Dorette lächelt … - Walther Harich - E-Book

Dorette lächelt … E-Book

Walther Harich

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Beschreibung

Die Geschichte eines Kriminalfalls. Brilliant erzählt Harich die Geschichte und die Verwicklungen um Dorette, die Herrin von Schloß Swantemühl in der Mark. Einer der Romane des Krimispezialisten, für den bereits in den Dreißiger Jahren die Filmrechte verkauft wurden.

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Dorette lächelt ...

Walther Harich

Inhalt:

Dorette lächelt ...

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Dorette lächelt, W. Harich

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849643195

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Cover Design: © Eky Chan - Fotolia.com

Dorette lächelt ...

1

Damals, als sich Rolf Steegen von Dorette trennen mußte – nach jenen bekanntgewordenen Vorgängen auf Schloß Swantemühl in der Mark, – hatte er das deutliche Gefühl, daß er sie wiedersehen würde. Dorettes Nähe bedeutete selige und peinigende Beklemmung, nervöse Schmerzen in den Augen, Schlaflosigkeit. Dorettes Nähe bedeutete kommende Katastrophen. Aber es war nicht abzusehen, wie man ohne Dorette leben konnte.

Zum mindesten mußte man das Gefühl haben, daß sie da war. Von Zeit zu Zeit mußte man sich vorstellen können, daß sie vor einem Toilettenspiegel saß und die Augenbrauen nachzog, oder daß sie in einen Wagen stieg und auf dem Trittbrett ein wenig wippte. Man wäre wahnsinnig geworden ohne das Gefühl, daß Dorette irgendwo existierte.

Rolf Steegen war als letzter auf dem Gut zurückgeblieben. Er stand auf dem Hof, als der Wagen mit den vier Damen davonfuhr. Nie im Leben würde er den Augenblick vergessen, als die Pferde sich in Bewegung setzten. Die alte Frau Blankenhorn und Dorette auf dem Polstersitz, die Töchter Karla und Sabine auf dem Rücksitz. Das Gepäck war bereits mit dem Jagdwagen vorausgeschickt.

Seit der Nacht, in der Herr Blankenhorn erschossen aufgefunden war, hatte Rolf Steegen kein Wort mehr mit Dorette gewechselt. Sie war die Herrin, er der Inspektor. Nicht einmal, daß sie die Augen von ihm fortwendete, sondern sie sah über ihn hinweg wie über einen Reitknecht oder einen gleichgültigen alten Schrank. Das war die drei Wochen bis zur Abreise so geblieben. Manchmal dachte er, daß sie nachts zu ihm kommen würde, um mit ihm zu sprechen. Als sie nicht kam, nahm er an, daß sie Furcht hatte. Es konnte gefährlich werden, wenn in dieser Umgebung zwei Personen des Einverständnisses miteinander überführt wurden. Die Mordkommission hatte nichts herausbekommen. Niemand ahnte, wer den Schuß in dem Zimmer abgefeuert hatte. Es gab einfach keine Spuren, weder für das Mikroskop und die chemische Analyse, noch für den Polizeihund.

Die drei Wochen bis zur Abreise kein Blick zwischen ihm und Dorette. Aber in dem Augenblick, als die Pferde anzogen, hob sie ein wenig den Kopf, schlug die Augenlider hoch, sah zu ihm hinüber und lächelte. Nur den Bruchteil einer Sekunde lang lag dieses Lächeln um ihren Mund. Sie schnellte es zu ihm hinüber, und es war fort. Es sollte ihm sagen: Nichts sei zwischen uns vergessen! Wir haben die Komödie zu Ende gespielt! Du wirst von mir hören! Ob sie glaubte, daß er der Mörder war? Ob das Lächeln sich bei ihm bedanken sollte, daß er Blankenhorn erledigt hatte?

Der Wagen ratterte über das holperige Pflaster des Hofes, die Hufe klapperten. Steegen sah dem Gefährt nach, wie es in die Dorfstraße einbog und hinter der alten Kirche verschwand. Das Blätterdach der Kastanien färbte das Licht smaragden. Sonnenkringel blühten wie goldene Blumen auf dem dunklen Sandweg. Über dem Kutschenrand leuchtete neben dem schwarzen Hut der alten Frau Blankenhorn das Blondhaar von Dorettes Pagenkopf.

Seit jener Stunde hatte Rolf sie nicht wiedergesehen. Acht Tage wartete er auf einen Brief von ihr. Dann ritt er die sechs Kilometer zur Bahnstation hinüber und holte in vorsichtigem Gespräch aus dem Vorsteher heraus, daß die alte Dame und ihre Enkelinnen Fahrkarten nach Berlin genommen hatten, Dorette aber nach Hamburg gefahren war. Bis zur nächsten D-Zug-Station waren die vier zusammengeblieben. Erst in Neustadt konnten sie sich trennen. Rolf stellte es sich deutlich genug vor: Wie Dorette sich die Koffer in das Abteil reichen ließ und davonfuhr. Wie ihre Schwiegermutter und die Stieftöchter auf dem Bahnsteig stehenblieben und auf den Berliner Zug warteten, der eine Viertelstunde später eintraf. Man hatte sich wohl noch zugewinkt, und so waren sie auseinandergegangen, die das Schicksal zu ihrem Unheil für zwei Jahre miteinander verkoppelt hatte. Dorette und die Blankenhorns: fremde Rassen, die nichts miteinander zu tun hatten, die sich niemals hätten finden dürfen. Beide Teile mußten aufgeatmet haben, als sie sich trennten. Vielleicht hatte Dorette sich in der Einsamkeit ihres Abteils wie nach einer köstlichen Komödie ausgeschüttet vor Lachen, vielleicht war sie schluchzend zusammengebrochen. Man konnte das bei ihr nicht wissen. Sie konnte sich in aller Heimlichkeit Schiffskarten besorgt haben, um Europa zu verlassen. Sie konnte auf der nächsten Station umgekehrt und nach Berlin gefahren sein. Vielleicht hatte sie den Hamburger Zug nur genommen, um sich möglichst früh von den Blankenhorns trennen zu können.

Als er Tage und Wochen hindurch nichts von Dorette hörte, wurde er von einer immer größer werdenden Angst gepackt. Ein Ring legte sich um seine Kehle und preßte sie immer stärker zusammen. Seit zwei Jahren hatte es nichts außer Dorette für ihn gegeben. Nun löste sie sich wie ein Phantom in Luft auf. Sie muß mir schreiben! schrie es in ihm. Sie hatten über das Wichtigste noch miteinander tu sprechen! Wenn sie Angst hatte, etwas Schriftliches von sich zu geben, dann mußte sie ihm wenigstens einen Boten schicken. Aber zwei, vier, acht Wochen vergingen, und es kam nichts. Dorette war verschwunden, und er wußte nicht einmal, ob sie ihn für den Mörder ihres Mannes hielt. Dieses Mannes, den sie gehaßt hatte!

Drei Monate blieb Steegen auf Swantemühl, bis er die Verwaltung des Gutes abgeben konnte. Er fuhr nach Berlin. Nur nicht wieder aufs Land zurück, in einen verlassenen Winkel, in dem man nicht aufzuspüren war! Man mußte Dorette wiederfinden!

Als Inspektor in grüner Joppe und hohen Stiefeln fuhr er von der Station fort. Der Kutscher wunderte sich über die drei schweren Koffer und die Frachtkiste. Als Steegen in Berlin aus dem Hotel trat, erinnerte nichts mehr an seine Tätigkeit im letzten Jahr. Allenfalls hätte er für einen Generalstabsoffizier in Zivil gelten können. Die trainierte Figur war ihm geblieben, aber das Haar sprang über der Stirn in scharfen Ecken zurück und war über den Schläfen ergraut. Jetzt erst, da er sich wieder in gewohnten Verhältnissen befand, merkte er, daß er wortkarg geworden war. Er würde nicht mehr im Kasino Sektgläser gegen die Wand schleudern.

Am dritten Tag traf er durch Zufall mit Engelke, dem alten Freund und Regimentskameraden zusammen. Engelke wollte auf seinem Gut in Ostpreußen eine Pferdezucht anlegen.

»Ich brauche dich dazu mit deinen Erfahrungen und deiner glücklichen Hand. Aber du wirst etwas Besseres vorhaben, was? Mit deinem Geld und deinen Beziehungen!«

»Meine glückliche Hand!« lachte Steegen bitter auf.

Eine Woche später trat er als Stallmeister und Reitlehrer in einem der großen Tattersalls am Tiergarten ein. Die Direktion war froh, den früheren Kavallerieoffizier zu bekommen. Man kann gut auf Dorette warten, wenn man am Tag sechs oder mehr Pferde zu reiten hat. Um sieben Uhr früh begann der Dienst. Da ritten die großen Geschäftsleute, die um neun in ihren Büros sein mußten. Um neunzehn Uhr stieg man von dem letzten Pferd. Es gab im Verkaufsstall widerspenstige Bestien, die Steegen zugewiesen wurden. Es gab junge Tiere, denen die Ganaschen durchzubrechen waren. In den Zwischenstunden saß man mit Reitschülern und Damen zusammen. Das war in der Reitbahn oder auf dem Sattelhof ein ständiges Kommen und Gehen, Grüßen und Verabreden. Abends sank man todmüde ins Bett und schlief bis zum Morgen, wenn man nicht noch gegen Mitternacht aufstand, um einige Tanzdielen aufzusuchen. Irgendwo mußte man Dorette finden!

Da – an einem Sonntagvormittag ritt er in größerer Gesellschaft durch den Kurfürstendamm nach dem Grunewald. In der Höhe der Uhlandstraße begegneten sie einem trabenden Trupp, der bereits zurückkam. Sechs Reiter. Jeder Stallmeister kennt die Pferde, die in den Berliner Tattersalls eingestellt sind. »Tattersall des Westens!« konstatierte Steegen nach den vorderen Tieren. Aber die beiden letzten Pferde kannte er nicht. Ein starker Apfelschimmel, kolossaler Gewichtsträger, warf seinen Reiter, einen kleinen korpulenten Herrn, bei jedem Schritt hoch und ließ ihn schwer auf den eingebogenen Rücken niederfallen. Daneben trabte ein eleganter Brauner mit Blesse und vier weißen Füßen. Steegen entsann sich, daß der Braune vor Wochen irgendwo zum Verkauf gestanden hatte. Ein Industrieller sollte ihn erworben haben. Man hatte sich bei Beermann über den hohen Preis unterhalten. Und auf diesem Pferd saß Dorette!

Sie hatte ihn erkannt. Er merkte es deutlich. Ihre schmalen grünen Augen sahen ihn für zwei Sekunden an. Die kleine unregelmäßige Nase senkte sich wie grüßend. Um die ein wenig hervorstehenden Zähne, die unter der zu kurzen Oberlippe sichtbar waren, lag ihr seltsames gedankenloses Lächeln.

»Schöner Brauner!« sagte die Dame neben ihm. »War das nicht Frau Blankenhorn?«

»Ich kenne Frau Blankenhorn nicht.«

»Ach, die sitzt doch ewig in den Nachtbars herum!«

Rolf Steegen fand sie nicht in den Nachtbars. Er wußte nicht die richtigen Lokale. Die Brücken zu der Welt, in der er einst gelebt hatte, waren eingesunken. Ein früherer Regimentskamerad von ihm ritt manchmal mit seinem Burschen im Tiergarten an ihm vorüber. Er mußte Ordonnanzoffizier bei einem Reichswehrstab sein. Sie erkannten sich nicht, wenn sie aneinander vorbeigaloppierten. Man erkennt keinen Stallmeister, wenn man Offizier bei einem hohen Stabe ist.

Der Apfelschimmel und der Braune waren in keinem der Tattersalls untergestellt. Sie mußten in einem Privatstall stehen, von dem er nichts wußte. Ein Bereiter aus dem Hormeßschen Stall glaubte, daß der Braune von einem Herrn Abercron gekauft worden war. Das Adreßbuch wies viele Abercrons auf. Einer wohnte in Tempelhof, einer in Zehlendorf, einer im Tiergartenviertel. Rolf Steegen ging belegte Treppen in die Höhe, umschlich Villen, suchte nach einem Stall, der zwischen Großstadthäusern eingeklemmt wäre.

Auf der Tauentzienstraße sah er an einem Schaufenster Karla stehen. Er grüßte und wollte vorüber, aber das junge Mädchen rief ihn an. Er hatte Karla und ihre Schwester Sabine öfters auf der Straße oder in Theatern gesehen. Damals waren sie mit ihrer Großmutter nach Steglitz gezogen. Es hatte sogar wegen geschäftlicher Fragen einige Briefe zwischen ihm und den Damen gegeben, aber einem persönlichen Zusammensein ging man beiderseits aus dem Wege. Rolf war erregt, als Karla Blankenhorn ihn anrief. Es war das erstemal seit zwei Jahren, daß er einem jener Menschen gegenüberstand, die die Swantemühler Zeit mit ihm erlebt hatten.

»Es ist gut, daß ich Sie treffe, Herr Steegen«, fing Karla zögernd an. »Meine – Stiefmutter ist in Berlin!«

»So«, sagte er und bemühte sich, ein gleichgültiges Gesicht zu machen.

»Haben Sie noch Verbindung mit – Frau Blankenhorn?«

»Nein, ich habe niemals wieder etwas von Ihrer – Frau Stiefmutter gehört.«

»Ich dachte, daß Sie Ihnen schreiben würde. Sie ritten damals viel mit ihr zusammen aus.«

Er zuckte die Achseln. Wußte das junge Mädchen wirklich nicht, wie es mit ihm und Dorette gestanden hatte? Vielleicht ahnte keine von den Damen etwas davon? Das war die große Frage, die er sich immer wieder stellte.

»Ihre – Frau Stiefmutter würdigte mich manchmal, ihr beim Reiten Gesellschaft zu leisten.« Er sagte das in dem unterwürfigen Ton, den er mit seiner Stellung wie eine Verkleidung angenommen hatte. Seine Haltung entsprach dem. So stand er vor seinen Reitschülern und den Herrschaften da, die ihm ihre Pferde anvertrauten, den Hut in der Hand, ein wenig steif, die Knie durchgedrückt. Als er damals Inspektor wurde, hatte er diese Haltung angenommen. Immer korrekt angezogen, den Körper im Training, das dunkle Haar straff gescheitelt. Das verlangte man von einer Menschenklasse, die über fremde Schollen ging und fremde Pferde ritt: gutes Aussehen, Ergebenheit, Zurückhaltung. Kaffern! stieg es manchmal in ihm hoch, wenn ihm bewußt wurde, daß aus dem Spiel eigentlich schon Wirklichkeit geworden war.

»Meine Stiefmutter hatte ein kleines Faible für Sie, Herr Steegen«, fuhr Karla lächelnd fort. »Wir haben sie manchmal damit aufgezogen.«

»Das ehrt mich sehr«, sagte er unbewegten Gesichts. »Ich hätte nie gewagt, etwas Derartiges zu hoffen oder zu bemerken. Ihre Frau Stiefmutter liebte den Scherz, sie war noch jung.«

»Ja«, sagte Karla bitter, »sie war jung. Die Stiefmutter, die unser Vater uns so überraschend gab, war drei Jahre älter als ich. – Übrigens habe ich mich verheiratet.«

»Gehorsamsten Glückwunsch!« Er verbeugte sich, sah auf ihre Hand und bemerkte, daß sie keinen Ring trug.

»Ach so, der Ring«, sagte sie. »Ich liebe es nicht, einen Ehering zu tragen, wissen Sie. Das sieht so aus, als ob die Verheirateten eine besondere Klasse im Staat bildeten.«

Rolf Steegen stutzte. Diese Ansicht hätte Dorette äußern können. Wenn eine Frau wie Karla ihren Ehering nicht trug, mußte das einen besonderen Grund haben. Vielleicht war sie unglücklich, oder ihr Mann betrog sie.

»Darf ich fragen?«

»Mit Professor Stüwe, dem Bildhauer. Besinnen Sie sich auf ihn?«

Natürlich besann er sich auf Stüwe, der öfters in Swantemühl gewesen war. Eine Zeitlang hatte der Bildhauer schon damals als Karlas Verlobter gegolten, bis er, ein halbes Jahr vor der Katastrophe, ausblieb. Steegen hatte sich nicht sonderlich darum bekümmert. Mochten Karla und Sabine ihre kleinen Romane erleben. Seine Gedanken kreisten um Dorette. Oder hatte nicht auch Dorette von Stüwe gesprochen? Einmal hatte er die beiden in der Fliederlaube des Parks zusammen gesehen: die zierliche blonde Dorette und den ernsten dunklen Mann, von dem es schon damals hieß, daß er berühmt wäre.

»Wir bewohnen eine Atelierwohnung in der Fasanenstraße«, sagte Karla. Weshalb erzählte sie ihm das? Sie würde keine Aufforderung für ihn hinzufügen, sie zu besuchen. Für Karla war er der ehemalige Inspektor. Oder sprach sie nur, weil sie eine Frage an ihn richten wollte, die sie nun doch nicht über die Lippen brachte? Die ganze Zeit über schien es ihm, daß sie mit diesem Gespräch einen besonderen Zweck verfolgte.

»Mein Mann besinnt sich noch auf Sie«, fuhr sie zögernd fort. Er mußte wieder an die Fliederlaube denken. Damals hatte der Bildhauer ihn prüfend angesehen. Vielleicht hatte Dorette gerade über ihn gesprochen? Oder war Stüwe der einzige gewesen, der den wahren Zusammenhang durchschaute? Dann drohte ihm, Rolf Steegen, von dieser Seite Gefahr. Wer hinter sein Verhältnis zu Dorette gekommen war, mußte ihn für den Mörder halten!

»Hatte nicht Ihr Fräulein Schwester Unterricht bei Herrn Professor Stüwe?« fragte er ausweichend.

»Sabine? Ja, sie ist Bildhauerin geworden und hat ein Meisterschüleratelier in der Akademie. Sie war lange Schülerin meines Mannes.«

Sabine! dachte er und sah ihren hübschen Kopf mit den klugen Augen vor sich. Noch immer stand er in ergebener Haltung mit unbewegtem Gesicht da. Das Leben der Straße flutete an ihnen vorüber. Die Drähte der sausenden Elektrischen schwirrten in Funkenberührung, Bremsen schrien wie angeschossene Tiere, Seidenkleider und helle Sommeranzüge schoben sich aneinander in seltsamen Kurven vorbei. Stein, Glas und Eisen funkelten in schneidender Kälte. Die beiden standen wie auf einer Insel inmitten dieses Treibens. Sie standen nicht auf der Tauentzienstraße, sondern im Park von Swantemühl: Der Himmel reichte bis zu den bebuschten Horizonten. Es gab Fernen mit Dörfern und spitzen Kirchtürmen, Wege mit aufgelockertem Boden zwischen weiten Getreidefeldern, saftig grüne Viehweiden mit schwarzweißen Kühen, Gräben mit Heckenrosen, Hügel mit Birkenwäldchen, einen Eisenbahndamm, den man drei Stationen weit mit den Augen verfolgen konnte. Und in diese Landschaft verfangen einen eigenartigen Menschenkreis: den kurzbeinigen robusten Herrn Blankenhorn mit der gelben Joppe und dem verschossenen Jägerhütchen über dem wulstigen Genick. Die kleine zierliche Dorette mit dem kessen Mund. Herrn Blankenhorns Mutter mit dem glatten Scheitel, der noch immer kein weißes Haar zeigte. Karla und Sabine, die beiden Landmädchen mit den sehnsüchtigen Augen. Und zwischen diesen Menschen mit immer unbewegtem und korrektem Gesicht er selber, Rolf Steegen, der den Umbruch der Felder, das Absetzen der Kälber, das Hinausziehen der Gespanne bei Hahnenschrei bewirkte. Dazu Gäste aus der Stadt wie dieser Herr Stüwe, die die Satten voll dicker Milch und die Schalen voll eingezuckerter Erdbeeren zulangend bewunderten. Das war nun alles vorbei, seit Dorette sich in ihre Zimmer und in einsame Ritte zurückgezogen hatte, und seit Herr Blankenhorn mit durchschossener Stirn in seinem Sessel lag. Man konnte nicht einmal wissen, ob diese beiden Tatsachen einander nicht auf eine fürchterliche Weise bedingten. Diese ganze Welt aber umstand die beiden Menschen, die sich auf der Tauentzienstraße wiedergefunden hatten und nicht wußten, wie sie miteinander reden sollten.

»In der Fasanenstraße!« hörte Steegen sich wiederholen. Karla und ihr Mann wohnten also in der Fasanenstraße.

In diesem Augenblick sah er aus der Ladentür eine Dame in beigefarbenem Complet heraustreten. Als er nur den Fuß und die Biegung des Rocks über dem Knie gesehen hatte, erkannte er sie. Dann das leichte Zuschlagen der Tür hinter sich, die Hand, die eine rudernde Bewegung machte, und das blonde Haar, das wie ein goldener Streif unter dem weichen Filzhut sichtbar wurde. Auf einmal wußte er: Karla hatte hier auf Dorette gewartet!

Es schien unausweichlich, daß sie zusammenstießen: die hochgewachsene Karla mit dem ebenmäßigen Gesicht, dessen Ausdruck jetzt völlig durch zwei erschrockene blaue Augen bestimmt war, und Dorette mit den zierlichen Bewegungen eines Fisches. Sollte man grüßen, beiseite treten, aufeinander zugehen? Man unterschätzte Dorettes Geistesgegenwärtigkeit. Sie hielt einen Augenblick inne, als müßte sie sich an das Straßengewühl gewöhnen. Die kleine Nase schnupperte in der Luft, der Blick der grünen Augen krümmte sich in sich selbst zurück, und Dorette schritt nach rechts davon. Der kurze Rock wippte in ihren Kniekehlen.

Aus Karlas Gesicht war die Farbe gewichen. Sie bemühte sich, in andrer Richtung zu sehen. »Ja, in der Fasanenstraße!« sagte sie schließlich. »Wir haben eine sehr hübsche Wohnung dort.« Sie blieb unschlüssig stehen. Rolf sah den Kampf in ihrem Gesicht. Sie hatte Dorette ansprechen wollen, und wagte es nicht. Sie hatte Steegen etwas fragen wollen, und wagte es nicht.

»Verzeihung, gnädige Frau, ich muß leider gehen!« sagte er korrekt und verneigte sich. Karla sah ihn mit einem hilflosen Blick an. Sie wußte nicht einmal, ob sie ihm die Hand reichen sollte. Er war bereits verschwunden.

Am nächsten Tag erreichte ihn ein Brief, der im Tattersall für ihn abgegeben war.

»Sehr geehrter Herr Steegen! Ich sah Sie zufällig vorüberreiten und würde mich freuen, Sie wiederzusehen Kommen Sie am Donnerstagabend gegen dreiundzwanzig Uhr in die Hildebrandtsche Privatstraße Nr. 57. Ich empfange in der Wohnung von Herrn Abercron. Am Portal steht ein Diener, der öffnet. Mit freundlichem Gruß Dorette Blankenhorn.«

2

Rolf Steegen las den Brief aufmerksam durch. Er hatte also Dorette wiedergefunden! Aber es war so ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Zu vieles kam zusammen. Weshalb war Dorette nach Berlin gekommen? Weshalb schlich Karla hinter ihrer ehemaligen Stiefmutter her? Was wollte dieser Professor Stüwe von ihm? Die Gespenster jener lange zurückliegenden Zeit stiegen aus dem Grabe. Es mußte etwas geschehen sein, was das Vergangene wieder lebendig machte.

Eine eigentümliche Furcht beschlich ihn. Nichts hatte sich in den zwei Jahren verändert. Man brauchte nur mit einem jener Menschen zusammenzukommen, und die alte Furcht war wieder da. Was würde dieses Zusammentreffen mit Dorette bringen?

In der kleinen nächtlichen Straße war kein Mensch zu sehen. An der eisernen Gittertür des Gartens fand er die gesuchte Nummer. Vor einigen Tagen hatte er bereits einmal an dieser Tür gestanden, um jenen Abercron herauszufinden, der den Braunen mit der Blesse gekauft hatte. »Zu wem, bitte?« fragte ein Diener, der in der Dunkelheit kaum zu bemerken war.

»Frau Blankenhorn wollte heute abend hier sein.«

»Bitte!« sagte der Diener und öffnete. Gleichzeitig waren zwei Herren in dunklen Havelocks hinzugekommen, die sich mit Selbstverständlichkeit durch die Tür klemmten. Steegen folgte ihnen. Der Diener drehte das Licht im Treppenhaus an. Eine Halle tat sich auf. Der Boden war mit rotem Stoff ausgeschlagen, die Wände mit Marmor belegt. In einer Art Kabine hingen gegen zwanzig Mäntel von Damen und Herren. Ein zweiter Diener nahm die Garderobe in Empfang und übergab sie einem Mädchen. Steegen schnupperte die Atmosphäre. Einmal hatte er auch so gelebt. Es war kaum vier Jahre her.

Die beiden Herren studierten die Tischordnung, die an einem hölzernen Pfeiler angeschlagen war, und machten Glossen. Rolf Steegen freute sich, daß er wenigstens den Smoking angezogen hatte. Die beiden Herren waren im Frack. Er drängte sich mit an die Tischordnung. Der Hausherr führte eine bekannte Schauspielerin. Außer dem ihren kannte Steegen keinen der Namen. Frau Blankenhorn saß ziemlich unten. Sie sollte von einem Herrn Schwarzer zu Tisch geführt werden. Steegen war durchaus nicht in ihrer Nähe untergebracht. Neben ihm saß »Fräulein Susanne Strauch«, auf der andern Seite »Herr Kaufmann«.

Es war merkwürdig, in diese Gesellschaft zu kommen. Weshalb hatte Dorette ihn hierher bestellt? Er folgte den beiden Herren durch eine halb offenstehende Tür. Der Raum war eine Bibliothek. Rings an den Wänden stiegen hohe Regale bis zur Decke empor. In einer Ecke stand ein Flügel unter einem türkischen Teppich mit kostbarer Goldstickerei und ein Geigenpult. Es gab Tische und Sessel, die zwanglos über den Raum verteilt waren. Eine aufgeschobene Tür führte in ein ebenso großes Herrenzimmer. Überall hatten sich Menschen niedergelassen oder standen in Gruppen beieinander. Sogar auf dem Schreibtischsessel saß eine Dame und unterhielt sich mit einer andern, die auf dem Schreibtisch selbst saß. Von Zeit zu Zeit strichen sie ihre Zigarettenasche in eine große Kupferschale ab, die neben dem Tintenfaß stand.

Künstlergesellschaft! dachte Rolf Steegen mit einem Gemisch aus Staunen und Verachtung.

Neben der Tür der Bibliothek machte eine bildhübsche junge Dame die Honneurs. Sie trug ein kostbares Abendkleid und um den Hals den Perlenschmuck einer Fürstin. Ihr aschblondes Haar fiel in breiten Wellen auf einen blendend weißen schmalen Hals nieder.

»'n Tag, Blümchen!« sagte der eine der Herren und patschte ihr vertraulich den Arm. Sie wechselten einige Worte und gingen weiter.

Steegen stellte sich vor. »Blümchen« nahm seinen Handkuß entgegen. »Von Frau Blankenhorn? Ich weiß nicht, ob die Dame schon hier ist und ob sie überhaupt kommt. Doch, doch, sie wird schon kommen. Herr Abercron ist leider auch noch nicht da. Wichtige Konferenz wahrscheinlich!« Sie platzte heraus, zum Zeichen, daß sie an keine wichtigen Konferenzen glaubte. »Gehen Sie nur herein!« Er wunderte sich über »Blümchen«.

Als er die Tür zum Arbeitszimmer durchschritt, sah er hinten in einem Klubsessel Dorette sitzen. Sie unterhielt sich mit einem Herrn. Tausendmal hatte er sich diesen Augenblick vorgestellt. Würden sie sich mit einem Schrei in die Arme stürzen? Aber das konnte wohl nicht sein. Niemand – auch hier nicht – durfte etwas von ihren früheren Beziehungen ahnen. Vielleicht arbeiteten immer noch Detektive an der Aufklärung jener mysteriösen Mordtat.

Er trat auf Dorette zu. Sie mußte aufstehen, tausend Fragen auf den Lippen. Wie hatte sie damals zu ihm gesagt? »Wenn du das könntest! Wenn du mich von ihm befreien würdest, dann ...!« Das waren die letzten Worte zwischen ihnen gewesen, kurz ehe das Furchtbare eintrat. Aber dieses »Dann« war nicht eingelöst worden. Oder hatte sie es einem andern eingelöst? Wer war dieser andre, der ihm damals so überraschend zuvorgekommen war? Rätsel über Rätsel!

Nichts von dem erträumten Ineinanderfliegen. Ein dunkler schlanker Herr stand da und machte eine korrekte Verbeugung. Eine junge blonde Frau hob ein wenig ihre Hand und nickte ihm zu, ohne ihr Gespräch mit dem andern zu unterbrechen. »Da sind Sie, Herr Steegen. Herr Abercron wollte Sie bitten, eines seiner Pferde zurechtzureiten.« Es kamen einige Erklärungen über die Unarten dieses Pferdes, sie waren eigentlich schon an den kleinen mageren Herrn mit dem Römerprofil an ihrer Seite gerichtet. Sie hielt es nicht einmal für nötig, Steegen vorzustellen. Der stand unentschlossen da. Sollte er hinausgehen und diese Gesellschaft verlassen? Aber es hielt ihn zurück. Zwei Jahre hatte er von der Erinnerung an diesen Mund, an diese Schultern, an diese Knie gezehrt. Immer war etwas in ihrer Haltung, als erwarte sie, daß man sich über sie stürzte. Immer schienen ihre Augen aufzufordern und der Mund einladend zu lächeln. Seit zwei Jahren hatte er die unmittelbare Gegenwart dieses Wesens entbehrt. Jetzt genoß er jede Bewegung ihres Gesichts, jede Linie ihres Körpers. Und sie wußte es. Er fühlte, wie sie seine Gedanken mit unsichtbaren Antennen auffing, wie sie für ihn dasaß, sprach, blickte, lächelte.

Er blieb stehen, stützte sich gegen die Tischecke und zündete sich eine Zigarette an. »Handelt es sich um den Braunen mit der großen Blesse?« fragte er, mitten in ihr Gespräch hinein.

Sie sah erstaunt auf. »Wie bitte? Ja, um den Braunen!«

In diesem Augenblick verstummten auffällig alle Gespräche. Herr Abercron war eingetreten. Merkwürdigerweise trug er einen hellen Sommeranzug, der sich seltsam zwischen den schwarzen Fracks und Smokings ausnahm. Er war größer, als Steegen ihn sich gedacht hatte. Seine Korpulenz hatte trotz des hellen Anzugs nichts Unförmiges. Unförmig war allein der große schwere Kopf mit der riesigen Glatze, die hinten direkt in das wulstige Genick überging. Nur an den Schläfen gab es wenige kurzgeschorene Haare von grauer Färbung.

Herr Abercron bewegte sich mit der Schnelligkeit eines Feuerfrosches zwischen den einzelnen Gruppen. Er teilte eilige Händedrücke und kurze Fragen aus und näherte sich schnell dem Bereich seines Schreibtisches. Irgend etwas an ihm erinnerte Steegen unangenehm an Herrn Blankenhorn, etwas brutal Gutmütiges, lärmend Banales. Abercron reichte Dorette die Hand, begrüßte den mageren Herrn mit dem Römerprofil, stellte sich mit kurzer Verbeugung Steegen vor. »Ah«, sagte er, »Sie sollen mir den Braunen zurechtreiten. Wir sprechen noch darüber!« Dann hatte er den Schreibtisch erreicht. Die beiden Damen erhoben sich. »Laßt mich einmal hier heran! 'n Tag, Susannchen!« Bei dem Vornamen vermutete Steegen die ihm zugedachte Tischdame. Susanne Strauch. Ein frisches junges Mädchen. Offenbar Film.

Herr Abercron schloß mit kurzen energischen Bewegungen den Schreibtisch auf, nahm ein Aktenbündel heraus und blätterte ungeniert darin. Die Gespräche lebten wieder auf. Man kannte Herrn Abercrons Gewohnheiten. »Entschuldigt, Kinder! Eine Kleinigkeit noch zu erledigen!« Er notierte sich einige Zahlen auf dem Block und hob den Hörer auf. Es gab eine kurze geschäftliche Unterhaltung. Zahlen wurden durch den Draht gegeneinander geschleudert. »Genug, genug!« schrie Herr Abercron schließlich in den Apparat. »Dafür mache ich es nicht!« Er legte den Hörer hin und klatschte in die Hände. Alle Gäste klatschten mit. Es schien ein altgeübter Ritus in diesen Räumen zu sein.

Eine breite Doppeltür wurde geöffnet. Man blickte auf eine gedeckte Tafel. Zwei Diener und ein behaubtes Mädchen standen mit Schüsseln bereit. Herr Abercron machte vor der berühmten Schauspielerin eine tiefe Verbeugung und führte sie zu Tisch. In Gruppen folgten die Gäste. Steegen sah den mageren Herrn mit der wunderschönen Dame, die man »Blümchen« genannt hatte, gehen. Dorette wurde von einem grobknochigen Herrn mit braunem Scheitel aufgefordert. Das war also Herr Schwarzer. Steegen besann sich, daß er ihn im Tiergarten hatte reiten sehen. Er war ihm sogar aufgefallen. Er selbst ging auf »Susannchen« zu und stellte sich vor. »Ach«, sagte sie erfreut, »endlich mal wer Neues in diesem Kral. Sind Sie vom Film?«

Von Anfang an, schon zur Hummermayonnaise, wurde Sekt eingeschenkt. Fräulein Strauch stürzte ihr Glas hinunter und hielt es dem Diener zum Füllen hin. »Sekt, Sekt!« wurde von verschiedenen Enden der Tafel gerufen. Einige korrigierten die Tischordnung, zogen mit ihrem Glas und der Serviette um und tauschten Plätze. Die Gespräche erfüllten den Raum mit lautem Summen, aus dem einzelne Rufe hervorschossen.

»Ich dachte, Sie wären vom Film!« sagte Fräulein Strauch und machte ein enttäuschtes Gesicht. Seit Monaten hatte Abercron ihr versprochen, sie mit einem bestimmten Regisseur bekannt zu machen. Steegen sah sie fragend an. »Alle diese Frauen wollen etwas von Abercron«, erklärte Susanne Strauch. »Die Männer hier sind gewöhnlich dieselben. Die Frauen wechseln beständig. Von Zeit zu Zeit macht eine andre Dame die Honneurs und trägt den Perlenschmuck. Ach ja!«

»Herr Abercron besitzt also einen Harem mit Wechselrahmen?«

Susanne Strauch wollte sich ausschütten vor Lachen. »Herrlich!« rief sie. Aber Herr Abercron täte den meisten Damen nichts. Es gab immer nur wenige Favoritinnen, die in den engsten Kreis aufgenommen wurden. Den meisten versprach er nur: Verbindungen, Engagements, Vermittlungen, – und hielt nichts.

»Nichts?«

»Manchmal hält er seine Versprechungen auf eine wahrhaft majestätische Art. Das lockt alle. Aber meistens wartet man einige Wochen vergeblich und wird allmählich von der Einladungsliste gestrichen. Manchmal wird eine zur Favoritin ernannt. Auch die Favoritinnen wechseln. Blümchens Perlenkollier soll auch schon wackeln. Ohe!«

»Und wer kommt dann an die Reihe?«

»Was weiß ich? Plötzlich gefällt ihm irgend etwas an einer. Man kann es nie so genau verfolgen, weil man nach einiger Zeit nicht mehr eingeladen wird. Ich bin vielleicht auch das letzte Mal hier.«

»Sie würden gern in den engeren Kreis kommen?«

Fräulein Strauch schüttelte sich, brrr, nickte dann aber doch plötzlich mit dem Kopf. »Wir spielen heute alleva banque«, erklärte sie. »Man kann eine Welt gewinnen oder hat nix vom Leben.«

Dorette! dachte er. Auch Dorette spielt hierva banque! Dorette will eine Welt gewinnen! Dorette besaß schon einmal eine Welt, aber die stob auseinander.

Der Hausherr blieb nicht lange auf seinem Platz, wie überhaupt die Tafelordnung in dieser Gesellschaft nichts Festes war. Immer wanderten einige umher, lehnten sich über fremde Stühle und sprachen auf irgendwelche Menschen ein. Abercron setzte sich minutenlang an seinen Schreibtisch im Nebenzimmer und arbeitete. Alle Augenblicke ging das Telefon und rief ihn. Er war sicher einer der beschäftigtsten Männer Berlins.

Dorette saß ruhig an ihrem Platz. Steegen sah an ihrem blonden Pagenkopf vorbei auf Herrn Abercrons Schreibtisch. Über Mappen und Aktenstößen wurde der obere Teil seines riesigen Schädels sichtbar, von der Nasenwurzel an die Stirn und darüber wie ein Feldweg, der sich nach hinten verbreitert, die Glatze. Wieder mußte er an Blankenhorn denken, dessen Schädel man in ähnlicher Art aus einer bestimmten Ecke seines Arbeitszimmers über den Schreibtisch ragen sah. So hatte Blankenhorn dagesessen, als ... Er wagte den Satz nicht weiterzudenken.

Mit einmal merkte er, daß Dorette ihn ansah. Sie zog mit ihren Blicken eine deutlich sichtbare Linie zwischen seinem Auge und Abercrons Schädel. War es möglich, daß sie an das gleiche dachte wie er? Sie hatte den Kopf schon wieder gesenkt und redete mit ihrem Nachbarn weiter. Aber da blieb immer noch ein Ausdruck in ihrem Gesicht, der für ihn bestimmt war, eine kleine Handbewegung, die zu ihm hinüberzuwinken schien. Und jetzt hob sie wie in Gedanken das Glas und trank. In der gleichen Sekunde tat er dasselbe. Im gleichen Rhythmus tranken sie aus und setzten die Gläser nieder. Hatte sie ihn überhaupt angesehen? Während sie weiter zu ihrem Tischherrn sprach, schien ein Lächeln, dieses seltsam verlockende und versprechende Lächeln um ihren Mund zu fliegen.

Er machte die Probe. Der Diener hatte sein Glas gefüllt. Er hob es von neuem an den Mund und beobachtete ihre Hand. Aber diese Hand rührte sich nicht, blieb wie eine leichte Blume unbeeinflußt auf der weißen Tischdecke liegen. Er fühlte, wie sein Gesicht vor Enttäuschung blutleer wurde, und setzte das Glas hin.

»Susannchen!« hörte er Abercrons Stimme neben sich. Fräulein Strauch brannte auf. »Der Herr dort mit dem schwarzen Spitzbart ist Direktor einer Filmproduktionsgesellschaft. Er sucht jemand für eine große Rolle. Gehen Sie zu ihm. Ich erzählte ihm schon von Ihnen.«

»Ach«, sagte sie, »heißen Dank!« Sie verneigte sich fast mit einem Knicks vor ihm. Abercron nahm ohne Umstände ihren Platz ein. »Sie sind Herr Steegen? Frau Blankenhorn hat mir von Ihnen berichtet. Mein Brauner – Sie kennen ihn – hat Stalldrang. Nicht vom Hof runterzubekommen.«

»Ich habe ihn unter der gnädigen Frau gesehen!«

Abercron zischte ein Lachen zwischen den Zähnen hindurch.

»Frau Blankenhorn ist die einzige, die ihn kriegt. Wenigstens, wenn ein andres Pferd mitgeht. Ich will aber nicht immer nur mit Frau Blankenhorn ausreiten, verstehen Sie? Das brauchen Sie ihr aber nicht zu erzählen!«

»Ich bringe das Pferd in Ordnung. Wo steht es?«

»Privatstall meines Freundes Schwarzer.« Er nannte eine Adresse in den Zelten. »Sie können morgen mit der Arbeit anfangen. Ihr Honorar?«

»Hundertfünfzig Mark im Monat.«

»Abgemacht. Wo wollen Sie das Pferd hinhaben?«

»Jeden Morgen um acht bei Beermann.«

»Gut!« Abercron erhob sich. Steegen blieb neben dem leeren Platz zurück. Die Tischordnung war schon völlig aufgelöst. Herr Kaufmann unterhielt sich mit seiner linken Nachbarin. Die Herren gegenüber wanderten im Saal herum, kehrten nur, wenn serviert wurde, für kurze Minuten auf ihre Plätze zurück. Fräulein Strauch stand mit dem Filmdirektor in einer Ecke. Sie hielt den Kopf gesenkt und lächelte von unten zu ihm herauf. Man sah, daß sie für eine Rolle jeden Preis zu zahlen geneigt war. Die Hälfte der Gäste stand in Gruppen herum. »Blümchen« saß aschblond und wunderschön zwischen zwei Herren am oberen Ende der Tafel. Der Perlenschmuck schimmerte weich auf ihrem weißen Hals. Gleich ihr blieb am unteren Ende Dorette ruhig auf ihrem Platz. Wie zwei feindliche Königinnen, die sichgardezboten, wirkten die beiden Frauen.

Steegen sah, daß Dorette kämpfte. War sie deshalb nach Berlin gekommen, um Herrn Abercrons Perlenschmuck zu tragen? Aber es mußte noch etwas anderes dahinter stecken. Wegen des Braunen allein hätte sie ihn nicht hierher bestellt. Oder gab es jene ferne Zeit nicht mehr für sie? War er für sie wirklich nur ein beliebiger Stallmeister geworden, den man für ein widerspenstiges Pferd brauchte?

Er erhob sich, um die Gesellschaft zu verlassen. Herr Abercron saß wieder am Fernsprecher. Rolf Steegen näherte sich der Tür. Morgen früh würde er das Pferd reiten. Hier hatte er nichts mehr zu tun. Er warf einen Blick auf Dorette, die nun mit dem Rücken gegen ihn saß. Aus einem entfernten Salon klang Musik eines Grammophons herüber. Blümchen hob die Tafel auf. Ihr aschblonder Scheitel stieg langsam in die Höhe. In diesem Augenblick stand auch Dorette auf und drehte sich zu Steegen um. Sie hatte gemerkt, daß er fortgehen wollte, und trat auf ihn zu.

»Vitrine!« sagte sie und nannte eine Adresse in der Kurfürstendammgegend. »Ich bin in einer Stunde dort!« Er nickte und wurde blaß vor Glück. »Also reiten Sie den Braunen morgen gut!« rief sie ihm fortgehend zu und reichte ihrem Herrn den Arm. »Ein tüchtiger Reiter!« hörte er sie zu Herrn Schwarzer sagen.

3

Also hatte Dorette nicht vergessen! Steegen bewunderte ihre Geschicklichkeit, ihn ihrem Lebenskreis wieder einzufügen. Sie würden wieder zusammen reiten. Ganz allmählich würde es kommen. Niemandem konnte es auffallen. Selbst Karla nicht, wenn sie aufpaßte. Aber es kam da eine Gefahr von jener Seite! Er fühlte es deutlich.

Er fuhr mit dem Autobus den Kurfürstendamm hinunter. Kurz vor Halensee stieg er aus und ging nach links in eine dunkle Straße hinein. Es war gegen halb zwei Uhr. Das Nachtleben reichte nicht bis hierher. Autodroschken hielten schläfrig an der Ecke. Kaum ein Fußgänger war zu bemerken. Die Häuser wuchsen mit finstern Mauern aus den kleinen Vorgärten auf. Hier wohnten stille, ruhige Leute, und es war seltsam, daß sich eine Nachtbar in dieser Gegend halten konnte.

Sie war fast nicht zu bemerken. Das Licht des Fensters war abgedunkelt, die rotgemalte Aufschrift »Vitrine« kaum zu entziffern. Dieses Lokal war offenbar ein kleines Ladengeschäft mit einigen Hinterräumen gewesen. Steegen trat ein. Im Innern herrschte eine angenehme Dämmerung. Die Lampen aus rotem Schleiflack trugen Schirme von dickem Gelbpapier. Der eigentliche Barraum, der wie ein vergitterter Käfig aussah, schwamm in dunkelrotem Licht. Auf den hohen Schemeln hockten zwei Herren und vier Damen. Hinter dem Büfett goß die Bardame, blond und aufgeschwemmt, die Mixturen zusammen. Hinter ihr in einer Ecke saß eine einfache ältere Frau, offenbar die Inhaberin, hatte eine Brille auf der Nase und war mit einer Handarbeit beschäftigt. An den einzelnen Tischen hatten sich verschiedene Menschen niedergelassen. Die Unterhaltung ging im Flüsterton. Das ganze Lokal machte einen seltsam unwirklichen Eindruck. Hier also verkehrte Dorette!

Rolf Steegen setzte sich in eine leere Ecke. Ein schläfriger Kellner kam angeschlürft. Er war es gewohnt, daß die Gäste hier wenig bestellten. Nur manchmal entwickelte sich am Büfett ein großer Abend, der das Geschäft trug, oder irgendeine