Der Aufstieg - Walther Harich - E-Book

Der Aufstieg E-Book

Walther Harich

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Beschreibung

Ein Kriminalroman aus der alten Provinz (Pommern). Das Fragment entstand um 1925 und wurde erst viel später das erste Mal gedruckt. Harich gehörte zu Anfang des 20. Jahrhunderts zu den produktivsten deutschen Kriminalautoren.

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Der Aufstieg

Roman aus der alten Provinz

Walther Harich

Inhalt:

Der Aufstieg

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

Der Aufstieg, W. Harich

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849643171

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Cover Design: © Eky Chan - Fotolia.com

Der Aufstieg

1.

Natürlich konnte der alte Amende nicht wie die andern Menschen zur polnischen Vorstadt hinunterlaufen, um dem Einzug des neuen Postvorstehers zuzusehen, obwohl er gern gewußt hätte, was das für Leute sind. Seine Frau aber trat schon aus der Tür, die schwarze Mantille umgenommen, die schutenartige Haube auf dem Kopf, und sogar an den Handschuhen knöpfte sie die letzten Knöpfe zu. Der rote Sonnenschirm unter ihrem Arm fuhr bei der Bewegung der Hände heftig nach rechts und nach links.

Der Alte wußte natürlich, wo Ernestine hinwollte. Aber sie sagte, daß sie nur frische Luft schnappen ginge, etwa an den See hinunter. Der Gohlungsee wurde nämlich gerade abgelassen, und es gab dort immer Interessantes zu sehen: den Bau der Schleuse, die die Zuflüsse regulieren sollte, und die Baggermaschine (die neue Firma Schichau in Elbing hatte sie geliefert), die durch den Wassergrund hindurch einen Abzugsgraben aushob. Diese Arbeiten standen im Mittelpunkt des Stadtgesprächs, und die Gohlunger gingen hinunter, um zuzuschauen, denn die Trockenlegung des Sees bedeutete für sie nicht mehr und nicht weniger als den Anschluß an die neue Zeit. Alle Gemeinwesen rührten sich, die Städte nahmen zu, die Konkurrenz war groß. Man mußte jetzt anfangen zu rechnen. Was nutzte der See, der an die zwanzig Hufen besten Weidegrunds bedeckte! Wenn man Wasser wollte, hatte man auf der andern Seite der Stadt immer noch den Mariensee, auch wenn er eine halbe Meile ablag. Der Gohlungsee hingegen mußte an Heu und Weide das Zehnfache des jetzigen Fischereipachtgeldes bringen. Kein Bürger der aufstrebenden Zeit (es war um das Jahr 1880 herum) konnte sich dem verschließen.

Der Buchdruckereibesitzer Amende wußte aber trotz der Wichtigkeit dessen, was da unten am See vor sich ging, daß seine Frau etwas ganz anderes wollte. Natürlich würde sie die Bergstraße hinuntergehen und unten vielleicht auch einen Blick auf die Baggermaschine werfen. Aber dann würde sie in die polnische Vorstadt weitergehen, wohin heute alle Frauen unter irgendeinem Vorwand strebten. Vielleicht würde sie bei der jungen Frau Kreisbaumeister vorsprechen, aber alles das nur, um zu sehen, wie vor dem ehemals Lakiesschen Haus die Möbel des neuen Postvorstehers aus dem Wagen geladen wurden. Es schienen feine Leute zu sein, weil sie sich gleich das hübsche Haus gekauft hatten; als ob sie Gutsbesitzer gewesen wären und nun in die Stadt zögen. Im übrigen wußte man noch nicht viel von ihnen. Es hieß, sie kämen aus dem Elbingschen, andere sagten, irgendwoher aus dem Litauischen sogar, aus der Gegend von Insterburg, und der Postvorsteher Ambrus sollte eine Frau aus der hiesigen Gegend haben, eine geborene Gnuschke aus Gnuschkenhof, eine Meile vor der Stadt, und die alte Frau Gnuschke sollte bei ihm wohnen. Mein Gott, wie lange war es her, daß die Gnuschkes nicht mehr in Gnuschkenhof wohnten!

»Sieh zu, was für ein Schreibtisch dabei ist«, rief Herr Amende seiner Frau nach. Der Schreibtisch war für ihn ein Wertmesser, denn er hatte sich soeben bei Tischlermeister Tannenberg einen neuen aus Birnbaumholz arbeiten lassen. Einen hohen Sekretär mit Geheimfächern und versteckter Schnappfeder, im Stil eines griechischen Tempels, mit gedrehten Säulen und reich geschnitztem Kapitäl. Die Schnitzereien hatte sich Tannenberg aus einer Königsberger Fabrik kommen lassen, und er war auf diese Verbindung besonders stolz. Herrn Amende gefiel der Sekretär ungemein. Es war auch eine Schublade für Schnupftabak darin (er selbst sagte »Schniefke« darauf), aber er hätte sich doch geärgert, wenn der Postvorsteher mit so einem neumodischen Diplomatentisch angekommen wäre, wie ihn Bismarck und der alte Kaiser auf den Bildern haben.

Man soll übrigens nicht meinen, daß das Interesse Amendes für Herrn Ambrus bloße Neugierde gewesen wäre. Der Postvorsteher war eine wichtige Persönlichkeit für ihn. Die »Gohlunger Kreiszeitung« erschien jetzt dreimal wöchentlich, und jedesmal waren an die sechshundert Exemplare beim Postamt aufzuliefern. Alle Gutsbesitzer des Kreises, die Pfarrer und Gemeindevorsteher, die Gutsinspektoren und die Gastwirte, alle hielten die »Gohlunger Kreiszeitung«. Allein in die benachbarte Stadt Liebstadt gingen an die achtzig Exemplare und nicht viel weniger nach Pr. Holland. Dort allerdings gebot die »Elbinger Kreiszeitung« halt. Bei solchen Massenauflieferungen – der kleine blaue Handwagen war ganz voll, und Pörschke, der Laufjunge, hatte im Schweiße seines Angesichts zu schieben, wenn er die Post aufs Amt brachte – war das Wohlwollen der Postbehörde vonnöten. Herr Amende gestand sich wohl ein, daß dieser Versand eine unziemliche Belastung einer kaiserlichen Behörde bedeutete. Schließlich war ein Postvorsteher in seiner blauen goldbesetzten Uniform nicht für die Zeitung da, und der Schalterbeamte machte Schwierigkeiten. Herr Amende bedachte das alles, nahm eine Prise und spuckte an der Ecke des Marktes aus. Beides pflegte bei ihm aufeinanderzufolgen.

Es war die gewohnte Vormittagsstunde, in der er sich vor dem Hause die Beine vertrat. Er bewohnte mit Geschäft und Familie ein Eckhaus am Markt, dort wo die Milchstraße einbiegt. Vor dem Eingang zum Laden standen zwei Linden. Er hatte sie mit eigener Hand gepflanzt, als er vor vierundzwanzig Jahren von Leipzig nach Gohlungen gezogen war, um hier die Druckerei einzurichten. Diese Druckerei nahm damals nur zwei Räume des unteren Stockes ein. Vorn lagen die Papiervorräte, und hinten stand die hölzerne Druckpresse, die er selber mit einem Gesellen bediente. Er selbst hatte noch ein Zimmer daneben, von dem aus er den Markt überschauen konnte. Er war damals ein vielbegehrter Junggeselle gewesen, und die Bürgertöchter spazierten nur so auf dem Markt herum, wenn er mit der Pfeife am Feierabend in seinem Fenster saß. Allmählich hatte er sich dann über das ganze Haus ausgebreitet und neulich sogar noch den Stall hinter dem Hof ausbauen müssen. Frau und Kinder waren hinzugekommen, und die Bürgertöchter gingen nicht mehr so eifrig auf dem Markt spazieren. Seit vier Jahren war nun noch der Laden eingerichtet, in dem Schreibwaren und sogar Bücher verkauft wurden, das Werk Willys, des Sohnes. Der Laden und sein Privatkontor, in dem Tannenbergs Sekretär stand, nahmen jetzt die ganze Vorderseite ein. Dahinter lag das Kontor, in dem Fräulein Haase waltete. Sie mußte die Tür zum Laden offenhalten, weil sie auch vorn verkaufte. Nur über Mittag oder an den Markttagen, wenn der Andrang zu groß war, kam ihr Frau Amende zu Hilfe. Die Druckerei aber war schon seit einigen Jahren in den Setzersaal und den Maschinensaal geteilt. Das war, seit die Zeitung ihren unerwarteten Aufschwung genommen hatte. Die Wohnung lag im ersten Stock. Man kam über den alten hölzernen Beischlag – die Schnitzereien daran waren aber noch nicht aus einer Königsberger Fabrik verschrieben – in den Hausflur, von dem die Treppe emporführte.

Man hatte schon eine Last auf den Schultern und ein ganzes Pult mit vollgefüllten Schubfächern im Kopf zu tragen, wenn man so gegen zehn Uhr vormittags eine halbe Stunde lang vor dem Haus auf und ab ging. Gewöhnlich schnob Herr Amende zwischen dem Beischlag und der Marktecke hin und her, wenn aber der Jude Simon nebenbei vor seiner Tür stand, beschränkte er sich auf den Raum zwischen den beiden Linden. Er konnte Simon nicht leiden, seit der ihm für einen Schafspelz mit Biberkragen achteinhalb Taler abgenommen hatte. Achteinhalb Taler sind kein Pappenstiel, und überhaupt hatte er den Pelz gar nicht gebraucht. So kehrte er schon vor dem Beischlag um und ging wieder zur Ecke zurück, wo jetzt, auf der andern Seite, die Frau Bäckermeister Lagenpusch in ihrer blitzblanken weißen Schürze stand und ihm zunickte. Er mochte die Frau mit den blanken braunen Augen wohl leiden und dachte nicht ohne Behagen daran, daß sie ebensogut Frau Amende hätte werden können wie seine Ernestine. Aber man wußte damals noch nicht so recht, wie sich die Druckerei anlassen würde, und so war eines Tages aus der hübschen Trude Engling die Frau Bäckermeister Lagenpusch geworden. Doch das weiße Gebäck, die »Schlesacks«, kaufte man nur bei ihr.

Die Rathausuhr schlug ein Viertel auf elf, es war Zeit, hineinzugehen. Herr Amende warf noch einen Blick über den Marktplatz, der menschenleer in der Sonne lag und zwischen den Steinen das grüne Gras sprießen ließ. Er verglich seine Uhr mit der auf dem Turm und wollte sich gerade durch den Laden wieder ins Kontor begeben, als Willy mit Stock und Hut hinaustrat.

»Du willst wohl Druckaufträge sammeln?« fragte der Alte mit angenommenem Grimm.

»Ja, Vater, wenn du gestattest.«

Aber »Druckaufträge sammeln« hieß, wie der Alte wohl wußte, nichts anders, als daß Willy bei einigen Bekannten vorsprach, meistenteils nur bei seinem Freund, dem Kaufmann Heinz Winkler auf der andern Seite des Marktes, und dort einen Anisschnaps »genehmigte«. Herr Amende sagte darüber nichts, denn an diesem Sohn hatte er ein Wohlgefallen.

Aber diesmal ging Willy Amende an Winklers Laden vorüber, die kurze Bergstraße hinunter und in die polnische Vorstadt. Diese Straße beherbergte nicht etwa, wie man meinen könnte, polnisches Volk, sondern sie hatte ihren Namen lediglich daher, daß sie nach Süden aus der Stadt hinaus und so schließlich im weiteren Verlauf auch einmal nach Polen führen mußte. Der junge Buchdrucker bemühte sich um eine möglichst geschäftsmäßige Haltung. Man sollte nicht denken, daß er etwa zwecklos hier herumstrich oder gar dem Deutschen Haus oder weiter unten dem Hotel Dorsch zustrebte. Andrerseits lag ihm nicht viel daran, rasch vorwärts zu kommen, denn die Straße war bald durchmessen und der Häuser, in denen er etwas zu tun haben konnte, waren nicht viele. Hinter dem Seiler Liedtke, der vielleicht ein Inserat über seine selbstgedrehten, reinfaserigen Stricke aufzugeben gesonnen war (man konnte ihm bis vierzig Prozent Rabatt geben), kam das hübsche Lakiessche Haus, in das heute früh die neue Postvorsteherfamilie einziehen sollte. Schräg gegenüber lag dann noch das Häuschen des Kreisbaumeisters Bresgott, dann aber begann schon die Landstraße, und auf ihr hätte er sich in dieser Stunde um keinen Preis der Welt blicken lassen. Heinz Winkler hatte ihm nämlich gesteckt, daß sich Fräulein Regine Steinbock für heute um halb elf ein Fäßchen Heringe nebst verschiedenem Mostrich, Schmierseifen und anderen Waren hatte bereitstellen lassen. Ausdrücklich habe sie gesagt, daß sie selbst die Sachen im Wagen gegen halb elf abholen würde. Und dieses Fräulein Regine Steinbock hier in der polnischen Vorstadt zu sehen, wie sie in ihrem Wagen aus Schwenkendorf kam, um Mostrich, Heringe, Schmierseifen und andere Waren von Heinz Winkler abzuholen, war der Zweck seines Ausgangs. Er durfte sogar hoffen, sie zu grüßen, da er ihr im Winter auf dem Eis durch den Kandidaten des höheren Schulamts, Herrn Ollech, der ihre kleinen Geschwister in der Privatschule unterrichtete, vorgestellt worden war.

###

Aber er war schon am Hotel Dorsch vorüber und sah den Tafelwagen mit den beiden schnittigen Füchsen noch immer nicht kommen, obwohl es jeden Augenblick vom Rathausturm halb elf schlagen konnte. Den Schritt noch mehr zurückzuhalten, ging schlecht an, so drang er denn kühn bis zum Seiler Liedtke vor, von dem ihm im Augenblick einfiel, daß seine Frau am Tag vorher ein Kindchen bekommen hatte. Zwanzig, dreißig Schritte weiter vor dem Lakiesschen Haus hielten zwei Bretterwagen mit den Möbeln des neuen Postvorstehers, in Decken gehüllt und in gelbes Stroh eingelagert. Starke Männer – er erkannte sie an dem Kutscher Böhnke als die Packer des Fuhrgeschäfts Günther – trugen die Sachen mit Gurten ins Haus. Kinder und einige Erwachsene hatten sich angesammelt und verstellten die Aussicht. Vielleicht konnte man sich dazustellen und den Schwenkendorfer Wagen in Ruhe vorüberlassen. Wem konnte es auffallen, wenn man sich einen Umzug ansah, wie er hier selten genug vor sich ging? Schon wollte er hingehen, als er seine Mutter erblickte. Sie unterhielt sich mit dem Seiler, der im Torbogen seines Hauses seine Stricke knüpfte, und sah nach den abgeladenen Möbeln hin. Da hatte die gütige Mutter der Frau Liedtke offenbar ein wenig Wäsche oder einen stärkenden Wein gebracht oder sich auch vielleicht nur nach dem Befinden von Mutter und Kind erkundigen wollen. Er trat, froh des Anlasses, zu ihnen hin.

»Ihr müßt ein Inserat aufgeben«, sagte er zu dem Seiler. »Gerade jetzt, wo der Stammhalter da ist, muß das Geschäft aufblühen.«

Aber der junge Meister wollte nichts davon wissen. »Die Königsberger Fabriken«, sagte er, »nehmen uns alles weg. Das wird noch ein paar Jährchen dauern, und niemand kauft mehr seine Bindfäden von einem richtigen Meister.« Sie unterhielten sich über die Zukunft des Handwerks, das keinen goldenen Boden mehr habe. »Nun ist noch die Eisenbahn gekommen«, rief Liedtke, der heute viel an die bedrohte Zukunft seines Sohnes in den Windeln denken mochte, »jetzt kann sich jeder alles aus den großen Städten schicken lassen, und wir haben das Nachsehen.«

Auch Frau Ernestine meinte, daß schwere Zeiten kämen. Mit der Druckerei ginge es ja noch, aber das Handwerk ginge durch die Fabriken herunter.

»Dann muß man selbst Fabrik werden«, entschied Willy. Es war sein Lieblingsthema. Seine Ohren wurden rot vor Aufregung, und die von vieler Nachtlektüre angegriffenen Augen funkelten hinter der Brille, die er leider auf der ein wenig zu großen Nase tragen mußte. »Selbst Fabrik werden!«

Er hatte die Umständlichkeit des Handwerks genugsam am eigenen Leibe zu kosten bekommen. Da war ihm von den drei Jahren der Druckerlehre nur ein Jahr erlassen worden, obwohl er seit Kindheit auf in den Ferien am Setzkasten gestanden hatte. Eigentlich taugte er überhaupt nicht für diesen Beruf und in die kleine Stadt. Er hatte das Gymnasium in Elbing und späterhin in Hohenstein besucht und Philologie studieren wollen, und saß schon auf Sekunda, als sein Vater auf einmal erkrankte und er nach Hause mußte, um nach dem Rechten zu sehen. Ein ganzes Jahr hindurch hatte er das Geschäft fast selbständig geführt. Es war gerade die Zeit, als sich aus dem Amtlichen Kreisblatt die »Gohlunger Kreiszeitung« entwickelte. Als dann der Vater wieder gesund wurde, war es zu spät, auf die Schule zurückzukehren. Aber nun mußte er noch zwei Jahre Lehrzeit im väterlichen Geschäft abreißen. Es ist nötig, sagte der Alte, sonst kannst du später keine Lehrlinge einstellen, und Lehrlinge sind die billigsten Arbeitskräfte. Willy merkte das an sich selbst, denn während er als Lehrling dem Geschäft einen Setzer sparte, mußte er noch Fräulein Haase in der Buchhaltung helfen, baute das Papiergeschäft weiter aus, verschrieb sogar einige neuere Bücher wie Wilhelm Jordans »Nibelungen« und »Soll und Haben« und schließlich sogar einiges von Fritz Reuter, der damals in Mode kam. Diese Bücher standen viele Monate im Schaufenster, aber schließlich wurden sie doch verkauft und waren mit anderen seitdem vielleicht schon zehnmal neu verschrieben worden.

Als aber die Lehrzeit herum war, da hielt es ihn nicht länger in der kleinen Stadt. Er begab sich auf die Wanderschaft, war an vielen Orten als Setzer tätig und kam bis zum Rhein. Schließlich landete er bei Breitkopf und Härtel in Leipzig, der weltbekannten Firma, von der aus vor vielen Jahren sein Vater nach Ostpreußen gekommen war. Er stand mehrmals am Grabe des Großvaters, dicht an der Kirche in Eutritzsch, wo der Selige als Organist und Kantor gewirkt hatte und freute sich, daß dieses Grab, das er gewissermaßen als Ursprungsort seiner eigenen Person auffaßte, mitten in Deutschland und nicht so weit im Osten lag. Gerade in Leipzig verdiente er gut, weil er hier als alter Sekundaner mit dem Setzen griechischer Klassiker beschäftigt wurde. So skandierte er wieder, jetzt am Setzerpult, die beliebten Hexameter Homers und durfte die Reden des Demosthenes wenigstens in guten Satz bringen, wenn seine Schulkenntnisse auch nicht ausreichten, sie ganz zu verstehen. Als er nach drei Gehilfenjahren in die Heimat zurückkehrte und der Vater erwartete, daß er nach der weiten Reise abgerissen und ohne einen Groschen aus dem Wagen steigen würde, knüpfte er das Taschentuch auf und wies fünfzig blanke Talerstücke vor. »Dazu habe ich dich nicht in die Welt geschickt«, brummte der Alte, der sich noch recht wohl von den Tanzböden her auf die Leipziger Mädchen besann. Aber er war doch stolz auf den tüchtigen Sohn und sah schon den Tag herannahen, an dem er Willy als »und Sohn« in die Firma aufnehmen würde.

Nun war Willy schon über ein Jahr zu Hause und strebte der Mitte der Zwanziger zu, und alle wußten, daß er die Hauptlast des Geschäfts auf seinen Schultern trug. Er hatte im Reich die Augen ordentlich aufgemacht, die neuesten Maschinen kennengelernt und sah, daß man hier oben in Preußen noch weit zurück war. Er träumte davon, im großen zu wirtschaften, dem Geschäft ein fabrikartiges Ansehen zu geben, und schob seinen Alten vorwärts, daß diesem angst und bange wurde. Die »Gohlunger Kreiszeitung« kletterte schon an das dritte Tausend heran, obwohl die Stadt selbst nur viertausend Einwohner hatte. Aber das Wesen der Fabrik ist der Export, dachte Willy, auch bei der Zeitung. So tiftelte er Verbindungen zu den Nachbarstädten und den größeren Dörfern heraus, suchte überall Beziehungen aufzunehmen, und als endlich die Eisenbahn kam und so recht Wasser auf seine Mühle war, gab er einmal sogar zwanzig Taler für Blechschilder aus, die im ganzen Kreis an alten Scheunen, Wirtshäusern, Straßenecken zum Abonnement der »Gohlunger Kreiszeitung« mit dem »Amtlichen Kreisblatt« einluden. Der Vater schalt über die Ausgabe, aber Willy rechnete ihm vor, daß sich die zwanzig Taler nicht nur gut verzinsten, sondern sich in einem halben Jahr schon dreifach eingebracht hatten. Von Zinsenrechnung aber wollte der Alte nichts wissen. »Das ist etwas für Juden«, sagte er, »das kannst du dem Herrn Simon von nebenan erzählen.« Er rechnete nur nach Einnahmen und Ausgaben, und was dann übrigblieb, war der Gewinn, und in den Gewinn, der im Eßzimmer in der großen Truhe unter Mutters Tischtüchern und Bettlaken lag, brachte der Sohn Unruhe durch seine ewigen Anschaffungen – die neue gußeiserne Druckpresse aus Frankenthal am Rhein war darunter. Die beiden älteren Schwestern, die auswärts verheiratet waren, beklagten sich in Jammerbriefen darüber.

»Der Junge rechnet wie der Teufel«, sagte Herr Amende zu seinen Freunden, mit denen er abends beim Braunbier zusammensaß. Er meinte nicht nur die Fixigkeit und Genauigkeit – darin war er dem Sohn immer noch über –, sondern er wollte zugleich damit ausdrücken, daß für ihn diese Art zu rechnen etwas Teuflisches hatte, das zur Hölle führen müsse. Und wer weiß, ob er nicht recht hatte? Da er aber den Vorteil schließlich erkannte, gewöhnte er sich daran, daß mit der jungen Generation eine neue Art, das Leben zu packen, aufkam. Schließlich war der große Krieg gewonnen worden, der Erfolg war da, und man konnte schon auf Bismarck und die deutsche Zukunft vertrauen. Nur, der Junge verkehrte doch etwas zuviel mit den Rechenmeistern.

Zu den Rechenmeistern gehörte nicht nur Heinz Winkler am Markt, sondern auch der Kreissekretär Schäfer, den man jetzt sogar zum Rendanten der neuen Kreissparkasse gemacht hatte. Herr Schäfer stand schon in der Mitte der Dreißiger, und er sah – was einigermaßen mit seinen neuen Ideen versöhnen mochte – aus wie ein bürokratisierter Bismarck. Er war groß und mächtig von Gestalt, und über den breiten Schultern saß ein dicker runder Kopf mit spiegelnder Glatze. Er trug wie Bismarck nur einen kurz geschnittenen Schnurbart, mußte aber die Ähnlichkeit durch eine Brille wieder herabmildern. Im übrigen hatte Herr Schäfer eigentlich wenig von Bismarck. Seine Stärke war, daß er alle Bestimmungen kannte. Sonntags sah man ihn in Hemdsärmeln mit einer langen Angelrute am Ufer des Mariensees sitzen. Ganz friedlich und stundenlang, ohne sich zu rühren, saß er da. Aber seit die neue Kreissparkasse da war, machte er Jagd auf Geld und wollte von jedem Menschen eine Summe haben, die er mit zweieinhalb Prozent zu verzinsen vorgab. Auf diesen Unsinn war Willy hereingefallen und lag dem Vater in den Ohren, sein Geld auf die Sparkasse zu geben. Diesmal war der Alte geradezu wütend.

»Was? Zweieinhalb Taler bekomme ich für meine hundert Taler, und das soll ein Vorteil sein? Was wird derweil aus meinen hundert Talern?«

»Die kannst du dir ja jederzeit wieder abholen, Vater.«

»Da ist ein Haken dabei. Und außerdem ist es dann aufgeschrieben, und jeder kann es ablesen, wieviel Groschen ich mir erspart habe.« Er hatte nämlich nicht wenige Taler in der Truhe liegen und fand es sehr überflüssig, daß jemand davon erführe. Selbst Willy wußte nicht um die Höhe der Summe. Aber auf einmal – es war erst vor einem halben Jahr gewesen – war Herr Amende am Vormittag auf das Landratsamt im Dohnaschlößchen gegangen und eine ganze Stunde bei Herrn Schäfer geblieben, hatte dann zu Hause große Pakete gemacht und ging neben Pörschke her, der diese Pakete im blauen Handwagen zum Dohnaschlößchen schieben mußte, und ließ sie in das Büro des Herrn Kreissekretärs schleppen, wobei er immer neben dem keuchenden Pörschke herging. Er sagte den ganzen Tag nichts darüber, und erst am Abend, als sie bei der Mehlsuppe zusammensaßen, fuhr er den Sohn an: »Was, zweieinhalb Prozent will der Schäfer dir geben? Mir gibt er drei Prozent!«

Am nächsten Vormittag erzählte der Kreissekretär im Hinterzimmer bei Heinz Winkler von siebentausend Talern, und die Freunde genehmigten ein Extragläschen. Aber drei Prozent bewilligte die Kreissparkasse Herrn Amende in der Tat. Graf Kanitz, der Landrat, hatte es ausdrücklich erlauben müssen. Willy erfuhr auf diese Weise von der Höhe der Summe und überlegte sich, daß über lang oder kurz das Nachbarhaus zugekauft werden müßte.

»Man muß Fabrik werden, oder man ist verloren«, sagte er zum Seilermeister Liedtke und dachte an die Vergrößerung der Druckerei.

Inzwischen war der Schwenkendorfer Wagen mit Regine noch immer nicht vorbeigekommen. »Ich muß mir doch einmal diesen Umzug ansehen«, sagte Willy und ging weiter.

»Sieh nach, was für ein Schreibtisch dabei ist«, rief die Mutter ihm nach. Sie wagte im Schuldbewußtsein der eigenen Neugierde nicht näher an die Wagen heranzutreten, ebensowenig wie Willy es gewagt hätte, auf die Chaussee hinauszugehen.

Das Lakiessche Haus war ein langgestreckter weißer Bau mit rotem Dach. Es stand mit der Längsseite zur Straße. Unten hatte es, wie Willy wußte, fünf große Zimmer und eine Küche. Eine Treppe hoch lagen nur noch Mansardenzimmer, die aber auch geräumig waren und als Schlafzimmer benutzt werden konnten. Vor dem Hause, an der Längsseite, standen vier Edeltannen, was als ungewöhnlich zu buchen war. Nach hinten gab es einen großen Hof und eine Scheune, die jetzt, da kein Land mehr zu dem Haus gehörte, eigentlich überflüssig war. Hinter der Scheune und einem Gemüsegarten begann gleich der Gohlungsee, und man sah schon im Geiste, wie sich die weiten und fetten Wiesen an Stelle des Sees bis zum Horizont hin erstrecken würden, wenn erst die Arbeiten beendet waren. Das Ganze machte einen anheimelnden, ja stattlichen Eindruck, und man kann ermessen, daß die Gohlunger neugierig auf einen Postvorsteher waren, der damit anfing, sich dieses hübsche Haus zu kaufen.

Jetzt allerdings waren Haustür und alle Fenster mit den blitzenden Butzenscheiben weit aufgerissen. Die Leute aus Günthers Fuhrgeschäft luden schon den zweiten Wagen ab. Im Innern sah man Menschen herumwirken. Den Pferden waren die Sielen über den Rücken geworfen, sie standen inmitten des Lärms ruhig und bissen an der Deichsel herum. Vor der Tür stand ein junges Mädchen von vielleicht achtzehn Jahren und gab den Packern Anweisungen, wo sie die Möbel hinzutragen hätten. »Der Sessel in den Salon. – Das ist Küchenzeug. – Die Bettkiste auf den Boden. – Die Lampen vorläufig alle in die Küche.« Jetzt luden die Männer ein besonders schweres Stück ab. Es war eine Ausziehkommode, die als unteres ausziehbares Schubfach das Bett für das Dienstmädchen enthält. Willy kannte dieses Möbelstück von Hause. Die Kommode wurde ebenfalls in die Küche kommandiert. Sie war das erste Stück, das vom zweiten Wagen abgeladen wurde. Der war noch ganz voll von Möbeln und Kisten, die sich mit unheimlichen Umrissen in den grauen Decken übereinandertürmten. Man konnte kaum erkennen, was darunter steckte, und nur ein Klavier hob sich deutlich aus den Massen. Es mußte als nächstes Stück herankommen. Wie die Männer dieses schwere Ding schleppten, wollte sich Willy noch ansehen. Von Zeit zu Zeit erschien eine Dienstmagd in der Haustür, mit aufgebundenen Röcken und in roten Wollstrümpfen. Die Holzpantinen hatte sie drinnen abgestellt. Sie rang jedesmal die Hände und schrie dem Fräulein zu, daß ja »noch nuscht, rein jarnuscht« abgeladen wäre. Auch den Postvorsteher konnte man sehen, wie er sich aus dem Fenster beugte und nach den Wagen sah. Willy dachte an die aufzuliefernden Zeitungen und sah ihn sich genau an. Er hatte eine freundliche, außergewöhnlich hohe Stirn und trug einen dunkeln weichen Vollbart, aber seine Gesichtsfarbe schien ungesund, und in den Augen lag etwas Trauriges, fast Schwärmerisches.

»Der taugt nicht in ein Büro«, dachte der junge Amende und hatte recht Postvorsteher Ambras war noch einer von jenen aus der Zeit, als die Post noch mit Pferden besorgt wurde und zur Posthalterei ein großer Wirtschaftshof mit Ställen und Knechten gehörte. So einer wie der Posthalter Rekittke, der nun zur Ruhe gesetzt war, seit die Eisenbahn von Elbing nach dem Süden der Provinz ging.

Die seltsamsten Sachen wurden von dem Wagen heruntergeholt. Da gab es an die zwanzig Geweihe, deren geperlte Stangen sich zu Knäueln ineinanderschlangen. Ein ausgestopfter Fuchs kam zum Vorschein, einige Vögel, darunter eine Ente, deren Federn wie Perlmutter spielten, und sogar einige Öldrucke von Jagdszenen in goldenen Rahmen. Willy gab angesichts solcher Beweise eines vornehmen Lebenswandels die Hoffnung auf, mit diesen Menschen je bekannt zu werden. Dazwischen aber unterließ er es doch keineswegs, nach dem jungen Fräulein Ambrus hinzuschielen. Sie war stattlich gewachsen und hatte ein volles regelmäßiges Gesicht. Das braune Haar trug sie über der Stirn gescheitelt und hinten mit einem Kamm aufgesteckt. Sie gefiel ihm, und er bewunderte ihre energische Art, mit der sie den Männern ihre Weisungen gab. Da auch sie mehrmals nach ihm hinsah und in ihm die Einwohnerschaft ihrer neuen Heimat abtaxieren zu wollen schien, hielt er es schließlich für unschicklich, hier noch länger stehenzubleiben, und wäre wirklich zurückgegangen, obwohl der Schwenkendorfer Wagen sich noch immer nicht blicken ließ. Auch hielt er es für nötig, an die Arbeit zurückzukehren. Aber seine Mutter verabschiedete sich gerade von Herrn Liedtke, und wenn er jetzt umkehrte, hätte er sie begleiten müssen. Um keinen Preis der Welt aber wollte er Regine in Gegenwart seiner Mutter grüßen. Jedoch Frau Amende benutzte den Vorwand, der ihr geboten war, und kam auf ihren Sohn zugeschritten. So konnten die Menschen denken, daß sie ihn nur abhole, während sie dann doch wenigstens einen verstohlenen Blick auf das Drum und Dran der neuen Gohlunger warf.

Willy bemerkte in diesem Augenblick einen Kopf, der sich zum Fenster hinausbeugte, den Kopf eines jungen Mannes. Und gleich darauf stand die ganze Person in der Tür: eine große, aufgereckte Gestalt mit energischem Gesicht, das durch studentische Narben über und über gezeichnet war. Dunkelbraunes Haar hing ihm lockig über die Stirn, und ein stattlicher Schnurrbart war frech aufgezwirbelt. »Richard Ambrus!« flüsterte Willy seiner Mutter zu. Er hatte ihn im Augenblick erkannt, obwohl er ihn seit zehn Jahren nicht wiedergesehen hatte. Der Ambrus, der auf dem Elbinger Gymnasium einige Klassen über ihm gesessen hatte und der Abgott der jüngeren Schüler gewesen war. Jetzt wußte er, was ihm bei dem Namen des Postverwalters aufgefallen war. Dies war Richard Ambrus, genau so mußte er sein.

Richard Ambrus war herausgekommen, weil die Männer jetzt das Klavier vom Wagen hoben und vor der Tür niedersetzten. Er fegte die Umhüllung ab, zog den Schlüssel aus der Tasche, klappte den Deckel hoch und schlug in die Tasten, drei-, viermal. Die Umstehenden schmunzelten. Es gab volle rauschende Akkorde und dann den Anfang der Donauwellen. »Richard!« rief der Postvorsteher aus dem Fenster. Der Studiosus, oder was er sein mochte, hörte im Augenblick auf und ließ die grinsenden Männer das Instrument hineintragen. Willy hatte mit einem Seitenblick gesehen, wie Fräulein Ambrus die Füße wie zum Tanz setzte und sich jetzt scheu umsah, ob es jemand bemerkt hätte. Willy fand sie in dieser Stellung bezaubernd.

In diesem Augenblick ratterte der Schwenkendorfer Wagen mit den beiden Füchsen über das Pflaster und hielt vor dem Lakiesschen Haus an. Der alte Herr Steinbock und Regine saßen darin, und Herr Steinbock winkte schon von weitem dem Herrn Postvorsteher im Fenster mit erhobenem Arm zu. Zum Unglück mußte gerade jetzt die Mutter sich umdrehen und Willy zum Gehen auffordern. Er warf noch einen Blick zurück, ob es angezeigt wäre, Regine zu grüßen, die aber hatte ihn gar nicht bemerkt, sondern sah zu Richard Ambrus hinüber, der das Hineintragen des Klaviers leitete. Mit einem leisen Aufseufzen folgte Willy der Mutter.

2.

Was war das für eine wundervolle Stadt, das alte Gohlungen!

Ihre Straßen waren nicht schön, und der Markt mit dem alten Rathaus in der Mitte und den Linden und den alten Beischlägen ringsum lag meistens still da. Man konnte zur englischen Vorstadt hineinkommen und zur polnischen Vorstadt herausgehen, ohne einen Menschen zu treffen, wenn nicht gerade ein paar Mägde bei der Pumpe in der Ecke des Marktes standen und mit den Eimern an der Pede Wasser holten. Dann aber wieder wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen. Lange Wagenzüge fuhren, ohne abzureißen, durch die Stadt, auf dem Markt standen dicht bei dicht die Karren der Verkäufer vom Lande und hatten mehr, als die viertausend Gohlunger zum Essen, zum Einmachen oder als Vorräte gebrauchen konnten. Zwanzig Kastenwagen oder noch mehr standen da mit Kartoffeln oder mit Kohlköpfen, eine ganze Reihe von Ständen entlang wurden Fische aus den benachbarten großen Seen angeboten, in großen Holzkästen wimmelten die grünen oder braunen Krebse, Kälber und halbe Schweine hingen an eisernen Haken. Je nach der Jahreszeit lagen Kiepen voller Erdbeeren, Blaubeeren oder Brombeeren aus dem Stadtwald oder dem Tannenwald herum. Dazwischen schoben sich die Hausfrauen mit den bauschigen Turnüren durch das Gedränge, die Mägde mit Korb und Tasche hinter sich. Es wurde gerufen, gefeilscht, angepriesen, zurückgewiesen, gekauft, als wäre dieser Dienstagmarkt der letzte, der je stattfinden würde. Gegen Abend lag die Stadt wieder still, und die alten Weiber aus dem Armenhaus sammelten unter der Aufsicht der Polizisten Daniel und Geball die Papierfetzen und den zurückgebliebenen Kehricht auf, und am nächsten Tag war der Markt wieder wie ausgestorben.

Aber am Freitag ging es wieder los und am nächsten Dienstag schon wieder. Man wußte nicht, wer das alles kaufen konnte, aber es wurde gekauft, das Stof Erdbeeren für drei Pfennig, das Schock Krebse gar für fünfzehn, ganz zu schweigen von den Hammeln und Kälbern, die dutzendweise unter dem Hackbeil der Metzger verschwanden und in die Markttaschen und Körbe wanderten, und den Karotten und Radieschen und den Kaulbarsen und Karauschen, die mit offenen Mäulern und blutigen Kiemen noch nach Luft zu schnappen schienen.

Aber die Landleute kauften auch in der Stadt. Die Kommis der Manufakturwaren- und Konfektionshandlung von A. W. Seidel hatten alle Hände voll zu tun, wälzten die Ballen der bedruckten Kattune, maßen mit der Elle, schnitten mit der Schere. Fitzelband, Barchent, Knöpfe, große Wirtschaftsschürzen häuften sich auf den Tonbänken, Fräuleins kletterten auf den hohen Leitern auf und nieder, und dazwischen ging Herr Seidel mit dem Kneifer auf der Nase im Laden herum, rieb sich hier schmunzelnd die Hände, schnauzte dort, machte hier eine Verbeugung, riß dort eine Tür auf. Nicht anders ging es bei Heinz Winkler am Markt zu, dessen Mutter an der Kasse saß, ganze Geldhaufen einstrich und mit bewunderswert schnellen Fingern herausgab. Selbst bei Amendes, obwohl sie weniger auf die Markttage angewiesen waren, war der Laden voll von Leuten, die Formulare und Einwickelpapier, Gesangbücher und Haussegen haben wollten, Kalender und Bleistifte und Federn, denn damals fing man auch auf dem Lande schon an, einzutragen und Buch zu führen. Auch hier setzte sich Frau Ernestine an die Kasse, rief Fräulein Haase zu, wo die neuen Milchbücher lagen, suchte unter den Rollen Pergamentpapier die leichtesten heraus. Willy unterhielt in der Zwischenzeit die Kunden, fragte sie nach ihrer Zufriedenheit mit der Zeitung und dem Befinden der Frau Gemahlin. Der alte Amende ging wortlos herum, bot hier und da schweigend eine Prise Schniefke an und stieß plötzlich wie ein Habicht zu, wenn er irgendwo Unordnung witterte. An diesen Tagen kam man auch bei Amendes nur spät und einzeln an den Mittagstisch.

Noch lauter aber ging es im Englischen Hof und bei Scheffler oder bei Leßheim zu. Die Ställe waren überfüllt, und die Pferde standen bis in die Einfahrt. Alle Augenblicke mußte jemand mit der Peitsche herausstürzen und dreinschlagen, weil die Pferde sich schlugen und bissen. Die Männer saßen in den Gaststuben oder standen an den Tonbänken, besprachen Verkauf und Einkauf, schmissen Lagen und gossen einen »Bonbon« nach dem andern in die Gurgel. Wenn es zu laut wurde, erschien der Hausknecht mit aufgekrempelten Ärmeln in der Tür, denn auf die Polizisten konnte man nicht warten. Die hatten auf dem Markt genug zu tun, und alle Augenblicke sah man, wie der dünne strenge Geball oder der dicke gutmütige Daniel einen am Schlafittchen hatte und abführte.

So ging es an den Markttagen zu, aber das war nicht alles. Was die Gohlunger wirklich beschäftigte, das waren die großen alten Adelsfamilien der Umgegend. Da saßen die Dohnas auf wohl zwanzig Gütern, die Grafen Kanitz, die Barone v. d. Goltz, die Finkensteins, die Freiherren v. Buddenbrok, die v. d. Gröben, die Edlen v. Greve,