Der Bau des epischen Werks - Alfred Döblin - E-Book

Der Bau des epischen Werks E-Book

Alfred Döblin

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Beschreibung

Mit einem Nachwort von Erich Kleinschmidt. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk. Ob er gegen den Futurismus oder gegen die Psychologie des Romans polemisiert, ob er mehr »Tatsachenphantasie« oder größere politische Verantwortung fordert – stets ist Döblin auch auf dem Feld der ästhetisch-poetologischen Reflexion ein radikal gegenwärtiger Autor, der sich aus der Dynamik der eigenen literarischen Praxis heraus einmischt und sich bei keiner These beruhigen kann. Diesem unorthodoxen, engagierten Grundzug seiner Essays verdankt sich ihre Lebendigkeit bis heute, und ihre produktive Unruhe macht sie zu wichtigen Impulsgebern auch für gegenwärtiges Nachdenken über Literatur und Kunst.

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Seitenzahl: 64

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Alfred Döblin

Der Bau des epischen Werks

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ob er gegen den Futurismus oder gegen die Psychologie des Romans polemisiert, ob er mehr »Tatsachenphantasie« oder größere politische Verantwortung fordert – stets ist Döblin auch auf dem Feld der ästhetisch-poetologischen Reflexion ein radikal gegenwärtiger Autor, der sich aus der Dynamik der eigenen literarischen Praxis heraus einmischt und sich bei keiner These beruhigen kann. Diesem unorthodoxen, engagierten Grundzug seiner Essays verdankt sich ihre Lebendigkeit bis heute, und ihre produktive Unruhe macht sie zu wichtigen Impulsgebern auch für gegenwärtiges Nachdenken über Literatur und Kunst.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Impressum

 

 

Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart

 

Veröffentlicht als E-Book 2013.

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-402286-4

 

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Inhalt

Der Bau des epischen Werks

I Das epische Werk berichtet von einer Überrealität

II Das epische Werk lehnt die Wirklichkeit ab

III Die Epik erzählt nichts Vergangenes, sondern stellt dar

IV Der Weg zur zukünftigen Epik

V Unterschied der heutigen individualistischen Produktionsweise von der früheren kollektiven

VI Schilderung des Inkubationsstadiums im heutigen epischen Produktionsprozeß

VII Details vom Produktionsprozeß

a) Das epische Werk liegt in statu nascendi vor

b) Das epische Werk ist von Konstitution unbegrenzt

c) Dynamik und Proportion als Formgesetze und Mitschöpfer des Inhalts

VIII Die Sprache im Produktionsprozeß

Anhang

Editorische Notiz

Daten zu Leben und Werk

Alfred Döblin

Der Bau des epischen Werks

IDas epische Werk berichtet von einer Überrealität

Ich beginne mit der Frage: Ist der Bericht die Grundform des Epischen, oder was ist eigentlich das entscheidende Merkmal des Epischen? Wir wissen vom Drama, daß, so scheint es wenigstens, der Dialog seine unterscheidende Grundform ist.

Ich nehme einen beliebigen Roman und lese: »Zu der Zeit, da der Oberst Spring von Springgenau nach erfolgter Pensionierung aus seinem letzten Standort Rathenow nicht wie die meisten seiner Berufsgenossen nach Wiesbaden, sondern nach Partenkirchen übersiedelte, war Friederike eben siebzehn Jahre alt geworden. Es war im Frühling, die Fenster des Hauses, in dem die Familie Wohnung nahm, sahen über die Dächer weg den bayrischen Bergen zu, und Tag für Tag, beim Frühstück schon, pries es der Oberst vor Frau und Kindern als einen besonderen Glücksfall, daß es ihm in noch rüstigen Jahren, mit kaum sechzig, gegönnt war, erlöst von Dienstespflichten, dem Dunst und der Dumpfheit der Großstadt entronnen, sich nach Herzenslust dem seit Jugendtagen ersehnten Genuß der Natur hingeben zu dürfen.« Nun, es ist zweifellos, hier wird so etwas wie berichtet. So etwas wie.

Ich nehme eine Tageszeitung, da steht unter Lokales: »Motorradunfall zweier Polizeibeamten. Heute früh sind zwei Polizeibeamte aus der Polizeiunterkunft Wrangelstraße auf ihrem Motorrad mit dem Karren eines Straßenreinigungsbeamten zusammengestoßen. Der eine von ihnen, der fünfundzwanzigjährige Polizeiwachtmeister Wiehert, erlitt einen Schlüsselbeinbruch, der andere, der zwanzigjährige Polizeiwachtmeister Willy Wolf, trug schwere Kopfverletzungen und eine Gehirnerschütterung davon. Beide wurden in das Krankenhaus am Friedrichshain überführt.« Das ist auch ein Bericht, er erfolgt auch in der Form des Imperfektums. Offenbar unterscheidet sich aber der erste Bericht von dem zweiten dadurch, daß der zweite Bericht ein wirklicher Bericht ist, nämlich meldet, was sich ereignet hat, das erste Stück aber nur einen Bericht imitiert. Der Oberst Spring von Springgenau hat bestimmt nicht bei jedem Frühstück es als einen besonderen Glücksfall gepriesen, daß er sich jetzt der Natur hingeben dürfe, und ich möchte auch bezweifeln, daß Friederike siebzehn Jahre alt war. Vielleicht hieß sie auch gar nicht Friederike und war bloß sechzehn. Jedenfalls, das sind Behauptungen, die ich auch dann nicht glaube, wenn sie mir in der Form des Imperfektums vorgesetzt werden. Aber das wissen wir ja alle, daß dieser Oberst nicht schon beim Frühstück es als einen besonderen Glücksfall gepriesen hat, daß er sich jetzt der Natur hingeben dürfe, und jeder Leser weiß, Friederike war gar nicht siebzehn Jahre, der Autor selbst schreibt das nur so, trotzdem – schreibt der Autor das, und wir nehmen es hin! Was soll das eigentlich, der Mann täuscht mit seinem Bericht niemanden, will auch keinen täuschen, trotzdem imitiert er einen wirklichen Bericht. Ich bin schon an sich gegen Imitationen; aber hier möchte ich doch den Sinn einer solchen Imitation sehen. Ich zweifle nicht: ein vernünftiger ruhiger Mann, der auf der ersten Seite seiner Zeitung Tagesnachrichten im Imperfektum liest, wird mit Recht sich daran stoßen, daß mit einmal unter dem Strich in derselben Form wie oben etwas berichtet wird, wovon offenbar keine Silbe stimmt, und er wird mit Recht dies Gehabe als eine läppische Angelegenheit, als einen Mißbrauch empfinden, und er wird es vermeiden, unter dem Strich zu lesen. Was kann ich nun sagen zu so einem Romanbericht, wo der nicht glaubt, der berichtet, und der es hört, glaubt es auch nicht. Es ist ein Schwindel mit verteilten Rollen. Man macht mich darauf aufmerksam: das ist »Kunst«, aber ich bedaure schon sagen zu müssen, daß es für mich zunächst die Tatbestandmerkmale eines ganz dummen Schwindels hat. Es wird mir energisch zugeflüstert: Du bist ja selbst dumm, in dem Roman wird ja nur so getan, als ob berichtet wird, wir sind bei dem alten Vaihinger, in der Sphäre des Als ob, da brauchen sie beide nicht zu glauben, der Zuschauer im Theater glaubt doch auch nicht, nur Kinder oder Bauern fallen gelegentlich darauf rein, es ist doch alles nur Schein, Illusion.

Das höre ich alles, und das ist nun die richtige Erklärung, und da haben wir in Lebensgröße unser pseudo-rationalistisch verblödetes Zeitalter (es gibt einen großartigen Rationalismus, unsere Epoche ist nicht rationalistisch). Diese Erklärung mit der Illusion, mit dem Schein, dem Als ob, damit stellt man die Dichtung kalt. Wenn das Kunst sein soll und die Grundform des Epischen, daß beide sich etwas vormachen, Autor und Leser, und wir sind uns über dies Geschäft von vornherein klar, dann lohnt es nicht, eine Silbe zu schreiben.

Aber die Sache mit der Berichtform steht ja ganz anders. Wenn Fräulein Amalie Lämmerkalb mir ihren letzten Roman vorliest und da etwas erzählt, nee, da glaube ich nicht. Kein Wort glaube ich dieser Dichterin, in der Tat, dies ist zwischen ihr und mir abgemacht. Aber wie steht es denn, wenn Homer anfängt, wenn Dante durch die Hölle geht, wenn Don Quichote sich auf sein Pferd setzt und Sancho Pansa mit dem Esel hinterher reitet – wird da auch bloß formal berichtet, wirklich?