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Klaus Böldl

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Beschreibung

Odin galt als oberster Gott der Germanen. Er war der Herr der Berserker und Herrscher über den Krieg und das Totenreich. Seine beiden Raben trugen ihm alles zu, was in der Welt vor sich ging. Bis heute hat diese düstere Figur nichts von ihrer Faszination verloren. Doch wie sah die Odin-Verehrung im heidnischen Norden wirklich aus? Was ist authentisch, was spätere Zuschreibung? Klaus Böldl liefert die erste Gesamtdarstellung zu Odin und seinem Kult. Er prüft die archäologischen und literarischen Zeugnisse, bettet Odin in den Kontext der nordischen Religionen ein und beleuchtet die lange Rezeptionsgeschichte des «dunklen» Gottes vom Mittelalter bis in die Gegenwart. In den wikingerzeitlichen Zeugnissen lässt sich Odin noch nicht in allen Details erfassen, eine deutlichere Gestalt nimmt der Gott erst in der isländischen Saga-Literatur des Mittelalters an. Gerade in den Liedern der Edda finden sich einige der bekanntesten Odin-Mythen literarisch ausgestaltet – Skaldenmet, Götterdämmerung, seine beiden Raben oder seine Einäugigkeit. Seit dem späten18 . Jahrhundert wurde Odin dann in Abgrenzung zum romanischen Kulturkreis und zum Christentum immer stärker zum Nationalgott der Deutschen stilisiert, die Spur führt hier von Jacob Grimm über Wagners Der Ring des Nibelungen bis zu C. G. Jung. Vor allem durch die weite historische Perspektive entlarvt Klaus Böldl im vorliegenden Band diese Instrumentalisierung des Gottes als identitätspolitische Konstruktion, die jedoch bis heute in der Heavy-Metal-Szene, bei Wikinger- und Mittelalterbegeisterten, bei Esoterikern und Neuheiden sowie in rechten und rechtsextremen Milieus gepflegt wird.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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KLAUS BÖLDL

ODIN

DER DUNKLE GOTT UND SEINE GESCHICHTE

Von den Germanen bis Heavy Metal

C.H.BECK

Übersicht

Cover

Inhalt

Textbeginn

Inhalt

Titel

Inhalt

Karte

Einleitung

— I —: Odin in altnordischen und anderen mittelalterlichen Quellen

— 1 —: Dunkle Anfänge: Wodans Spuren in Spätantike und Frühmittelalter

Mercurius und Wodan

Reichtum und Macht: Wodans Wurzeln im Norden

Goldmedaillons als Medien einer völkerwanderungszeitlichen Wodanreligion?

Wodan als Heiler: Der zweite Merseburger Zauberspruch

Odin als Gott der Schrift: Das Zeugnis der Runen

Odin in Runeninschriften

Wodan in legendenhaften Ursprungsgeschichten

Odin auf der Landkarte: sakrale Ortsnamen

Wodan id est furor

? Wodan-Odins Name

— 2 —: Odin als Gott der wikingerzeitlichen Eliten

Walhall: Halle oder Berg der Toten?

Ein christlicher König zieht in Walhall ein

Walhall und die Kriegeraristokratie

— 3 —: Odin in Edda und wikingerzeitlicher Dichtung

Snorri Sturluson und seine Edda

Eddische und skaldische Poesie

Der Mythos vom Skaldenmet

Egil Skallagrímssons Gedicht

Sonatorrek

: eine Abrechnung mit Odin?

Preislieddichter im Übergang von Heidentum und Christentum

Wie Odin weise wurde

Odins Rolle im kosmischen Geschehen

Odin – ein Fruchtbarkeitsgott?

Odins Familie

Exkurs: Ikonographische Zeugnisse der Odinverehrung

— II —: Odin-Rezeption vom Mittelalter bis zur Gegenwart

— 4 —: Odin in der Erzählliteratur des Hoch- und Spätmittelalters

Odin wandert nach Schweden ein

Odin – Herr der Berserker?

War Odin ein Schamane?

Odin als Wanderer unter den Menschen

Odin begegnet dem Christentum

Odin als historische Gestalt

Odin im Mittelalter – nur mehr eine literarische Gestalt?

— 5 —: Odin in der Frühen Neuzeit

Odin in der Folklore

Odin und die Fruchtbarkeit der Felder

Die ‹Wilde Jagd› und das wütende Totenheer

Odinbilder der Neuzeit – Einführendes

Germanenbegeisterung zwischen Humanismus und Aufklärung

Von Goten und Griechen: Barocke Vorzeitphantasien in Schweden

Odin und Odysseus: eine norwegische Vorzeitphantasie

Germanische Religion und protestantische Rechtgläubigkeit

Odin hält Einzug in die Geschichtsschreibung

Odin und Buddha

— 6 —: Odin in Kunst, Musik, Literatur und Identitätsdiskursen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Odin als literarische Gestalt

Einige frühe Beispiele aus Island und von den Färöern

Die Entdeckung der Edda als Fundus einer neuen Poesie

Odins Einwanderung in die europäische Dichtung

Odins Skaldenmet: einige Kostproben

Odin in der bildenden Kunst seit dem späten 18. Jahrhundert

Odin als «Gott der Deutschen»: Von Jacob Grimm bis Felix Dahn

«der geistigste gott unseres alterthums»: Jacob Grimms Deutsche Mythologie

«Odin sinnt und forscht»: Ludwig Uhlands Mythenforschungen

«Der kriegerische Nationalgott der Deutschen»: Wolfgang Menzel und Felix Dahn

Odin und die Psyche der Germanen: C. G. Jung und seine Nachfolger

Odin auf der Musikbühne des 19. Jahrhunderts

Wagners Wotan

Die völkische Bewegung und ihr Wodanbild

Bernhard Kummer und Otto Höfler: Zwei konkurrierende Odinentwürfe im «Dritten Reich»

Kummers Odin: «Das böse widergöttliche Prinzip»

Höflers Odin: der «Gott der ekstatischen Männerbünde»

«Heidenlärm»: Odin in der Metal-Musik

Nachbemerkung

Anhang

Anmerkungen

Einleitung

1. Dunkle Anfänge: Wodans Spuren in Spätantike und Frühmittelalter

2. Odin als Gott der wikingerzeitlichen Eliten

3. Odin in Edda und wikingerzeitlicher Dichtung

Exkurs. Ikonographische Zeugnisse der Odinverehrung

4. Odin in der Erzählliteratur des Hoch- und Spätmittelalters

5. Odin in der Frühen Neuzeit

6. Odin in Kunst, Musik, Literatur und Identitätsdiskursen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Überblick über die wichtigsten literarischen Odinzeugnisse des Mittelalters

Literaturverzeichnis

Übersetzte Quellen

Weiterführende Literatur

Germanische Altertumskunde online

Neuzeitliche Belletristik

Bildnachweis

Namen- und Ortsregister

Zum Buch

Vita

Impressum

Karte

Einleitung

Tausend Jahre nachdem das germanische Heidentum auch in Skandinavien dem Christentum weichen musste, ist Odin präsenter denn je, und dies auf den verschiedensten Feldern. Rechtsextreme, gegen Flüchtlinge und Migranten agitierende Gruppierungen wie «Wodans Erben» und «Soldiers of Odin» berufen sich auf ihn; im Internet werden T-Shirts mit dem unter militanten Neuheiden und Rechten beliebten Slogan «Odin statt Jesus» oder seit einigen Jahren auch «Odin statt Allah» feilgeboten. Ohne größere Modifikationen knüpfen Rechtsextreme und Neopagane an die rassistischen und chauvinistischen Odinbilder an, die die völkische Bewegung vor über hundert Jahren aufgebracht hat. Für sie ist Odin der Schutzgott der weißen Rasse, der kaum inhaltlich gefüllte Glaube an ihn dient nicht zuletzt der aggressiven Abgrenzung gegen Juden und Muslime, aber auch gegen das als ‹artfremd› empfundene Christentum.

Doch ist die Popularität des Kriegs-, Toten- und Weisheitsgottes keineswegs auf rechtsextreme oder neopagane Milieus beschränkt. Seit langem ist Odin in der Populärkultur angekommen. Im Namen des Herrn von Walhall werden Getränke, Potenzmittel, Regenjacken und Kosmetika vermarktet. Ein Seafood-Lieferant, eine Software und ein schwedischer Forschungssatellit, der seit 2001 die Erde umkreist, tragen den Namen des altnordischen Gottes – um nur einige Beispiele zu nennen. Es gibt Brett- und Computerspiele, in denen es um Odin geht; er begegnet in Filmen, in der Musik, in Comics und auch in der Literatur, denn seit Thomas Gray 1761 in seinem Gedicht The Descent of Odin den Ritt des Gottes in die Totenwelt besang, ist Odin immer wieder Gegenstand literarischer Ausdeutungen gewesen, und solche finden sich bis in die Gegenwart. Die Isländerin Svava Jakobsdóttir legte 1987 mit Gunnlaðar saga («Gunnlöðs Geschichte») einen für den Preis des Nordischen Rates nominierten feministischen Thriller vor, der den Mythos von Odins Raub des Dichtermets als Sündenfall des Patriarchats interpretiert. Der norwegische Autor Tor Åge Bringsværd, dessen poetische Nacherzählung der nordischen Mythologie unter dem Titel Die wilden Götter (2001) auch in Deutschland viele Leser fand, präsentiert in seinem Drama Odin (1991) einen Gott, der nach der Götterdämmerung zu dem Schluss kommt, die Mythologie mit den teils von ihm verantworteten unseligen Entwicklungen müsse umgeschrieben werden. Eine zentrale Rolle spielt Odin als Wanderer in Neil Gaimans Roman American Gods (2001, deutsch 2015), der auch als Serie mit drei Staffeln verfilmt wurde (2017–2021). Die beliebte dänische Autorin Janne Teller lässt in dem Roman Odins Insel (1999, deutsch 2002) den Gott in die ihm unbegreifliche Welt der späten 1990er Jahre mit ihrer überbordenden Bürokratie zurückkehren. Es fehlt also durchaus nicht an originellen Odininterpretationen, die sich nicht nur des prominenten Namens bedienen, sondern die Vieldeutigkeit des Mythos fruchtbar machen und kritische oder ironische Bezüge zur Gegenwart herstellen.

Bereits im 18. Jahrhundert hielt die nordische Mythologie und damit auch Odin in die Musikgeschichte Einzug; Richard Wagners 1876 uraufgeführter Ring des Nibelungen ist lediglich die bekannteste und wirkmächtigste unter einer größeren Zahl von musikalischen Annäherungen an den Asengott, die sich im vergangenen Vierteljahrtausend finden lassen. Seit langem sind die Stoffe der Edda in der abendländischen Musik also vertreten, wobei ein großer Teil der Beiträge aus Skandinavien stammt. Eine besondere Fokussierung auf die Odinmythologie lässt sich dabei nicht beobachten – mit Ausnahme des Genres der Metal Music, in dem Odin seit den 1980er Jahren sehr präsent ist. Rund drei Dutzend Bands veröffentlichten Titel, die sich um den Gott drehen; dieses bemerkenswerte Phänomen wird am Ende des Buches aufgegriffen.

Auch im Alltag hinterlässt Odin seine Spuren, und dies nicht nur in den erwähnten Produktnamen. Viele Menschen tragen, ohne dass sich damit ein explizites Bekenntnis zum Neuheidentum verbinden müsste, Amulette und andere Schmuckstücke mit mehr oder weniger an wikingerzeitlicher Ornamentik angelehnten Odinmotiven. Eine 2009 in Dänemark gefundene winzige Figur aus dem 10. Jahrhundert, die auf einem thronartigen Sessel sitzt, wurde innerhalb kurzer Zeit als «Odin von Lejre» berühmt (s. Abb. 11 und S. 136 f.). Nachbildungen der Figur verkaufen sich in Museumsshops und auf Wikingermärkten glänzend – dabei gibt es gewichtige Argumente gegen die Annahme, dass es sich tatsächlich um eine Darstellung von Odin handelt. Das Interesse an archäologischen Artefakten aus dem germanischen Heidentum ist beträchtlich. So wurde über den Fund einer Goldmünze aus der Zeit um 400, in deren Runeninschrift Forscherinnen den Namen Odin ausgemacht haben, im März 2023 unter anderem auch auf SPIEGEL online berichtet.

In der Jugendkultur besitzt der Name Odin eine immense Strahlkraft. Dort scheint er im weitesten Sinne für Subversion, für ein spielerisch-unbeschwertes Dasein, für die Sehnsucht nach dem Ausbruch aus all den Beschwernissen zu stehen, die uns die Zivilisation auferlegt. Nicht zufällig handelt es sich dabei um dieselben Vorstellungen, die sich in der populären Wahrnehmung mit der Wikingerzeit verbinden. Doch so wenig wie sich der Mensch der Wikingerzeit in Wirklichkeit eines ungebundenen und von keinerlei Zwängen eingeengten, von Lustreisen auf Drachenschiffen geprägten Daseins erfreuen konnte, so wenig legen es die alten Überlieferungen über Odin nahe, den Herrn des Krieges und der Toten als Spaß- und Freizeitgott zu feiern. Doch aus seinen mythologischen und religionshistorischen Kontexten hat sich Odin weitgehend gelöst.

Wenngleich Odin in der Rezeption seit jeher und bis zum heutigen Tage eine Sonderstellung unter den germanischen Göttern zuerkannt wird, hat er doch gerade auf der populärkulturellen Bühne mächtige Konkurrenten wie seinen Sohn Thor, was sich in der anhaltenden Beliebtheit von Thorshämmern als Halsschmuck zeigt, aber auch an den Marvel-Filmen über den Superhelden Thor (2011–2022), in denen Odin sich mit einer Nebenrolle als greiser Göttervater, gespielt von Anthony Hopkins, begnügen muss. Die Schar der Asen hat man sich in diesen Filmen offenbar als Außerirdische und nicht als eigentliche Götter vorzustellen. Während schon ein flüchtiger Blick auf die Mythen über Odin das Bild eines Gottes mit widersprüchlichen, teils auch dunklen und unheimlichen Zügen zeigt, ist Thor schon im Mittelalter auf dem Weg zu einer eher eindimensionalen Heldenfigur, die, ihren berühmten Hammer Mjöllnir schwingend, mit Riesen und anderen finsteren Wesen aufräumt. Das im engeren Sinne Göttliche gerät schon in den skandinavischen Heldenballaden über Thor, die im Spätmittelalter wurzeln, aus dem Blick; in den modernen Adaptionen kommt es kaum mehr vor. Und noch eine andere Gestalt aus dem Pantheon der Edda gewinnt derzeit mächtig an Beliebtheit: Loki, der als Gott des Gestaltwandels und der Überschreitung von Geschlechter- und anderen Grenzen nicht zuletzt in queeren Milieus geschätzt wird und ebenfalls schon seine eigene Marvel-Serie hat.

Die massive Präsenz Odins in verschiedenen Bereichen der Gegenwartskultur lässt sich kaum auf eine einzelne Ursache reduzieren. Zum einen verbinden sich mit der vorchristlichen Welt der Wikinger bestimmte Freiheitsvorstellungen; eine Entwicklung, die sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. So wird denn auch der friedliche Naturgottesdienst der germanischen Heiden einem gewaltbasierten und hierarchischen Christentum entgegengesetzt – eine ideologische Konstruktion, die im 19. Jahrhundert aufkommt und bis heute weit über die neopagane Szene hinaus nachwirkt. Gegenläufig zu diesem Freiheitsdiskurs machen gewisse martialische Klischees, wie sie sich ebenfalls seit dem 19. Jahrhundert verfestigt haben, Odin in rechten Kreisen zu der bereits erwähnten Symbolfigur für rassistisches, fremdenfeindliches und nationalistisches Gedankengut. Darüber hinaus ist aber auch zu beobachten, dass die mit Odin verbundenen bildkräftigen Mythen aufgrund der weiten Interpretationsspielräume, die sie eröffnen, vom 18. Jahrhundert bis zum heutigen Tag immer wieder Dichter, Musiker und bildende Künstler zur kreativen Auseinandersetzung eingeladen haben. In diesem Sinne ist die Odinmythologie keineswegs eine abgeschlossene; ihre Weiterentwicklung ist vielmehr nach wie vor in vollem Gange und ein Ende gar nicht abzusehen.

Die Frage nach den Odinbildern der Gegenwart wäre eine eigene Monographie wert und soll in der vorliegenden nur gelegentlich gestreift werden. Vielmehr soll es zum einen um die Frage gehen, welche Kenntnisse und welche Vorstellungen von dem Heidengott wir eigentlich aus den alten Quellen schöpfen können, und welche Deutungen diese Quellen im Lauf der Jahrhunderte erfahren haben. Denn was Odin in besonderer Weise für eine monographische Betrachtung qualifiziert, ist eben der Umstand, dass die Vielfalt seiner ‹Zuständigkeitsbereiche›, sein Oszillieren zwischen Krieg und Tod, Magie und Poesie, zwischen Christusähnlichkeit und Personifikation des Heidentums, sowie die Eigenart der mit ihm verbundenen Geschichten (die sich nicht allein in der Edda finden) seit Jahrhunderten Forscher wie Künstler der verschiedensten Couleur beschäftigen. Alle nordischen Götter sind rätselhaft, was nicht nur an der Andersartigkeit der vorchristlichen Welt liegt, sondern auch an der Dürftigkeit der uns zur Verfügung stehenden Quellen; Odin aber eröffnet besonders weite und faszinierende Interpretationsspielräume. Damit dürfte auch seine bis heute anhaltende Attraktivität in den verschiedensten Milieus zusammenhängen. Unter den zahlreichen Vorstellungen über den Gott ist für jeden etwas dabei. Betrachtet man aber die Geschichte der Odin-Rezeption seit der Frühen Neuzeit, so herrschten meist Interpretationen vor, die bestimmte Aspekte favorisieren und die Fülle der diversen anderen Elemente, die die Prägnanz des jeweils eigenen Odinbildes zu relativieren droht, eher leugnen.

Bestimmte, von der älteren Forschung entwickelte Vorstellungen haben sich im allgemeinen Bewusstsein so sehr verfestigt, dass man sie gemeinhin für quellenbasierte Wahrheiten hält. Wenn Odin etwa umstandslos als Repräsentant und Oberhaupt der heidnischen Götterwelt wahrgenommen wird, so handelt es sich dabei tatsächlich um ein Konstrukt, das im 19. Jahrhundert vor allem in nationalistischen Kreisen immer wirkmächtiger wurde. Die Odingestalten, die uns in Comics, Filmen und Computerspielen begegnen, stammen keineswegs unmittelbar aus der Edda, auch wenn es auf den ersten Blick so wirken mag. Vielmehr stehen sie am Ende einer jahrhundertelangen Geschichte der Deutungen, Zuschreibungen, Aktualisierungen und Instrumentalisierungen der eddischen Überlieferung. Unter welchen Vorannahmen die Edda ab dem späten 18. Jahrhundert in den europäischen Kulturkanon aufgenommen wurde und welche ideologischen und ästhetischen Debatten sie auslöste, wird in diesem Buch daher verhältnismäßig ausführlich behandelt. ‹Unser› Odin ist in hohem Maße ein Produkt des 19. Jahrhunderts, und oftmals lesen wir die mythologischen Texte immer noch so wie damals.

Die Forschung der Barockzeit neigte noch dazu, Odin einen Platz in der europäischen Bildungsgeschichte zuzuweisen, indem man ihn teils mit Odysseus, teils mit Okeanos oder anderen griechischen Göttern identifizierte. Die von der Germanenideologie des 19. Jahrhunderts infizierten Autoren konstruierten dagegen einen scharfen Gegensatz zwischen nordischer und klassischer Götterlehre; für sie verkörperten Odin und die anderen Asengötter all die als typisch germanisch betrachteten Qualitäten wie Treue, Aufrichtigkeit, Tapferkeit und Gemütstiefe, die man den romanischen Völkern absprechen zu können glaubte. Solche ideologischen Konstrukte waren umso erfolgreicher, je mehr man vom lästigen Quellenstudium absah. Denn aus der altnordischen Überlieferung lässt sich tatsächlich kein germanischer Tugendbold gewinnen, und Odin ist für diese Rolle sogar besonders ungeeignet. Dennoch hat gerade er es zum Emblem nicht nur des germanischen Mythos, sondern des germanischen ‹Wesens› überhaupt gebracht, und das hat mit seiner Position als ‹Göttervater› zu tun. Als solcher erscheint er in den mittelalterlichen Quellen; ob er bei den Heiden aber schon diese herausragende Position innehatte, ist fraglich.

In der skandinavischen Literatur des Mittelalters wird Odin an mehreren Stellen als Anführer einer historischen Immigrantenschar beschrieben, die aus der Schwarzmeerregion oder aus Troja über Deutschland in den Norden gelangte. Diese Tradition, die bis weit ins 19. Jahrhundert das Odinbild prägte, steht in einem bemerkenswerten Widerspruch zu der in der Romantik wurzelnden Vorstellung, in Wodan-Odin manifestierten sich in besonderer Weise die Qualitäten und Eigenheiten der Germanen oder gar der Deutschen. All die antimodernen, chauvinistischen, fremdenfeindlichen und rassistischen Vereinnahmungen des Gottes, die sich bis heute in großer Zahl beobachten lassen, gründen auf der Annahme, Wodan-Odin verkörpere seit jeher, unberührt von historischen Einflüssen und Entwicklungen, eine vermeintlich unzerstörbare Essenz des ‹Germanischen›. Wenn C. G. Jung 1936 in seinem Wotan-Aufsatz in dem Gott eine «Grundeigenschaft der deutschen Seele»[1] erblickt, reiht er sich in eine lange Tradition ein, die sich jenseits einer kritischen und unbefangenen Auseinandersetzung mit den Quellen einen schimärischen ‹Nationalgott› zusammengezimmert hat. Wie Odin zu einer solchen Projektionsfläche werden konnte, ist eine der Fragen, zu deren Beantwortung dieses Buch beitragen möchte; doch auch die Gegenentwürfe zu dem Gott der Germanen- und Deutschtümelei gehören zu seiner Geschichte.

Das Hauptaugenmerk soll zunächst aber wie erwähnt auf Odin selbst liegen, wie er sich jenseits aller populären Vereinnahmungen und ideologischen Instrumentalisierungen in den religionshistorisch relevanten schriftlichen und ikonographischen Quellen darstellt. Den reichsten Fundus für unser Wissen bildet natürlich die in der Edda verschriftlichte Mythologie, die uns aber einen teils stark literarisch bearbeiteten und manchmal auch christlich überformten Odin vor Augen führt. Inwieweit die Mythen Licht werfen auf tatsächlich praktizierte Kulte, auf das religiöse Leben überhaupt, ist eine der Kardinalfragen der skandinavischen Religionsgeschichte. Darüber hinaus verfügen wir jedoch auch über Quellen, die uns Aufschlüsse geben können über Odins ‹Sitz im Leben› der noch nicht christianisierten germanischsprachigen Völker, also etwa Erkenntnisse liefern über die Formen und über die Milieus seiner Verehrung. Dazu gehören Teile der hoch- und spätmittelalterlichen Prosaliteratur der Sagas, aber auch Zeugnisse, die unmittelbar aus der heidnischen Zeit selbst stammen, wie etwa Preislieddichtungen, eine Reihe von Bilddenkmälern und einige wenige Runeninschriften, und auch die Ortsnamen, die von Wodan oder Odin abgeleitet sind, stellen eine wertvolle Quellengattung dar.

Nach diesem Überblick über die Quellen und die sich daran knüpfenden Forschungsprobleme sollen die sich im Lauf der Jahrhunderte wandelnden Perspektiven auf diese Quellen verfolgt werden, wobei angesichts der Unmengen von Texten, die seit dem Mittelalter über Odin verfasst wurden, natürlich bei weitem kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Vielmehr soll der Fokus schlaglichtartig auf solchen Texten liegen, die für die Entwicklung der Odinvorstellungen vor allem in Deutschland und Skandinavien erhellend oder für ihre jeweilige Epoche bezeichnend sind. Dabei zeigt sich, dass eines der markantesten Merkmale des Gottes, nämlich seine Fähigkeit zum Gestaltwandel, sich auch in der wissenschaftlichen ebenso wie in der populären Rezeption fortsetzt. So konnte Odin wie erwähnt bald mit Odysseus, bald mit Buddha identifiziert werden, seine Weisheit wird einmal als Priesterbetrug entlarvt, einmal mit den tiefsten Einsichten der indischen Religion in eins gesetzt. Bald macht ihn seine vorgebliche Rolle als Göttervater zum Kronzeugen eines germanischen Ur-Monotheismus, bald verkörpern sich in ihm Naturgewalten. Der Glaube an Odin kann ebenso kulturstiftend wie zerstörerisch sein. Als Anführer kultischer Männerbünde verdanken ihm die Germanen ihre Kultur, als Eindringling aus dem Osten zersetzt er mit fremden Ideen die naturfromme germanische Bauerngesellschaft. Tiefenpsychologen erklären seine Dominanz unter den Göttern mit seinem Vermögen, die Kräfte des Unbewussten fruchtbar zu machen. Odin lässt sich für rassistische und gewaltverherrlichende Ideologien in Anspruch nehmen oder neuerdings auch als historische oder religiöse Beglaubigung für Queerness. Jedes Zeitalter und jede Fachdisziplin konstruiert sich ihre eigenen Odinbilder und schreibt so den Odinmythos fort. Man könnte sagen: Wenn es Odin nicht gäbe, müsste man ihn erfinden, so groß scheint im entgötterten Anthropozän die Sehnsucht nach einer identitätsstiftenden numinosen Gestalt jenseits des Christentums zu sein. Der Odin, der uns heute in den verschiedensten außerwissenschaftlichen Zusammenhängen begegnet, ist allerdings im Wesentlichen eine Erfindung, die sich nur vage und beliebig alter Quellen bedient. Zugleich aber hat die Forschung der vergangenen Generationen zu einer immer differenzierteren Wahrnehmung des Gottes, wenn auch kaum zu zweifelsfreien und allgemein anerkannten Deutungen geführt.

Ein vergleichsweise neues Phänomen ist die Wiedererweckung Odins als religiös zu verehrendes Wesen. So groß die Begeisterung von Forschern, Künstlern, Dichtern und Publizisten verschiedener Couleur für Odin auch gewesen ist, eine Rückkehr zum Asenglauben stand im christlich geprägten Nord- und Mitteleuropa 900 Jahre lang nicht zur Diskussion. Als Erinnerungsfigur diente Odin vornehmlich der nationalen Selbstvergewisserung, nicht aber einer spirituellen Neuorientierung. Seine Reaktivierung als Gegenstand religiöser Verehrung im Zeichen des Neuheidentums wurde erst in der Moderne denkbar, als das Christentum seine Verbindlichkeit einzubüßen begann. Odin und anderen germanischen Göttern zugewandte ‹Glaubensgemeinschaften› finden sich folglich nicht vor dem Ende des 19. Jahrhunderts; besonders seit den 1970er Jahren haben sie vermehrt Zulauf. Die Ásatrú-Gemeinde etwa ist in Island seit 1973 als Glaubensgemeinschaft offiziell anerkannt und darf beispielsweise auch kirchliche Trauungen durchführen. Über die gerade in den letzten Jahrzehnten vielfach zu beobachtenden Versuche, den alten Zeugnissen spirituelle Potenziale abzugewinnen, soll in diesem Buch nicht gerichtet werden, auch wenn es in quellenkritischer und rezeptionshistorischer Perspektive nicht unbedingt naheliegen mag, die im isländischen Hochmittelalter von Christen mit europäischem Horizont aufgezeichneten mythologischen Traditionen ernsthaft als ‹heilige Texte› zu betrachten.

Es hat mit sprachgeschichtlichen Entwicklungen zu tun, dass der Gott, um den es in diesem Buch geht, unter verschiedenen Namen firmiert, in England als Woden, auf dem Kontinent als Wodan, in Skandinavien ab dem späten 8. Jahrhundert als Odin (latinisiert Othinus), im neueren Schwedisch als Oden. Es wurde vereinzelt in der Forschung angezweifelt, ob es sich dabei stets um denselben Gott handelt, doch kann meines Erachtens davon ausgegangen werden, insbesondere auch angesichts des beträchtlichen Wandlungspotenzials Wodan-Odins über die Jahrhunderte hinweg und in den verschiedenen Regionen.

In diesem Buch wird häufig von ‹Germanen› die Rede sein – eine ethnische Bezeichnung unbekannter Herkunft, die in den letzten Jahrzehnten intensiv hinterfragt und problematisiert wurde. Gelegentlich hat man den Begriff sogar ganz verabschieden und ihn durch den des ‹Barbaren› ersetzen wollen. Tatsächlich sind die Germanen der römischen Kaiser- und der Völkerwanderungszeit schwer zu fassen, zumal von ihnen in den schriftlichen Quellen bereits seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. kaum mehr die Rede ist; von nun an kommen fast nur noch die einzelnen Völkerschaften wie etwa die Alemannen, Goten oder Langobarden vor. Wer von diesen zählt eigentlich zu den Germanen im engeren Sinne? Wie hat man sich einen ‹Germanenstamm› hinsichtlich seiner Zusammensetzung und seiner sozialen Strukturen vorzustellen? Bald werden als Germanen die Bewohner eines bestimmten Gebietes definiert, bald sind es die Angehörigen einer bestimmten Sprachgruppe, die deshalb aber nicht unbedingt als Repräsentanten einer germanischen Kultur gelten müssen, wodurch auch immer sich eine solche auszeichnen mag. Ferner hat man argumentiert, dass die Germanen schon deshalb nicht als eine ethnische Großgruppe betrachtet werden könnten, weil es zwischen den einzelnen Stämmen kein Bewusstsein einer Verwandtschaft oder Zusammengehörigkeit gegeben habe. Allerdings belegen archäologische Funde, aber auch die Verbreitung der Runenschrift immerhin eine intensive Kommunikation der ‹germanischen› Eliten über weite geographische Räume hinweg; inwieweit dieser Austausch aber gemeinschafts- und identitätsstiftend gewirkt hat, sei dahingestellt. Im Folgenden wird der Begriff pragmatisch für die Völkerschaften insbesondere auf dem Kontinent gebraucht, bei denen anzunehmen ist, dass sie eine germanische Sprache verwendeten und bis zur Christianisierung germanische Gottheiten verehrten.

Ein anderer nicht ganz unbelasteter Begriff ist der des ‹Nordischen›, der durch die völkische Ideologie und den Nationalsozialismus im Deutschen einen bedenklichen Zungenschlag aufzuweisen scheint. Die Skandinavier definieren sich indessen selbst als Bewohner des Nordens (vgl. Wortbildungen wie den Nordischen Ministerrat), und diesen sprachlichen Gepflogenheiten folgt auch dieses Buch. Denn denkbare Alternativen wie etwa ‹(alt)skandinavisch› sind in ihrer Semantik weniger präzise und treffend. Es liegt nicht nahe, den Begriff des Nordischen den Rechten zu überlassen.

Angesichts der nur noch schwer zu überblickenden Forschung zu Odin bin ich den Kolleginnen und Kollegen umso dankbarer, die meinen oft kaum zu beantwortenden Fragen mit Geduld begegnet sind; stellvertretend für viele andere seien hier nur Alexandra Pesch (Schleswig), Wilhelm Heizmann (Göttingen) und Karin Hoff (Kiel) genannt. Einen besonderen Dank möchte ich meiner langjährigen Mitarbeiterin Katharina Preißler aussprechen, die auch nach ihrer Auswanderung nach Schweden die Entstehung dieses Buches kritisch begleitet hat. Dass fachkundige Leserinnen und Leser trotz des Supports Defizite, Lücken und hoffentlich nicht allzu zahlreiche Fehleinschätzungen entdecken werden, ist in Kauf zu nehmen. Zudem mussten viele Argumente, Thesen und Interpretationen, darunter auch interessante, aus Platzgründen außen vor bleiben.

Wer sich für das Weiterleben der eddischen Mythen und Sagen bis in die Gegenwart interessiert, sei auf die zahlreichen Publikationen des Frankfurter Projekts «Edda-Rezeption» hingewiesen. Ohne diese hätten Teile des Rezeptionsabschnitts dieses Buches kaum geschrieben werden können. Besonders sei hier das von Julia Zernack (†) und Katja Schulz herausgegebene, ungemein materialreiche rezeptionsgeschichtliche Lexikon Gylfis Täuschung empfohlen. Die im Text besprochenen religionshistorisch relevanten Schriftquellen sind in einem konzisen Überblick am Ende des Buches zusammengestellt. Die Zitate aus der Liederedda und der Edda des Snorri Sturluson sind den Übersetzungen von Arnulf Krause entnommen.

— I —

Odin in altnordischen und anderen mittelalterlichen Quellen

— 1 —

Dunkle Anfänge: Wodans Spuren in Spätantike und Frühmittelalter

Aus bildlichen Darstellungen bis hin zu den heutigen Co mics ist uns Odins Erscheinung wohlvertraut: Abgesehen von Thor mit seinem Hammer ist kein anderer germanischer Gott ikonographisch so prägnant wie Odin. Er ist hochgewachsen, hat einen Bart und trägt einen langen nachtblauen oder schwarzen Mantel. Sein Gesicht wird von einem breitkrempigen Hut verdunkelt, doch kann man erkennen, dass er nur ein Auge hat. Er erscheint als alter, hässlicher Mann, der überaus furchteinflößend wirkt. Während der rothaarige Thor trotz seiner unbekümmerten Gewalttätigkeit als ein letztlich sympathischer, nahbarer Kraftprotz daherkommt, ist Odin eine dämonische und bedrohliche Gestalt, zu der auch seine Anhänger respektvoll Distanz halten. Das Unheimliche wird verstärkt durch Odins Neigung, sich zu maskieren und sich hinter verschiedenen Namen und Verkleidungen zu verbergen. Diesen atmosphärischen Eindruck vermitteln in erster Linie die hoch- und spätmittelalterlichen isländischen Vorzeitsagas, die uns den Gott in der Begegnung mit Menschen zeigen. Der Einfluss des Christentums auf diese dunklen, dämonischen Odinbilder ist in einigen dieser Texte unverkennbar.

Auch die Edda kennt Odin als Weltenwanderer, doch überwiegend hält er sich in den mythologischen Texten in der Götterwelt Asgard auf. Von seinem Sitz Hliðskjálf aus überblickt er die neun Welten, wenn er nicht gerade in Walhall bei den Einheriern sitzt, den von den Walküren auf dem Schlachtfeld ausgewählten Gefallenen. Seine beiden Raben Huginn und Muninn versorgen ihn mit Neuigkeiten aus aller Welt, den Wölfen Geri und Freki (beide Namen bedeuten etwa «der Gefräßige») wirft er von der Tafel in Walhall Fleischstücke zu. Das achtbeinige Ross Sleipnir scheint besonders für Ritte in die Totenwelt gerüstet. Sein Ring Draupnir symbolisiert seine Macht als Herrschergott, der Speer Gungnir weist ihn als Herrn des Schlachtfelds aus. Odin ist aber auch der Gott der Weisheit, der Magie, der Dichtung, und nicht zuletzt verdanken ihm die Germanen ihre Schriftzeichen, die Runen. Gemeinsam mit seinen Brüdern Vili und Vé ist er ferner ein Gott der Urzeit, weitaus älter als die anderen Asen; sowohl an der Weltschöpfung als auch an der Erschaffung des ersten Menschenpaars hat er entscheidenden Anteil. In der Szenerie des Weltuntergangs, den Ragnarök, bildet sein Kampf gegen den Fenriswolf, eines der Chaoswesen, die am Ende der Tage die Götter besiegen werden, ein zentrales Moment. Der Wolf verschlingt ihn; eine neue Göttergeneration, angeführt von Odins Sohn Balder, wird über die aus der Urflut wieder emportauchende Welt herrschen.

Schon dieser auf die elementaren mythologischen Motive reduzierte Steckbrief macht deutlich, wie vielfältig, vielleicht sogar widersprüchlich die Funktionen, Merkmale und Eigenschaften Odins sind. Hat diese Komplexität den Gott von vornherein ausgemacht oder oder hat sie sich erst im Lauf der Jahrhunderte entwickelt? Ist der Eindruck eines außerordentlich facettenreichen Gottes lediglich den Quellen geschuldet, die je nach Gattung und Erzählabsicht verschiedenste Odingestalten präsentieren? Wie immer man diese Fragen beantworten mag, die Vielfalt der Quellen wird zur Herausforderung, wenn es um die Rekonstruktion eines Götterindividuums mit scharf umrissenem Profil gehen soll. Vielleicht muss man vielmehr die Offenheit, die Wandelbarkeit, die Ambivalenz dieser Gottheit als ihr zentrales Charakteristikum akzeptieren und für die Deutung fruchtbar zu machen versuchen.

Von einer Vielfalt von Zeugnissen kann freilich nur im isländischen Mittelalter die Rede sein; je weiter man zurückgeht in der Zeit, umso spärlicher fließen die Quellen, und umso diffuser ist das Bild des Gottes, das sie vermitteln. Eine plastische Frühgeschichte Wodan-Odins lässt sich aus diesem ebenso schütteren wie heterogenen Material nicht gewinnen, so viel Scharfsinn die Forschung seit dem 17. Jahrhundert auch darauf verwendet hat. Dennoch lohnt es sich, zu Beginn einen Blick auf Wodans Frühzeit in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten zu werfen. Die dämmerhafte Welt, die sich bei Betrachtung der frühen, durchweg schwer zu deutenden Quellen abzeichnet, ist für sich genommen schon faszinierend, der Blick in diese Vorzeit mag aber auch hilfreich sein, wenn es später darum gehen wird, die mittelalterliche Odinliteratur einzuordnen und zu beurteilen, wo belastbares Vorzeitwissen angenommen werden darf und wo Odinmythen kreativ fortgeschrieben werden.

Mercurius und Wodan

deorum maxime Mercurium colunt – «von den Göttern verehren sie besonders Mercurius»:[1] Dies behauptet Tacitus 98 n. Chr. im neunten Kapitel seiner Germania. Mit dieser schmalen, aber überaus folgenreichen Monographie verfolgte der römische Senator und Geschichtsschreiber den Zweck, seinen Lesern die Bedrohung vor Augen zu führen, die die umtriebigen Barbaren aus dem Norden für das Römische Reich darstellten. Viele Forscher haben mit dieser Notiz die Geschichte des Gottes Wodan beginnen lassen. Diesem Mercurius würden die Germanen Menschen opfern, heißt es weiter, passend zum Bild der kriegerischen Wilden, womit bereits das Finstere und Dämonische umrissen wird, das den seit dem späten 8. Jahrhundert im Norden Odin genannten Gott in unserer Vorstellung umgibt. Wenn man dieser Identifikation des römischen Gottes mit dem germanischen folgt, so wäre die Wodan-Odinreligion für mindestens ein Jahrtausend belegt, vom 1. Jahrhundert n. Chr. bis ins frühe 11. Jahrhundert, als mit der Bekehrung der Wikinger das germanische Heidentum und damit auch die kultische Odinverehrung aus der Geschichte verschwanden. Denkt man etwa an die Beständigkeit ägyptischer und anderer vorderorientalischer Gottheiten, ist ein Jahrtausend religionsgeschichtlich keine allzu große Zeitspanne, auch die des Christengottes währt ja bereits 2000 Jahre. Dennoch will einem eine solche Kontinuität nur schwer einleuchten, insbesondere wenn sie für den gesamten germanischen Bereich gelten soll. Ohne einen übergeordneten Herrschaftszusammenhang verteilten sich die Germanenstämme über weite Gebiete Europas, vom Norden Skandinaviens bis an die Schwarzmeerküste, und waren dabei den unterschiedlichsten kulturellen und religiösen Einflüssen ausgesetzt. Zudem verfügten diese Stämme über keine Schriftkultur, die eine Festschreibung von religiösen Praktiken und Vorstellungen oder gar irgendeine Form von Lehrgebäude ermöglicht hätte.

Andererseits wurde die Runenschrift seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. nahezu im gesamten Barbaricum verwendet, mit nur geringfügigen regionalen Abweichungen. Und auch die frühe Bilderwelt der Germanen ebenso wie die Ausstattungen herrschaftlicher Gräber zeigen erstaunliche Übereinstimmungen über weite geographische Räume hinweg. Auf bestimmten Ebenen weist die Kultur der Germanen eine Einheitlichkeit auf, die sich nicht anders erklären lässt als durch die Annahme, dass die Eliten dieser scheinbar so isoliert in vielfach kaum urbar gemachten Gegenden lebenden Stämme eng miteinander vernetzt gewesen sein müssen – wenn die Quellen auch kaum Hinweise darauf geben, wie dieser Austausch funktioniert haben könnte. Die verblüffende Geschwindigkeit, mit der sich Phänomene wie die Runenschrift oder auch Neuerungen im Design der materiellen Kultur über die Germania verbreitet haben, belegt jedenfalls die hohe Effektivität dieses Kommunikationsnetzes. Auch die Heldensagen als Erzählgemeingut könnte man hier anführen; so wird etwa die grimmige Geschichte vom blutigen Untergang des Ostgotenkönigs Ermanarich, dessen Herrschaftsgebiet zwischen ca. 350–375 am Schwarzen Meer lag, als Heldensagenstoff zuerst in Dichtungen aus dem Norwegen des 9. Jahrhunderts greifbar. Inwieweit sich aus den vielfältigen Kommunikationen aber das Bewusstsein einer ethnischen Zusammengehörigkeit entwickelte, ist umstritten. Den germanischen Stammesgesellschaften mag die Denkfigur einer ‹nationalen› Zusammengehörigkeit eher fremd gewesen sein.

Könnte die Religion auch zu den Dingen gehört haben, über die sich die Eliten über weite geographische und zeitliche Räume hinweg verständigt haben, womöglich mit der Verehrung Wodans als zentralem Element? Diese seit dem 19. Jahrhundert verbreitete Annahme lässt sich mit den spärlichen Quellen, die uns zur Verfügung stehen, nur bedingt untermauern. Schon Tacitus’ Erwähnung einer germanischen Mercurius-Verehrung wirft Fragen auf. Zum einen dürfte er seine Kenntnisse über die religiösen Verhältnisse einzelner Stämme, über die er informiert war, für die Germanen insgesamt verallgemeinert haben. Zum anderen aber stellt der oben zitierte berühmte Satz tatsächlich ein Zitat dar, denn mit denselben Worten hatte Caesar bereits 150 Jahre zuvor Mercurius als den Hauptgott der Gallier benannt – und sich bei seiner Formulierung wiederum an eine Bemerkung des griechischen Historiographen Herodot über die auf dem Balkan beheimateten Thraker angelehnt. Caesar zeichnet das Bild äußerst primitiver Germanen, die die Himmelskörper und das Feuer anbeten und die dem Römischen Reich einzuverleiben folglich ein unnützes Unterfangen wäre. Indem Tacitus die auf die Gallier gemünzte Formulierung Caesars über den höchsten Gott wörtlich aufgreift, diesen aber nun gerade auf die Germanen anwendet, korrigiert er dessen Vorstellung von germanischer Religion in einem entscheidenden Punkt.

Oder bediente sich Tacitus lediglich eines ethnographischen Klischees, eines literarischen Wandermotivs, und der Satz ist bei ihm demnach ohne Aussagekraft für die antike Germanenreligion, wie manche Forscher glauben?[2] So wurde etwa argumentiert, dass er in erster Linie das Barbarische der Germanen hervorheben wollte, indem er mit dem Gott der Kaufleute und der Wegelagerer eine im römischen Pantheon eher nachrangige Gestalt zum Hauptgott der Germanen ausrief. Wenn dies zuträfe, wäre es freilich ein erstaunlicher Zufall, dass sich die Identifikation des Mercurius mit Wodan einige Zeit später als feste Traditionskonstante herausbildete, was sich nicht zuletzt in der in vielen germanischen Sprachen und Dialekten mit dem Namen Wodan gebildeten Bezeichnung für den Mittwoch manifestiert, dem dies mercurii (frz. mercredi, engl. Wednesday, altisländisch óðinsdagr, kontinentalskandinavisch onsdag usw.). Wann die Sieben-Tage-Woche sich im nördlichen Europa durchgesetzt hat, wird seit langem diskutiert; meist wird vom 3. oder 4. Jahrhundert ausgegangen. Doch selbst wenn diese Zeiteinheit erst im Zuge frühmittelalterlicher Gelehrsamkeit eine größere Rolle zu spielen begonnen hätte, muss der in den Wochentagsnamen gestiftete Zusammenhang zwischen klassischen und germanischen Gottheiten doch auf ältere Traditionen zurückgehen und auf allgemein wahrgenommenen Ähnlichkeiten basieren. Wie groß die Übereinstimmungen zwischen dem taciteischen Mercurius und dem Wodan, wie wir ihn aus viel jüngeren Quellen rekonstruieren, tatsächlich sind, werden wir nie erfahren.

Mit Sicherheit aber handelt es sich bei der Notiz des Geschichtsschreibers nicht um ein bloßes, aus der Luft gegriffenes Barbarenklischee, zumal Tacitus auch sonst durchaus Glaubwürdiges über die Welt der Germanen zu berichten weiß; seine kleine Monographie ist ja die wichtigste Quelle über die antiken Germanen, die wir überhaupt besitzen. Doch wie ist seine Behauptung nun zu verstehen? Warum identifiziert er Wodan nicht mit dem Kriegsgott Mars? Sollte Wodan in diesem frühen Stadium noch gar nicht mit der Sphäre des Krieges verbunden gewesen sein? In Kapitel 39 der Germania, das über den vieldiskutierten heiligen Hain der Semnonen berichtet, in dem Menschen geopfert würden und den man nur gefesselt betreten dürfe, ist von einem regnator omnium deus[3] die Rede, also von einem alles beherrschenden Gott – eine Charakterisierung, die späteren Odinvorstellungen entsprechen mag, aber denkbar schlecht zu Mercurius passt.

Unbestritten ist die herausragende Bedeutung des Mercurius in den Nordwestprovinzen des Römischen Reichs seit der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr., insbesondere längs des Rheins. Nicht weniger als 510 Inschriften und 380 bildliche Darstellungen belegen eindrücklich die kultische Bedeutung des Mercurius.[4] Allerdings weisen diese Zeugnisse zum größeren Teil nicht in die germanische, sondern in die keltische Kultur- und Religionssphäre. Vor allem Soldaten in römischen Diensten gelten als Urheber solcher Weiheinschriften. Die interpretatio Romana – dieser Terminus stammt von Tacitus selbst – ist also nicht nur ein literarisches Verfahren zur Übersetzung barbarischer Götternamen in klassische, sondern sie entspricht auch der religiösen Praxis im synkretistischen Römischen Reich. In dieser Welt kamen die Menschen mit den verschiedensten Kulten und Gottheiten in Berührung und hatten keine Scheu, die eigenen Vorstellungen durch die ihrer Nachbarn zu ergänzen oder zu modifizieren. Die Popularität des Mercurius unter den Kelten legt die Vermutung nahe, dass dieser Gott wichtige Anknüpfungspunkte zu einheimischen Glaubensvorstellungen bot, und dasselbe dürfen wir auch für die Germanen annehmen.

Neben den keltischen lassen sich nämlich öfter anhand des jeweiligen Beinamens germanische Gottheiten in den Inschriften erkennen, und dies gilt auch für eine Reihe von Weihesteinen, auf denen von Mercurius die Rede ist. So ist in fünf Inschriften, die aus Mainz, dem Raum Heidelberg sowie vom Greinberg bei der unterfränkischen Stadt Miltenberg stammen, von einem Mercurius Cimbrianus die Rede; möglicherweise tritt mit diesem Beinamen eine Restbevölkerung der 102 v. Chr. von den Römern vernichtend geschlagenen Kimbern als Mercurius-Verehrer in Erscheinung. Der militärisch befestigte Greinberg, der sich eindrucksvoll über dem Main erhebt, bildete ein regionales Kultzentrum für die Mercurius-Verehrer sowohl germanischer als auch keltischer Herkunft: In unmittelbarer Nähe zueinander finden sich hier drei Mercurius-Altäre vom Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr., einer dem keltischen Mercurius Arvernorix und zwei dem germanischen Mercurius Cimbrianus geweiht.[5] Auch auf dem Heiligenberg bei Heidelberg wurde einem Mercurius Cimbrius sowie einem keltischen Mercurius Visucius gehuldigt. Allzu weitreichende Schlüsse wird man aus diesem Befund gleichwohl nicht ziehen dürfen, denn die Mercurius-Heiligtümer auf dem Greinberg und anderswo verraten uns nicht, in welchem Grad die Verehrung des römischen Gottes von einheimischen Vorstellungen bestimmt war, geschweige denn, wieviel Wodan in einem Mercurius Cimbrianus bereits enthalten gewesen sein mag.

Auch eine Reihe anderer Mercurius-Weiheinschriften hat man Wodan zuordnen wollen. So wurde eine Inschrift Mercurius Rex aus Nijmegen als Hinweis auf Wodan gelesen, weil dieser anders als der römische Mercurius als König unter den Göttern betrachtet werden konnte; ob diese Spitzenstellung des Germanengottes aber tatsächlich so weit in die Antike zurückgeht, ist fraglich. Selbst Inschriften mit Beinamen wie mercator, negotiator oder nundinator (Händler) hat man auf Wodan beziehen wollen, obgleich die Händlerfunktion sehr gut für den römischen Gott belegt ist. In Gedichten aus der Wikingerzeit wird Odin manchmal mit dem Begriff farmatýr umschrieben, worunter man einen «Gott des Handels» verstehen kann.[6] Wie so oft in der germanischen Religionsgeschichte stellt sich hier jedoch die Frage, ob Belege, die durch viele Jahrhunderte voneinander getrennt sind, einander gegenseitig erhellen können. Die Gefahr von Zirkelschlüssen liegt bei diesem Verfahren nahe.

In jedem Fall sind die Mercurius-Altäre mit keltischen wie germanischen Konnotationen ein eindrucksvoller Beleg für die Offenheit und die Dynamik der Religionen in den nördlichen Provinzen des kaiserzeitlichen Roms. Eine derartig fruchtbare religiöse Vielfalt sollte es in Europa nie mehr geben. In dieser produktiven Sphäre könnte Wodan durch vielfältige Prozesse der Akkulturation und der Glaubensvermischung seine facettenreiche und vielschichtige Gestalt angenommen haben. Manche der Charakteristika des Gottes, die uns noch beschäftigen werden, mögen schon in diesen ersten nachchristlichen Jahrhunderten angelegt worden sein, zumal Wodan-Odin mit Mercurius eine Reihe von Eigenschaften teilt wie etwa sein Wissen über Heil- und Kräuterkunde, seine Verbindung zur Totenwelt oder auch seine noch in spätesten Quellen bezeugte Lebensform der Wanderschaft, des stetigen Unterwegsseins. Im Besonderen aber wird man mit dem Einfluss der keltischen Nachbarn zu rechnen haben, die wie erwähnt namentlich in der Rheingegend Mercurius eine intensive Verehrung entgegenbrachten. Keltische Mercurius-Praktiken dürften sich mit germanischen Kulten verbunden haben, woraus sich dann ein germanischer Mercurius allmählich herauskristallisiert haben könnte.[7].

In der mittelalterlichen Odinüberlieferung fehlt es nicht an Motiven, für die sich Parallelen bei den Kelten finden. Das aus der Heldensage bekannte grimmige Motiv des zu einem Trinkgefäß verarbeiteten Menschenschädels wird auch den Kelten, die als ‹Kopfjäger› galten, in verschiedenen Zusammenhängen zugeschrieben;[8] noch die Bauplastik romanischer Kirchen in vordem keltischen Regionen hat das zentrale Motiv der têtes coupées bewahrt, und in der isländischen Ynglinga saga (um 1230) kommuniziert Odin mit dem abgeschlagenen und von ihm präparierten Kopf eines weisen Wesens namens Mimir. Der tödliche Sturz des Schwedenkönigs Fjölnir in ein Metfass, den am frühesten das genealogische Gedicht Ynglingatal andeutet («Aufzählung der Ynglinge», um 900 in Norwegen entstanden), erinnert an das in der keltischen Bilderwelt häufige Motiv einer Gestalt, die in einen Kessel getaucht oder geworfen wird; schon der berühmte Kessel von Gundestrup (Dänemark), der noch in die vorchristlichen Jahrhunderte datiert wird, weist eine solche Darstellung auf.

Doch andererseits müssen selbst unzweifelhaft keltische Motive in der altisländischen Literatur nicht ins Altertum zurückreichen, denn ein nicht geringer Anteil der Menschen, die sich um 900 auf Island ansiedelten, war irokeltischen Ursprungs oder hatte längere Zeit in Irland gelebt; dass sich daraus ein erheblicher Einfluss altirischer Geschichten auf die isländische Literatur ergeben musste, liegt auf der Hand, und in manchen Fällen lassen sich die irischen Quellen auch benennen. Keltische Motive in der mittelalterlichen Literatur Islands als survivals aus der Antike zu interpretieren, ist also ein prekäres Unterfangen.

Besonders schwierig ist es, Wodan in ein Verhältnis zu keltischen Gottheiten zu bringen. Der Religionshistoriker Jan de Vries (1890–1964) hat seit den 1950er Jahren wiederholt auf Parallelen zwischen Wodan und dem keltischen Lug hingewiesen.[9] Die auf den ersten Blick so einleuchtenden Übereinstimmungen lösen sich indessen bei näherem Zusehen großenteils auf. Die Verbindungen beider Gottheiten zu Magie und Dichtkunst sowie zur kriegerischen Sphäre können noch keine engere Verwandtschaft begründen. Odins Speer Gungnir wie auch der Topos, einen göttlichen Speer über ein Heer zu schleudern, um diesem den Sieg zu bringen, hat man in die keltische Antike und auf Lug zurückführen wollen.[10] Allerdings sind Speere bei Germanen und Kelten gleichermaßen symbolträchtig; das erwähnte Motiv kann sich im Norden also unabhängig von keltischen Einflüssen entwickelt haben. Die Assoziation Lugs mit Raben findet sich lediglich in einer gelehrten Sagentradition jüngeren Datums; ein ‹Rabengott› wie Odin ist Lug mit Sicherheit nicht gewesen. Auch das Attribut der Einäugigkeit überzeugt keineswegs: Odin gibt eines seiner Augen hin, um Weisheit zu erlangen; Lug hingegen ist gar nicht einäugig: Er pflegt lediglich in einem magischen Akt beim Umkreisen einer Kriegerschar ein Auge zu schließen – ein in der irokeltischen Überlieferung auch sonst bekanntes Motiv. So naheliegend religiöse Kommunikationen zwischen Kelten und Germanen erscheinen mögen: Die mythologischen Überlieferungen der beiden Kulturen lassen kaum einen Zusammenhang zwischen Wodan und keltischen Gottheiten erkennen, der über allgemeine Ähnlichkeiten ohne größere Beweiskraft hinausginge.

Seine Einäugigkeit teilt Odin mit Civilis (25 – nach 70 n. Chr.), dem Anführer des Bataveraufstands, der 70 n. Chr. von den Römern niedergeschlagen wurde: Gerade seine Einäugigkeit soll Civilis bzw. dessen Anhängerschaft als Zeichen seiner besonderen Kriegstüchtigkeit betrachtet haben;[11] ob diese körperliche Einschränkung aber zum Attribut eines Gottes überhöht werden konnte, wissen wir nicht. Für de Vries verhält es sich umgekehrt; seiner Meinung nach sei der einäugige Gott zu Civilis’ Zeiten längst präsent gewesen; dieser habe sich selbst ein Auge ausgestochen, um Wodan zu gleichen![12]

In den von Germanen und Kelten bewohnten Nordwestprovinzen des Römischen Reichs haben aber auch Kulte Spuren hinterlassen, deren Ursprünge in fernen Gegenden, im Orient, zu suchen sind, und die von Legionären aus dem Mittelmeerraum in die germanischen Wälder gebracht wurden. Weite Verbreitung hatte an Rhein und Main beispielsweise die ägyptische Göttin Isis gefunden. Vor allem aber ist der Mithraskult zu erwähnen, eine aus persischen und griechischen Elementen im 1. Jahrhundert n. Chr. entwickelte Mysterienreligion, die sich bald auch nördlich der Alpen ausbreitete und vor allem auf Angehörige des Militärs starke Anziehungskraft ausgeübt zu haben scheint. Bemerkenswert ist, dass die erste der sieben Initiationsstufen, die in dieser Religion durchlaufen werden konnten, dem Gott Mercurius und dem Symboltier des Raben zugeordnet wird; der Rabe aber ist in der nordischen Mythologie der Odinvogel schlechthin. Auch für andere Elemente, die in der späteren Odinverehrung eine Rolle gespielt zu haben scheinen, wie etwa das Tragen von Tiermasken, hat man in der Mithrasreligion Urbilder erkennen wollen; auch habe die bildliche Darstellung Odins als berittener Krieger in Verbindung mit einer Schlange möglicherweise Parallelen in der Art und Weise, wie Mithras abgebildet wurde. Ob sich aus diesen motivischen Ähnlichkeiten aber tatsächlich auf einen Einfluss des Mithraskults auf Formen der Wodanverehrung schließen lässt, bleibt äußerst spekulativ.[13]

Bereits im 19. Jahrhundert wurde diskutiert, welchen Einfluss orientalische Kulte, die in den römischen Gebieten nördlich der Alpen praktiziert wurden, auf die germanische Religion gehabt haben könnten; erforscht ist dieses weite Feld bis heute aber erst wenig. Doch lässt sich festhalten: Auch wenn sich konkrete Einflüsse oder Übernahmen kaum zweifelsfrei nachweisen lassen, liegt es doch auf der Hand, dass bei der Profilierung der Wodangestalt – oder verschiedener Wodangestalten? – auf einen riesigen Pool von religiösen Praktiken, Motiven und Vorstellungen zurückgegriffen werden konnte. Welche dieser Aspekte tatsächlich neu waren und welche vielleicht schon in einer vermuteten urgeschichtlichen Gottheit des ‹Wodantyps› angelegt gewesen sind, muss offenbleiben. Zu einer wesentlichen Weiterentwicklung der Wodanreligion kam es wahrscheinlich weit jenseits der Grenzen des Römischen Reichs, im südlichen Skandinavien.

Reichtum und Macht: Wodans Wurzeln im Norden

Während die Verehrung des Mercurius von der breiten Bevölkerung getragen wurde, spricht vieles dafür, dass die Wodanreligion in den höheren Kreisen der germanischen Gesellschaft (weiter-)entwickelt wurde. Diese Eliten unterhielten vielfältige Verbindungen mit dem Römischen Reich, auch wenn sie ihre Herrschaft außerhalb von dessen Grenzen ausübten. Daraus konnten Abhängigkeiten, aber auch materielle Vorteile entstehen, durch die sie ihre dominierende Position innerhalb der Stammesgruppe ausbauen konnten.[14] Nicht wenige von den Anführern der Germanengruppen verdingten sich im römischen Heer und brachten es dort zu höheren Rängen, wofür der erwähnte Civilis ein eindrucksvolles Beispiel darstellt. Funde aus dänischen Gräbern zeigen, dass aus dem Römischen Reich eingeführte Wertgegenstände als Statussymbole galten.

Nach Skandinavien ergoss sich vom Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. bis zum Ende der Kaiserzeit um 375 ein mächtiger Strom römischer Luxuswaren, Gefäße aus Edelmetall, Gold- und Silbermünzen sowie verschiedener Schmuckstücke. Der phantastische Goldhort der Nibelungen in der germanischen Heldensage mag ein Reflex dieses Imports sein.[15] Vor diesem Hintergrund ist auch die spätantike Entwicklung in Südskandinavien zu sehen, deren Bedeutung für den gesamten germanischen Raum erst in den vergangenen Jahrzehnten durch intensive archäologische Untersuchungen in seiner ganzen Tragweite deutlich wurde. Es entstand in dieser Region eine Reihe von sogenannten Reichtumszentren, die als ‹Hotspots› der zivilisatorischen Entwicklung der Germanen angesprochen werden können. Der früheste und einer der bedeutsamsten dieser Orte lag bei Himlingøje auf der dänischen Insel Seeland; die eigentliche Siedlung konnte bislang zwar nicht aufgefunden werden, doch deuten mindestens 13 reich ausgestattete Gräber aus der Zeit zwischen ca. 150 bis 320 n. Chr. auf eine bis dahin im nördlichen Europa unbekannte Konzentration von Macht und Reichtum hin. Offenkundig hat sich in Himlingøje eine Herrschaft etabliert, die den Ostseehandel kontrollierte und militärisch und ökonomisch eng mit Rom kooperierte. Andere Machtzentren sind Gudme auf der Insel Fünen, das aus etwa 50 Höfen bestand, oder die große, erst seit den 1990er Jahren umfassend erschlossene Siedlung Uppåkra in der südschwedischen Landschaft Schonen. Anders als die meisten dieser Orte, die schon in der Merowingerzeit (spätes 5. bis Mitte 8. Jahrhundert n. Chr.) wieder aufgegeben wurden, bestand Uppåkra bis in die späte Wikingerzeit fort; dieses alte Zentrum scheint seine Vorrangstellung dann um 1000 an die nur wenige Kilometer entfernte Stadt Lund verloren zu haben, die sich unter dem Vorzeichen einer christlichen Königsmacht etablierte. Weiter im Norden war Alt-Uppsala ein wichtiges Zentrum, das von den ersten nachchristlichen Jahrhunderten bis ins hohe Mittelalter Bestand hatte und dann von der heutigen Universitätsstadt ‹beerbt› wurde.

Bemerkenswerterweise wurde bis über die Völkerwanderungszeit hinaus ein beträchtlicher Teil der in germanischen Besitz gelangten Goldschätze vergraben. Im Einzelfall mag die Erde die schlichte Aufgabe eines Verstecks oder Safes erfüllt haben, meist aber geht man von kultischen Deponierungen aus; das Gold wurde also den Göttern dargebracht, indem man es dem profanen Kreislauf entzog. Die Intensivierung dieser Sitte im Skandinavien des 6. Jahrhunderts hat man auf die globale Klimakatastrophe des Jahres 536 zurückführen wollen. Ein gewaltiger Vulkanausbruch, dessen Aschewolken die Atmosphäre trübten, hat damals zu einer dramatischen Abkühlung und damit verbunden zu Missernten und einer schweren Ernährungskrise geführt – dass man die Mächte, die man hierfür verantwortlich machte, nun mit besonders reichen Goldgaben gnädig stimmen wollte, ist eine plausible Annahme, die sich allerdings nicht beweisen lässt.[16]

Für unseren Zusammenhang ist von besonderem Interesse, dass in den Reichtumszentren an der Ostsee nicht nur ökonomische, militärische und politische Ressourcen angehäuft wurden, sondern dass es hier auch auf den Feldern der Kultur, der Kommunikationsmedien und zweifellos auch der Religion zu Innovationen kam, deren Bedeutung für die Germanen insgesamt kaum überschätzt werden kann. Gerade der Umstand, dass man hier der politischen Macht der Römer nicht unmittelbar ausgesetzt war und diesen gewissermaßen auf Augenhöhe begegnen konnte, dürfte eine wichtige Rolle für dieses dynamische Geschehen gespielt haben. Zu den Impulsen, die von den dänischen Inseln und von Südschweden ausgingen, zählt mit großer Wahrscheinlichkeit die Entwicklung der Runenschrift.[17] Die Etablierung der Schrift stellt für eine archaische Gesellschaft eine immense Kulturleistung dar, die daher meist als von den Göttern kommend betrachtet wird. So ist es auch bei den Germanen gewesen, die Odin für den Urheber der Runen hielten, wie wir noch sehen werden. Bemerkenswert ist die Geschwindigkeit, mit der sich die ältere, aus 24 Zeichen bestehende Runenreihe unter den germanischsprachigen Völkerschaften des Kontinents, des Nordens und in England verbreitete.

Doch auch auf dem Gebiet des Kunsthandwerks kam es im 3. Jahrhundert zu einer Umwälzung, und wiederum erscheint die westliche Ostseeregion den wichtigsten Ausgangspunkt zu bilden: Die Germanen begannen nun, die figürlichen Darstellungen, die ihnen seit langem von zahllosen römischen Artefakten und Münzen her vertraut waren (mehr als 1000 Goldsolidi hat man bislang in Skandinavien gefunden), nicht nur nachzuahmen, sondern sie neu zu konfigurieren, zu kombinieren und sie nach eigenen Konzepten umzugestalten. So lassen viele Tierdarstellungen ihre mediterranen Vorbilder zwar noch erkennen, zu interpretieren aber sind sie jetzt in ihrem germanischen Kontext. Aus fremden Vorbildern wird auf diese Weise eine komplexe, allerdings auch rätselhafte einheimische Bildsprache entwickelt, ähnlich den Runen, die von den mediterranen Schriftsystemen inspiriert sind und doch ein eigenständiges Zeichensystem bilden.

Schon bald lässt sich die Praxis beobachten, römisches Gold einzuschmelzen, um daraus eigene Artefakte zu fertigen. Beispiele hierfür sind die beiden gut 50 cm langen Goldhörner von Gallehus, die 1802 aus der Kopenhagener Kunstkammer gestohlen und eingeschmolzen wurden. Wie man auf Abbildungen sehen kann, waren die Hörner mit einer Unzahl von Figuren und Ornamenten bedeckt, die der Forschung bis heute Kopfzerbrechen bereiten. Unter anderem hat man erwogen, ob diese Bildprogramme auf eine totale Sonnenfinsternis zu beziehen sind, die sich im Jahr 413 über dem südlichen Dänemark ereignete.[18]

Abb. 1: Kopie eines der beiden 1802 eingeschmolzenen Goldhörner von Gallehus aus dem 5. Jh. Die rätselhafte Bilderwelt der beiden Hörner bereitet der Forschung bis heute Kopfzerbrechen. Die Figur oben mit dem auffälligen Hörnerhelm erinnert an jüngere Figurinen, die oft als Odin gedeutet werden.

Im Gegensatz zu den zerstörten Goldhörnern können die spektakulären schwedischen Goldhalskrägen aus dem 5. Jahrhundert heute im Historischen Museum in Stockholm bewundert werden. Die Menge des verarbeiteten Goldes dieser drei Krägen oder Halsringe – der größte wiegt mehr als 800 Gramm – ist bemerkenswert; noch bedeutsamer aber ist das künstlerische Geschick, mit dem diese Artefakte gefertigt wurden – wobei auch die stilistischen und motivischen Verbindungen mit anderen germanischen, aber auch außergermanischen Kunstwerken ins Auge fallen. Zusammengerechnet zeigen die drei Krägen über 900 winzige, mit immenser Präzision ausgeführte figürliche Darstellungen, großenteils von Tieren, die freilich nicht naturalistisch nachgeahmt, sondern kunstvoll abstrahiert wiedergegen werden. Nicht zu Unrecht sieht die Archäologin und Skandinavistin Alexandra Pesch, die den Krägen eine akribische Studie gewidmet hat, darin eine der bedeutendsten kunsthandwerklichen Leistungen im Europa des ersten nachchristlichen Jahrtausends.[19] Wie aber sind solche Artefakte in religionsgeschichtlicher Perspektive einzuordnen? Sind die Halsringe Teil einer priesterlichen Ausstattung, die anlässlich einer Kultfeierlichkeit angelegt wurde? Von Arm- und Halsringen, die von Herrschern getragen wurden, ist in der Literatur häufig die Rede, und den Königen der heidnischen Zeit werden häufig auch priesterliche Aufgaben zugeschrieben. Oder wurden die Halsringe gar nicht von Menschen getragen, sondern Götterstatuen umgelegt? Welche Götter hier ins Spiel kommen mögen, lässt sich kaum entscheiden, doch gerade im Hinblick auf die Halsringe liegt die Assoziation mit Odin und seinem Ring Draupnir nahe.



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