Der nächtliche Lehrer - Klaus Böldl - E-Book

Der nächtliche Lehrer E-Book

Klaus Böldl

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Beschreibung

In einer kleinen Stadt im hohen Norden von Schweden tritt Lennart eine Stelle als Lehrer an. Er heiratet die Bibliothekarin Elisabeth, die kurz darauf bei einem Unfall ums Leben kommt. Danach wird Lennart vollends zum Einzelgänger, der seine Tage auf einem prähistorischen Grabhügel verbringt und irgendwann seine Arbeit aufgibt. Nur manchmal kehrt er noch nachts in das Schulhaus zurück, wo er umgeht wie ein sanftes Gespenst, das sein Leben sucht. Klaus Böldl schreibt mit absoluter Souveränität über Sehnsucht, Erinnerung und den Lauf der Zeit – voller Lakonie, Humor und höchster Spannung. Es ist eine Prosa, die den Schleier der Wirklichkeit zerreißt, um das verborgene Geheimnis des Lebens aufzudecken.

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Seitenzahl: 124

Veröffentlichungsjahr: 2010

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Klaus Böldl

Der nächtliche Lehrer

Roman

Fischer e-books

Wer erinnerte sich nicht an jenen heißen Juni vor mehr als einem Vierteljahrhundert? Von Dublin bis Moskau, vom Mittelmeerraum bis in den hohen Norden Skandinaviens hinauf war nirgendwo eine Wolke am Himmel zu sehen. Schon in den letzten Maitagen hatte man die ganze Nacht hindurch das Schlafzimmerfenster offen stehen, obwohl es auch nach Sonnenuntergang kaum abkühlte. Es war eine Zeit der verheerenden Waldbrände und der ersten Hitzetoten. An einem dieser Tage fuhr Lennart nach Sandvika, um sich dem Leiter des Gymnasiums vorzustellen, an dem er vom folgenden Schuljahr an als Lehrer für Kunst und Religion arbeiten sollte. Es würde Lennarts erste Stelle sein, denn gerade erst hatte er sein Studium mit dem Referendariat abgeschlossen. Es sollte auch seine einzige bleiben.

Immer leerer wurde es im Laufe des Vormittags in den Zügen, in denen Lennart auf immer weiter sich verzweigenden Nebenstrecken unterwegs war, und in dem Regionalzug auf dem letzten Abschnitt seiner Reise saß er endlich ganz allein im Abteil, mit verschränkten Armen, die Füße auf den Sitz gegenüber gelegt. Aus einem Riss in der Lehne neben ihm quoll gelber Schaumgummi. Vom nächsten Wagen kamen von Zeit zu Zeit ein paar halbwüchsige Mädchen kreischend durch den Gang gerannt, immer auf und ab. Offenbar handelte es sich dabei um ein Spiel, das Lennart eine Zeitlang in wachsender Gereiztheit zu ergründen versuchte. In den letzten Jahren hatte er eine immer deutlichere Abneigung gegen Spiele entwickelt.

Dann dachte er wieder daran, dass sein Leben, wenn er die Stelle erhalten sollte, sich bis zur Unkenntlichkeit verändern würde, und er selbst sich vielleicht ebenfalls. Von morgens bis abends würde sein Leben fortan ein anderes sein, möglicherweise, mit anderen Dingen vor den Fenstern, anderen Bäumen, und mit anderen Menschen um sich und mit anderen Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen würden. Jemand anderes würde seine Wohnung in Stockholm beziehen, würde fremde Möbel in den drei Zimmern aufstellen, würde Bilder mit unbekannten Motiven an die Wände hängen und morgens beim Aufziehen der Vorhänge doch auf den vertrauten Hof mit den Goldregensträuchern und den braun gestrichenen Garagentoren hinunterschauen.

Lennarts bisheriges Dasein, so wie es sich in seinen Erinnerungen niederschlug, war ihm immer als Zusammenhang ohne größere Brüche oder Zwischenräume erschienen: von den allerfrühesten Kindheitseindrücken, einem unsicheren Gang an einem rasch dahinschießenden dunkelgrünen Wasser entlang, dem gellenden Pfiff einer Eisenbahn in einer rosa Abenddämmerung, der vollgepissten Hose: erst heiß, dann kalt –, bis zu dem gerade stattfindenden Augenblick im leeren Abteil des Zuges nach Sandvika, in dem Lennart ein Brandloch in dem braunen Fenstervorhang entdeckte: Alles jemals Wahrgenommene ging ihm stets als Teil einer freilich undurchsichtigen und möglicherweise schlecht erzählten, aber doch unbeirrbar dahinfließenden Geschichte auf.

Warum eigentlich, hatte er sich in den vergangenen Tagen immer wieder gefragt, empfahl ihn die Schulbehörde von der Hauptstadt, in der er kürzlich sein Referendariat beendet hatte, geradenwegs in eine Abgeschiedenheit, die so tief war, dass man sich wohl niemals mehr aus ihr würde herausarbeiten können? Lennart hatte den Namen Sandvika noch nie zuvor gehört, hatte eine ganze Weile gebraucht, bis er ihn in seinem alten Schulatlas überhaupt fand: eine kleine Stadt an einem langgestreckten See, in einer dünn besiedelten Gegend.

Aus der sanft hügeligen Waldlandschaft, die draußen vorbeiflog, verflüchtigten sich die Zeichen der Bewohntheit immer mehr. Zeitweise ging es mitten durch nachtdunkle Nadelwälder, dann mischten sich wieder Birken und manchmal Eichen dazwischen und hellten den Wald auf. Die Lichtflecken, mit denen der braune Boden da drinnen gesprenkelt war, schienen nichts mit der Sonne am Himmel zu tun zu haben. Regte sich etwas im bläulichen Schatten auf einem der Forstwege, war es bestimmt nur ein Hase oder ein Eichhörnchen.

Nach einiger Zeit war der Waldgürtel durchmessen und es tat sich ein mittäglich schattenloses Wiesen- und Ackerland auf, das in der Ferne von einem graublauen Hügelzug begrenzt wurde. Hier und da ein spitz zulaufender Kirchturm. Getreide, noch grün, füllte weite Flächen aus. Irgendwo fuhr, sehr langsam, ein Traktor dahin. Einen Feldweg, der eine Weile neben dem Gleis herlief, säumten Mohnblumen, deren Rot einen blassen leeren Raum um sich erzeugte. Dann wurde aus den Feldern plötzlich eine gleißende Wasserfläche, mit einzelnen Segeldreiecken darüber verstreut.

Kurz danach stand Lennart in seinem flaschengrünen Cordsamtanzug – er hatte damals keinen anderen – auf dem Bahnsteig von Sandvika. Ein heißer Wind blies ihm ins Gesicht. Das Sakko hatte er über die Schulter geworfen; bestimmt, dachte er, waren unter seinen Achseln große Schweißflecke zu sehen. Kaum eine Minute verging, und der Zug fuhr mit einem mühsamen Ruck wieder an. Hinter den die Backsteinfassade des Stationsgebäudes spiegelnden Scheiben waren die sonnenhellen Polsterlehnen wie Schemen aus einer fernen Welt gerade noch auszumachen. Aus dem letzten Abteilfenster lehnte sich ein kleiner weißblonder Junge und rief Lennart aufgeregt etwas zu, das nicht zu verstehen war.

Einen Augenblick lang stellte Lennart sich vor, wie er sich selbst auf einmal als vager Umriss hinter einer der Scheiben erschiene: eine gleichgültig auf den Bahnsteig einer gleichgültigen Kleinstadt hinausschauende Gestalt, der der Name Sandvika nichts sagte, die irgendwo anders hin unterwegs wäre und die sich schon längst wieder in die kommenden Fernen hineingeträumt hätte. Und nur eine leere Hülle, eine in einen möglicherweise allzu grünen Cordsamtanzug gekleidete Puppe auf dem glühheißen Bahnsteig von Sandvika zurückgelassen habe. Doch war der Zug schon verschwunden und hatte den Blick auf das in der Brise leise knisternde Schilf geöffnet, das bis dicht an den Gleiskörper heranreichte. Kleine verschreckt zwitschernde Vögel sprühten unablässig daraus empor, als säße da jemand in den Binsen und werfe sie in die Luft.

Draußen auf dem See war eine ganze Armada von Schlauch- und Ruderbooten zu einer nahen Felseninsel unterwegs; das Gelächter und Gekreische, das von dort herüberwehte, hatte, wie immer, wenn Laute sich über einem weiten Wasser verbreiten, etwas beinahe Ersticktes. Vom Gleisbett drang ein leiser Geruch nach Maschinenöl herauf, vermischte sich mit dem eines sonnenheißen Unkrauts, und am anderen Ende des Bahnsteigs schien eine vereinzelte Gestalt im Hitzeflimmern zu vergehen.

Am Eingang zur Schalterhalle hatte sich die Mädchengruppe aus dem Zug gesammelt: Ein eigenartiger, wenn auch von niemandem beachteter Anblick muss das gewesen sein, wie Lennarts dunkle, damals schon ein wenig korpulente Gestalt gleich einem Schatten durch die Menge von schlaksigen nackten Armen und Beinen glitt, durch vom Sommerwind geblähte gemusterte Röcke und aufgeregt wippende, von Gummibändern zusammengehaltene Pferdeschwänze. Worauf warteten diese Mädchen eigentlich? Lennart fragte sich, ob sie immer noch in ihrem Spiel befangen sein mochten.

Kurz darauf sperrte er seinen kleinen, zerkratzten Koffer in ein Schließfach und stieg in das einzige vor dem Bahnhofsgebäude wartende Taxi. Die Hitze im Wagen, der Geruch nach den heißen Polstern benahm ihm den Atem; er spürte, wie ihm unter dem Hemd der Schweiß hinablief. Vom Innenspiegel baumelte eine Schlumpffigur. Die Fahrerin, fast noch ein Mädchen, hatte rote drahtige Haare, das breite Gesicht und selbst der Hals waren voller Sommersprossen. Auch die Arme waren mit blassen Sommersprossen übersät, bis zu den Handrücken hinunter.

Sie sind der neue Lehrer, stellte sie fest, nachdem Lennart sein Ziel angegeben hatte. Meine kleine Schwester hat mir erzählt, dass zwei neue Lehrer kommen.

Zwei, sagen Sie? Ja, es könnte so kommen, sagte Lennart. Und nach einer Pause, während der der Wagen schon eine Zeitlang eine staubige, schattenlose Allee entlanggefahren war, ganz ohne Menschen auf den Gehsteigen, bekräftigte er es noch einmal, wie für sich selbst: Ich bin der neue Lehrer.

Plötzlich bremste die Fahrerin scharf: Vor ihnen kauerte eine Frau auf der Fahrbahn und las in kindlicher Versunkenheit, ohne den Blick zu heben, irgendwelche kleinen Gegenstände auf, Murmeln vielleicht oder Münzen, Lennart konnte es nicht erkennen. Trotz der Hitze trug sie eine eng anliegende Samtmütze, unter der rabenschwarze Locken hervorquollen, und einen türkisfarbenen Mantel, dessen Schöße weit über den Asphalt gebreitet waren. Die Fahrerin wies mit dem Kinn auf die Frau, sagte etwas, das Lennart nicht verstand, und lachte kopfschüttelnd, ohne die Frau dabei aus den Augen zu lassen.

Als das Taxi dann vor dem Schulhaus am Stadtrand hielt, läutete es von einem fernen Kirchturm gerade Mittag. Das Gelände war wie ausgestorben; die Kinder mussten Hitzefrei bekommen haben. Nur eine dicke schwarze Katze mit einer weißen Schwanzspitze strich über den im Sonnenlicht flimmernden Asphalt des Hofes, und über den Beeten des Schulgartens daneben kreiselten ein paar Hummeln: Es sah aus, als kämpften sie gegen einen Sog an.

Drinnen im Haus war eine ungeheuer dicke Frau, die unter ihrer Kittelschürze ganz nackt zu sein schien, mit dem Bohnern der Treppe beschäftigt. Auf Lennarts Frage, wo er das Büro des Schulleiters finde, stützte sie sich auf den Stiel ihres Blockers und deutete atemlos auf den oberen Treppenabsatz. Ihr Gesicht glänzte von Schweiß.

Selbst die Sekretärin war nach Hause geschickt worden, oder sie hatte fluchtartig ihren Schreibtisch verlassen: Um die Stuhllehne hing noch die Strickjacke, und neben dem Telefon stand eine weiße Kaffeetasse mit einem Marienkäfermuster. Vielleicht gab es auch am vorletzten Tag vor den Sommerferien nicht mehr viel zu tun.

Vom Fenster des Büros des Schulleiters ging der Blick auf eine wohl seit langem nicht mehr gemähte, mit Mohn- und Kornblumen durchsetzte Wiese und auf ein schütteres Fichtengehölz dahinter, in dem ein kleines Mädchen in einem roten Kleid wie auf Zehenspitzen herumschlich. An der Decke des geräumigen Büros drehte sich träge und nutzlos ein großer Ventilator, wie in den alten amerikanischen Detektivfilmen, und brachte die Papiere auf der weiten schwarzen Tischplatte darunter in eine schläfrig blätternde Bewegung.

Der Schulleiter war ein massiger Mann um die vierzig mit einer Glatze und einer schweren Kastenbrille. Die Ärmel hatte er hochgekrempelt, die buntgestreifte Krawatte hing am Knauf des Aktenschranks. Er rauchte einen Zigarillo und hatte sich halb auf das Fensterbrett gesetzt, von wo er Lennart seine massige nasse Hand reichte. Auch er hatte große Schweißflecke unter den Achseln; Lennart bemerkte es mit einer gewissen Sympathie.

Der Schulleiter musterte Lennart mit einem freundlichen und neugierigen Lächeln und fragte dann nach seiner Reise.

Aus Stockholm, das ist wirklich weit. Sie müssen früh aufgestanden sein.

Dann nannte er ihm die Zahl der Schüler und der Klassen und die der Lehrer; Lennart hatte sie im nächsten Augenblick wieder vergessen.

Wir sind ja nur eine mittelgroße Schule, höchstens.

Wie aus großer Ferne hörte Lennart den Schulleiter von seinem Segelboot und seinem schwierigen Sohn erzählen, den er schließlich in ein Internat habe geben müssen.

Vielleicht ist es ja auch nicht so leicht, der Sohn eines Schulleiters zu sein. Der Schulleiter lachte.

Sie haben wohl noch keine Kinder? Nein, natürlich nicht ... Aber die meisten Schüler hier sind nicht so, fügte er nach einer nachdenklichen Pause hinzu. Sie machen uns wenig Kummer, wenn ich es recht bedenke. Verglichen mit dem, was man sonst so liest ... Seit fünf Jahren leite ich diese Schule, insgesamt fünfzehn Jahre bin ich hier. Fünfzehn Jahre ... Gegen Ende des Schuljahrs gebe ich oft Hitzefrei, es bleibt mir gar nichts übrig. Es kann Anfang Juni schon sehr heiß sein in dieser Gegend, wie Sie sehen. Dafür kann es dann im Januar und Februar sehr kalt werden.

Sie haben einen Schulgarten, sagte Lennart. Ich habe noch nie einen richtigen Schulgarten gesehen.

Eigentlich eine schöne Einrichtung, ja. Allerdings interessieren sich unsere beiden Biologielehrkräfte nicht besonders dafür, deshalb ist er nicht in der besten Verfassung.

Lennart nickte und blickte sich um. An der Wand hinter dem Schreibtisch entdeckte er einen Kalender mit einem Gemälde von Paul Cézanne. Es zeigte eine weißgraue und braune Landschaft während der Schneeschmelze, nur ein paar Hausdächer schimmerten karminrot unter einem finstertrüben Sturmhimmel auf. Der Schulleiter folgte mit einem neugierigen Ausdruck Lennarts Blick, sah dann wieder Lennart an:

Mögen Sie Cézanne? Ein ziemlich ungewöhnlicher Cézanne, nicht wahr, vor allem was die Stimmung angeht, die Jahreszeit. Es herrscht gar keine Cézannetemperatur in dem Bild.

Ein ziemlich frühes Bild, Schneeschmelze bei L’Estaque, sagte Lennart mit einer leichten Verbeugung, 1870 oder 1871 gemalt.

Der Schulleiter lachte und reichte ihm wieder seine feuchte Hand. Im Augenwinkel nahm Lennart wieder das rote Kleid des Mädchens zwischen den Fichtenstämmen wahr.

Sie bekommen dann Bescheid, Lennart – ich darf Sie doch beim Vornamen nennen? Es wird sicher nur ein paar Tage dauern.

Das Vorstellungsgespräch war beendet.

*

Lennart fühlte sich erleichtert, als er von der Schule durch die fast menschenleeren Kleinstadtstraßen zurück in Richtung Bahnhof wanderte, in seinem flaschengrünen Cordsamtanzug, das Sakko über die Schulter gehängt, die Ärmel des weißen Hemdes hochgekrempelt. Ja, da waren, geradeso wie beim Schulleiter, große Schweißflecken unter den Achseln, er hatte sich davon überzeugt.

Es war Sommer, Hochsommer. Keine Wolke stand am Himmel. Anfangs Einfamilienhäuser mit hölzernen Veranden, davor geschorene Rasenflächen, Obstbäume. Dann zweigeschossige Backsteinhäuser mit einem schmalen Grünstreifen davor. Die wenigen Läden in dieser Wohngegend waren alle über Mittag geschlossen. In einem Fenster stand ein Käfig mit einem unglücklich tschilpenden Wellensittich. Hin und wieder stieg Lennart auf dem Weg ein Mittagessensgeruch in die Nase. Tief im Inneren eines Hauses stritten sich ein Mann und eine Frau. Oder war es nur die Mittagsstille, vor der sich die Stimmen so lebhaft und erregt ausnahmen? Ein sorgsam am Straßenrand geparktes Dreirad, die roten, weißen, blauen Wäscheklammern an einer Leine: Wie unscheinbar, ja beinahe wesenlos hier gewohnt wurde, ging es Lennart durch den Kopf, es bedurfte schier gar keiner Menschen dazu. Ein Igel rannte über den heißen Asphalt, bewegte sich dabei wie eine große kurze Raupe.

Lennart erfasste, wie er so in der glühenden Sonne dahinwanderte, ein fast zärtliches Mitgefühl für die Straßen in diesem unbekannten Sandvika, so schweigsam und sommerstaubig, wie sie waren, und so ohne Merkmale. Ihre vollkommene Austauschbarkeit mit allen erdenklichen Provinzsommerstraßen, die Unmöglichkeit, etwas über sie zu erzählen, empfand Lennart als Befreiung. Wie ist es denn nun in Sandvika, würden ihn seine Freunde in der Hauptstadt fragen. Unwillkürlich ging Lennart etwas schneller. Es war heiß und still, würde er erzählen. Es gibt einen großen See, der sich einem auch weit weg vom Ufer noch mitteilt, durch eine gewisse Weitung des Himmels, möglicherweise, und der bis dicht an den Bahnhof heranreicht. Mitten in der Stadt stehen an manchen Stellen Fichten, Kiefern, Waldbäume. Fichtenzapfen auf den Bürgersteigen hätte Lennart zu vermelden.

Ich kann es mir vorstellen, hier zu sein, ging es ihm immer wieder durch den Kopf. Hier vor mich hinzuleben, an diesem See, unter diesen Bäumen, mit den Vorstadtstraßen als Weg zur Schule. Als Lehrer für Kunst und für Religion in einem Nest am Ende der Welt.

Lennart überquerte den weiten Platz vor dem Stationsgebäude und betrat dann das Bahnhofslokal. Dort herrschte, im Vergleich zur grellen Sonne draußen, eine kühle Dämmerung. Es verging ein Moment, in dem sich eine beinahe unterschiedslose Schwärze auf seinen Netzhäuten ausbreitete, ehe die Reihen dunkel gebeizter Tische und Stühle hervortraten. An den Wänden hingen gerahmte, kolorierte Stiche von alten Dampflokomotiven. Hinter der Theke am anderen Ende des Gastraums regte sich unbestimmt eine Gestalt. Vor den Fenstern, die auf den Bahnsteig hinausgingen, waren die dunkelgrünen Vorhänge jeweils nur einen Spaltweit aufgezogen. In den Sonnenlichtstreifen, die im Dämmer über den Tischen und dem Fußboden lagen, kreisten ein paar Fliegen.