«

»Über mein wundervolles Leben.« Meine Worte trieften vor Sarkasmus.

»Erzähl mir von dir.«

Automatisch schüttelte ich den Kopf.

»Hast du Geschwister? Ich nicht.«

Nun musste ich doch lachen. Er gab einfach nicht auf. Auf jede Frage, die ich in knappen Worten beantwortete, folgte eine neue. Bis ich merkte, dass es guttat, mit jemandem über die Erlebnisse zu reden, waren wir am Gestüt angekommen.

»Ich sollte dann mal wieder. War nett, dich kennenzulernen.«

»Nicht so schnell.« Er fasste nach meiner Hand. »Komm mit.«

Wenn ich mich nicht aufführen wollte wie ein störrisches Kleinkind, blieb mir keine Wahl. Vielleicht hatte ich Glück, und niemand bemerkte meine Anwesenheit.

William führte Lucifer in seine Box und zeigte mir die anderen Pferde dort. Ich mochte den Geruch von frischem Heu, auch wenn er augenblicklich Sehnsucht nach der Heimat auslöste. Schnell verdrängte ich die traurigen Gedanken.

»Sie sind alle sehr hübsch, aber Lucifer strahlt weitaus mehr Eleganz aus.«

»Du hast einen guten Blick. Deswegen hat sich mein Vater sofort für ihn entschieden.«

Wir verließen den Stall, und ich schaute mich ehrfürchtig um. Das Gestüt bestand aus einem riesigen Haupthaus, mehreren Nebengebäuden und Ställen. Von hier aus konnte ich einen Sandplatz mit Hindernissen erkennen sowie einen ohne.

»Hinter den Gebäuden geht es noch weiter. Dort«, er zeigte auf eines der Nebengebäude, »wohne ich mit meinen Eltern.«

»Allein?«

Er sah mich zerknirscht an, als ihm auffiel, wie selbstverständlich diese Art des Wohnens für ihn war. »Das war unsensibel, tut mir leid.«

»Muss es nicht. Freu dich, es ist ein schönes Leben.« Ich meinte es ehrlich. Denn ich war nicht der Typ, der anderen gegenüber Neid verspürte. »Aber ich sollte wirklich los, meine Eltern machen sich sonst Sorgen.«

»Sehe ich dich wieder?«

»Eher nicht. Danke für die Führung.«

»William«, ertönte plötzlich eine hohe Frauenstimme.

»Mutter.«

Gleichzeitig drehten wir uns um. Ich sah eine zierliche Gestalt auf uns zukommen. Das wadenlange Kleid betonte ihren schmalen Körper, die dunklen Haare wurden dank einer Hochsteckfrisur am Hinterkopf zusammengehalten. Unwillkürlich trat ich einige Schritte zurück, doch die Dame hatte nur Augen für ihren Sohn.

»Wo treibst du dich rum? Dein Vater sagte, du hast versucht, das Pferd zu reiten. Du weißt, wie ich es verabscheue, wenn du dich in Gefahr begibst.«

»Mir ist nichts geschehen, Mutter.« Bei diesen Worten waren seine Mundwinkel gefährlich am Zucken.

»Und dieses Dienstmädchen versteht mich einfach nicht. Dabei soll sie doch bloß die Katze aus dem Haus jagen. Ständig muss ich niesen. Es macht mich wahnsinnig.«

»Ich könnte es ihr erklären«, warf ich ein und hätte mich im gleichen Moment selbst ohrfeigen können. Denn nun gehörte mir die gesamte Aufmerksamkeit. Meine Brust schnürte sich zu.

»Mutter, das ist Christel. Sie wohnt unten im Dorf.« Eine nähere Erklärung ließ er dankenswerterweise aus. »Sie spricht unsere Sprache sehr gut. Aber anstatt es zu erklären, könnten wir die Katze suchen gehen. Zu zweit geht es schneller.«

Sie betrachtete mich skeptisch, während ihr Blick einmal von oben nach unten wanderte.

»Du verstehst die englische Sprache?«

»Ja, Mrs Whitmore.«

»Kannst du putzen, bügeln und so weiter?«

»Ja, Mrs Whitmore.«

»Mutter, bitte. Lass uns die Katze suchen gehen.«

Tapfer hielt ich dem Blickkontakt mit meinem Gegenüber stand. Ich wusste nicht recht, wie ich Williams Mutter einschätzen sollte. Sie wirkte ausgesprochen kühl.

»Bitte gebt Bescheid, wenn dieses Vieh entfernt wurde.«

Aufatmend folgte ich William ins Haus. Die großen Räume und hohen Decken versetzten mich in Staunen. Es gab nicht viele Möbel, und obwohl sie sicher von hochwertiger Qualität waren, sah man ihnen die mangelnde Pflege an.

»Der Krieg hat vor den Reicheren ebenso keinen Halt gemacht«, schlussfolgerte William, der meinem Blick gefolgt war.

Ich dachte an die stinkigen Sammellager, in denen wir gehaust hatten, und verbiss mir einen Kommentar. »Suchen wir die Katze.«

Wir gingen im unteren Stockwerk Raum für Raum durch, schlossen die Türen hinter uns und lugten unter jeden Schrank, hinter jede Gardine.

»Dann einmal nach oben.«

Nur eine Tür war angelehnt, ich steuerte direkt darauf zu.

»Da schlafe ich.«

»Oh, dann schau du nach, ich warte hier.« Bei der Vorstellung, mich in seinem Zimmer aufzuhalten, das Bett zu betrachten, in dem er jeden Morgen erwachte, verwandelte sich mein Gesicht in das Ebenbild einer Tomate. Verlegen senkte ich den Kopf.

»Okay, dann halte hier Wache.«

Er verschwand hinter der Tür. Kurz darauf hörte ich ihn lachen und leise sprechen.

»Komm her und schau, wen ich gefunden habe«, rief er von drinnen.

Zögerlich wippte ich mit den Füßen vor und zurück. Gab mir dann jedoch einen Ruck und betrat das Zimmer. William saß auf dem Bett und streichelte eine grau getigerte Katze, die es sich auf seiner Decke bequem gemacht hatte.

»Sie hat hier friedlich vor sich hin geschlummert. Dass sie meine Mutter in solch eine Hysterie versetzt hat, scheint sie nicht im Geringsten zu interessieren.«

Ich trat näher heran, ging in die Hocke und streichelte ebenfalls das weiche Fell. Das Tier schnurrte zufrieden.

»Was geschieht jetzt mit ihr?«

Er zuckte mit den Schultern und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich nehme an, wenn sie bleibt, wird es kein gutes Ende mit ihr nehmen.«

»Was? Sie kann doch nichts dafür. Sie weiß es nicht besser.« Ich griff unter den Bauch des schurrenden Wollknäuels, hob es auf den Arm und drückte die Nase in das weiche Fell.

»Dann wäre ihr Schicksal wohl geklärt?«

Ich ahnte, worauf er hinauswollte. »Das geht nicht. Bestimmt sind bei uns Katzen nicht erlaubt.«

»Fragen kostet nichts.«

Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, das Ehepaar, bei dem man uns untergebracht hatte, um einen Gefallen zu bitten. Ich wollte das angespannte Verhältnis nicht mehr als nötig strapazieren. Aber die Kleine ihrem Schicksal überlassen, kam noch viel weniger infrage. Es gab nur einen Ausweg, ich musste über meinen Schatten springen. Seufzend nickte ich. »Okay, ich lasse mir etwas einfallen.«

»Sehr schön, ich bringe euch beide nach Hause.«

Ich hätte protestieren können, wusste aber inzwischen, dass es zwecklos sein würde, ihn umstimmen zu wollen. Es war fast so, als würde ich ihn nicht erst seit wenigen Stunden kennen. In meinem Magen explodierte ein Feuerwerk. Ich drückte das Kätzchen enger an mich.

Den Weg ins Dorf legten wir schweigend zurück. Unserem kleinen Begleiter schien die Reise nichts auszumachen. William hatte einen Korb organisiert, über den wir ein altes Tuch gedeckt hatten. Aus dem Inneren kam kein Protest.

Je näher wir dem Haus kamen, desto stärker wurde ich von einer inneren Unruhe geplagt. Die Idee kam mir plötzlich furchtbar dumm vor. Ich blieb abrupt stehen.

»Was ist?«

»Nimm sie wieder mit.«

»Weshalb?«

»Wir haben gerade genug Essen für uns. Wie soll ich eine Katze durchfüttern?«

»Sie wird sich ihr Essen selbst besorgen. Glaubst du, auf dem Gestüt hat jemand für sie gekocht?«

Widerwillig musste ich bei der Vorstellung lächeln. »Nein, sie werden mich für verrückt halten.«

»Finden wir es heraus.« Mit seiner freien Hand zog er mich mit sich.

Bei seiner Berührung jagten wohlige Schauer durch meinen Körper. Sein Verhalten imponierte mir. Es machte ihm keine Angst, dass er bei seinem Vorhaben möglicherweise auf Gegenwehr stoßen könnte. Er besaß eine gute Portion Selbstbewusstsein, sicher nicht zuletzt durch seine gesellschaftliche Stellung. Und doch machte er keinen Unterschied zwischen Arm und Reich. Von der ersten Sekunde an hatte er sich mit mir auf Augenhöhe unterhalten. Umso erstaunter war ich, als ich ihn ein Bündel Geldscheine aus der Tasche ziehen sah.

»Willst du sie bestechen?«

»Manche Menschen verstehen die Sprache des Geldes am besten.«

Ich rollte mit den Augen und fand es im Gegensatz zu ihm ganz und gar nicht witzig. Nur ungern blieb ich vor dem Haus stehen. Bevor ich einen letzten verzweifelten Versuch unternehmen konnte, ihn mit der Katze fortzuschicken, hatte William bereits geklopft. Am Fenster bewegte sich die Gardine. Wenig später wurde die Tür aufgerissen. Die Hausherrin, groß und korpulent, erweckte den Eindruck, uns beide jeden Augenblick mit Haut und Haaren verschlingen zu wollen. William zuckte nicht einmal mit der Wimper. Wie zufällig lockte er ihre Aufmerksamkeit auf die Geldscheine in seiner Hand. Nun war ich an der Reihe, denn mit Englisch kamen wir hier nicht weiter. Ich entschuldigte mich für die Störung, erzählte, was wir besprochen hatten, und zeigte zum Schluss auf die schlafende Katze im Korb. William setzte ein meisterhaftes Lächeln auf, und das Geld wechselte den Besitzer. Selig kraulte die Dame die Mieze am Kopf und verschwand im Haus.

»War doch ganz leicht.«

»Ach ja? Ich zittere am ganzen Körper. Diese Frau flößt mir eine Heidenangst ein.« Ich schlang fröstelnd die Arme um mich.

»Alles wird gut.«

Die Lieblingsworte meiner Mutter. Doch im Gegensatz dazu, wenn sie sie aussprach, beruhigten sie mich in Williams Fall tatsächlich. Überhaupt fühlte ich mich in seiner Gegenwart so leicht und sorgenfrei wie lange nicht. Einen Augenblick durfte ich von einem Gefühl kosten, das mich glücklich machen könnte. Den damit einhergehenden Schmerz versuchte ich zu ignorieren. Eine solches Leben war für mich nicht vorgesehen. Ich spürte schon jetzt die Leere, die er hinterlassen würde. Es war besser, den Abschied nicht weiter hinauszuziehen.

»Ich sollte nun wirklich zu meiner Familie gehen. Der muss ich es schließlich auch noch beibringen.«

»Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen, Christel.«

»Ganz meinerseits, Mr Whitmore.«