Ursula schwebt vorüber - Walther Harich - E-Book

Ursula schwebt vorüber E-Book

Walther Harich

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Beschreibung

Harichs bekanntester Kriminalroman wurde bereits Ende der Dreißiger Jahre verfilmt. Als der Sägewerksbesitzer Ramin über Nacht verschwindet entdeckt seine Familie, dass er einen hohen Scheck für den Kauf eines Guts ausgestellt hat. Da dieses Gut aber den Besitzer nicht gewechselt hat beginnt Ramins Sohn Claus zu recherchieren. Und dabei entdeckt er auf dem Gut nicht nur die Geliebte seines Vaters, sondern auch dessen Leiche ...

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Seitenzahl: 298

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Ursula schwebt vorüber

Walther Harich

Inhalt:

Ursula schwebt vorüber

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Ursula schwebt vorüber, W. Harich

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849643218

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Cover Design: © Eky Chan - Fotolia.com

Ursula schwebt vorüber

1

Frau Agathe Rambin in Michaelsbrück bei Berlin hatte sich zunächst bei dem Anruf des Agenten gar nichts gedacht. Erst am nächsten Tag, am Donnerstag, da ihr Mann noch nicht zurück war, fiel ihr ein, daß der Güteragent angerufen und sich darüber beklagt hatte, daß Herr Rambin nicht an der verabredeten Stelle gewesen wäre. Den ganzen Tag über hatte sie ein Gefühl von Unruhe, das gegen Abend zunahm. Er wird morgen, am Freitag, kommen, versuchte sie sich zu beruhigen.

Sie ging in Gedanken die Woche durch: Am Montagvormittag war er nach Berlin gefahren. Das war nichts Außergewöhnliches. Der Besitzer des großen Sägewerks fuhr mehrmals in der Woche nach Berlin. Am Nachmittag hatte er etwas von der Besichtigung eines Gutes verlautbaren lassen, das ihm zum Kauf angeboten wäre. Auch das kannte man von ihm. Er kaufte Güter, schlug den Wald nieder, forstete eilig auf und verkaufte. Am Dienstag früh war er dann fortgefahren, und am Mittwoch hatte der Agent, dessen Name Agathe nicht verstand, angerufen. Am Donnerstag abend war Rambin noch immer nicht zurück.

Agathe schlief in der Nacht schlecht. Sie hätte sich noch unruhiger in ihrem Bett gewälzt, wenn sie nicht gefürchtet hätte, ihre Pflegetochter Monika zu stören, die im Nebenzimmer schlief. Sicher war auch Monika schon in Sorge. Von Stefan Rambin war man immer auf Ungewöhnliches gefaßt, obwohl seine Gewohnheiten eigentlich keinen Anlaß dazu boten. Es lag mehr in seinem unruhigen Wesen. Agathe entsann sich vieler Nächte, in denen sie auf ihren Mann gewartet hatte. Seit einiger Zeit war es wie eine Warnung in ihr, daß etwas Unvorhergesehenes eintreten würde. Dabei konnte sie weder einen Grund für ihre Befürchtung angeben, noch verband sich mit ihren Ahnungen irgendeine noch so undeutliche Vorstellung. Im Grunde war es immer so gewesen, seit den ersten Wochen nach ihrer Hochzeit, daß das dumpfe Angstgefühl sie nicht losließ. Manchmal dachte sie an fremde Frauen, die in seinem Leben eine Rolle spielen mochten und von denen sie nichts wußte. Aber auch dafür hatte sie keinen eigentlichen Anhalt.

Am nächsten Morgen, am Freitag, war Stefan Rambin immer noch nicht zurück. Gott sei Dank, daß wenigstens Klaus Rambin, sein Neffe, erwartet wurde. Klaus würde einen Rat geben und etwas veranlassen. Agathe ging in die Mansardenetage hinauf, wo das Stubenmädchen das Gastzimmer für Klaus in Ordnung brachte. Die Gastzimmer waren, obwohl es Juni und ein wunderbar heißer Sommer war, seit Wochen nicht benutzt worden. Die Luft in ihnen war stickig, und in den Ecken hatten sich Spinnweben angesammelt.

Auch das schien ihr auf einmal ein beängstigendes Anzeichen. In den früheren Jahren war das Haus um diese Zeit von Gästen erfüllt gewesen. Immer kamen Geschäftsfreunde Stefan Rambins für einige Tage oder auch Wochen hinaus und schickten Söhne und Töchter. Von dem Tennisplatz unten am Wasser kam das laute Rufen und Lachen. Die beiden Ruderboote waren immer unterwegs. In der Diele mit den großen Geweihen über den Türen stieß man auf Gestalten, die in Bademänteln auf ihre Zimmer huschten und nasse Spuren auf der Treppe hinterließen.

In diesem Jahr waren noch keine Gäste gekommen. Klaus würde der erste und einzige sein. Das Treppenhaus lag in unheimlicher Stille da, nur die Dielen knackten unter Agathes Fuß. Weshalb hatte Stefan niemanden eingeladen? Irgend etwas schien in der Luft zu liegen. Sie suchte sich sein Gesicht zu vergegenwärtigen, ohne eine Änderung feststellen zu können. Die Züge waren frisch und gestrafft wie immer gewesen, die Augen von ihrem leuchtenden Grau. Nur das weiße Haar, dessen Stirnlocke besonders gepflegt wurde, erinnerte an sein Alter. Stefan Rambin war fast fünfzig. Aber das Haar war seit fast zehn Jahren schon weiß. Agathe konnte sich kaum darauf besinnen, daß es einmal dunkel gewesen war.

»Der Herr ist noch immer nicht zurück!« sagte sie zu dem Mädchen und ordnete an, daß der alte Sekretär gegen das Fenster gerückt wurde. Klaus hatte in diesem Zimmer nach dem frühen Tode seiner Eltern einige Knabenjahre verlebt. Er liebte es, das Zimmer genau so wiederzufinden, wenn er, wie alljährlich, einen Teil seines Urlaubs in Michaelsbrück verbrachte.

»Wo ist der Herr denn hin?« fragte das Mädchen.

»Ach, er wollte sich ein Gut ansehen und Mittwochabend zurück sein.«

Sie ging nach unten. Aus dem Herrenzimmer führte eine Tapetentür in den Büroanbau. Dieser Anbau hatte sich nicht umgehen lassen, obwohl das weiße Mauerwerk sich schlecht neben der im norwegischen Stil erbauten Villa ausnahm. Dort war in drei Räumen die kaufmännische Leitung des Sägewerks untergebracht. Agathe wußte schon, daß sie dort nichts erfahren würde. Herr Schulz, der Geschäftsführer, bekümmerte sich nur um das Sägewerk und das damit verbundene Bau- und Zimmereigeschäft. Besonders in Scheunen- und Wasserbauten hatte die Firma einen Ruf. Alles andere erledigte Stefan Rambin selbst an dem Schreibtisch seines Herrenzimmers. Manchmal ließ er sich von Monika helfen. Aber auch für Monika blieben seine geschäftlichen Unternehmungen undurchsichtig.

Herr Schulz, der immer mit der Feder hinter dem Ohr am Fenster saß, schon weil er von dort einen schmalen Streifen der Chaussee überblicken konnte und auf diese Weise durch die vorbeiflitzenden Autos seinen Anteil am Leben hatte, fand es durchaus in Ordnung, daß Herr Rambin in der Welt herumfuhr und seine persönlichen und geschäftlichen Verbindungen pflegte. Das war die unsichtbare Wand, gegen die Agathe überall stieß. Stefan Rambin gehörte in die Welt, und sie, seine Frau, war ein wenig lächerlich, wenn ihre Gedanken ihn verfolgten. Sie las es auch jetzt in dem Lächeln von Herrn Schulz: Mein Gott, Stefan Rambin, dieser großartige und jugendlich gespannte Mann, und sie, die schwerfällig gewordene Matrone! Mit einem leisen Seufzen ging sie zurück. Auf der Veranda war der Frühstückstisch gedeckt. Monika kam gerade vom Morgenritt zurück und warf das blonde Haar von der erhitzten Stirn nach hinten. Ihr Blut klopfte in den Adern mit der Spannung ihrer neunzehn Jahre. Das Gesicht war von der raschen Bewegung gerötet. Sie legte die Gerte fort und goß sich noch im Stehen die Tasse ein. »Papa bleibt doch oft weg«, sagte sie. Sie nannte ihn »Papa« und Agathe »Mutti«. Ihr richtiger Vater war der Bruder Agathes, Geheimrat Bandler, aber sie lebte schon seit ihrem vierten Jahr bei Rambins und war völlig als Tochter angenommen worden.

»Nein«, sagte Agathe, »eigentlich hat Papa immer richtig angegeben, wann er zurückkommt.«

»Du weißt also gar nicht, wo das Gut liegt und wo Papa hingefahren ist?« Monika fand das bezeichnend für die Ehe ihrer Pflegeeltern. Sie liebte »Papa«, diesen gutaussehenden Mann mit dem jungen Gesicht und dem weißen Haar. Monika dachte manchmal, daß »Mutti« nicht die richtige Frau für ihn sei. Agathe war still und vornehm und sah gut aus, aber es war etwas Lebloses an ihr. Stefan Rambin aber sprühte von Leben.

Der Kies der Auffahrt lag grell von der Morgensonne beschienen. Die Hecke deckte gegen Sicht von der Straße. Man hörte es nur an dem Poltern der Wagen oder an auffliegenden Worten, wenn draußen jemand vorüberkam. Das Haus mit dem braunen Holzbeschlag lag ein wenig erhöht auf einem kleinen Hügel. Hinten fiel der Garten zu dem Holzplatz und der Schneidemühle ab. Der große Havelsee streckte einen breiten Zipfel gegen das Sägewerk vor. Hier war das Wasser mit braunen Stämmen bedeckt, die sich wie atmend leise auf- und abbewegten, besonders wenn draußen ein Dampfer vorüberfuhr und Kielwellen aussandte. Es roch weit und breit nach Holz. Immer lag das Brummen der großen Kreissäge in der Luft. Man horchte gar nicht mehr hin, wenn die Stämme unter dem Stahl aufschrien.

Alle Menschen kannten das Sägewerk von Michaelsbrück, das immer noch, fast als einziges in der Mark, in voller Tätigkeit war. Stefan Rambin wußte die Aufträge hereinzuholen. Darin lag seine Besonderheit. Wo er auch hinkam, spielte er eine Rolle. In Michaelsbrück war er in allen Konferenzen und Ausschüssen anzutreffen, aber man wußte auch, daß seine eigentlichen Beziehungen sich nach Berlin erstreckten. Dort saß er im Aufsichtsrat der Gewerbe-Vereinsbank, die er mitbegründet hatte. Man sah Stefan Rambin in Michaelsbrück kaum anders, als daß er mit dem breiten grauen Schlapphut und der dickgefüllten Aktenmappe unter dem Arm die Bahnhofstraße entlangging, um im letzten Augenblick durch die Sperre zu eilen und in den Vorortzug nach Berlin zu springen. Wenn die Michaelsbrücker in den Berliner Zug gerieten, saß immer in einer Ecke des Abteils zweiter Klasse Stefan Rambin hinter seiner Zeitung.

»Du mußt dich umziehen, Kind«, erinnerte Agathe. »Klaus wird in einer halben Stunde hier sein.«

»Ach, Klaus!« sagte Monika und zog die Schultern hoch. Es war ein offenes Geheimnis, daß sie und Klaus sich nicht leiden konnten. »Hast du wenigstens den Namen des Agenten behalten, der am Mittwoch anrief?«

Agathe dachte nach. »Eben nicht. Ich glaube, er nannte einen Namen, aber ich habe ihn nicht verstanden. Ich wußte zunächst überhaupt nicht, worum es sich handelte.«

»Was sagte der Mann denn, Mutti?««

»Er sagte, daß er sich mit Papa am Schlesischen Bahnhof verabredet hätte, aber Papa wäre nicht gekommen. Ich konnte nur sagen, daß Papa fortgefahren sei. Ich dachte auch daran, daß Papa seine Gründe haben mochte, den Mann nicht zu treffen. Wir wollen das mit Klaus besprechen, Kind. Er muß ja bald hier sein.«

Monika nickte. Klaus war klug und zuverlässig. Sie sah besorgt zu Agathe hinüber. Eigentlich fand sie nicht, daß ein besonderer Grund zur Aufregung vorhanden war.

Währenddes stieg Klaus Rambin mit seiner Handtasche auf dem kleinen Bahnsteig aus. Der Bahnhof von Michaelsbrück lag hoch über der Schlucht, die der kleine Fluß in die Sandberge gerissen hatte. Man sah von hier auf den Ort hinunter und über den weiten See, der auf der anderen Seite von blauen Wäldern umgrenzt war. Hinter den roten Dächern lag die kleine Bucht, auf der die nassen braunen Baumstämme wie eine dicke Haut lagen und in der Sonne glänzten. Zwischen Büschen schimmerte sogar das dunkle Schindeldach der Villa Rambin herüber.

Jedesmal, wenn Klaus hier ankam, blieb er einige Sekunden stehen und warf einen Blick über die weite Landschaft, ehe er die Treppen hinunter zur Sperre ging und die Bahnhofstraße entlangschritt. Hier kannte er jedes Haus. Immer hielt an der Ecke vor der Konditorei der große gelbe Autobus, der über Tegel nach Berlin hineinging. Auch in der Berliner Straße, die den Ort durchquerte und in der die wenigen Läden lagen, erkannte man noch die alten Bauernhöfe, auch wenn die Scheunen hinten zu Lagerräumen oder Garagen umgebaut waren. Hinter »Wendlands Warenhaus« hörte das Pflaster auf, und die Häuser wurden richtige Bauernhäuser. Die breite Straße teilte sich und lief um die alte Kirche herum, deren hölzerner Turm aus Fliederbüschen aufstieg. Gleich dahinter fing mit einer breiten Dampferanlegestelle der See an. Segelboote und Kähne lagen längs des Ufers, hoben und senkten sich unter dem Atem des Wasserst

Hinter dem Kirchhof mit der schwarzgestrichenen Leichenhalle bog Klaus vom See ab und ging quer durch den Wald auf die Bucht zu, an der das Sägewerk ein wenig abseits des Ortes lag. Hier lief, den Ort umgehend, die Berliner Chaussee vorbei. Immer kamen einige Autos angeprescht, gaben vor dem Querweg Signal und hatten kleine Staubwolken unter sich. Ein wenig tiefer als der Damm lagen die kleinen Häuschen der Beamten und Angestellten. Klaus Rambin kannte sie alle. Auch ein Laden lag dort, in dem es alles zu kaufen gab, von Zigaretten und Likören bis zu Knöpfen und Fitzelbändern. Gleich hinter dem Laden begann die Hecke des Rambinschen Gartens. Man mußte durch die Toreinfahrt hindurch, die zu dem Sägewerk führte. Hier unterlag man schon den kontrollierenden Blicken des Herrn Schulz. Nach rechts bog die Auffahrt zu der Villa ab. Ein rundes Rosenbeet lag vor der Veranda. Klaus Rambin blieb stehen und roch an den Blumen. Die Rasenflächen des Gartens verliefen sich in den Baumgruppen. Ein selbsttätiger Sprenger warf rundum Wasserbüschel, in denen alle Regenbogenfarben zitterten. Vom Holzplatz her kamen Rufe der Männer und das Stöhnen der Baumstämme unter der Säge. Klaus Rambin atmete den kräftigen Holzgeruch ein. Dieser Platz mit seinen vertrauten Geräuschen war immer wieder so schön, wie er ihn in der Erinnerung bewahrte.

»Da bist du!« rief Monika von der Veranda her. Agathe hatte ihn vom Fenster aus beobachtet und kam nun auch heraus. Klaus sah in ihr bleiches und übermüdetes Gesicht. »Was habt ihr denn?« fragte er erschrocken und stellte die Handtasche auf die Bank.

»Papa ist seit Dienstag fort und noch immer nicht zurück.«

»Onkel Stefan? Wo ist er denn hingefahren?«

Monika erzählte. Agathes Augen hingen fragend an seinem Gesicht. Eigentlich erwartete sie, daß er eine beruhigende und einleuchtende Erklärung geben würde. Aber sein Gesicht wurde ernster, je länger Monika sprach.

»Hat er wirklich von einem Gut gesprochen, das er kaufen wollte?« fragte er. »Dann wird er Geld mitgenommen haben. Man pflegt sich zu solchen Geschäften einen beglaubigten Scheck einzustecken.«

Die beiden Frauen sahen sich erschrocken an. Seine Worte enthüllten plötzlich eine furchtbare Möglichkeit. In dem Augenblick knatterte draußen mit lautem Krach ein Lieferauto vorbei. Es war, als wollte das knallende Geräusch die Situation unterstreichen. Sie zuckten unwillkürlich zusammen. Auf einmal war die Atmosphäre mit Angst geladen. »Daß ich das auch vergessen konnte!« rief Agathe, und ihre Stimme zitterte. »Natürlich hat er Geld mitgehabt, eine große Summe!«

»Mit welcher Bank arbeitet er denn?«

Sie sahen fragend auf Monika, die Stefan Rambin manchmal geschäftlich half. »Mit der Gewerbe-Vereinsbank meistens«, sagte sie, »aber manchmal auch mit anderen Banken. Soll ich Elm anfragen?«

Elm war Abteilungsvorsteher bei der Berliner Gewerbe-Vereinsbank und Stefan Rambins geschäftlicher Vertrauter. Er kam manchmal zu Besprechungen nach Michaelsbrück hinaus. Klaus kannte ihn auch vom Sportplatz her. Sie waren in der gleichen Vereinigung. »Ja, rufe Elm an. Er wird uns etwas sagen können. Vielleicht kennt er sogar diesen Agenten.«

Sie gingen hinein. Monika ließ sich mit Berlin verbinden.

2

Sie standen in Stefan Rambins Arbeitszimmer. Die Mitte des Raumes nahm der mächtige Schreibtisch ein, auf dem stets eine musterhafte Ordnung herrschte. Aus dem Winkel blickte ernst eine weiße Goethebüste. Monika hatte sich neben den Apparat gestellt, um zur Stelle zu sein. Alle drei wußten, daß die Ereignisse jetzt abrollen würden. Was eben noch wie eine unbestimmte Bangigkeit drückte, hatte durch Klaus' Worte drohende Gestalt angenommen. Agathes Gesicht schimmerte bleich in dem Halbdunkel des Raums, dessen Fenstervorhänge seit drei Tagen zugezogen waren.

Zwei Minuten später schrillte die Glocke des Fernsprechers. Die Bank meldete sich. Monika fragte nach Herrn Elm. Elm war in wenigen Sekunden zur Stelle.

»Herr Elm? Hören Sie, Herr Elm, Papa ist seit Dienstag fort. Er wollte ein Gut besichtigen. Können Sie mir sagen, ob er Geld mitgenommen hat?«

Die andern warteten schweigend. »So!« rief Monika einige Male am Telefon und wiederholte: »So! – Also Papa hat einen beglaubigten Scheck über sechzigtausend Mark mitgenommen? Ist dieser Scheck schon vorgekommen?« Wieder mußten sie eine halbe Minute warten. Elm erkundigte sich offenbar. Endlich merkten sie an Monikas Gesicht, daß sie wieder hörte. »So!« wiederholte sie. »Der Scheck ist also vorgelegt worden und ausgezahlt. Das ist ja eine schöne Geschichte!« Sie sah sich hilflos um. Klaus nahm ihr den Hörer aus der Hand.

»Hören Sie, Elm. Hier ist Klaus Rambin. Sie müssen gleich einmal feststellen, wer den Scheck vorgelegt und das Geld in Empfang genommen hat.«

»Da muß ich mich erst erkundigen«, sagte Elm auf der andern Seite. Es dauerte diesmal ewige Minuten, bis er zurückkam. Der Scheck ist gestern von Gutsinspektor Kurt Arndt aus Lengenfeld vorgelegt worden. Derselbe Mann hat das Geld ohne weiteres ausgezahlt bekommen.«

»Gutsinspektor Kurt Arndt aus Lengenfeld? Wer ist denn das?«

»Keine Ahnung!«

»Und wo liegt Lengenfeld?«

»Weiß ich nicht.«

»Und da zahlt Ihre Bank einem wildfremden Menschen sechzigtausend Mark aus?«

»Einen Augenblick.« Wieder mußte sich Elm erst erkundigen. Nach einer halben Minute kam er zurück. »Herr Rambin hat selbst, als er sich den Scheck beglaubigen ließ, gesagt, daß das Geld an einem der nächsten Tage von einem Gutsbesitzer abgeholt werden würde. Auf diese Weise hat man das Geld natürlich ausgezahlt.«

»Die Sache gefällt mir nicht«, sagte Klaus. »Ihnen auch nicht? Und auf wessen Namen ist der Scheck ausgestellt?«

»Auf den Güteragenten Eduard Frisch in Berlin SW 61.«

»Dann muß man also diesen Eduard Frisch anrufen können. Können Sie mir seine Nummer geben?«

Es dauerte wieder eine Weile, ehe Elm antwortete. »Warten Sie einen Augenblick!« rief er. »Es wird nachgesehen. – So! Sind Sie noch da? Wir finden keinen Güteragenten Frisch, weder im Fernsprechverzeichnis, noch im Adreßbuch.«

»Das ist ja eine tolle Geschichte!« Er hängte ab und drehte sich zu den beiden Frauen um. »Habt ihr gehört?«

Monika notierte die Namen auf dem Schreibblock. »Gutsinspektor Kurt Arndt aus Lengenfeld und Eduard Frisch in Berlin SW 61.« Sie sahen sich verwirrt in dem Raum um. Klaus schlug den großen Handatlas auf, der auf dem runden Ecktisch lag, und suchte in dem Verzeichnis. »Lengenfeld 17/18 E 3«, fand er. »Das ist nicht weit von hier.« Er wollte die Karte der Provinz Brandenburg aufschlagen. Der schwere Band öffnete sich sofort an der richtigen Stelle. »Was ist denn das?« In dem Buch lag noch eine besondere Karte.

»Ah«, rief Klaus, »ein Meßtischblatt 1:25 000, hier haben wir es! Da liegt Lengenfeld, nicht weit von Oranienburg. Seht einmal an!«

Sie beugten sich mit ihm über das Blatt. Es zeigte eine ländliche Gegend. Ein Weg, der von einer Bahnstation her durch einen großen Wald führte, war mit Bleistift bezeichnet. »Seht her, hier hat jemand den Weg nachgezogen. Er geht durch den Wald, dann liegt hier das freie Feld, und dort Dorf und Gut Lengenfeld. Und da geht es nach Bräsikow ab. Also Lengenfeld. Wir müßten Gut Lengenfeld anrufen.«

Monika sah in dem Verzeichnis nach und meldete das Gespräch an. Die Minuten drückten. Diesmal dauerte die Verbindung eine Viertelstunde. Sie sprachen kaum miteinander. Agathe hatte sich in den Sessel zurückgelehnt und die Augen geschlossen. »Klaus hätte gestern kommen müssen!« dachte Monika und sah ihm zu, wie er das Kartenblatt studierte. Endlich meldete sich der Apparat. Monika reichte Klaus den Hörer. Die Frauen hörten gespannt zu. Nach seinen Worten konnten sie ungefähr dem Gang der Unterhaltung folgen. Das Gespräch dauerte lange. Immer wieder wollte Klaus noch etwas wissen, aber schließlich hängte er ab und sah die Frauen an. Er war bleicher geworden.

»Merkwürdig!« sagte er. »Habt ihr gehört? Herr von Berlepsch-Lengenfeld hat in der Tat einen Inspektor Kurt Arndt. Seines Wissens hat derselbe aber seit Sonntag den Gutsbezirk nicht verlassen. Und das Gut ist auch nicht zum Verkauf gestellt. Herr von Berlepsch weiß von keinem Agenten, den er beauftragt hätte. Ein Mann namens Eduard Frisch ist ihm unbekannt, und auch den Namen Rambin kennt er nicht. Was nun?«

Sie schwiegen. Klaus ging mit großen Schritten auf und ab. Endlich sprach Monika das Wort aus, vor dem sie alle Angst hatten: »Wir müssen die Polizei anrufen!« Ihre Stimme lag schwer in der Luft und beschwor die gräßlichen Bilder von Untersuchungen, Verhören, Verhaftungen.

»Ich möchte erst selbst nach Lengenfeld fahren«, sagte Klaus. Er maß die Strecke auf der Karte ab. »In anderthalb Stunden könnte man im Auto dort sein.« Rambins besaßen kein Auto. Michaelsbrück lag bequem an der Bahn. Klaus pflegte seinem Onkel eine besondere Fertigkeit darin nachzusagen, im Bedarfsfalle die Autos seiner Bekannten und der Dienststellen, mit denen er arbeitete, zu benutzen.

Agathe erhob sich schwer von ihrem Sessel. »Ja«, sagte sie, »wir wollen nach Lengenfeld fahren. Du könntest ein Auto bestellen, Monika.«

Monika suchte in dem Verzeichnis nach einem Mietauto und bestellte es. »Ich möchte mit«, bat sie, aber Klaus widersprach: »Einer muß hierbleiben. Man weiß doch jetzt gar nichts. Am liebsten würde ich allein fahren.«

Agathe wollte in jedem Fall mitfahren. »Ich würde es nicht aushalten, hier zu warten.« Ihr Gesicht war völlig blutleer. Die beiden sahen sie besorgt an.

»Und ich soll hierbleiben?« fragte Monika beklommen.

Klaus nickte. »Du könntest auf dem Schreibtisch nachsehen, ob sich nicht irgendeine Notiz findet. Irgendwo muß doch die Adresse dieses Eduard Frisch aufnotiert sein. Aber wahrscheinlich hat er einen falschen Namen angegeben. Mach auch all diese Briefe auf und siehe sie durch.« Auf dem Tisch lag die Post von drei Tagen.

»Die Post aufmachen?« Monika schauderte zurück. Das war, als wenn Papa schon tot wäre.

»Man kann vielleicht einen Hinweis darin finden.«

»Du glaubst, daß dieser Eduard Frisch es getan hat?« fragte Agathe. Die Worte blieben drohend in der Luft hängen: ›es getan hat!‹

»Man muß es ins Auge fassen«, erklärte Klaus. »Wahrscheinlich ist dieser Mann kein richtiger Agent. Das Gut Lengenfeld steht ja gar nicht zum Verkauf. Dieses angebotene Gut war nur ein Vorwand, um Onkel Stefan mit einer größeren Summe in eine entlegene Gegend zu locken.«

Agathes Augen hingen an seinem Mund. Seine Ausführungen waren von einer furchtbaren Wahrscheinlichkeit. Monika starrte noch immer auf die Karte, die unheildrohend in dem Atlas lag. »Da liegt noch ein Gut Bräsikow«, sagte sie. »Vielleicht ist es das?«

»Da liegen noch viele Güter!«

Draußen gab das bestellte Auto Signal.

Sie gingen in die Diele und machten sich zu der Fahrt fertig. »Haben Sie eine Wegekarte?« fragte Klaus den Schofför. »Wir müssen über Oranienburg fahren.« Der Mann wußte Bescheid, er kannte sogar das Gut Bräsikow, das in der Nähe von Lengenfeld lag. Sie stiegen ein, der Motor sprang an.

Monika sah ihnen von der Veranda nach, lief durch den Vorgarten und bog die Zweige der Hecke auseinander. Als der Wagen hinter der Biegung verschwunden war, kam eine furchtbare Bangigkeit über sie. Sie ging langsam zurück, besorgt, daß die Dienstboten sie beobachten könnten, berührte die Rosensträucher mit den Händen, als ob sie sich dadurch beruhigen könnte, und ging um das Haus herum. Irgend etwas ist geschehen, fühlte sie. Plötzlich sauste es aus der Luft hernieder, etwas Unheimliches, Grausiges, etwas, wovon man in Büchern las. Und nun brach es in ihr Leben ein, in dieses Haus, in dieses Sägewerk, in dem die Kreissäge schnarrte und die Maschinen ratterten und die Männer auf dem Holzhof ihr »Hoi-hupp« riefen.

Ganz langsam umging sie das Haus, schaute jedes Fenster an, sah in den Garten, wo hinten der Gärtner die Geranien aufband und zwei Frauen die Erdbeerbeete jäteten. Ihr war, als müßte sie den Ausgangspunkt der furchtbaren Geschehnisse irgendwo entdecken können. Sie stand unter dem breiten Schiebefenster des Eßzimmers und sah über den Holzplatz und den See. Ihre Augen suchten das Bootshaus, das ihr irgendwie mit dem Glück ihres Lebens verbunden schien. Sie drehte sich langsam um und ging in den Stall. Die beiden Gespanne waren draußen, nur in der Box stand ihr Schimmel, den »Papa« ihr vor einem Jahr geschenkt hatte. Sie ging zu dem Tier hinein, streichelte die sammetweiche Haut über der Schnauze und drückte ihre Lippen darauf, fühlte das Klopfen des Blutes in den Adern. Aber auch das gab keine Beruhigung. Immer fühlte sie das Furchtbare hinter sich.

Sie ging hinaus und in das Haus zurück. Auf dem Schreibtisch lag die Post, die sie durchsehen sollte. Sie wagte sich nicht auf den Schreibtischsessel zu setzen, sondern rückte einen gewöhnlichen Stuhl herbei. Sie suchte in den Kalendernotizen, ohne etwas zu finden, und dann öffnete sie beklommen die Briefe. Aber auch ihnen war nichts zu entnehmen. Eine Bankabrechnung war dabei, die sie nicht verstand. Sie besah sich die Fotografien, die aufgestellt waren. Da war Mutti, die eigentlich gar nicht ihre Mutter war, und sie selbst im Tenniskleid mit dem Schläger in der Hand. Tom, der Windhund, saß vor ihr und blickte zu ihr empor. Seit vierzehn Tagen war Tom tot, und man hatte noch keinen neuen Hund gekauft. Vielleicht hätte man längst einen neuen Hund besorgen sollen. Es fehlte da ein Wächter, und nun war gleich dieses Furchtbare eingetreten.

Sie schlenderte in den Salon hinüber, wo der Flügel stand, und schlug einige Akkorde an. Die Töne zitterten in dem Raum. Sie horchte ihnen nach. Nun würde das alles hier aufhören, fühlte sie. Mit Stefan Rambin war Michaelsbrück für sie verloren. Klaus würde herausziehen, da das Sägewerk nicht ohne Herrn bleiben durfte. Klaus, mit dem sie schlecht stand. Sie saß vor dem Flügel und ließ den Kopf sinken.

Die Köchin kam und fragte, was mit dem Mittagessen werden sollte. Monika wollte nichts essen. »Später, wenn die andern zurück sind!« Das Mädchen sah sie verwundert an. »Was ist eigentlich los?« Monika antwortete nicht. Plötzlich gab sie sich einen Ruck und ging ans Telefon. Seit einer Viertelstunde wußte sie, daß sie es tun würde. Nur nicht weiter in diesen Räumen warten! »Die Polizei, bitte!« rief sie in den Apparat hinein. Das Fräulein verband sie richtig. Eine Männerstimme antwortete. »Hier Rambin, Sägewerk Stefan Rambin. Es ist etwas geschehen. Könnte vielleicht jemand herauskommen?« Sie ärgerte sich über ihre unbeholfene Ausdrucksweise. Klaus hätte anders gesprochen.

»Was ist geschehen, ein Diebstahl oder Einbruch?« fragte die Stimme zurück.

»Nein, ich möchte Ihnen das am Telefon nicht sagen.«

»Aber Sie müssen doch etwas angeben!«

»Jemand ist seit drei Tagen verschwunden. Es muß ein Detektiv kommen, oder wer das bei Ihnen macht.«

»Der Kommissar wird kommen!« sagte die Stimme auf der anderen Seite.

Sie hängte ab und ging unruhig durch die Zimmer, ein wenig befreit, daß nun wenigstens etwas veranlaßt war. Sie trat an den Bücherschrank und las mit halblauter Stimme die Büchertitel. Ich möchte lesen, dachte sie, aber sie wußte, daß sie keine Ruhe haben würde. In zehn Minuten mußte der Kommissar kommen, oder wer es war. Sie besann sich auf Detektivgeschichten, die sie gelesen hatte. Gleich also würde ein Mann hereinkommen, würde einen Blick über das Zimmer und über den Schreibtisch werfen und sofort irgend etwas Kluges und Aufschlußreiches sagen.

Plötzlich ging die Klingel an der Haustür. Das konnte unmöglich schon der Mann von der Polizei sein. Sie versuchte, von der Seite durch das Fenster in die Veranda zu sehen. Eine Dame stand draußen. Monika sah ein beigefarbenes Straßenkleid und einen roten Strohhut auf dunklem Haar. Wer ist das? dachte sie nochmals und ging die Reihe der ihr bekannten Damen durch. Irgendwer aus Berlin? Das Mädchen kam und meldete eine Dame. Den Namen hätte sie nicht verstanden.

»Will sie mich sprechen?« fragte Monika.

»Herrn Rambin oder die gnädige Frau. Es wäre ihr gleich«, sagte das Mädchen.

»Dann bitte.«

»In den Salon?«

»Ja, in den Salon.«

Monika ging an dem Spiegel vorüber, warf einen Blick hinein und wartete, bis drinnen die Tür ging. Dann trat sie ein. Ist die schön! war ihr erster Gedanke. Da stand eine große schlanke Gestalt. Das Gesicht ein wenig stolz und ein wenig lieblich. Monika wußte nicht, ob es eine Frau oder ein junges Mädchen war, und wunderte sich, daß sie das nicht entscheiden konnte. Die junge Dame trat mit einem etwas verlegenen Lächeln auf sie zu und nannte einen Namen, einen adligen Namen, den Monika nicht verstand.

»Bitte«, sagte sie und lud die Dame durch eine Handbewegung ein, Platz zu nehmen. »Meine Eltern sind leider beide nicht da.«

»Das tut mir leid«, sagte die Dame, »übrigens wollte ich nichts Besonderes. Ich hatte hier zufällig in Michaelsbrück zu tun und kam an dem Haus vorüber. Ich kenne nämlich Ihren Herrn Vater von Berlin her. Ich hätte ihm gern guten Tag gesagt.«

»Papa ist für einige Tage verreist, und Mutter ist gerade mit dem Auto weggefahren. Sie wird am Nachmittag zurückkommen. Darf ich etwas ausrichten?«

»Nein, danke. Herr Rambin ist also verreist?« Lag ein besonderer Klang in dieser Frage oder waren Monikas Nerven nur überreizt? Sie hörte etwas wie gellenden Hohn heraus. Aber da saß eine gut angezogene Dame mit höflichem Lächeln ihr gegenüber. »Dann grüßen Sie, bitte.«

»Verzeihen Sie, ich habe Ihren Namen nicht verstanden.«

»Ursula von Tweel.« Die Dame stand auf und reichte Monika die Hand.

Monika brachte sie bis zur Veraada. Vor der Tür stand der Kommissar und wollte gerade den Klingelknopf drücken. Einen Augenblick durchfuhr sie der Gedanke, die fremde Dame zurückzuhalten und vernehmen zu lassen, aber sie schämte sich, grüßte und ließ den Kommissar eintreten. Die Dame ging langsam den Weg hinunter zur Chaussee. Monika sah ihr nach. Während sie hineingingen, fing sie an, zu erzählen.

3

Das Auto hatte schon Oranienburg hinter sich. Agathe sprach kein Wort. Ihre Augen starrten auf den Rücken des Schofförs, der unverändert blieb. Nur in den Kurven krümmten sich die Falten seiner Windjacke ein wenig anders. Auch Klaus Rambin hatte wenig Lust zu sprechen. Erst in Lengenfeld würde sich ein Zipfel des unheimlichen Rätsels lüften.

Unendlich dehnten sich die Wälder. Gut eine halbe Stunde fuhren sie zwischen dürren Kiefern dahin. Der Blick verlor sich im Dunkel der unzähligen Stämme, die vorüberkreiselten. In kleinen Lichtungen lagen dürftige Dörfer. Gelbe Roggenfelder kamen von den Hängen der welligen Hügel angeschwommen. Unermeßlich fern schien dieses Land von allen Städten zu liegen. Einmal fuhren sie an einem See vorüber, dessen Schilfufer, mit braunen Erlen bewachsen, sich an dem Damm des Weges verlor. Wie sollte man hier die Spuren eines Menschen auffinden, der verschwunden war? Irgendwo im Schilf mochte er liegen oder auf dem Grund eines dieser vielen Seen, die die Landkarte als blaue Flecken zeigte, oder in dem dichten Gestrüpp, das aus tiefen Gründen aufquoll und sich gegen die Chaussee bauschte.

Klaus Rambin schloß die Augen. Er konnte das Andrängen dieser Landschaft nicht aushalten. Überall sah er Verstecke, Hinterhalte, heimliche Pfade. Schnurgerade Schneisen und verschwiegene Wege liefen von der Chaussee ab in den Wald hinein. Genau solch ein Weg war auf dem Kartenblatt, das sie in dem Atlas gefunden hatten, mit Bleistift nachgezogen worden. Vielleicht lag Stefan Rambins Leiche neben einen solchen Weg im Dickicht, überall konnte es sein. Überall liefen diese Wege ab, in denen sich der Blick verlor. Noch immer ragte der unbewegliche Rücken des Schofförs vor ihnen auf, wie eine Gebirgswand, die sich langsam vor ihnen herschob.

Als er die Augen geschlossen hatte, wurden seine Gedanken ruhiger und begannen um Stefan Rambin zu kreisen. Stefan Rambin war fort! Auf einmal begriff er die Tatsache: Stefan Rambin war fort und würde nie wiederkehren!

Er ertappte sich dabei, daß es fast wie ein Triumph in ihm aufklang. Er suchte das Gefühl zu dämpfen, warf einen verstohlenen Blick zu Agathe hinüber, die noch immer ohne Laut dasaß und vor sich hinstarrte. Plötzlich wunderte er sich, daß kein mißtrauischer Gedanke von dieser Frau zu ihm hinüberschlug. Hatte man so völlig vergessen können, was zwischen ihm und Stefan Rambin gespielt hatte? Seine frühe Knabenauflehnung gegen diesen Mann, den alle anderen vergötterten? Ein verstecktes Lächeln flog um seinen Mund. Wie weit war er heute entfernt von dem Haß, der seine Knabenjahre erfüllt hatte. Wirklich, er haßte ihn nicht mehr. Er hatte seinen Weg selbst gefunden. Das Geld, das Stefan Rambin ihm zum Studium vorgeschossen und das er widerwillig angenommen hatte, war zum größten Teil mit Zinsen zurückgezahlt worden, und mit der Schuldsumme hatte sich seine Abneigung gegen den Geber verringert. Und dennoch wollte das heimliche Frohlocken in ihm nicht zur Ruhe kommen.

Wenn Klaus an Stefan Rambin dachte, dann rollte sein ganzes Leben vor ihm ab. Kein Mensch hatte tiefer auf ihn eingewirkt. Die Gestalten der Eltern verloren sich im Nebel der Kindheit. Aber dann tauchte Stefan Rambins Gestalt bestimmend auf, der Mann mit den leuchtend grauen Augen. Damals hatte er nicht gewußt, aus welchen Gründen seine Abneigung gegen den Erfolgssicheren aufstieg, der keinen Widerspruch vertragen konnte. Vielleicht waren sie im tiefsten Grunde einander zu ähnlich. Je inniger der Knabe mit Michaelsbrück, dem Sägewerk und dem See, verwuchs, desto heftiger war seine Abneigung gegen den Beherrscher dieser Welt geworden, bis er schließlich in knabenhafter Wut den Stein gegen ihn geschleudert hatte, von dem die Narbe noch heute auf der Stirn des Getroffenen sichtbar geblieben war. Damals wurde Klaus aus dem Hause entfernt und nach Berlin in Pension gegeben.

Nie wieder hatte sich ein ähnlicher Wutausbruch bei ihm gezeigt. Es schien, als wäre mit seiner Entfernung von Michaelsbrück seinem Trotz die Nahrung entzogen worden. Ohne besondere Zwischenfälle absolvierte er das Gymnasium und die Universität. Nach dem juristischen Doktor war er in ein Handelshaus eingetreten, hatte durch außergewöhnliche Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit das Vertrauen seiner Vorgesetzten erworben und war in kurzer Zeit trotz seiner erst siebenundzwanzig Jahre zum juristischen Syndikus der Firma aufgestiegen. Auch Stefan Rambin mußte seine Fähigkeiten anerkennen. Er tat das in der geräuschvollen Art, mit der er alles anerkannte, was im Begriff stand, sich durchzusetzen.

Nur Klaus Rambin selber konnte beurteilen, wie stark sein Wesen durch Onkel Stefan bestimmt war. Äußerlich waren die beiden völlig verschieden. Stefan Rambin war hoch und schlank gewachsen, Klaus mittelgroß und eher breit. Auf den ersten Blick schien es, als wenn der Onkel der geistiger und komplizierter angelegte Mensch wäre, und nur der schärfere Beobachter erkannte in den unscheinbaren Zügen des Neffen den ernsten und problematischen Charakter. Der glänzenden Repräsentation, wie Stefan Rambin sie liebte, ging Klaus aus dem Wege. Er las viel und verbrachte seine freie Zeit größtenteils auf dem Sportplatz, der in der Nähe seiner Wohnung in Eichkamp lag. Aus einem fast schüchternen und keineswegs robusten Knaben hatte er sich allmählich zu einem selbstbewußten tüchtigen Sportler entwickelt. Er liebte die Einsamkeit und besaß kaum Freunde, eher Sportgenossen, die an ihm hingen und zu ihm aufsahen. Nur er selber wußte, daß diese Lebenshaltung aus einem bewußten Gegensatz zu Stefan Rambin hervorgegangen war. Ohne das Beispiel des Onkels wäre er vielleicht ganz anders und in vielem ihm ähnlicher geworden.

Aber auch so fand er bei sich selber immer noch genügend Ähnlichkeiten zwischen sich und Stefan Rambin. Von dem inneren Vergleich mit dem Onkel schien er nicht loskommen zu können. Wenn er in einer Konferenz aufstand, um seine Meinung zu vertreten, hörte er plötzlich Stefan Rambin aus sich sprechen, und manchmal stellte er sogar verwundert Übereinstimmungen ihrer Handschriften fest. Vielleicht hatten sie sogar die gleiche Art, die Menschen unter ihren Willen zu zwingen. Nur erreichte der Ältere alles mühelos durch bestrickende Liebenswürdigkeit, während es Klaus darin schwerer hatte. Klaus litt oft unter der Vorstellung, daß er Stefan Rambin vielleicht nur beneidete, und gerade in den letzten Wochen war aus einem ganz bestimmten Anlaß dieses Mißtrauen gegen sich selbst von neuem aufgetaucht.

Aber es war nicht nur der Gegensatz zwischen ihnen, über den Klaus nachdenken mußte, während er neben Agathe in dem Auto saß. Seit Wochen hatte er das Gefühl einer Krise, die sein ganzes Leben verwandeln mußte. Vielleicht hing auch das mit seiner letzten Begegnung mit Stefan Rambin in Berlin zusammen. Wochen voll innerer Unruhe lagen hinter ihm. Den ersten Teil seines Urlaubs hatte er, allen Menschen ausweichend, auf dem Sportgelände oder auf langen Wanderungen verbracht. Selbst Ellen Bandler, seiner Freundin, war er aus dem Wege gegangen.