Der Atem der Vögel - Klaus Böldl - E-Book

Der Atem der Vögel E-Book

Klaus Böldl

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Beschreibung

Seit zwei Jahren lebt Philipp auf den Färöer Inseln nördlich von Schottland. Er, ein Deutscher Mitte dreißig, ist ein Einzelgänger, seine Tage verbringt er mit ausgedehnten Spaziergängen durch die raue Natur. Von seiner Lebensgefährtin Johanna, einer Krankenhausärztin, entfremdet er sich immer mehr, mit ihrer kleinen Tochter Rannvá hingegen verbindet ihn ein stilles Einvernehmen. Als Johanna und Rannvá auf eine Reise gehen, macht sich auch Philipp auf den Weg: Er beginnt eine Wanderung über die Inseln, die ihn immer tiefer in die Natur führt. Wird er erst im Weggehen zu sich kommen? Wird er erst im Verschwinden seinen Ort finden?

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Seitenzahl: 126

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Klaus Böldl

Der Atem der Vögel

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Seit zwei Jahren lebt Philipp auf den Färöer Inseln nördlich von Schottland. Er, ein Deutscher mittleren Alters, ist ein Einzelgänger, seine Tage verbringt er mit ausgedehnten Spaziergängen über die Inseln mit ihren rauen Naturschönheiten. Von seiner Lebensgefährtin Johanna, einer Krankenhausärztin, entfremdet er sich immer mehr, mit ihrer kleinen Tochter Rannvá hingegen verbindet ihn ein stilles Einvernehmen. Als Johanna und Rannvá auf eine Reise gehen, macht sich auch Philipp auf den Weg: Er beginnt eine Wanderung, die ihn immer tiefer in die Natur führt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Von dem Wohnraum unseres [...]

Von dem Wohnraum unseres mit weiß gestrichenem Wellblech verkleideten Hauses geht der Blick durch eine Glasfront auf eine kleine, von Moosflecken übersäte Terrasse mit einem rostigen Geländer. Dahinter der Rasen, der sich im Lauf der Zeit in einen wilden Wiesenfleck verwandelt hat, mit den niedrigen Bäumen ringsum: Längst hätte man es in Angriff nehmen sollen, diesen Garten in Ordnung, das heißt in eine Ähnlichkeit mit den umliegenden Gärten zu bringen, ging es mir heute Vormittag durch den Kopf, als ich auf dem Korbsessel mit dem schwarzen Schaffell saß und, das Notizbuch in der Hand, aus dem Fenster schaute. Draußen sprühte der Regen in unzähligen weißen Funken in der Sonne.

Vielleicht hätte es dann auch ein Ende mit den kalten, nachdenklichen Blicken aus der Nachbarschaft, dachte ich. Vor allem ist da das kaltböse Herüberspähen des kleinen kahlen Kerls, der schräg gegenüber mit seiner blinden Mutter wohnt. In seinem Garten wächst kein Kräutlein ohne sein Wissen und Wollen. Wenn er mit seinem Rasenmäher zugange ist, dessen hartes Knattern man im halben Viertel hört, schneidet er wilde Grimassen, weniger aus Anstrengung, kommt mir vor, als aus Befriedigung darüber, wie um ihn her sich unerbittlich Ordnung und Gleichmaß entwickeln. Obwohl er nie etwas Unfreundliches zu uns gesagt hat, sich manchmal sogar zu einem nachbarlichen Gespräch übers Wetter herbeilässt, fürchtet Rannvá diesen Menschen sehr. Sie läuft sofort ins Haus, sobald er nur vor seine Tür tritt, und mich selbst erinnert er auf nicht weniger unangenehme Weise an Gestalten, die mir meine eigene Kindheitswelt verschattet haben mit ihrem lückenlosen Erwachsensein.

Und doch, einem kleinen Fleckchen Erde ein Gesicht zu verleihen, ihm eine Gestalt einzuprägen, die es von selbst nicht annehmen würde, und es sich auf diese Weise tatsächlich zu eigen zu machen, das ist ein kleiner, freundlicher Gedanke; ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich mich in ihm verliere. Wie es wäre, wenn ein sprießendes Fleckchen Grün irgendwo auf der Welt noch eine Zeitlang die Erinnerung an einen bewahren würde, wenn man selbst schon nirgendwo mehr vorkommt.

Doch wie sollte man wohl einen derart widerborstigen Platz wie den da draußen in einen heiteren und wohlgeordneten Garten, in einen menschlichen Lichtblick verwandeln? Mein Nachbar würde es vielleicht zuwege bringen, mit all seinen Gartenmaschinen, seinen Scheren, Schaufeln und Harken. Dann würde sich alsbald ein Rasen von samtigem, zarten Grün da draußen ausbreiten statt des gelblichen Pelzes mit den von irgendwoher angeflogenen kleinen Blumen. Gemeinsam mit Jens, Johannas tüchtigem Kollegen, stelle ich mir vor, würde er das ohne weiteres hinbekommen. Jens hat sich immer einen eigenen Garten gewünscht, nachdem er auf einem großen Hof draußen auf den Südinseln aufgewachsen ist, inmitten riesiger Schafweiden, die sich bis zu den Klippen hinaufzogen. Das hat er erst gestern erzählt, als er bei uns zum Abendessen war und das Gespräch auf den Garten gekommen ist.

Aber ob es den beiden auch gelingen würde, die Nebelkrähen zu verscheuchen, die das ganze Jahr über die düsteren, niedrigen Kiefern um den Grasplatz herum bevölkern? Selbst bei heftigsten Windböen nehmen sie gelassen ihre Plätze im Nadelwerk ein; es ist, als ob sie von dem Halbdunkel dort trinken würden und daraus ihre Lebenskraft schöpften.

*

Manchmal brechen die Winterstürme dicke Äste aus den Bäumen heraus, mit einem hellen Knall wie ein Schuss, der einen noch inmitten des wildesten Sturmgeheuls zusammenfahren lässt. Am vergangenen Neujahrstag hat am Morgen eine Sturmmöwe mit einem gebrochenen Flügel, der steil nach oben zeigte, unter einer der Kiefern gelegen. Die dunklen Augen mit dem roten Ring haben mich fragend angeblickt, als ich den Kadaver zur Mülltonne trug.

Im Frühherbst quellen um die Stämme herum zementgraue übelriechende Schwämme aus dem Boden, als sei da eine kranke, zum Ausschlag neigende Stelle. Nach ein paar Tagen sind sie wieder verschwunden, der Regen schwemmt die zerfallenen Pilze weg. An einer anderen Stelle in der Mitte des Gartens bildet sich nach jedem ausgiebigen Regen – und wie oft regnet es hier nicht ausgiebig! – im Gras eine längliche Pfütze, deren Oberfläche vom Westwind gemasert wird.

Und erst in diesem Frühjahr ist mir so recht bewusst geworden, was die Gärten dieser Gegend von den Gärten auf dem Festland unterscheidet: Es gibt hier kaum Singvögel, nicht einmal die sonst auf den Inseln so häufigen Stare. Nur ein Vogel macht sich an den hellen Frühlingstagen, wie wir sie jetzt gerade haben, ab und an bemerkbar, ohne sich jemals sehen zu lassen, mit einem dünnen, sich irgendwo hoch in den Lüften ereignenden Fiepen, das so klingt, als ob er sich da oben zu Tode ängstigte.

Und dann sind da noch die seltsam großen und schwerfälligen Sperlinge, die sich von Zeit zu Zeit schwarmweise in den Gartensträuchern niederlassen und herausfordernd auf den Zweigen wippen. Heute Vormittag habe ich beobachtet, wie sich zwei von ihnen paarten: In der Luft, genau vor dem Fenster, rieben sie sich ein paar Sekunden aneinander und schwirrten dann rasch, wie beschämt, in entgegengesetzte Richtungen davon.

Für Johanna ist dieser Garten, immerhin ihr Grund und Boden, so gut wie gar nicht vorhanden; ein gleichgültiges und trübes Draußen, auf das sie kaum einmal einen Blick wirft. Vielleicht ist es ihre Nichtachtung, die diesen Wiesenfleck so dürftig und kraftlos erscheinen lässt, denke ich manchmal. Seltsam, dass Plätze genauso vernachlässigt und übersehen werden können wie Menschen! Nicht einmal fürs Wäscheaufhängen kommt der Garten in Betracht. Doch auch für mich selbst ist er kaum mehr als ein belangloses Gelbgrün und Grauschwarz im Augenwinkel, wenn Johanna und Rannvá im Haus sind und eine Art Familienleben um mich her stattfindet.

Wenn ich hingegen nur mit Rannvá oder ganz allein im Haus bin, wie meistens tagsüber, dann macht der Garten sich bemerkbar. Er beginnt, sich da draußen zu erstrecken. Er regt sich, wie Plätze das manchmal im Traum tun, leuchtet mit seinen auch im Sommer ein wenig fahlen Farben weit ins Zimmer herein, hat im Wind sich rührende Halme, sogar ein paar Blumen mit freilich nur hemdknopfgroßen weißen Blüten kommen zum Vorschein. Im Sonnenlicht blinkende Insekten fliegen auf und ab, wenn man nur genau hinschaut, und unwillkürlich kommen mir dann auch immer die graurosa Regenwürmer in den Sinn, die sich durch das Erdreich unter den Graswurzeln arbeiten und sich dabei wohl niemals begegnen. Die Sperlinge baden sich in der Pfütze, kollern dabei übereinander und schlagen mit den Flügeln, so dass um sie her die Wasserfunken sprühen. Ein Wolkenschatten gleitet rasch über die Grasfläche hinweg und weitet sie, einen Wimpernschlag lang, zu einer ganzen Landschaft, einem Wiesental, und unter dem tiefhängenden Gezweig der Kiefern mit ihren wie ineinander verkrallt wirkenden Nadelbüscheln braut sich ein verheißungsvolles Dunkel zusammen. Sehr leicht könnte dort ein Schatz in der Erde vergraben sein, der immer mehr anwächst, solange er nicht gehoben wird.

Vor ein paar Tagen meinte ich in der letzten Dämmerung zwischen den Stämmen die Gestalt eines Seehunds wahrgenommen zu haben, der bleistiftgrau schimmernde Leib mit dunkleren Flecken wie von Laubschatten übersät. Ganz langsam tauchte er aus dem Erdreich auf und schaute eine Weile wie in schwermütigen Gedanken zum Haus herüber, bevor er ohne einen Laut wieder versank.

*

Es ist noch früh im Mai; die erste wärmere Periode in diesem Jahr. Den Winter über hat es besonders heftige Stürme und tagelange Regenfälle und öfter auch Eisregen gegeben. Das Meer um uns herum war eine schwer bewegte Finsternis, der man sich kaum einmal genähert hat.

Noch vor zehn Tagen ist ein Schneesturm über die Inseln hinweggezogen und hat eine halbmeterdicke nasse Schneedecke über das Hochland und die Weiden gebreitet. Hunderte von gerade erst zur Welt gekommenen Lämmern sind im Schnee zugrunde gegangen (die Fernsehnachrichten beschäftigten sich tagelang damit), und die Bergzüge, die man vom Strand von Bođanes aus in nördlicher Richtung sich weit ins Meer hinauswagen sieht, glänzten in den Tagen danach in einem fremdartigen ernsten Weiß vor dem dunkelblauen Frühlingshimmel.

In den letzten Tagen aber ging immer wieder eine leise südliche Brise über die Inseln hin; fast wie ein warmer Strom fühlte sich das an. Nur weit oben im Hochland, im Nordschatten der Felsen, mag es noch immer ein paar harschige Schneeflecke geben, und über die teichartigen Gewässer, auf die man dort hin und wieder stößt, wird sich noch eine graue Eishaut breiten.

Der Himmel ist jetzt meistens klar; nachts erscheint im Südwesten die Milchstraße mit derselben Gewissheit, mit der unten im Warteraum des Busterminals am Abend die Neonbeleuchtung angeht. Nur hier und da ist der Himmel an den Nachmittagen mit ein paar kleinen, körperhaften, scharf umrissenen Wolken betupft, und man sieht die zerfasernden Kondensstreifen der Interkontinentalmaschinen.

Im Park Viđarlundin beobachteten Rannvá und ich, wie die Vögel geschäftig auf und ab flogen, oft mit kleinen Zweigen und anderen dem Nestbau dienlichen Dingen im Schnabel. Sogar ein Amselpaar haben wir gesehen; nirgendwo sonst auf den Färöern können Amseln leben.

Die ersten graubraun gesprenkelten Jungmöwen stapfen auch schon auf unsicheren Beinen herum, und den Gänsen auf den Wirtschaftswiesen, die sich zwischen der Küstenstraße und dem Strand erstrecken, folgen Scharen länglicher Küken, deren Flaum in der Sonne leuchtet, als hätten sie einen Heiligenschein. An Hals und Brust haben sie dottergelbe Flecken; an der Seite aber sind dunklere Stellen, als habe sich die Natur vorgemerkt, wo später die Flügel hervorwachsen sollen.

Selbst das Meer wirkt frisch belebt in diesen Tagen, als sei es ausgewechselt worden. In den Gärten blühendes Gesträuch, und überall, sogar in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen im Stadtzentrum, sprießen nun neue Grashalme: Das die Augen ermüdende Graugelb, das viele Monate wie ein Trauerflor über der Insellandschaft gelegen hat, verwandelt sich jetzt sehr rasch in das die hiesige Weltgegend so kennzeichnende Smaragdgrün, das selbst im trübsten Regenwetter wie aus sich selbst heraus leuchtet. Ein Grün, das demjenigen, der zum ersten Mal hier ist, noch nachts vor dem Einschlafen auf der Netzhaut flimmert.

*

Auf einem dieser smaragdgrünen Inselflecken im Nordatlantik steht das mit Wellblech verkleidete eingeschossige Haus, in dem wir zu dritt seit zwei Jahren wohnen: Johanna, die als Ärztin in der Kinderstation des Landeskrankenhauses auf der anderen Seite der Hafenbucht arbeitet, ihre fünfjährige Tochter Rannvá und, seltsam ist es, das hinzuschreiben: ich. Mitten in der im Südosten der Insel Streymoy gelegenen Hauptstadt leben wir in einer winzigen, in den schlechten Stadtplänen für Touristen gar nicht eingezeichneten Querstraße zur Jonas Broncks gøta mit ihren kleinen farbigen Häusern, auf der felsigen Anhöhe über dem Fährhafen mit dem fußballfeldgroßen, meistens nässeglänzenden Parkplatz davor und dem angrenzenden Busterminal. Und nur ein paar Schritte sind es von unserem Haus zu der Schanze, von der aus man in früheren Jahrhunderten den Hafen gegen die aus dem Mittelmeer kommenden Piraten verteidigte, die Mauern halbversunken in dem steil zum Wasser hinab fallenden Wiesenhügel, von dem aus man auf die Nachbarinsel Nolsoy schauen kann.

Auf der anderen Seite zieht sich eine labyrinthische Villengegend über die Anhöhe hinweg bis fast an die Westküste der Insel hinunter. Die vielen Katzen, die dort oben herumstreichen, aus den abschüssigen, oft von braunen Felsrücken durchsetzten Gärten hervorgeschlichen kommen oder mitten auf den Straßen kauern und ihre Pfoten lecken, vertiefen die Stille zwischen den tagsüber dem Anschein nach allesamt leerstehenden Häusern.

Zwar gibt es ein paar breitere Straßen mit Bürgersteigen dort oben, und sogar einige Verkehrsschilder, als wäre da ernstlich irgendein Verkehr zu regeln; dennoch habe ich mich lange schwergetan, den Weg hinunter zu der Küstenstraße Yviri viđ Strönd quer durch das Viertel zu finden: Eine Straße, obwohl ziemlich breit, ist in Wirklichkeit nur eine Auffahrt zu einer Garage, eine andere endet an einer Gartenpforte, über die hinweg man unter einem Vordach ein Dutzend Schuhe aufgereiht sieht, oder wo etwa neben einem Paar Gummistiefeln eine Angel an der Hauswand lehnt. Die nächste Straße verwandelt sich unversehens in einen lehmbraunen, zwischen niedrigen Gartenplanken verlaufenden Trampelpfad, der, während man das Meer im Osten schon mit jedem Schritt vor sich weiter werden sieht, plötzlich eine jähe Wendung beschreibt und zu dem immerzu windigen Schulsportplatz ganz oben auf der Hügelkuppe führt. Selbst die hochaufgeschossenen Jugendlichen wirken dort sehr klein, wenn sie unter dem mächtigen, seltsam nahen Himmel Fußball spielen, und ihre Rufe verlieren sich wie in einem Traum.

*

Trotz der beinahe noch innenstädtischen Lage herrscht um unser Haus, überhaupt in diesem erhöhten Teil der Stadt immer eine feine und vorsichtige Tagesstille, als ob alle Bewegung dort sich nur auf Zehenspitzen ereignete. Es ist nicht viel anders als drinnen im Hochland, wenn der Wind sich einmal ganz gelegt hat und man allenfalls hören kann, wie die Schafe die Grashalme ausrupfen und von Zeit zu Zeit ihren Kot auf die Erde klatschen lassen, oder in der Ferne ein Auto über ein in die Straße eingelassenes Schafgitter rattert, oder ein Quellbach mit einem sich bis in alle Ewigkeit wiederholenden Glucksen über einen Stein schießt. Hier kann es so still wie auf den Klippen von Eysturoy sein, von deren Himmelhöhe die aufschäumende Brandung an ihrem Fuß nicht mehr zu hören ist und ein Bild stumm verzweifelten Anrennens abgibt.

Morgens beim Aufwachen, noch bevor ich die Augen öffne, habe ich manchmal den Gedanken, es sei auf einmal wieder ein Wintertag in der Kindheit angebrochen, der schon langersehnte erste des Jahres, an dem man jedes Mal aufs Neue darüber staunte, wie das ausgelassene, gleichsam befreite Herumwirbeln der Schneefedern im Himmelsraum so vollkommen verschwiegen vonstattengehen kann. Ich stelle mir dann die Fußspuren vor, die ich draußen hinterlassen würde und die gleich wieder überschneit wären, und erinnere mich an das Klappern der Bücher im Schulranzen als einziges Nahgeräusch, wenn man den Weg am Fluss zur Schule entlangrannte, weil man wie immer spät dran war, während die Schneeflocken im graugelben Wasser zergingen. In Gedanken höre ich das scharrende Geräusch der Schneeschaufeln aus kleinerer und größerer Ferne, wie es eine große Wintergeräumigkeit um mich her erzeugt, und wie hin und wieder ein Klumpen eisigen Schnees auf das Fensterbrett kracht.

Ganz nahe sind mir dann die langen dämmrigen Dezembervormittage mit dem Geruch nasser Wollsachen, wenn in dem überheizten neonhellen Klassenzimmer nichts zu hören war als das Kratzen der Füllfedern auf dem Papier und das Rauschen der Heizung, und vor den Fenstern Stunde um Stunde der Schnee herabrieselte, die Bäume auf der Straße vor dem Schulhof sich in hellgraue Schemen verloren und nur das Schwarz der Rabenkrähen klar und bestimmt blieb wie Schriftzeichen inmitten der weißen Auflösung.

Mitten im Sommer, mitten am Tag herrscht um unser Haus herum oft eine sorgfältige Lautlosigkeit, als sei man tatsächlich zugeschneit bis unters Dach und als habe weit um einen herum jeglicher Verkehr aufgehört. Es ist keine argwöhnische, beunruhigte Stille, die auf irgendein Geschehnis lauert, noch weniger eine, die zuvor alles Hörbare erstickt hätte, sondern ein sanftes und zugleich regsames und durchsichtiges Schweigen, ein durch jahrtausendelange Übung geräuschlos gewordenes Miteinandersein und Ineinandergreifen der Dinge.