In ihren Augen - Walther Harich - E-Book

In ihren Augen E-Book

Walther Harich

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Beschreibung

Denn an diesem nächsten Morgen stand etwas ganz Seltsames bevor. Seine Frau hatte ihm geschrieben. Die Frau, mit der er nun schon seit undenklichen Zeiten in Scheidung lag, mit der er einen hartnäckigen, mit allen bösartigen Mitteln betriebenen Prozeß führte. Einen flehenden, verzweifelnden Brief hatte ihm Gerda nun, ganz überraschend, geschrieben und ihn beschworen, ihr eine Unterredung zu gewähren. Sie wollte von Berlin, wo sie bei ihren Eltern wohnte, herüberkommen, um ihn zu sprechen. Es paßte gerade mit seiner Regensburger Reise zusammen, und so hatte er sich für den nächsten Morgen in Regensburg am Berliner Schnellzug mit ihr verabredet. Sie hatte gebeten, diese Begegnung streng geheim zu halten. Er ahnte nicht, was sie zu diesem Entschluß getrieben haben mochte. Irgend etwas Wichtiges mußte in dem »feindlichen« Lager vorgegangen sein. Vielleicht löste sich nun manches Rätsel auf, das ihn seit Jahren beschäftigte. Ein wenig fühlte er – er ward dessen mit einem Lächeln inne – die Spannung wie vor dem Zusammentreffen mit einer Geliebten ...

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Walther Harich

In ihren Augen

Roman

idb

ISBN 9783961509317

Erstes Kapitel

Sie gingen von dem Vorortbahnhof in die Halle des Münchner Hauptbahnhofs. Rechts, ein wenig hochgereckter, als es ihm eigentlich zukam, der Hauptmann a. D. Werneuchen, die kleine Handtasche am Arm, den Mantel hochgeschlossen. An seiner linken Seite der Student der Rechte Otmar Kamp, ein langer, blonder Schlacks mit treuherzigen blauen Augen, die jetzt niedergeschlagen waren, da die Spannung des Abschieds von dem älteren Freunde auf ihn drückte. Am Eingang der Halle versuchte er noch einmal Werneuchen den Koffer abzunehmen. Der ließ es nicht zu. Aber Kamp besorgte wenigstens die Fahrkarte nach Regensburg und für sich die Bahnsteigkarte, lief dann am Zug entlang, um ein leeres Abteil für den Abreisenden zu finden. Es gab aber keines, und Werneuchen mußte sich zu vier anderen Reisenden hineindrücken.

Sie sprachen kaum ein Wort. Diese beginnende Reise schloß so Wichtiges ein, daß zu den unendlichen Erörterungen der letzten Tage nichts mehr hinzuzufügen war. Darüber hinaus hatte noch jeder von ihnen seine eigenen Gedanken und Empfindungen, die er nicht äußern wollte.

»Haben Sie den Scheck?« fragte Werneuchen noch einmal, aber nur, um die Zeit hinzubringen.

»Hier!« antwortete Kamp und schlug sich gegen die Brust. Er trug den Blankoscheck Werneuchens in seiner Brieftasche. Sehr widerwillig hatte er ihn angenommen. Ihn belastete dieses wichtige Papier, das über den Rest von Werneuchens Vermögen verfügte. Aber es war ihm immerhin lieber gewesen, als daß Werneuchen, wie er durchaus gewollt hatte, das ganze Geld mitnahm.

Nur zu kurzem Abschied kletterte der Abreisende noch einmal aus dem Abteil, um Kamp die Hand zu schütteln.

»Also leben Sie wohl, lieber Kamp! Und grüßen Sie Elma, wenn Sie sie sehen.«

»Gut, gut!« wehrte der Student ab. »Und alles Gute und viel Erfolg!«

Alles, was mit dieser Reise Werneuchens zusammenhing, bedrückte ihn. Werneuchens und Elmas Schicksal stand zur Entscheidung, und so manches andere noch. Sie dachten beide daran und wußten es voneinander. Dem Studenten sah man es geradezu an seinem treuherzigen Gesicht an, während Werneuchen seine Mienen besser zu wahren verstand. Das war immer so. Man merkte ihm nichts an, und nur, wenn man ihn ganz genau kannte, so genau, wie es Kamp nun seit fast einem Jahre tat, wußte man, was in dem Schweigsamen vorging, der die inneren Kämpfe hinter leiser Ironie zu verstecken verstand.

Er drängte in das Abteil zurück und ließ sich in der hintersten Ecke nieder. Kamp stand eine Weile unschlüssig da. Werneuchen bemerkte es nicht mehr. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Kamp lief eine Weile neben ihm her. Es schien ihm unmöglich, daß Werneuchen nicht doch noch im letzten Augenblick den Kopf zum Fenster herausstreckte. Dann hörte er allmählich zu traben auf und ging mit gesenktem Kopf zurück. Obwohl es ziemlich gleichgültig war, mußte er doch immer denken: »Wozu hat er nicht mehr hinausgesehen?« Irgendwie schien ihm dadurch eine Entscheidung unwiderruflich gefallen, und einen kurzen Augenblick lang durchzuckte ihn sogar der Gedanke, daß er den Freund nicht wiedersehen würde.

Ernst Alexander Werneuchen hatte sich in seinen Winkel zurückgezogen und überließ sich seinen Gedanken. Am Abend sollte er in Regensburg die Unterredung haben, die über seine Zukunft entschied. Wenn es nur seine Zukunft gewesen wäre! Aber was hingen da noch für Menschenschicksale an ihm! Jetzt konnte alles besser werden. Er glaubte beinahe an eine glückliche Lösung. Ja, er glaubte ganz fest daran, wie er seit langem nicht mehr geglaubt hatte. Seit Monaten suchte er verzweifelt nach einer Stellung. Er hatte sich auf Zeitungsannoncen gemeldet, hatte Bewerbungen geschrieben und Besuche gemacht. Nun auf einmal war es ganz rasch gegangen. Auf irgendeine seiner Meldungen war ein Brief gekommen. Kurzes Hin- und Herschreiben. Er war für die Hamburger Vertretung der Norddeutschen Im- und Exportgenossenschaft in Aussicht genommen. Lebensstellung, sechshundert Mark monatlich und Tantieme. Verlangt wurde allerdings eine Kaution von fünftausend Mark. Selbstverständlich! Er kannte das nun. Große Werte würden durch seine Hände gehen, die Leute mußten sich sichern. Und ganz nebenbei waren fünftausend Mark in dieser kapitalarmen Zeit ein hübscher Betriebsstoff auch für eine große Firma. Natürlich, es hieß Kaution, und war eigentlich etwas ganz anderes. Aber ihm, der gerade noch einiges Geld besaß, wurde einzig auf diese Weise die Möglichkeit gegeben, in eine kaufmännische Stellung hineinzuschlüpfen. Am Abend sollten zwei Direktoren der Gesellschaft in Regensburg sein. Er war zur entscheidenden Besprechung hinübergebeten worden. Er hatte also Chancen, er wiederholte sich das von Zeit zu Zeit. Wenn es gut ging, konnte er am nächsten Tag den Vertrag in der Tasche haben. Ach, wenn er es doch bis zum nächsten Morgen erreicht hätte!

Denn an diesem nächsten Morgen stand etwas ganz Seltsames bevor. Seine Frau hatte ihm geschrieben. Die Frau, mit der er nun schon seit undenklichen Zeiten in Scheidung lag, mit der er einen hartnäckigen, mit allen bösartigen Mitteln betriebenen Prozeß führte. Einen flehenden, verzweifelnden Brief hatte ihm Gerda nun, ganz überraschend, geschrieben und ihn beschworen, ihr eine Unterredung zu gewähren. Sie wollte von Berlin, wo sie bei ihren Eltern wohnte, herüberkommen, um ihn zu sprechen. Es paßte gerade mit seiner Regensburger Reise zusammen, und so hatte er sich für den nächsten Morgen in Regensburg am Berliner Schnellzug mit ihr verabredet. Sie hatte gebeten, diese Begegnung streng geheim zu halten. Er ahnte nicht, was sie zu diesem Entschluß getrieben haben mochte. Irgend etwas Wichtiges mußte in dem »feindlichen« Lager vorgegangen sein. Vielleicht löste sich nun manches Rätsel auf, das ihn seit Jahren beschäftigte. Ein wenig fühlte er – er ward dessen mit einem Lächeln inne – die Spannung wie vor dem Zusammentreffen mit einer Geliebten. Ja, vielleicht liebte er diese Frau noch immer ein wenig. Liebte sie vielleicht jetzt erst, da er wie durch Wüsten und Meere von ihr getrennt war. Was würde sie ihm zu sagen haben? Er grübelte darüber nach, mit jagenden Gedanken, die um so reizvoller waren, da er ihnen keinen Anhaltspunkt geben konnte. Natürlich wußte er, daß nach allem Vorgefallenen ihn nichts mehr, niemals mehr etwas mit Gerda verbinden konnte, daß er Elma gehörte, daß er Elma liebte und mit Elma nun für ewig verbunden war. Und dennoch kreisten heute, und seit Tagen, seit sie ihm diesen überraschenden Brief geschrieben hatte, seine Gedanken immer wieder um die bevorstehende Begegnung.

Morgen um diese Zeit würde alles anders geworden sein. Vielleicht hatte er den Vertrag mit der Norddeutschen Im- und Exportgenossenschaft in Händen, oder er hatte endgültig die Jagd um sein Leben aufgegeben. Auch daran dachte er, daß es vielleicht mit seiner Anstellung nichts würde. In manchen Augenblicken stand es sogar für ihn ganz fest, daß es nichts werden würde. Er konnte die Konsequenzen dieses Falles nicht ausdenken. Wie ein drohendes schwarzes Loch lag diese Möglichkeit vor ihm, und er bemühte sich, Gründe zusammenzusuchen, unter denen seine Aussichten sich gut und hoffnungsvoll gruppierten. Wie es aber auch ausfallen mochte, immer stand für den nächsten Morgen dieses Zusammentreffen mit Gerda da. Irgend etwas würde geschehen. Vielleicht ging wirklich alles gut, und man konnte dann zur Erholung noch einige Wochen in Franken herumreisen. Besichtigung von Domen, Schlössern, Sammlungen, wenn es weiter so nieselte wie bisher. Wanderungen, wenn das Wetter gut war. In zehn Tagen spätestens wollte er unter allen Umständen in München zurück sein. Vielleicht war dann schon der Umzug nach Hamburg vorzubereiten. Wer hätte das noch vor zehn Tagen gedacht, daß er in einigen Wochen diese ganze Münchner Misere hinter sich lassen und in Hamburg ein neues Leben beginnen würde!

Ernst Alexander Werneuchen hatte unendlich viel zu bedenken. Er mußte sich zum Beispiel zurechtlegen, wie er den Direktoren seine mangelnde kaufmännische Ausbildung plausibel machen konnte, oder überlegen, wie er Gerda gegenüberzutreten hatte. Und wenn er nicht bedenken wollte, dann kamen die Möglichkeiten und Vorstellungen von allen Seiten auf ihn zugeschossen. Er deckte sich mit seinem Mantel zu und schloß die Augen.

*

Otmar Kamp hatte sich unterdessen noch einmal umgesehen, als der Zug aus der Halle herausfuhr. Dann gab er sich einen Ruck und ging durch den Vorraum. Draußen verglich er seine Uhr, die immer zwei Minuten am Tag vorging, mit der Bahnhofsuhr. Wenn er schnell machte, konnte er noch im Seminar zwei Stunden arbeiten, ehe er hinausfuhr. Er hatte Glück, gerade bog seine Elektrische um die Ecke. Zwei Stunden Arbeit in dem stillen, um diese Jahreszeit noch immer angenehm geheizten Raum, und dann nach Hause in den kleinen Vorort, wo er seit einigen Monaten in Werneuchens Villa wohnte. Eigentlich war das ewige Hinaus- und Hereinfahren unbequem, aber es war schön und ruhig draußen, und außerdem tat er dem verlassenen Werneuchen einen Gefallen. Ihn fesselte das Schicksal dieses unglücklichen Menschen. Er nahm an diesem Schicksal teil, ging darin auf, seit er zufällig und ohne es zu wollen in einem entscheidenden Augenblick in dieses Schicksal eingegriffen hatte.

Es war schon einige Jahre her, seit er die Bekanntschaft Werneuchens gemacht hatte. Kurz nach dem Krieg war die Familie, bestehend aus Ernst Alexander und Frau Gerda, zwei kleinen Jungen und dem Dienstmädchen, von Berlin nach München übergesiedelt. Man hatte die kleine Villa in dem südlichen Vorort erworben. Kamp lernte die Familie kennen, als sie noch im Bahnhofshotel des Vororts wohnten und auf die Möbel warteten. Von Anfang an hatte er, wie alle Bekannten, den Eindruck, daß die Ehe nicht glücklich war, und daß ein Musiker, Adalbert Reuschhagen, Sohn des weltbekannten großen Klaviervirtuosen Ulrich Reuschhagen, hierbei eine gewisse Rolle spielte. Adalbert Reuschhagen war gleichzeitig mit dem Ehepaar von Berlin nach München übergesiedelt und wohnte mit ihnen einige Wochen lang in dem primitiven Hotel zusammen. Bald darauf aber zog er sich von Werneuchens zurück. Man wußte jedoch, daß er in München öfters und in aller Öffentlichkeit mit Frau Gerda zusammentraf. Niemand regte sich darüber auf, auch wenn Reuschhagen nirgends einen sympathischen Eindruck machte. Übrigens sah man den Musiker nur selten und am dritten Ort, und man nahm an, daß Ernst Alexander Werneuchen um diese Freundschaft seiner Frau wußte und sie schweigend duldete. Man zerbrach sich im übrigen nicht viel den Kopf darüber.

Otmar Kamp hatte zunächst gleichmäßig mit beiden Eheleuten verkehrt. Wenn man ihn damals gefragt hätte, ob ihm der Mann oder die Frau sympathischer wäre, hätte er gewiß gesagt, daß ihm Frau Gerda näherstand. Herr Werneuchen konnte, trotz körperlicher Anwesenheit, manchmal wochenlang für alle Bekannten einfach nicht da sein. Man bemerkte ihn nicht neben der temperamentvollen und begabten Frau. Bis er dann auf einmal bei Gelegenheit die Aufmerksamkeit an sich riß, scharfe, sarkastische Bemerkungen machte und eine ganz außergewöhnliche Bildung und Belesenheit auch auf entlegenen wissenschaftlichen Gebieten durchblicken ließ. Wenn man sich in irgendeiner persönlichen oder sachlichen Angelegenheit an ihn wandte, überraschte er durch die Güte und Klugheit seines Wesens. Aber immer sank er von Zeit zu Zeit in sich selbst zurück, und man vergaß ihn wieder.

In wirklich freundschaftliche Beziehungen zu Ernst Alexander trat Kamp erst, als dieser mit seiner Frau bereits in Scheidung lag. Gerda war mit den beiden Knaben zu ihren Eltern nach Berlin übergesiedelt, die Villa war schon verkauft und sollte demnächst geräumt werden. Es war die Zeit, in der Werneuchen anfing, seiner Zukunft mit Besorgnis entgegenzusehen. Er hatte als Hauptmann nach dem Krieg den Abschied genommen. Von Hause aus wohlhabend, verlor er während der Währungskrise den größten Teil seines Vermögens und bewarb sich nun um eine kaufmännische Stellung. Der junge Student, der noch sorglos dahinlebte, nahm an diesem Verfall einer ihm befreundeten Familie den stärksten Anteil. Aber, wie das so kommt, erst ein besonderer Augenblick machte die beiden Männer zu Freunden.

Niemand von denen, die Werneuchens in der letzten Zeit gekannt hatten, zweifelte daran, daß Frau Gerda seit Jahren, wahrscheinlich schon in Berlin, unerlaubte Beziehungen zu diesem unsympathischen, aber gewandten und talentierten Reuschhagen unterhalten hatte. Man brachte die Scheidung, ohne Näheres zu wissen, mit dieser Angelegenheit in Verbindung und faßte die Sache so auf, daß Werneuchen, wahrscheinlich mit Rücksicht auf die Kinder, lange Zeit beide Augen zugedrückt hatte und ihn erst später irgend etwas veranlaßte, die Scheidungsklage einzureichen. Auch Otmar Kamp hatte keine andere Auffassung von der Sache. Der Zufall wollte, daß er es sein mußte, der Werneuchen über Frau Gerda die Augen öffnete.

Eines Tages war der Student mit Werneuchen auf der Straße zusammengetroffen, und sie waren ein Stück Weges miteinander gegangen. Werneuchen brachte seit langer Zeit zum erstenmal die Rede auf seine Frau. Kamp hatte den Eindruck, daß die Ehe sich wieder einrenken würde. Die lange Trennung schien in beiden Gatten das alte Gefühl geweckt zu haben. Sie wechselten bereits freundschaftliche Briefe, und Kamp sah schon im Geiste Frau Gerda mit den Kindern wieder nach München zurückkehren, was ihm nicht unlieb gewesen wäre, da er die Gesellschaft der anregenden Frau gern hatte.

Zufällig kam das Gespräch auf eine lange zurückliegende Gesellschaft, die sehr eigenartig verlaufen war. Kamp erzählte einiges von jenem Abend, weil es witzig und interessant gewesen war. Er tat es lediglich, um Konversation zu machen.

»Ich weiß,« sagte Werneuchen zerstreut, »meine Frau hat mir seinerzeit davon erzählt.«

»Aber Ihre Frau war doch gar nicht dort!« fuhr es unglückseligerweise dem Studenten heraus. Zufällig hatte er Frau Gerda spät nachts, als er eine andere Dame nach Hause begleitete, mit Reuschhagen zusammen gesehen. Es war ihm nicht weiter aufgefallen, da man ja in jenem Kreise ganz allgemein annahm, daß Werneuchen um diese Freundschaft seiner Frau wußte.

Im nächsten Augenblick freilich bereute er seine Äußerung, als er bemerkte, wie Werneuchen kreidebleich wurde. Frau Gerda hatte den Vorwand gebraucht, die Nacht in jener Gesellschaft und bei den Gastgebern verbracht zu haben, und nun stellte sich überraschend die Wahrheit heraus. Kamp konnte nicht mehr zurück und mußte alles sagen, was er wußte.

»Nein!« sagte Werneuchen, »ich glaubte an Gerdas Anständigkeit. Nie ist mir der leiseste Zweifel an ihr gekommen. Wenn ich mich schließlich scheiden lassen wollte, so hatte das ganz andere Gründe.« Erst viel später ließ er sich zu Kamp über diese anderen Gründe aus: es war Angst gewesen, kaum etwas anderes als Angst.

»Ich weiß nicht, wie es zustande kam«, sagte er damals. »Ich konnte das Leben an der Seite dieser Frau nicht mehr aushalten. Mir ging die Luft aus, ich hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Ich mußte nach von ihr befreien. Glauben Sie mir, Kamp, ich wäre bei dieser Frau in einem Jahr tot gewesen. Und so beschloß ich, mich scheiden zu lassen. Aber eine Verfehlung Gerdas hatte ich nie angenommen.«

Bis zu der unseligen Eröffnung hatte er, wie Kamp erst damals erfuhr, alle Schuld auf sich nehmen, seiner Frau die Kinder lassen und für ihren Unterhalt sorgen wollen. Damals glaubte er ja noch wohlhabend zu sein. Jetzt änderte er sein Verhalten. Es war, als ob er sich an Gerda für die Jahre rächen wollte, in denen ihm, wie er sich ausdrückte, die Kehle zugeschnürt war. Von nun an führte er den Prozeß mit schonungsloser Härte weiter.

Merkwürdigerweise ging es seit dieser Zeit mit seinen Vermögensverhältnissen reißend bergab.

Otmar Kamp war seit jener Unterredung der einzige Mensch, an den sich Werneuchen anschloß. Alle seine alten Bekannten nahmen bei der Scheidungsangelegenheit die Partei der Frau, obwohl sie von ihrer Schuld überzeugt waren. Kamp aber lernte damals erst Werneuchen verstehen. Was der ältere Freund ihm über die Gründe seiner Trennung von Gerda mitteilte, ließ ihn seltsame Blicke in Werneuchens Inneres tun. Er hatte ihn für einen etwas ernsten, aber durchaus alltäglichen Menschen gehalten. Kein besonderer Zug war ihm aufgefallen, der nicht als kleine Schrulle sich erklären ließ, und nun auf einmal trat alles in ein merkwürdiges Licht. Niemand hatte etwas von der seltsamen Angst geahnt, die Werneuchen zunächst veranlaßte, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Wenn jenes dunkle Gefühl eines drohenden Unglücks wirklich mit dem profanen Wort Angst zu bezeichnen war. Erst als Kamp, bald nach jenem Gespräch, zu Werneuchen hinauszog, da dieser sich scheute, allein in dem abgelegenen Hause zu wohnen, erfuhr er von den inneren Kämpfen, die der Freund bisher still in sich verschlossen hatte. Mit Erstaunen sah der junge Student, daß es das, was man einen alltäglichen Menschen nennt, in Wirklichkeit gar nicht gibt, daß auch das Leben des Unscheinbarsten sich in seltsamen Widersprüchen und Gegensätzen bewegt, daß auch hier Angst und Qual und Hoffnung nahe beieinander liegen.

Kamp hatte Werneuchen eigentlich immer für einen tapferen Menschen gehalten, ja gerade diese Eigenschaft schien ihm am ehesten mit der Person Werneuchens verbunden zu sein. Fast nie sprach der frühere Hauptmann von seinen Kriegserlebnissen, aber es kam doch bei Gelegenheit hier und dort heraus, daß er im Felde über den Durchschnitt tüchtig gewesen war. Vor allem aber schien die Art, wie er den Zusammenbruch seiner Ehe und seines Vermögens ertrug, für Kamp geradezu etwas Heldenhaftes zu haben. Zum erstenmal, als Werneuchen von sich erzählte, erfuhr Kamp, daß Ernst Alexander seit Jahren, sogar seit seiner Jugend, an merkwürdigen Angstzuständen litt. Kleine Angewohnheiten, die Kamp zunächst als pedantische Absonderlichkeiten auffaßte, offenbarten auf einmal ihren Charakter. Werneuchen mußte zum Beispiel seine Briefe stets eigenhändig in den Kasten werfen. Meist trug er sie sogar selbst auf die Post, weil er von der Vorstellung nicht loskam, daß sie sonst verlorengehen würden. Wenn er die Straße überquerte, geschah das stets mit äußerster Vorsicht, die er behutsam zu verbergen suchte. Autos und Elektrischen wich er in weitem Bogen aus, nicht nur so, daß er ihnen aus dem Wege ging, sondern in einer Art, die selbst Böswilligkeit oder besonderes Ungeschick der Lenker bereits einkalkulierte. Selbst wenn er den Vorortzug benutzte, setzte er sich stets in den mittelsten Wagen, weil hier die Gefahr bei einem Eisenbahnunglück am kleinsten sein sollte. Dabei war er wiederum ein waghalsiger Schwimmer und Bergkletterer. Man konnte diese Absonderlichkeiten vielleicht zunächst für Überbleibsel aus dem Kriege halten. Aber sie waren tief in seiner Natur verankert. Ein ganzes System stand hinter ihnen.

»Gefahren, die ich erkenne und denen man mit Mut und Geschicklichkeit begegnen kann, sind für mich keine«, sagte er, wenn er mit Kamp über diese Dinge sprach. »Aber was im Dunkeln lauert und uns unversehens überfällt, davor habe ich Angst und dagegen wende ich alle nur möglichen Vorsichtsmaßregeln an. Ich muß stets so sitzen, daß ich die Tür im Auge behalte. Anders würde sofort jemand hinter mir stehen, ohne daß ich es merkte.

Wir wissen ja gar nicht, ob nicht viele Menschen, vielleicht alle, unter einer solchen Angst leiden, die sich nur verschieden bemerkbar macht. Meinen Vater zum Beispiel glaubte ich gut zu kennen, und doch mußte ich eines Tages sehen, daß ich so gut wie nichts von ihm wußte. Er arbeitete viel und kam vorwärts, aber sein eigentliches Leben war doch der Kampf gegen den Fußnagel seiner großen Zehe, der ständig einzuwachsen drohte. Jeden Morgen arbeitete der alte Herr zehn Minuten lang mit Schere und Feile an dem tückisch sich krümmenden Nagel, und gewiß stand er sein ganzes Leben lang unter der Furcht einer scheußlichen Blutvergiftung oder schmerzlichen Operation, und sein Wohl- oder Schlechtergehen hing weniger von den äußeren Umständen, die wir überschauen konnten, ab als von dem Stand dieses lebenslangen hartnäckigen Kampfes.

Wenn man nur ein bißchen Phantasie hat, muß man überall Anzeichen und Warnungen bemerken. Irgendjemand erzählte mir in meiner Jugend einmal, daß große Doggen sich manchmal gegen ihre Herren wenden und sie zerfleischen sollen. Nachher wurde mir die Gefährlichkeit dieser Tiere oft bestritten. Und dennoch habe ich es nie gewagt, mir eine Dogge zu halten. Nicht weil diese Tiere an sich dem eigenen Herrn gefährlich werden, sondern weil man es mir erzählt hatte. Ich mußte das als Warnung auffassen, und wenn ich diese Warnung mißachtete, hätte meine Dogge sich sicher eines Nachts gegen mich erhoben und mich zerrissen.«

Werneuchen konnte unzählige derartige Beispiele anführen. Merkwürdigerweise sprach er nie von wirklichen Fällen, die sich ereignet hatten, sondern immer nur von Möglichkeiten. Einzelne Fälle könne man gar nicht anführen, pflegte er zu sagen, denn diese entzögen sich ihrer Natur nach der Öffentlichkeit. Man wüßte nichts von ihnen, es handelte sich hier um stille Tragödien, die sich völlig in der Verborgenheit abspielten. »Wenn ein Dachdecker vom Dach fällt, so weiß man ja nicht, ob er nicht sein ganzes Leben lang bereits unter Ahnungen und Anzeichen dieses Unglücksfalles gelitten hat, ob er nicht einen heldenhaften Kampf gegen diese Gefahren seines Berufes führte, die ihn dann schließlich doch übermannten oder auf eine tückische Art überlisteten.«

Werneuchen behauptete allen Ernstes, daß das Schicksal eine gewisse Angst von allen Menschen verlange, mindestens aber von ihm. Man müßte in jeder Beziehung und immer tun, was man nur vermöchte, um jene stets lauernden Gefahren in Schranken zu halten. Die beiden seltsamen Freunde, der entlassene Offizier und der junge Student, saßen oft abends bei derartigen Gesprächen zusammen. Einer oder der andere brachte eine Flasche Wein aus der Stadt mit, und sie saßen in der gemütlichen Ecke von Werneuchens Arbeitszimmer und unterhielten sich über das Unheil, das stets irgendwo lauerte.

»Das Schicksal ist ein Hundefänger«, sagte Werneuchen dann. »Man kann gar nicht vorsichtig genug sein. Wenigstens gibt es Menschen, die sich vorsehen müssen. Einige können Gelder unterschlagen, ohne daß ihnen etwas geschieht. Andere dürfen sich nicht die geringste Unregelmäßigkeit zuschulden kommen lassen, ohne daß ihr Leben verpfuscht ist. Ihnen wird bei jeder Gelegenheit die Drahtschlinge über den Kopf geworfen.«

Otmar Kamp konnte sich der Stimmung, die von solchen Gesprächen ausging, um so weniger entziehen, als sein Gegenüber ja in der Tat ein Mensch war, dem das Schicksal die Drahtschlinge über den Kopf geworfen hatte. Es überraschte ihn deshalb gar nicht, als an einem dieser Abende Werneuchen ganz ruhig davon sprach, daß er einmal ermordet werden würde. Der Augenblick, da sich der Mörder auf ihn stürze, stehe so deutlich vor ihm, und dieses Bild verfolge ihn seit seiner frühen Jugend mit solchem Vorbedacht, daß er bestimmt mit einem derartigen Ende rechnete. »Vielleicht, wenn ich mein ganzes Leben lang alle Energien aufwende, werde ich diesem entsetzlichen Ende entgehen können. Ich fühle aber ganz genau, daß etwas auf mich wartet und mich vernichten will. Natürlich werden Sie es für Einbildung aufgeregter Nerven halten. Sie täuschen sich indessen. Das menschliche Unterbewußtsein weiß um alles, was noch kommen wird, und manchmal schickt es solche Bilder als Warnungen empor. Manchmal kommen sie freilich auch nur aus einer schlechten Verdauung. Aber überlegen Sie sich nur einmal, wie viele Menschen den oder jenen gern um die Ecke bringen würden. Man will eben morden in dieser besten aller Welten, und von Zeit zu Zeit muß dann eben etwas geschehen, und immer denen, die sowieso schon vom Schicksal verfolgt werden. Das liest sich nachher so leicht in der Zeitung: der oder jener ist ermordet worden. Aber glauben Sie mir, ein solcher Fall kommt niemals so von ungefähr. Die schreckliche Tat beendet immer ein Leben voller Angst und Vorahnungen und ist vielleicht immer eine Erlösung.

Aber Sie brauchen diese Dinge nicht allzu ernst zu nehmen. Vielleicht kommen sie auch bei mir nur von schlechter Verdauung.«

Wenn sich Otmar Kamp an solchen Abenden auch einem unheimlichen Eindruck nicht entziehen konnte, so nahm er diese Gespräche doch wirklich nicht allzu ernst. Er sah täglich, mit welcher Lebenskraft Ernst Alexander sich gegen sein widriges Schicksal wehrte, und gerade in der letzten Zeit besonders tätig und entschlossen. Er bewunderte ihn geradezu. Werneuchens Leben lag in Trümmern. In wenigen Wochen mußte er sein Haus räumen. Aus diesem Erlös waren ihm etwa sechstausend Mark übriggeblieben, das war der Rest seines Vermögens. Außer seiner kärglichen Hauptmannspension besaß er nichts anderes mehr. Dabei hatte er mannigfaltige Verpflichtungen. Kamp sah, daß Werneuchen oft drauf und dran war, zu verzweifeln und alles laufen zu lassen, wie es wollte. Und der Student mußte sich gestehen, daß er in Werneuchens Lage so gehandelt hätte. Vor allem bewunderte er, daß Werneuchen in seiner Lage noch den Mut gefunden hatte, das Schicksal eines jungen Mädchens an sich zu binden. Aber vielleicht war es gerade die Verbindung mit Elma Diepenbroich, die Werneuchen noch aufrechterhielt Ohne sie hätte er sich wahrscheinlich längst eine Kugel durch den Kopf gejagt.

Als sich die Aussicht auf jene Hamburger Stellung bot, war Kamp nicht so hoffnungsfreudig wie Werneuchen gestimmt. Irgend etwas gefiel ihm an der Sache nicht, vielleicht war es die verdächtig hohe Kaution von fünftausend Mark. Werneuchen erklärte ihm die Sache. Die Summe würde natürlich verzinst und sichergestellt, und es wäre auch nichts Ungewöhnliches, eine so hohe Kaution zu fordern. Erstens wollte eine solche Firma es mit einem Menschen in geordneten Verhältnissen zu tun haben und verlange schon aus diesem Grunde eine hohe Kaution. Zweitens könne er, der keine geordnete kaufmännische Ausbildung und keine Erfahrungen hinter sich habe, einzig und allein auf dem Wege über eine solche Kaution eine Stellung erhalten. Es wäre sein Glück, daß er gerade noch dieses Geld hätte. Kamp wunderte sich, daß er diesmal der Mißtrauische und Werneuchen der Hoffnungsvolle war. Ihm leuchtete die Sache nicht recht ein. Wenigstens sorgte er dafür, daß Werneuchen das Geld nicht sofort mit nach Regensburg nahm, sondern mit dem sonstigen kleinen Rest seines Vermögens auf der Bank liegen ließ. Nach einiger Überredung war der Abreisende damit einverstanden, nötigte aber dem Studenten »für alle Fälle« das Scheckbuch mit einem unterschriebenen Blankoscheck auf.

Als Kamp auf der Plattform seiner Elektrischen stand, ging es ihm noch einmal durch den Kopf, daß Werneuchen nicht mehr aus dem Zugfenster herausgesehen hatte und daß es eine schlechte Vorbedeutung für die Reise sein konnte. Kamp hatte gerufen und gewinkt und war dem davongleitenden Zug noch zwanzig Meter gefolgt. Werneuchen aber war unsichtbar geblieben, so, als ob ihn das Leben draußen nichts mehr anginge, als ob er sich schon in eine andere Welt zurückgezogen habe. Das war natürlich nur Einbildung. Oder war es eine Warnung aus dem Unbewußten, wie Werneuchen es nannte? »Vielleicht kommt er nicht mehr zurück!« dachte Kamp noch einmal, als er sich auf der Plattform die Zigarette ansteckte. Er zögerte ein wenig mit dem brennenden Streichholz in der Hand. Dann kämpfte er diesen Gedanken nieder, zündete die Zigarette an und warf das Streichholz mit einer energischen Bewegung fort. »Ach Unsinn!«

Zweites Kapitel

Es war schon dunkel, als Werneuchen in Regensburg ankam. Er kannte die Stadt nicht. Direktor Goldschmidt von der Norddeutschen Im- und Exportgenossenschaft sollte im Parkhotel wohnen. Es war gleich bei der Bahn. Fröstelnd ging er über den freien Platz zwischen Anlagen, deren kahle Büsche im Regen raschelten. Der Portier wußte nichts, ein Herr Goldschmidt aus Hamburg war im Hotel nicht abgestiegen. Vielleicht käme er noch mit dem Abendschnellzug. Werneuchen bestellte sich für alle Fälle ein Zimmer, aber er war durch das Ausbleiben Goldschmidts vollkommen niedergeschlagen. Am liebsten hätte er sich auf einen Stuhl niedersinken lassen und nichts mehr getan. Die durch Wochen der Spannung mühsam bewahrte Haltung drohte von ihm abzufallen. Er hätte es vielleicht ertragen, wenn auch diesmal nichts aus seiner Anstellung wurde, und wäre traurig, aber entschlossen nach München zurückgefahren. Aber daß man ihn so einfach in das Hotel einer fremden Stadt bestellte und dort sitzen ließ, das brannte in seinen Nerven.

Mühsam sich zusammennehmend gab er seinen Namen an.

»Werneuchen? Es ist ein Brief für Sie da«, sagte der Portier. Werneuchen öffnete hastig den weißen Umschlag. Herr Goldschmidt teilte ihm mit, daß er ihn gegen halb neun im »Grünen Baum« erwarte. Gott sei Dank! Der Portier wollte ihm die Handtasche abnehmen, aber Werneuchen brauchte sie wegen der darin befindlichen Papiere. Er ließ sich nur die Nummer seines Zimmers sagen und ging hinaus. So hastig, daß er fast gegen einen Mann gerannt wäre, der an der Hoteltür stand und sich schleunigst entfernte.

Die Unruhe wirkte in ihm noch fort. Der Umstand, daß der Direktor ihn nach einem anderen Hotel bestellte, verwirrte die Vorstellungen, die er sich von dem Verlauf des Abends gemacht hatte. Alles beunruhigte ihn jetzt. Mehrmals mußte er sich umdrehen, als ob jemand hinter ihm her wäre. Er hatte das ungewisse Gefühl einer Gefahr, in der er sich befand. Unter einer Straßenlaterne, die kümmerliches Kleinstadtlicht verbreitete, sah er nach der Uhr. Er hatte noch anderthalb Stunden Zeit. Vielleicht nahm er in der Stadt etwas zu sich. Er beeilte sich, um durch die lange und nüchterne Bahnhofstraße zu kommen. Der »Grüne Baum« sollte im Inneren der Stadt sein. »Regensburg!« schwebte ihm vor, »mittelalterliche Straßen, Barockkirchen, ein alter Dom, Zauber süddeutscher Plätze und Märkte.«

Eigentlich wollte er sich die Stadt erst morgen ansehen. Vielleicht mit Gerda zusammen, malte er sich aus, die Regensburg auch noch nicht kannte. Auf einmal mußte er sich fragen, wie er das wissen konnte. Sie waren ja schon so lange auseinander. Was konnte sie alles inzwischen kennengelernt haben! Vielleicht war sie oft in Regensburg. Vielleicht hatte sie einen Geliebten hier. Sonderbar, daß diese Frau jetzt ein Leben führte, von dem er nichts wußte. Und daß es ihr mit ihm ebenso erging. Da war man gegen fünf Jahre verheiratet gewesen, und dann korrespondierte man nur noch durch Rechtsanwälte. Wieder stand jäh die Frage vor ihm, was sie von ihm wollen mochte? Wozu das Geheimnisvolle dieser Begegnung? Ob sie zu ihm zurück wollte? Auf einmal wußte er, daß er diese Möglichkeit in den ganzen letzten Tagen immer wieder erwogen hatte. Nicht, daß er es tun wollte, o nein! Er konnte es gar nicht mehr tun. Er war an Elma gebunden. Aber er wünschte, daß Gerda es wollte. Es war nicht so, daß er sich etwa darauf gefreut hätte, es ihr abzuschlagen. Ja, es würde ihm sogar schwer werden, es ihr abzuschlagen. Aber es war eine Beruhigung, wenn sie jetzt noch an ihm hing. Es hätte ihm gezeigt, daß es doch alles nicht so furchtbar gewesen war, wie er dachte, daß sie dennoch, trotz allem, anders zu ihm stand und gestanden hatte.

Er kam an einem kleinen Platz vorüber. Hier bewillkommte mit erleuchteter Tür das Gasthaus »Zum grünen Baum«. Er wollte noch nicht hineingehen. Wieso eigentlich nicht? Direktor Goldschmidt war wahrscheinlich noch nicht dort. Und wenn er dort war, erkannte er ihn nicht. Er konnte sich an einen Tisch setzen und zur Nacht speisen und in einer Stunde dann nach dem Direktor fragen. Aber er ging doch vorüber, merkte sich die Lage und suchte, das Innere der Stadt zu erreichen. Man mußte sich diese alte und prächtige Stadt wohl näher ansehen.

»Regensburg! Regensburg!« sprach er leise vor sich hin und dachte darüber nach, welche innere Verbindung er mit dieser Stadt hatte. Natürlich, er hatte sie in der Schule gelernt und von ihr gehört. Dort gab es einen Strudel und dort floß der Regen in die Donau. Aber das war es nicht. Es gab da noch eine ganz persönliche Verbindung zwischen ihm und der Stadt, er wußte nur nicht, welcher Art sie war. Aber er hatte ein Gefühl, als ob er einmal in Regensburg gelebt hätte, vielleicht in einem früheren Dasein. Es gibt solche dunkle Erinnerungen, die aufsteigen, man weiß nicht, woher.

Er schritt an dem Dom vorüber, der riesengroß in das Dunkel wuchtete. So groß, daß er die oberen Ränder des Daches und der Türme nicht mehr sah. Wie an einem Gebirge ging er vorüber, das oben in den Wolken verschwand. Nur wenige Menschen waren zu bemerken. Dann aber kam er in eine enge, steile Straße, die voller Leben war. Auch das hatte er einmal schon alles gesehen. Vielleicht war es aber nur die Ähnlichkeit mit einer anderen Stadt. Rechts und links führten schwarze Straßenschluchten in ein ungewisses Dunkel, hinauf und hinab. Er ging nach rechts, kam durch Tore und Zwergplätze, die wie aus Stein geschnitten waren, und schließlich zu der großen Brücke, die über den Strom führte. In der Dunkelheit hörte er die Wasser gurgeln. Lichter schwammen längs der Ufer und versanken in der Tiefe. Jenseits der Brücke lag eine neue Stadt mit Mauern und Türmen. Er kannte das alles, als ob er es in einem Traum gesehen hatte. Über die Brücke gingen nur wenige Menschen. Ganz klein sahen sie vor der hohen Mauerbrüstung aus, die die Brücke einfaßte. Über der Mitte des Stromes blieb er stehen und sah sich um. Eigentlich wollte er ein Experiment machen, nämlich feststellen, ob er auch den Ausblick von der Brücke nach der Stadt zu wiedererkennen würde. Ehe er sich umblickte, konnte er sich nur ungefähr ein Bild von aufsteigenden Dächern und Toren machen, wie es in solchen alten Städten eben aussieht. Aber als er nun wirklich sah, da war es wieder, als hätte er alles längst gekannt: die Mauerwehren längs der Ufer, den kleinen Brückenplatz unten und dieses gebirghafte Emporwachsen der Steinmassen, das Hochspringen der Dächerrücken, den unheimlich-traulichen Laternengang in das Innere der Stadt. Alles kannte er wieder.

»Vielleicht habe ich einmal irgendwo im Theater eine ganz ähnliche Kulisse gesehen«, dachte er. »Weshalb sollte ein kluger Regisseur nicht auf die Idee kommen, dieses als Kulisse zu benutzen. Und wenn ich recht nachdenke, könnte ich noch in meinem Gedächtnis die Handlung herausbringen.«

Dann ging er weiter. Er hatte immer noch Zeit, in den »Grünen Baum« zurückzukehren, und sogar noch etwas zu essen, bevor er den Direktor traf. Jenseits des Stroms verlor er sich rechts in ganz kleinen Gassen, die wie zum Spaß gebaut erschienen. Er ging eine lange dunkle Mauer entlang, mit einem leisen Schauder im Herzen, der ihm sonderbar wohltat. Links von sich glaubte er ein altes Kloster zu erkennen, obwohl die wenigen armseligen Laternen nur ein ungewisses Licht hergaben. Auf einmal ließen ihn die Häuser frei, und er stand wie auf einer spitzen Landzunge, rings von Wasser umgeben. Hier strömte der Regen in die Donau, wie er es gelernt hatte. Wie am Gestade eines Meeres war es, als ob nun gleich das Land zurückweichen und das freie Meer sich auftun müßte. Der Anblick der Wassermassen, die so dunkel daherrollten, erschütterte ihn auf eine ganz eigene Weise.

Obwohl es allmählich spät wurde, konnte er sich nicht sogleich entschließen zurückzugehen. Der kalte Regen fiel noch immer, aber er lehnte sich gegen einen Bretterzaun und versank in den Anblick der Fluten, die unaufhaltsam an ihm vorbeistrudelten. Er genoß das graue Licht, das über den Wassern lag, und den fernen Widerschein der Lichter, die aus den Häusern der Stadt ins Tiefe sanken, immer tiefer sanken und doch immer noch zitternd sichtbar blieben. Ihm war, als hätte diese dunkle Ecke zeit seines Lebens auf ihn gewartet. Am liebsten wäre er hier stehengeblieben bis in alle Ewigkeit. Er hatte Angst vor der Unterredung, die in der Stadt auf ihn wartete, und selbst vor der Begegnung mit Gerda. Ihm war, als ob ihm an dieser Stelle nichts geschehen könnte, als ob er hier, wo der Himmel sich mit den unendlich strömenden Wassern berührte, über die Hetze seines Lebens hinausgehoben war.

Eine Viertelstunde stand er hier, ehe er sich auf den Rückweg machte. In kürzerer Zeit, als er gedacht, schob er sich wieder am jenseitigen Ufer durch die dunkle Schlucht eines Torbogens in die Gasse, die aufwärts führte, ging an den Schatten des Doms vorüber und stand in dem erleuchteten Eingang des »Grünen Baums«.

Der Portier zeigte auf einen Herrn im Eßsaal. »Herr Direktor Goldschmidt sitzt dort!« Werneuchen gab sich einen Ruck und trat mit elastischem Schritt an den Tisch heran.

Der Direktor sah sehr anders aus, als Werneuchen sich vorgestellt hatte. Bei weitem nicht so furchteinflößend, wie es seiner Wichtigkeit für Ernst Alexanders Leben zugekommen wäre. Ein kleiner sächselnder Herr mit einem runden Bäuchlein über schmächtigen Schenkeln, mit grauem Zwickelbart und goldner Brille, saß in seinem grauen Anzug vor einem deutschen Beefsteak und einem Bierhumpen. Und dennoch schien der Mann Werneuchen irgendwie unheimlich, gerade durch die Gutmütigkeit, die von ihm ausströmte. Es erschien Werneuchen auf eine beklemmende Art grotesk, daß das Schicksal diese Gestalt annehmen konnte.

Goldschmidt ließ ihn Platz nehmen und forderte ihn auf, sich etwas zu bestellen. Er freute sich, daß auch Werneuchen noch nicht zur Nacht gegessen hatte. Sein Mitdirektor Erkner wäre leider heute abend verhindert, und so müsse Herr Werneuchen mit ihm allein vorliebnehmen. Aber gleich im voraus müsse er ihm sagen, daß heute abend eine endgültige Entscheidung noch nicht fallen würde. Erkner und er müßten noch dem Generaldirektor in Hamburg berichten, in dessen Händen das letzte Wort läge.

Werneuchen mußte sich Mühe geben, um nicht zusammenzusinken. Wenn er eine Absage bekommen hätte, würde es auf ihn nicht so niederschmetternd gewirkt haben wie diese Verlängerung der Ungewißheit. Das wäre sehr schlimm, meinte er, denn er müsse sich doch einrichten und hätte auch andere Angebote. Daß er dieses gesagt hatte, bereute er gleich wieder, denn vielleicht zog man ihm, dem Glücklichen, der noch andere Angebote hatte, einen armen Teufel vor, der sonst nichts besaß. Er wollte das Wort zurücknehmen, würgte daran, brachte es aber nicht über die Lippen, weil er einen schlechten Eindruck zu machen fürchtete.

Herr Goldschmidt beruhigte ihn. Letzten Endes käme es doch auf seinen Bericht an, und wahrscheinlich würde er gut berichten können. Ja, er könnte ihm die Stelle so gut wie versprechen, nur daß er ihm eben nicht das allerletzte Wort sagen dürfte. Aber es wäre ja so gut wie sicher, obwohl natürlich für den Posten eine lange Reihe von Bewerbern vorhanden wäre.

»Bitte«, sagte Werneuchen mit reservierter Offiziersmiene. »Aber vielleicht können Sie mir wenigstens sagen, ob ich wirklich, ganz ehrlich gesprochen, für den Posten in engste Wahl komme.«

»Ganz ehrlich gesprochen, Herr Werneuchen, so stehen Sie in allerengster Wahl. Aber wir haben natürlich auch mit anderen Herren verhandelt, und nun werden wir nach Hamburg zurückfahren, uns dort die Sache noch einmal gründlich überlegen und Ihnen dann sofort, wenn Sie es wollen, telegraphisch, Antwort zukommen lassen.«

»Meinen Sie, Herr Direktor, daß ich den Posten erhalten werde?«

»Das glaube ich Sie schon«, sächselte der Direktor, zuckte aber gleich darauf wieder mit seinen Achseln. Werneuchen sah, daß er aus dem Mann nichts Näheres herausbringen würde, und lehnte sich mit einem Seufzer in den Stuhl zurück.

»Nun müssen wir uns einmal über das Geschäftliche klar werden«, fuhr Herr Goldschmidt fort. Werneuchen reckte sich auf, als ob er für nichts in der Welt interessierter wäre, als für die Organisation der Norddeutschen Im- und Exportgenossenschaft. Der Direktor setzte ihm seine Stellung auseinander: Werneuchen sollte die Aufsicht über die Propaganda und die dort arbeitenden Herren im Bezirk Hamburg erhalten. Es war also ein »großer« Posten. Kundenbesuche hatte er selber nicht zu machen, aber man erwartete von ihm unbedingte Zuverlässigkeit, schneidiges Auftreten gegenüber den ihm unterstellten Herren – das Wort »schneidig« machte sich in Herrn Goldschmidts sächselnder Aussprache besonders markant – und organisatorische Fähigkeiten.

Während er redete, überschlug Werneuchen seine Chancen. Man wollte offenbar, wie es nach der Schilderung Goldschmidts aussah, einen Offizier in die Organisation hineinhaben. Werneuchen traute sich selber zu, über dem Durchschnitt seiner einstigen Kameraden zu stehen. Aber er hielt es bei seiner scharfen Menschenkenntnis nicht für ausgeschlossen, daß dieser Herr Goldschmidt einen ganz richtigen Durchschnittsoffizier mit Rücksichtslosigkeit und »Schneid« suchte. Einen, wie Werneuchen es nicht war. Dann gab er seinerseits zum besten, was er sich als sein Organisationsprogramm zurechtgelegt hatte, möglichst in preußischen Offizierston fallend, aber so, wie man ihn einem Vorgesetzten gegenüber gebraucht, und forschte im Gesicht des kleinen grauen Männchens ängstlich nach der Wirkung seiner Worte. Er schien zu gefallen, Herr Goldschmidt taute sichtlich auf. Aber sobald er selbst es bemerkte, zog er sich wieder zurück und verschanzte sich hinter unverbindlichen Redensarten. Werneuchen hatte das Gefühl, daß man mit ihm spielte wie die Katze mit der Maus. Manchmal wollte er aufspringen und dem Mann ihm gegenüber ins Gesicht schreien: »Machen Sie mich doch nicht zum Narren! Ich sehe es ja, Sie wollen mich gar nicht!« Dann wieder schien es ihm, als ob der kleine Direktor nur ein wenig vor sich selber in seiner Machtfülle erglänzen wollte und im Grunde ein gutmütiges Tier war. Wahrscheinlich wartete er nur darauf, daß man »das Geschäftliche« hinter sich brachte und in die angenehmere Region der unanständigen Witze hineinsegelte.

»Eine subalterne Existenz!« knurrte Werneuchen in sich hinein, schamvoll, daß sein Leben diesem Menschen ausgeliefert war. Aber es konnte ebensogut sein, daß ein kleiner grausamer Kobold vor ihm saß und sich an seiner Verlegenheit weidete. – Weshalb nur der andere Direktor nicht da war!

Aber Herr Direktor Erkner hatte eine ihm befreundete Familie in der Stadt, bei der er wohnte und mit der er abends ins Theater gegangen war. Er wollte sich dann sofort zu Hause hinlegen, weil er, entgegen ihrem ursprünglichen Plan, am nächsten Morgen mit dem Berliner Nachtzug nach München fuhr. »Hätten wir das gleich gewußt, hätten wir Sie nicht nach Regensburg zu bestellen brauchen, Herr Werneuchen. Herr Erkner hätte sich dann in München mit Ihnen verabredet.« So war also diese ganze Reise eigentlich überflüssig gewesen!

Goldschmidt hingegen wollte am nächsten Abend nach Hamburg zurückfahren. »Vielleicht kommen Sie gleich mit, Herr Werneuchen, und stellen sich unserm Generaldirektor vor?«

Im Augenblick war Werneuchen dabei. Es war wirklich das beste, wenn er sofort mit nach Hamburg fuhr. Er brauchte dann keine entsetzliche Wartezeit durchzumachen. Der Gedanke, nach München zurückzukehren und dort auf die entscheidende Depesche lauern zu müssen, schien unerträglich. Viel besser war es, in ständiger Bewegung zu sein, die Nacht durchzufahren, zu sprechen, zu unterhandeln, bis man die Entscheidung in Händen hatte. Wenn er nur die Kaution bei sich gehabt hätte! Wie anders stand er in Hamburg da, wenn er die fünftausend Mark prompt auf den Tisch legen konnte.

Sie sprachen hin und her. Herr Goldschmidt stritt es nicht ab, daß fünftausend hingelegte Mark einen gewissen Eindruck machen. Er betonte die Solvenz der Firma. Aber man wäre schon mehrfach mit Herren hereingefallen, die nachher das notwendige Geld doch nicht besaßen. Übrigens könnte Herr Erkner ja das Geld aus München mitbringen, da er morgen hinführe. Man kam überein, daß Werneuchen Herrn Erkner einen Brief an Otmar Kamp mitgäbe, auf Grund dessen Kamp Herrn Erkner den ausgefüllten Blankoscheck auslieferte.

Einen Augenblick war Werneuchen erschrocken. Alle Bedenken fielen ihm ein, die Kamp gegen dieses Stellenangebot ins Treffen geführt. Wollte man ihm nur die fünftausend Mark abjagen? War dieser Direktor Goldschmidt vielleicht ein Gauner? Er sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Ein beweglicher Spießbürger saß ihm gegenüber, eine Seele von Mann, dessen Augen unter der Einwirkung des fünften Glases Bier bereits lustig zu schwimmen anfingen. Aber selbst wenn dieser Mensch ein gerissener Gauner war, so wollte Werneuchen in diesem Augenblick lieber ein Ende mit Schrecken, irgend etwas Tolles, als weiter dieses aufreibende Warten und Bangen ertragen.

»Gut!« sagte er. »Ich gebe Herrn Erkner den Brief an meinen Freund mit. Ich kann ihn gleich schreiben. Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, ihn ihm zu übergeben.«

Aber Herr Goldschmidt traf seinen Kollegen nicht mehr. Er wollte sich morgen früh ausschlafen und dachte keineswegs daran, wegen des Briefes früh aufzustehen und zum Berliner Nachtzug zu gehen.

»Zu dem Berliner Zug muß ich selber gehen,« sagte Werneuchen, »da ich einen Bekannten mit ihm erwarte.«

Wieder stand ihm Gerdas Bild lebhaft vor Äugen.

»Um so besser! Sie können Erkner nicht verfehlen. Wer fährt denn schon um die Zeit von Regensburg mit diesem Zug nach München! Und Erkner ist gar nicht zu verkennen.«

Werneuchen ließ sich Papier und Tinte kommen und setzte in Eile den Brief auf, Kamp erklärend, wie die Sache stand und warum er die Kaution sofort brauchte. Würde er die Stellung bekommen? Diese Frage ging ihm während des Schreibens ständig durch den Kopf. Ja! sagte ihm eine Stimme, der sofort hundert andere Stimmen Nein! entgegenschrien. Seine Feder rasselte über das Papier. Nur keinen Augenblick mehr darüber nachdenken müssen! Wenn nur erst diese Nacht vorüber wäre, in der er vor Ungewißheit doch nicht schlafen konnte. Dann, am Morgen, gab er Herrn Erkner auf dem Bahnhof den Brief, empfing Gerda, brachte mit ihr irgendwie den Tag hin. Dieser Tag würde so ausgefüllt sein mit Erzählen und Besprechen, daß er wie im Flug vorübereilen mußte. Dann kam die Nacht auf der Eisenbahn, und dann der Besuch bei dem Generaldirektor. Die Zeit war herrlich besetzt bis zur fallenden Entscheidung. So war es richtig!

Während er schrieb, trommelte Herr Goldschmidt neben ihm auf der Tischplatte den Hohenfriedberger Marsch und pfiff dazu. Die Gesprächspause machte ihn müde. Er sehnte sich nach seinem Bett.

»Das ist kein richtiger Abschied!« dachte Werneuchen und bestellte zwei Kognaks, um das Wohlwollen des Gewaltigen nicht einschlafen zu lassen. Die Kognaks waren das Richtige. Auch Herr Goldschmidt bestellte noch zwei, dann stand er auf, um in sein Zimmer zu gehen. Am nächsten Abend wollten sie sich am Berliner Schnellzug treffen.

Als er auf die Straße trat, hatte es aufgehört zu regnen. Dunkle Wolkenmassen wurden über den Himmel gerissen. Dazwischen kam hier und da ein Stern zum Vorschein. Im ersten Stockwerk des Hotels ging ein Licht an. Werneuchen sah, wie Herr Goldschmidt ans Fenster trat und die Jalousien herabließ. Er war schon in Hemdsärmeln. Werneuchen wunderte sich, daß ihn dieser Anblick irgendwie beruhigte. Goldschmidt folgte ihm also nicht. Zu seinem Erstaunen merkte er, daß er etwas Ähnliches befürchtet hatte. Wer war Herr Goldschmidt? Einer, der Inserate erließ und fünftausend Mark Kaution verlangte. Weiter wußte er nichts. Aber Herr Goldschmidt wußte von ihm, daß er einen Brief mit einer Anweisung auf fünftausend Mark in der Tasche trug. Aber diesen Brief hatte Werneuchen Herrn Goldschmidt doch persönlich übergeben wollen, und Herr Goldschmidt hatte ihn zurückgewiesen. Oder war das nur eine Finte?

Natürlich war das alles Unsinn! Herr Goldschmidt war ein braver Spießbürger. Aber Werneuchen belauschte sich doch, wie er noch eine Weile vor dem Hause stehenblieb und das Licht hinter dem Fenster beobachtete. Endlich erlosch es, Herr Goldschmidt war schlafen gegangen. Aber vielleicht trat er jetzt gleich aus dem Hause, um Werneuchen nachzueilen und ihn in der dunklen, menschenleeren Bahnhofstraße von hinten zu überfallen? Werneuchen mußte über seine Hirngespinste lächeln, und doch blieb er noch eine ganze Weile stehen, ehe er weiterging. Aber er bog nicht nach rechts in die Bahnhofstraße, sondern ging links in die Straßenschlucht hinein. Vielleicht war das eine Vorsichtsmaßregel gegenüber dem unheimlich harmlosen Goldschmidt? Aber es war wohl nur – Werneuchen war sich dessen nicht ganz sicher –, weil ihn jene einsame Stelle am Zusammenfluß der Ströme geheimnisvoll anzog. Er ging an kleinen Laternen vorüber, sah das matte Licht des Flusses glänzen und in der Ferne die Silhouetten der Häuser jenseits des Stroms. Auf der langen Brücke, die bis zur Mitte der Donau anstieg, war kein Mensch zu sehen. Auf der Höhe machte er halt und sah sich um. Wie eine tote Geisterstadt lag Regensburg. Die Dächer und Türme schoben sich dunkel übereinander und türmten die Kulisse gegen den ungewissen Himmel. Nur ein einzelner Spaziergänger lehnte am Anfang der Brücke seine schwarze Gestalt über die steinerne Brüstung und sah ins Wasser hinab.

Wieder kam ihm das alles unheimlich bekannt vor. Er kannte die Szenerie in allen Einzelheiten wieder. Nach einer Weile ging er weiter. Ihn umfingen die Gassen, die kaum für Menschen gedacht schienen, so klein und spielzeughaft waren sie. Wieder lagen zur Linken die grauen Umrisse des Klosters. Die lange dunkle Mauer kam und bog dreimal scharf um die Ecke, und dann stand er wieder auf jener spitzen Landzunge, an der von zwei Seiten die Wasser unübersehbar vorübergurgelten. Wie unzählige Köpfe mit Brust und Schultern hob es sich aus dem grauen Gewoge, schwoll vorwärts und sank zurück, um wieder aufzutauchen. Jahrhunderte und Jahrtausende strömten hier vorüber. Ihn beruhigte die Unendlichkeit des Bildes, er fühlte sich über die Jagd seines gehetzten Daseins hinausgehoben. Wie ein Tier, dachte er, das in die Einsamkeit des Dickichts flüchtet.

Auf einmal fühlte er, wie die Ungewißheit seines Schicksals, die nun wieder tagelang anhalten würde, an ihm zehrte. Heute abend wollte er den Vertrag in der Tasche haben, und nun war es wieder nichts gewesen als Aussichten. Nun ging es wieder weiter mit Reisen und Besprechungen und Demütigungen. Jetzt erst merkte er, wie müde er war, da er so ganz allein in der Nacht und an den Strömen stand. Weshalb warf er nicht alles von sich und tauchte unter? Vielleicht nicht in diese Wasser hinein, was schon das beste gewesen wäre, aber in eine andere Landschaft, in einen anderen Beruf, in andere Gegenden, in Amerika, wo man nichts von ihm wußte. Weshalb wurde er nicht irgendwo Bergmann oder Steinklopfer? Weshalb zerriß er nicht die Bande, die ihn mit dem Leben so vieler Menschen verknüpften!

Auf einmal, da er wieder an seine Lage dachte, an Gerda und Elma und die Kinder, kam die Angst über ihn, daß er hier so allein inmitten der Finsternis stand. War da nicht der Schritt eines Menschen hinter ihm gewesen? Er drückte sich ganz dicht an den Zaun. Nein, es war alles still, nur die Wasser gurgelten unaufhörlich vorüber, oder eine Wasserratte hatte in ihrem Loch rumort. Er blieb dennoch eine ganze Minute gegen den Zaun gepreßt stehen und wagte kaum zu atmen. Gesichter tauchten vor ihm auf mit gräßlichen Grimassen. Er sah Herrn Goldschmidt vor sich, wie er mit den Fingern den Hohenfriedberger Marsch auf der Tischplatte trommelte. Unwillkürlich griff er nach dem Brief an Kamp. Er sah Gestalten huschen. Er hätte schreien mögen. Wenn er jetzt mit einem gellenden Schrei die Nacht zerriß, konnte ihn das vielleicht retten? Aber das war ja alles Unsinn! Seine Nerven waren in den letzten Wochen erbärmlich geworden. Daß er nur morgen nicht laut aufweinte, wenn er zum erstenmal seit Monaten Gerda wiedersah! Er mußte nach Hause, noch einige Stunden schlafen, ehe er aufstand und zum Bahnhof ging. Wenn nur am Zaun nicht diese dunklen Pfähle gewesen wären, die wie lauernde Gestalten aussahen.

Er drehte sich um und ging in das Dunkel der Gasse zurück.

Drittes Kapitel

Otmar Kamp war es nicht unangenehm, in dem hübschen Landhaus Werneuchens einige Tage allein zu verbringen, und er überraschte sich bei dem Wunsch, daß der Freund recht lange fortbleiben möchte.