E-Book 201- 210 - Toni Waidacher - E-Book

E-Book 201- 210 E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. E-Book 201 - Ein neus Leben beginnt! E-Book 202 - Mein Glück liegt an deiner Seite E-Book 203 - Musik liegt in der Luft E-Book 204 - Ein Herz sinnt auf Rache E-Book 205 - Kleine Tiere - große Tiere E-Book 206 - Ein Stern für unsere Liebe E-Book 207 - Der Mann ihrer Schwester E-Book 208 - Eva kommt nach St. Johann E-Book 209 - Der Moment der Wahrheit E-Book 210 - Zwei wie Feuer und Wasser E-Book 1: Ein neues Leben beginnt! E-Book 2: Mein Glück liegt an deiner Seite E-Book 3: Musik liegt in der Luft E-Book 4: Ein Herz sinnt auf Rache E-Book 5: Kleine Tiere – große Tiere E-Book 6: Ein Stern für unsere Liebe E-Book 7: Der Mann ihrer Schwester E-Book 8: Eva kommt nach St. Johann E-Book 9: Der Moment der Wahrheit E-Book 10: Zwei wie Feuer und Wasser

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Inhalt

E-Book 201- 210

Ein neues Leben beginnt!

Mein Glück liegt an deiner Seite

Musik liegt in der Luft

Ein Herz sinnt auf Rache

Kleine Tiere – große Tiere

Ein Stern für unsere Liebe

Der Mann ihrer Schwester

Eva kommt nach St. Johann

Der Moment der Wahrheit

Zwei wie Feuer und Wasser

Der Bergpfarrer – Staffel 21 –

E-Book 201- 210

Toni Waidacher

Ein neues Leben beginnt!

Doch auf Gaby und Thomas warten auch Probleme …

Roman von Waidacher, Toni

Ulrich Bernhard sah die junge Frau mit besorgter Miene an.

»Liebe Frau Westmeier, ich will gar nicht verhehlen, dass ich mit Ihrem Zustand alles andere als zufrieden bin«, sagte der bekannte Münchener Internist. »Dabei spielt es gar keine Rolle, dass es sich bei dem Grund meiner Unzufriedenheit um Ihren seelischen Gesundheitszustand handelt. Körperlich sind Sie ja soweit wiederhergestellt, aber wenn ich mir so Ihr Gemüt ansehe …«

Gaby Westmeier war bei den Worten ihres Arztes unwillkürlich zusammengezuckt. Heute war ein letzter Untersuchungstermin anberaumt worden, und die junge Kindergärtnerin hatte eigentlich erwartet, etwas Positives aus dem Mund des Professors zu hören.

Doch stattdessen …

»Aber Sie haben doch gesagt, dass mir nichts fehlt«, wandte sie ein.

Ulrich Bernhard hob die Hand.

»Wie gesagt, körperlich ist alles in Ordnung«, unterbrach er sie. »Indes sind Sie nur ein halber Mensch, wenn die Seele nicht mitspielt.«

Gaby Westmeier seufzte. »Ich weiß, was Sie meinen. Aber was erwarten Sie? Wie soll es mir denn gehen, nach all dem, was ich durchgemacht hab’? Jetzt hab’ ich auch noch meine Arbeit verloren. Da ist’s doch wohl nur verständlich, wenn’s einem mal net so gut geht.«

»Ich habe absolut Verständnis für Ihre Situation«, nickte der Arzt, »und darum habe ich mir auch Gedanken gemacht, wie wir daran etwas ändern können …«

Ulrich Bernhard lächelte geheimnisvoll. Gaby sah ihn rätselnd an.

»Wie wollen wir etwas daran ändern?«, fragte sie.

»Indem wir Sie sozusagen auf Kur schicken!«

Die Kindergärtnerin winkte ab.

Wie sollte das gehen?

Eine Kur würde ja bedeuten, dass sie noch länger brauchen würde, um ins Arbeitsleben zurückzufinden!

»Dann nehmen Sie halt Urlaub«, erwiderte der Arzt, auf ihr Argument. »Sagen wir, für zwei Wochen. Die spielen auch keine große Rolle mehr.«

»Das vielleicht net«, zuckte Gaby die Schultern, »aber ein Urlaub wird schon allein an der Tatsache scheitern, dass ich überhaupt kein Geld dafür hab’. Meine Ersparnisse sind so gut wie aufgebraucht, und das bissel Krankengeld reicht grad mal so für meinen Lebensunterhalt. Würden meine Vermieter net soviel Verständnis haben, säße ich schon längst auf der Straße.«

Ulrich Bernhard lächelte wieder geheimnisvoll. Der Internist war nicht nur ein begnadeter Arzt, sondern auch ein Menschenfreund. Oft genug hatte er dies unter Beweis gestellt, indem er Patienten umsonst behandelte, wenn sie die finanziellen Mittel dazu nicht hatten. Und vor allem hatte der Professor einen guten Draht zu einem anderen Menschenfreund, der, gleich ihm, für die Armen und Trostlosen da war, wenn seine Hilfe gebraucht wurde.

»Ich habe einen sehr guten Freund«, erklärte Professor Bernhard. »Pfarrer Trenker wird Sie bei sich wohnen lassen, und seine Haushälterin, die prächtige Frau Tappert, wird Sie von morgens bis abends verwöhnen.«

Gaby Westmeier sah ihn ein wenig irritiert an.

»Ich soll bei einem Pfarrer Urlaub machen?«, fragte sie ungläubig.

»Warum nicht? Sie wären nicht die erste Patientin, die ich zu ihm schicke, und ich kann Ihnen versichern, allen ging es nach dem Urlaub besser als je zuvor.«

Ulrich Bernhard nickte.

»Ja, ich setze mich gleich heut’ Abend mit ihm in Verbindung«, fuhr er fort, »und melde mich dann bei Ihnen. Am besten packen Sie schon gleich heut’ ein paar Sachen zusammen. Und denken Sie dran, in den Bergen, dorthin werden Sie nämlich fahren, kann es mal sehr heiß, aber auch empfindlich kalt sein. Richten Sie sich also entsprechend ein.«

Mit einem vergnügten Lächeln verabschiedete Ulrich Bernhard die Patientin. Gleichzeitig beschlich ihn ein Gefühl des Bedauerns.

Gerne wäre er selber mal wieder ins Wachnertal gefahren und hätte seinen Freund, Sebastian Trenker, den guten Hirten von St. Johann, besucht!

*

Um das Geld zu sparen, ging Gaby Westmeier zu Fuß nach Hause und verzichtete darauf, den Bus zu nehmen. Noch immer wusste sie nicht, was sie von dem Vorschlag des Professors halten sollte. Zwei Wochen mit einem katholischen Geistlichen unter einem Dach zu leben, kam ihr schon ein wenig merkwürdig vor. Indes wusste sie beim besten Willen nicht, wie sie einen Urlaub finanzieren sollte, obgleich ihr schon bewusst war, wie dringend sie etwas Erholung brauchte.

Wenn nur das liebe Geld net wär!

Gaby kam durch einen kleinen Park und setzte sich auf eine Bank, um ein wenig zu verschnaufen, ehe sie weiterging. Sie saß da und dachte über ihre Misere nach.

Wie aus heiterem Himmel war die Krankheit über sie gekommen. Zunächst hatte es wie eine harmlose Sommergrippe begonnen, dann hatte sich der Infekt als sehr hartnäckig erwiesen, und ehe sie sich versah, kämpfte Gaby Westmeier einen Kampf auf Leben und Tod gegen die heimtückische Krankheit, gegen die es kein Mittel zu geben schien. Es war Ulrich Bernhard zu verdanken, dass die schlimme Krankheit schließlich besiegt werden konnte. Tag und Nacht forschte der Mediziner unermüdlich, nahm Kontakt zu Kollegen in aller Welt auf, bis er endlich durch einen japanischen Immunologen auf die Spur eines Gegenmittels gebracht wurde. Wie sich zeigte, litt Gaby Westmeier an einer seltenen Immunkrankheit, die durch den Infekt ausgelöst wurde und die Produktion der körpereigenen Abwehrkräfte verhinderte. Endlich konnte ihr geholfen werden, doch das alles, die Krankheit und der Genesungsprozess, nahm fast ein halbes Jahr in Anspruch. Längst hatte man sich im Kindergarten, in dem sie arbeitete, nach einer anderen Erzieherin umsehen müssen, und es sah nicht danach aus, als würde Gaby so schnell eine neue Arbeitsstelle finden.

Es war später Nachmittag, als sie zu Hause ankam. Gaby bewohnte ein möbliertes Zimmer bei einem älteren Ehepaar, deren Tochter vor ein paar Jahren geheiratet hatte und mit ihrem Mann nach Norddeutschland gezogen war. Jetzt verwöhnten Alois und Hanne Brunner die Kindergärtnerin wie ein eigenes Kind, und drückten ein Auge zu, als Gaby die Miete schuldig bleiben musste.

»Das ist doch ein schöner Vorschlag von deinem Doktor«, meinte Alois, als sie beim Abendessen saßen.

»Schon«, antwortete die junge Frau, »aber trotzdem ist es ein wenig ungewöhnlich.«

Noch immer hatte sie Bedenken, Urlaub in einem Pfarrhaus zu machen.

»Ach wo«, Hanne Brunner schüttelte den Kopf, »jetzt ist vor allem wichtig, dass du dich wieder ganz erholst, und da ist seelsorgerischer Beistand net das Schlechtes­te.«

Die Kindergärtnerin seufzte unterdrückt. Sie wusste ja, wie Recht ihre Vermieterin hatte.

Sie waren gerade mit dem Abendessen fertig geworden, als Professor Bernhard wie versprochen anrief.

»Ich habe mit Pfarrer Trenker telefoniert«, erklärte er. »Sie können schon übermorgen nach St. Johann fahren.«

»Übermorgen schon?«

»Höre ich da etwa ein Zaudern in Ihrer schönen Stimme?«

»Na ja, das geht alles so …«

»… so plötzlich? Ja. Aber wir wollen doch beide, dass Sie wieder richtig gesund werden, und da dürfen wir nicht zögern. Glauben Sie mir, Frau Westmeier, die Zeit im Wachnertal wird Ihnen gut tun. Sie werden ein neuer Mensch sein, wenn Sie zurückkommen.«

Gaby antwortete nicht.

»Dann bleibt es also dabei, Sie fahren übermorgen?«, hakte der Arzt nach.

»Ja, in Gottes Namen«, stimmte sie endlich zu.

»Wunderbar!«, rief Ulrich Bernhard begeistert.

Er erklärte der Kindergärtnerin die Anreise nach St. Johann. Mit dem Zug käme sie bis in die Kreisstadt, dort würde Pfarrer Trenker sie am Bahnhof abholen.

»Ist das net zu umständlich?«, meinte sie.

»Es geht natürlich auch ein Bus«, antwortete der Arzt, »aber den zu nehmen wäre zu umständlich. Außerdem hat mein Freund ohnehin in der Stadt zu tun. Wenn Sie gleich morgens fahren, kann er Sie gegen Elf abholen. Es passt perfekt.«

»Also gut.«

»Prima. Dann geb’ ich Pfarrer Trenker gleich Bescheid, dass alles so bleibt, wie wir’s besprochen haben. Schönen Urlaub, Frau Westmeier und erholen Sie sich gut!«

»Danke. Danke Herr Professor, für alles!«, sagte Gaby mit Rührung in der Stimme.

»Schon gut«, wehrte Ulrich Bernhard bescheiden ab, »ich freue mich, dass ich helfen konnte.«

Der Rest des Abends verging mit Sortieren und Packen der Sachen, die mitgenommen werden sollten. Einiges musste auch noch gewaschen werden, aber zum Glück war ja noch ein ganzer Tag Zeit. Aber auch der verging wie im Flug, und als Gaby dann am übernächsten Morgen im Zug nach St. Johann saß, da beschlich sie doch ein mulmiges Gefühl, und sie fragte sich, ob es wirklich eine so gute Idee war, dem Vorschlag ihres Arztes zu folgen.

Doch zur Umkehr war es zu spät. Der Zug fuhr an, und ihr blieb nur noch, ihren Vermietern, die sie zur Bahn gebracht hatten, zum Abschied zu winken.

*

Toni Wiesinger hatte gerade einen Patienten verabschiedet, als das Telefon klingelte. Der Arzt nahm ab und erkannte sofort die Stimme seines Doktorvaters.

»Herr Professor!«, rief er, »das ist aber schön, dass Sie anrufen. Wann kommen S’ denn mal wieder nach St. Johann?«

»Vorläufig gar nicht«, bedauerte Ulrich Bernhard. »Die Arbeit lässt mir keine Zeit. Aber freilich habe ich einen Grund für meinen Anruf …«

»Nämlich?«

Der Internist erzählte seinem früheren Studenten von der Patientin, um deren Leben er so lange gekämpft hatte.

»Mit Pfarrer Trenker ist soweit alles besprochen. Wahrscheinlich ist er jetzt grad am Bahnhof, um die Frau Westmeier abzuholen. Aber an Sie hätt’ ich eine Bitte, Toni.«

»Nur heraus mit der Sprache!«

»Ich wollt’ Sie bitten, dass Sie sich ebenfalls ein bissel um die Frau kümmern, wenn es nötig sein sollte, was ich indes nicht glaube. Es ist nur für den Fall der Fälle. Und dabei müssen Sie wissen, dass Frau Westmeier finanziell nicht gut dasteht. Die lange Krankheit und ihre jetzige Arbeitslosigkeit fordern natürlich ihren Tribut.«

»Machen S’ sich deswegen keine Gedanken, Herr Professor.«

»Danke, Toni. Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Und sonst? Wie geht es Elena?«

»Die steckt ebenfalls bis über beide Ohren in Arbeit«, antwortete der Arzt. »Aber ansonsten geht es ihr gut.«

»Freut mich zu hören …«

Die Tür zum Sprechzimmer ging auf, und Christel Brunner, die Arzt­helferin, steckte den Kopf herein.

»Entschuldigen Sie, Herr Doktor«, bat sie und deutete hinter sich, »ein Notfall!«

Toni Wiesinger nickte.

»Ich muss leider Schluss machen, Herr Professor«, entschuldigte er sich. »Ich bekomme grad Arbeit.«

»Keine Ursache«, erwiderte Ulrich Bernhard, »die Patienten gehen vor.«

Dr. Wiesinger legte den Hörer auf. Christel Brunner brachte eine Frau ins Sprechzimmer. Sie war etwa um die fünfzig Jahre alt und hatte einen hochroten Kopf. Die Frau ächzte und rang nach Luft. Allem Anschein nach war sie kurz davor, zu ersticken.

Gemeinsam betteten sie die Frau auf die Untersuchungsliege, und der Arzt öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse.

Im selben Moment schaute ein Mann ängstlich durch die Tür.

»Was ist mit meiner Frau?«, fragte er besorgt.

Toni Wiesinger war froh, ihn zu sehen.

»Was ist geschehen?«, wollte er wissen. »Hat Ihre Frau sich verschluckt?«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Ich weiß auch nicht genau«, antwortete er ratlos. »Es kam ganz plötzlich, beim Spazieren gehen. Sie rief, dass sie keine Luft mehr bekäme, und dann …«

Der Arzt sah die Frau genauer an. Alles deutete auf einen allergischen Schock hin. Möglicherweise hatte die Patientin etwas gegessen oder getrunken, das diese Allergie ausgelöst hatte.

Jedenfalls galt es jetzt, schnell zu handeln!

Dr. Wiesinger zog eine Spritze auf und injizierte ein Mittel, das dem Schock entgegenwirkte.

»Es wird Ihnen gleich besser gehen«, beruhigte er die Frau.

Tatsächlich atmete sie kurz darauf schon wieder ruhiger, und ihre Gesichtsfarbe wurde wieder natürlicher.

»Vielleicht gehen S’ mit der Frau Brunner, die die Daten aufnimmt«, wandte sich Toni an den Ehemann. »Ich möcht’ mich noch mit Ihrer Frau unterhalten.«

Der Mann nickte und folgte der Arzthelferin nach draußen. Toni Wiesinger maß den Blutdruck der Patientin und nahm ihren Puls. Beides hatte zufriedenstellende Werte. Mit seiner Hilfe richtete sich die Frau auf und setzte sich auf den Stuhl vor den Schreibtisch des Arztes.

»Gertrud Senker«, stellte sie sich vor.

Frau Senker und ihr Mann, Friedrich, machten seit zwei Wochen Urlaub in St. Johann.

»Ich kann mir das gar nicht erklären«, die Frau zuckte ratlos die Schultern, als sie die Diagnose des Arztes hörte. »Ich hatte noch nie in meinem Leben mit Allergien zu tun.«

Sie war dreiundfünfzig Jahre alt und nach eigenem Bekunden kerngesund.

Zweimal im Jahr fand ein Gesundheitscheck durch den Hausarzt statt, der nie irgendwelche Krankheiten zutage förderte.

»Eine Allergie kann plötzlich und ohne Vorwarnung auftreten«, gab Dr. Wiesinger zu bedenken. »Und das eben war ganz eindeutig eine allergische Reaktion auf etwas, das Ihr Körper nicht verträgt. Wir sollten deshalb unbedingt ein paar weitere Untersuchungen machen.«

»Aber wir fahren doch morgen schon wieder!«

»Dann müssen Sie auf jeden Fall Ihren Hausarzt aufsuchen, wenn Sie wieder daheim sind«, betonte der Arzt. »Ich geb’ Ihnen einen Brief an ihn mit.«

Gertrud Senker versprach, diesem Ratschlag zu folgen, und Toni Wiesinger hätte die Frau, die nur eine von vielen Urlauberinnen war, die er behandelt hatte, sicher schon längst wieder vergessen, wenn er nicht schon bald an den »Fall Senker« wieder erinnert worden wäre …

*

Gaby Westmeier nahm ihren Koffer in die Hand und ging zum Abteilausgang, nachdem der Zug in den Bahnhof eingefahren war.

Hoffentlich erkenne ich diesen Pfarrer Trenker überhaupt, dachte sie.

Allerdings sollte es ja eigentlich nicht schwer sein, einen Geistlichen von einem »normalen« Menschen zu unterscheiden.

Als sie ausgestiegen war, blickte sich die junge Frau suchend um. Wie auf jedem Bahnhof der Welt herrschte auch hier ein quirliges Kommen und Gehen. Reisende has­teten zu den Zügen, Ankommende wurden begrüßt, und flossen hier Freudentränen, waren es dort welche des Abschieds. In einiger Entfernung stand ein Mann, der herübersah und sich in Bewegung setzte, als er Gaby gewahrte.

»Frau Westmeier?«, fragte er freundlich lächelnd.

Sie nickte erstaunt.

Sollte das Pfarrer Trenker sein?

Eigentlich sah er nicht so aus, wie sie sich einen Mann Gottes vorstellte. Er war groß und schlank, das markante Gesicht war von vielen Aufenthalten im Freien leicht gebräunt, und hätten nicht der Priesterkragen und das kleine, goldene Kreuz am Revers seiner Jacke ihn verraten, dann hätte man den durchtrainierten Mann leicht für einen prominenten Sportler oder Schauspieler halten können.

»Herzlich willkommen im Wachnertal«, begrüßte er sie, nachdem er sich vorgestellt hatte. »Ich hoff’, dass Sie sich bei uns wohlfühlen werden.«

Gaby bedankte sich für die herzliche Begrüßung, und ihre Befangenheit wich allmählich, während sie neben dem Geistlichen zum Ausgang schritt. Auf dem Parkplatz lud Sebastian das Gepäck in den Kofferraum seines Autos und ließ die junge Frau einsteigen.

»Es ist net sehr weit zu fahren«, erklärte er, während er sich in den Verkehr einfädelte.

Tatsächlich fuhren sie schon bald auf einer kurvigen Bergstraße und näherten sich rasch ihrem Ziel. St. Johann lag romantisch zwischen hohen Bergen eingebettet in einem Talkessel. Das Dorf sah genauso aus, wie Gaby es sich vorgestellt hatte: die Häuser mit ihren typischen Lüftlmalereien an Giebeln und Fassaden waren wunderschön.

»So, da sind wir auch schon«, sagte Sebastian Trenker und hielt an der Straße vor der Kirche, deren schlankes Türmchen in die Höhe ragte.

Sie gingen den Kiesweg hinauf, und der Geistliche öffnete die Tür des Pfarrhauses.

»Noch einmal: Herzlich willkommen und hereinspaziert!«, lächelte er.

Im Flur duftete es nach Essen, und aus der Küche kam eine kleine schlanke Frau, die den Gast mit einem warmherzigen Lächeln begrüßte.

Sebastian machte Gaby Westmeier mit seiner Haushälterin bekannt, und Sophie Tappert zeigte ihr, wo sie die nächsten vierzehn Tage schlafen würde.

»Wenn S’ sich eingerichtet haben, gibt’s Mittagessen.«

»Vielen Dank«, nickte die Kindergärtnerin und schaute sich in dem Gästezimmer um. Es war nicht sehr groß, aber behaglich möbliert. Gaby trat an das geöffnete Fenster und schaute hinaus. Dabei zog sie tief die würzige Luft ein, die nach Blumen und wilden Kräutern duftete. Ihr Blick glitt zu den Bergen hinüber und schweifte weiter zur Kirche. Daheim ging sie regelmäßig in die Heilige Messe und zu den Andachten. Besonders in der Zeit nach ihrer Genesung hatten diese Besuche ihr Kraft und Trost gespendet. Sie freute sich schon darauf, dieses Gotteshaus zu besichtigen.

Nachdem sie ihren Koffer ausgepackt hatte, lief Gaby wieder nach unten. In der Küche war der Tisch gedeckt.

»Hoffentlich mach’ ich Ihnen net zu viele Umstände«, sagte sie verlegen.

Doch Pfarrer Trenker schüttelte den Kopf.

»Überhaupt net«, erwiderte er. »Erstens haben wir gern Gäste im Pfarrhaus, und zweitens freut sich Frau Tappert, wenn möglichst viele Esser am Tisch sitzen. Grad hat sie einen ›verloren‹.«

Der letzte Satz wurde von einem Schmunzeln begleitet. Sebastian Trenker beugte sich vor und erzählte von seinem Bruder Max, der bis vor Kurzem noch jeden Mittag zum Essen herübergekommen war. Nun aber, da die Familie Zuwachs bekommen hatte, blieb der frischgebackene Vater natürlich bei seiner kleinen Familie.

Zum Mittagessen gab es Fleischpflanzerl mit Gartengemüse und Kartoffeln. Auch wenn es ein recht einfaches Gericht war, so begeis­terte es Gaby doch, und die junge Frau erkundigte sich nach dem Rezept für die besonders schmackhaften Fleischpflanzerl. Gerne verriet Sophie Tappert ihr einen Trick aus ihrem umfangreichen Repertoire.

»Wichtig ist, dass die Zwiebeln vorher in ein wenig Fett weich gedünstet werden«, erklärte die Haushälterin. »Dann geben s’ net nur ihren Geschmack besser ab, sie sind auch viel verdaulicher.«

Gaby Westmeier bedankte sich für den Hinweis und war selbstverständlich behilflich, als es ans Abräumen und Abwaschen ging. Sophie Tappert nahm die Hilfe gerne in Anspruch. Die lebenserfahrene Frau ahnte, was für ein Bedürfnis es der Kindergärtnerin war, die ihr erwiesene Gastfreundschaft wenigstens durch so eine kleine Geste abgelten zu können.

Überhaupt verstanden sie sich auf Anhieb, und die Haushälterin hatte sich schon längst vorgenommen, Gaby Westmeier nach Strich und Faden zu verwöhnen, solange sie Gast im Pfarrhaus war.

*

»Gitte, jetzt wart’ doch auf mich!«, rief Hans Bergmann ärgerlich, er blieb stehen und japste nach Luft.

Seine Frau, die bereits einige Meter vor ihm war, hielt endlich an und wartete auf ihn.

»Ja, ja«, sagte sie und schaute tadelnd seine Leibesfülle an, »ist ja kein Wunder, dass du keine Kondition hast. Du solltest dich mehr im Fitnessstudio aufhalten, als bei deinem Stammtisch im Wirtshaus.«

Brigitte Bergmann schüttelte den Kopf.

»So geht’s nicht weiter, Hans«, fuhr sie fort. »Du bist ja kaum in der Lage, einen längeren Spaziergang zu machen. Geschweige denn eine Wanderung. Wie soll das denn nächste Woche werden? Ich darf dich vielleicht daran erinnern, dass wir zu einer Bergtour angemeldet sind.«

Ihr Mann stand keuchend neben ihr.

»Du hast gut reden«, erwiderte er. »Kannst du mir auch mal sagen, wann ich Sport treiben soll, bei den ganzen Terminen?«

Gitte lächelte.

»Ein bisschen weniger essen würd’s ja auch schon tun«, gab sie zurück und deutete auf eine Bank, die in ein paar Metern Entfernung am Rande der Bergwiese stand, die sie hinaufspaziert waren. »Komm, lass uns da eine kleine Pause machen.«

»Du hast ja Recht«, gab Hans Bergmann zu, als sie auf der Bank saßen, und strich sich mit der Hand über den gewölbten Bauch »Ein wenig abzunehmen könnte wirklich nicht schaden, aber du weißt doch wie das ist. In meiner Position ist man ja regelrecht zum Essen verdammt. Hier eine Einladung, da ein Empfang, und immer wird aufgefahren, dass sich die Tische biegen.«

»Das ist alles eine Frage der Disziplin«, konterte seine Frau gnadenlos. »Dann musst du eben weniger essen. Auch wenn’s noch so gut schmeckt!«

Hans verzog das Gesicht und schmollte. Sein Gewicht war ein Dauerthema zwischen den Eheleuten und doch fruchteten keine Diäten und Abspeckprogramme, so sehr sich der Vorstandsvorsitzende einer großen deutschen Privatbank auch bemühte.

Das Ehepaar saß eine gute halbe Stunde auf der Bank, als sich ihnen eine Gestalt näherte. Gitte Bergmann dachte zuerst an einen Landstreicher, doch offenbar war es ein Einheimischer, der auf der Suche nach Pilzen oder Kräutern war, denn in der linken Hand trug er einen Spankorb mit allerlei Grünzeug darin.

»Grüß Gott«, nickte er ihnen zu und kratzte sich den grauen Bart. »Heiß heut’, was?«

Hans Bergmann nickte zustimmend, während seine Frau eher angewidert den Mann betrachtete und sich zu fragen schien, ob es sich bei dem Fremden um einen Strauchdieb oder bloß einen armen Menschen handelte. Die Kleidung, die der Mann trug, war zerlumpt, er selbst wirkte ungepflegt, und tatsächlich schien ihn ein strenger Geruch zu umgeben.

»Seid’s auf Urlaub da?«, erkundigte er sich.

Hans Bergmann bestätigte es.

»Ja, endlich mal ein wenig ausspannen.«

»Gell, wenn man’s sich leisten kann«, grinste der Alte. »Aber sagen Sie mal, werter Herr, wie steht’s denn mit der Gesundheit? Alles in Ordnung? Ehrlich gesagt, machen S’ einen eher schlappen Eindruck auf mich.«

»Ach ja? Können Sie das beurteilen? Sind Sie vielleicht Arzt?«, fragte Gitte gereizt.

Alois Brandhuber grinste wieder.

»Na ja, jedenfalls so was Ähnliches«, meinte er selbstbewusst und deutete auf den Korb in seiner Hand. »Mit meinen Kräutern hab’ ich schon manches Leiden heilen können.«

Brigitte Bergmanns Abneigung gegen diesen übel riechenden Kerl wich plötzlich erwachender Neugier.

Konnte man dem Alten wirklich trauen?

Immerhin hörte man ja immer wieder davon, dass solche Menschen sich bestens in der Natur auskannten und nicht unbeträchtliche Heilerfolge erzielten. Sie selbst litt hin und wieder an Magenverstimmung, vielleicht …

»Freilich hab’ ich da was«, nickte der Brandhuber-Loisl, nachdem die Frau ihm ihr Leid geklagt hatte. »Eine ganz besondre Teemischung hilft net nur dem Magen, der Tee sorgt auch dafür, dass der Appetit ein bissel gezügelt wird. Also auch ideal für den Herrn Gemahl.«

Der gerissene Fuchs hatte längst spitzgekriegt, wie er diesen Leuten das Geld aus der Tasche ziehen konnte.

»Wohnen S’ im Hotel?«, erkundigte er sich.

Hans Bergmann nickte.

»Dann komm’ ich in einer Stunde dorthin und bring’ Ihnen den Tee. Bloß aufgießen und fünf Minuten ziehen lassen.«

Der Bankier sah seine Frau fragend an.

»Was meinst du? Sollen wir das machen?«

Gitte zuckte die Schultern.

»Warum nicht?«, entgegnete sie. »Schaden kann es ja nicht.«

Sie ahnte nicht, wie sehr sie sich da irrte …

*

Gaby Westmeier drückte erwartungsvoll die Klinke herunter und öffnete die Kirchentür. Sie betrat den kleinen Vorraum und blickte durch die Fenster.

Der Anblick verschlug ihr den Atem!

Es war wirklich überwältigend, was sich ihren Augen bot. Rot, Blau und Gold waren die vorherrschenden Farben, in denen die Kirche geschmückt war. In Ecken und auf Holzpodesten standen herrlich geschnitzte Heiligenfiguren, die zum Teil mit Blattgold verziert waren. Die prachtvollen Kirchenfenster zeigten Szenen aus der Bibel, und über der jungen Frau war ein wundervolles Deckenfresko zu sehen.

Gaby war froh, dass zurzeit keine weiteren Besucher in der Kirche waren. So hatte sie Gelegenheit, alles in Ruhe zu betrachten. Unter der Galerie hing ein Bild an der Wand, das sie in seinen Bann zog. Es war das mannshohe Porträt des Gottessohnes. Auf einem kleinen Schildchen daneben war der Name zu lesen: Gethsemane.

Es zeigte den Erlöser am Abend vor der Kreuzigung, im Gebet versunken. Dem unbekannten Maler war es meisterhaft gelungen, das Wissen um die Unabänderlichkeit seines Schicksals im Antlitz Jesu’ wiederzugeben. Gaby stand eine ganze Weile davor und betrachtete ergriffen das Gemälde. Dann zog etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich. Auf einem Holzsockel stand eine Madonnenfigur, die so wunderschön gearbeitet war, dass es jedem Betrachter einen ehrfürchtigen Schauer versetzte. Die junge Frau fragte sich, wer wohl der Holzschnitzer gewesen sein mochte. Gewiss war die Figur schon sehr alt, und sie nahm sich vor, Pfarrer Trenker danach zu fragen.

Als Gaby etwas später wieder nach draußen trat, war sie von dem Gesehenen noch ganz benommen. Langsam spazierte sie um die Kirche herum und bewunderte dabei die sorgfältig gepflegten Rosensträucher und Blumenrabatten.

Es war ein herrlicher Sommertag. Sophie Tappert war an diesem Nachmittag zu einer Freundin im Ort gegangen, Hochwürden hatte einen Termin außerhalb, und Gaby hatte sich vorgenommen, sich ein wenig in St. Johann umzusehen und ihren Urlaubsort kennen zu lernen. Bisher hatte sie ihn ja nur durch das Fenster des Autos gesehen. Sie ging den Kiesweg hinunter und überquerte die Straße. Da das Dorf ja nicht sehr groß war, bestand auch kaum die Gefahr, dass sie sich verlaufen würde. Schnell hatte die junge Frau das Einkaufszentrum erreicht und spazierte durch die Passage, dabei betrachtete sie die Auslagen in den Schaufenstern der wenigen Geschäfte. Gaby ging zum Rathaus weiter, setzte sich auf eine Bank und blickte den vorbeispazierenden Leuten nach. Die meisten von ihnen waren Urlauber, wie sich an den umgehängten Filmkameras und Fotoapparaten unschwer erkennen ließ. Erstaunlicherweise schienen sich vor allem auch junge Leute das Dorf als Urlaubsziel ausgesucht zu haben, obwohl es doch in St. Johann nicht die Attraktionen gab, die sonst die Urlauber in Scharen anzogen. Bis auf einen allwöchentlichen Tanzabend, von dem der Geistliche ihr beim Mittagessen erzählt hatte, gab es sonst keine Möglichkeit in St. Johann auszugehen und sich zu amüsieren. Die nächste Diskothek befand sich in der Kreisstadt. Dennoch musste das Dorf etwas an sich haben, das die Leute zu schätzen wussten. Und nach kur­zem Nachdenken kam Gaby selbst darauf, was das war.

Ruhe, Frieden und Beschaulichkeit!

Das waren auch die drei Dinge, von denen Professor Bernhard gesprochen hatte. Die junge Frau atmete tief durch und spürte es selbst in sich: Sie fühlte sich wohl, wie schon lange nicht mehr.

Gaby war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht bemerkte, wie schnell die Zeit verging. Als sie zufällig auf die Uhr schaute, sah sie, dass sie schon fast eine dreiviertel Stunde auf der Bank saß. Viele Dinge waren ihr dabei durch den Kopf gegangen. Sie überlegte vor allem, wie es weitergehen würde, wenn sie wieder zu Hause in München war. Vielleicht, so dachte sie, musste sie sich damit abfinden, nie wieder in ihrem alten Beruf arbeiten zu können.

Doch welche Alternativen hatte sie?

Ganz sicher konnte das nicht von heute auf morgen entschieden werden, und sie brauchte Zeit, um in Ruhe darüber nachzudenken.

Gaby Westmeier stand auf und ging langsam zurück. Als sie wieder am Hotel vorbeikam, verspürte sie Lust auf eine Tasse Kaffee. Schon vorhin hatte sie das Schild am Biergarten des Hotels gesehen, auf dem Kaffee, Kuchen und kalte Getränke angeboten wurden. Sie überlegte nicht lange und ging durch den Eingang.

Es war erstaunlich, wie viel Betrieb herrschte!

Es gab kaum noch einen freien Tisch. Gaby wandte sich der rechten Seite zu, auf der lange Tische und Bänke standen. Bereitwillig rückte man zur Seite, als sie höflich fragte, ob es doch einen freien Platz gäbe. Mehrere Burschen und Madeln saßen hier, Einheimische offensichtlich, die sich eine Feierabendmaß oder ein Radler-Maß gönnten. Gaby hatte sich einen Cappuccino bestellt und schaute neugierig in die Runde. Dabei begegnete ihr Blick einem jungen Burschen, der sie offenbar schon länger betrachtete. Er lächelte, als sie ihn bemerkte.

*

Thomas Birkner hatte sich einen freien Nachmittag gegönnt. Auf dem elterlichen Hof gab es zurzeit nicht viel zu tun. Die Felder waren bestellt, und nun hieß es abwarten und auf eine gute Ernte zu hoffen.

Der junge Bauernsohn war nach St. Johann gefahren, um sich mal wieder mit ein paar Freunden zu treffen. Neben ihm saß Andrea Hoffer, die junge Magd, die auf dem Hof seiner Eltern arbeitete. Gerne hätte Thomas es verhindert, dass Andrea mitkam, doch das war ihm leider nicht gelungen.

Andrea konnte sehr anhänglich sein …

Das hatte er schon deutlich zu spüren bekommen, vor allem, als Thomas versucht hatte, ihr klarzumachen, dass ihre Beziehung keine Zukunft haben konnte und schon nach kurzer Zeit wieder zu Ende sei.

Wie es so oft geschah, hatte es bei ihnen auch auf dem Tanzabend gefunkt. Vielleicht musste man dem Bauernsohn zugute halten, dass er ein wenig zu tief ins Glas geschaut hatte und deshalb nicht so ganz genau wusste, was er tat, als er Andrea küsste. Indes war es nun einmal geschehen, und das Madel zeigte ihm nur zu deutlich, dass es nicht mehr von ihm lassen würde.

Nie mehr!

Beinahe zwei Monate waren sie ein Paar. Heimlich nur, denn der Bauer, Franz Birkner, durfte nichts davon wissen. Niemals hätte er erlaubt, dass sein Sohn sich mit einer Magd abgab. Für Thomas schwebte ihm etwas Besseres vor. Bestenfalls kam die Tochter eines reichen Bauern als Frau für seinen Sohn infrage.

Thomas steckte in diesen Wochen also in einer zweifachen Klemme. Zum einen musste er vor dem Vater verbergen, dass er mit Andrea liiert war, zum anderen wusste er nicht, wie er der Magd sagen sollte, dass er sie nicht so sehr liebte, wie sie ihn. Dabei war Andrea Hoffer eine durchaus ansehnliche junge Frau. Sie hatte langes kastanienbraunes Haar, ein hübsches Gesicht, in dem ein blaues Augenpaar leuchtete und einen sinnlichen Mund. Wenn sie sich zum Ausgehen schön machte und ein hübsches Dirndl anzog, konnte ihr Anblick einen Mann schon zum Träumen bringen. Und doch war es Thomas unmöglich, für Andrea mehr als nur Sympathie zu fühlen. Kein Zweifel, er mochte sie, die Art wie sie lachte, dass sie immer guter Laune zu sein schien und sich mit jedermann verstand. Aber wenn sie ihn küssen und liebkosen wollte, dann merkte er, dass ihm etwas fehlte.

Das so tief gehende Gefühl, das man Liebe nennt!

Nachdem Thomas mehrere schlaflose Nächte verbracht und überlegt hatte, wie es weitergehen sollte, brachte er endlich den Mut auf, mit Andrea zu reden. Freilich fiel es ihm nicht leicht, und es brauchte ein paar Anläufe, bis ihm die Worte, die er sich sorgfältig zurechtgelegt hatte, über die Lippen kamen. Entgegen seiner Furcht, Andrea würde ihm eine fürchterliche Szene machen, sagte sie gar nichts darauf. Aber sie ließ ihn spüren, dass sie nicht gewillt war, ihn so leicht aufzugeben. Immer wieder gelang es Andrea, sich dort aufzuhalten, wo auch Thomas war. Sie schien ein Gespür für das zu haben, was er vorhatte und wohin er wollte. So auch heute, wo sie den Nachmittag abgewartet hatte und dann plötzlich vor ihm stand, als der Bauernsohn in sein Auto steigen wollte.

»Nimmst’ mich mit?«, fragte sie, »ich muss ein paar Sachen besorgen.«

»In St. Johann?«, fragte Thomas zurück. »Kann das net bis morgen warten? Du wolltest doch ohnehin in die Stadt fahren.«

»Ich brauch ’s aber heut’ noch«, entgegnete sie und stieg ein, noch bevor er etwas sagen konnte.

Auf der Fahrt von Engelsbach nach St. Johann schwiegen sie beide. Thomas fuhr auf den Hotelparkplatz, und Andrea verabschiedete sich von ihm. Er sah ihr nach, wie sie in Richtung des Einkaufszentrums ging, und war sicher, dass es nicht lange dauern würde, bis Andrea im Biergarten des Hotels erschien. Es war auch tatsächlich kaum mehr als eine Viertelstunde vergangen, bis sie sich neben ihn setzte. Von den anderen Burschen und Madeln wusste noch niemand, dass er mit ihr Schluss gemacht hatte, und so wunderte sich auch niemand von ihnen, als Andrea sich vorbeugte und Thomas einen Kuss auf die Wange gab. Ärgerlich versuchte er den Kopf zur Seite zu drehen, und dabei fiel sein Blick auf eine junge Frau, die suchend an den Tisch kam und fragte, ob es noch einen freien Platz gäbe.

Es war, als habe ihn ein Blitz durchzuckt, so elektrisiert fühlte er sich. Noch nie in seinem Leben hatte Thomas Birkner so ein zauberhaftes Wesen gesehen. Wie gebannt schauten seine Augen auf das blonde Haar, das in leichten Locken auf sanfte runde Schultern fiel. Das Gesicht der Unbekannten strahlte etwas Rätselhaftes aus, und ihre schlanke Gestalt wirkte zerbrechlich.

Der Bauernsohn konnte einfach nicht den Blick abwenden. Als die Frau sich umsah, und sie sich eher zufällig anblickten, lächelte Thomas zu ihr herüber. Vergessen war in diesem Moment, dass Andrea Hoffer neben ihm saß und seinen Blickkontakt mit der anderen Frau mit eifersüchtigen Augen verfolgte …

*

Ohne auf die Magd zu achten, rutschte Thomas von der Bank und ging auf die andere Seite des

Tisches. Er zwinkerte der Unbekannten zu und stellte sich neben sie.

»Grüß dich«, sagte er, als würde er sie schon lange kennen.

Gaby Westmeier schaute ein wenig irritiert. Freilich war ihr der gut aussehende Bursche aufgefallen, sein intensiver Blick war ja nicht zu ignorieren gewesen. Dennoch wunderte sie sich jetzt, dass er so ganz zwanglos neben ihr stand und sie einfach ansprach, obwohl doch da drüben …

Die Augen der jungen Frau schossen Giftpfeile in Gabys Richtung ab, und jeder einzelne war ein Treffer. Blanker Hass und Eifersucht lagen in jedem Blick. Gaby hob den Kopf und sah den Bauernsohn an.

»Kennen wir uns?«, fragte sie.

Der Bursche schüttelte den Kopf.

»Net, dass ich wüsst’«, antwortete er. »Aber was net ist, kann ja noch werden …«

Dabei lächelte er so umwerfend, dass man ihm für diese Frechheit nicht böse sein konnte. Doch Gaby ließ sich nicht so schnell becircen.

Sie deutete mit dem Kopf über den Tisch.

»Ich könnt’ mir vorstellen, dass es da jemanden gibt, der gewiss was dagegen hätt’«, meinte sie.

Er warf einen kurzen Blick hinüber und zuckte die Schultern.

»Ich weiß net, was du meinst«, behauptete er. »Klar kenn’ ich die Andrea, aber das ist auch schon alles. Sag’ mal, bist’ auf Urlaub hier?«

Gaby biss sich auf die Lippe und schaute ihn nachdenklich an.

»Meine Mutter hat mir erzählt, dass die Männer früher sich erst einer Dame vorstellten, bevor sie sie in ein Gespräch verwickelten. Diese Höflichkeit scheint aus der Mode gekommen zu sein«, sagte sie, anstatt auf seine Frage zu antworten.

Indes war sie weit davon entfernt, über seinen Fauxpas verärgert zu sein. Ganz im Gegenteil – die Sache begann ihr Spaß zu machen.

Der Bauernsohn gab sich geknickt über den indirekt ausgesprochenen Tadel, der dennoch seinen Adressaten erreicht hatte.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln. »Ich bin der Thomas. Thomas Birkner aus Engelsbach.«

»Gaby Westmeier«, stellte sie sich ihrerseits vor. »Entschuldigung angenommen.«

Diesmal strahlte Thomas über das ganze Gesicht.

»Ja, ich mache so etwas wie einen Erholungsurlaub in St. Johann«, bestätigte die Kindergärtnerin seine Vermutung.

Gleich darauf waren sie so ins Gespräch vertieft, dass sie alles um sich herum zu vergessen schienen.

Andrea Hoffer kochte innerlich vor Wut und Eifersucht. Am liebs­ten wäre sie aufgesprungen und fortgelaufen, doch sie ahnte instinktiv, dass sie Thomas gar keinen größeren Gefallen tun konnte. Der Bauernsohn ließ unterdessen seinen ganzen Charme spielen. Er wollte diese hinreißende Frau unbedingt näher kennen lernen und sich mit ihr verabreden. Gaby hatte ihren Cappuccino ausgetrunken und legte ein Geldstück auf den Tisch. Sie stand auf und lächelte Thomas Birkner an.

»Mal schauen«, antwortete sie, als er sie fragte, ob sie sich wiedersehen würden. »Man weiß ja

nie …«

In die letzten Worte legte sie eine bedeutungsvolle Betonung. Er lächelte zurück und reichte ihr die Hand.

»Samstag beim Tanzabend?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Vielleicht«, erwiderte Gaby und ging, einen Gruß winkend, durch den Ausgang auf die Straße.

Während sie beschwingt zum Pfarrhaus zurückging, musste sie immer noch an diesen Burschen denken, der so ungeniert mit ihr geflirtet hatte. Sie musste zugeben, dass es ihr gut getan hatte; dass sie sich verliebt hatte, war schon eine Ewigkeit her.

Im Pfarrhaus saß der Geistliche mit einem jungen Mann auf der Terrasse des Pfarrgartens. Sebastian Trenker machte sie mit ihm bekannt. Es handelte sich um den Dorfarzt, Toni Wiesinger, der auf einen Sprung herübergekommen war. Gaby wusste ja schon, dass der Arzt ein ehemaliger Schüler von Professor Bernhard war, und freute er sich, ihn kennen zu lernen.

»Ich hab natürlich einen Grund, warum ich den Doktor hergebeten hab’«, sagte der Bergpfarrer, nachdem sich wieder gesetzt hatten.

Er bot der jungen Frau ein Glas von dem Apfelsaft an, der in einer Karaffe auf dem Tisch stand. Sophie Tappert stellte ihn aus den Äpfeln des Pfarrgartens selbst her, und er war überaus köstlich. Gaby bedankte sich und trank einen Schluck.

»Ich wollt’ vom Doktor wissen, ob er Ihnen schon eine Bergtour zutraut«, erklärte Sebastian.

»Eine Bergtour?«

Der Geistliche nickte.

»Ja, die müssen wir nämlich unbedingt machen, wenn S’ schon mal da sind.«

»Also von meiner Seite aus spricht nichts dagegen«, meinte der Arzt. »Aber freilich werd’ ich noch mal Rücksprache mit dem Professor halten. Aber ich bin sicher, dass auch er keine Einwände haben wird.«

Sebastian sah seinen Gast fragend an.

»Haben S’ sich ein bissel im Ort umgeschaut?«, erkundigte er sich.

Gaby nickte.

»Ja, und es ist wunderschön hier«, antwortete sie.

Dr. Wiesinger verabschiedete sich bald darauf und wünschte ihr noch einen schönen Aufenthalt. Gaby räumte den Tisch ab und brachte das Geschirr in die Küche. Dort half sie dann der Haushälterin bei Vorbereitungen für das Abendessen. Nachdem sie gegessen hatten, verabschiedete sich die junge Frau schon bald. Es war ein langer und ereignisreicher Tag gewesen, und Gaby Westmeier war entsprechend müde.

*

»Na, spürst du schon was?«

Brigitte Bergmann schaute ihren Mann erwartungsvoll an. Drei Tassen von dem Kräutertee hatte Hans inzwischen getrunken, aber sein Appetit war ungebrochen. Seine Frau hatte es längst aufgegeben mitzuzählen, die wievielte Semmel er sich jetzt zum Frühstück einverleibte.

Der Privatbankier schüttelte denn auch unbekümmert den Kopf.

»Ich bin ja froh, dass es mir immer noch schmeckt«, meinte er vergnügt.

Die Gattin trank ebenfalls einen Schluck von dem Gesundheitstee. Zuerst hatte sie sich ein wenig geziert, den Tee zu probieren, aber nachdem ihr Mann getrunken hatte, ohne dabei auch nur ein biss­chen den Mund zu verziehen, kos­tete auch sie von dem Gebräu, das überraschenderweise recht gut schmeckte.

Wenn der Tee also auch noch seine versprochene Wirkung entfaltete, sollte es ihr nur recht sein.

Obgleich Brigitte Bergmann es schon als eine Frechheit empfand, was der Kerl ihr dafür abgeknöpft hatte – einhundertfünfzig Euro waren schließlich kein Pappenstiel!

Das Ehepaar beendete sein Frühstück schließlich nach einer guten Stunde, in der Hans den Börsenteil einer überregionalen Tageszeitung studiert, und Brigitte mit einer Freundin telefoniert hatte. Gut gelaunt und gesättigt machten sie sich zu einem Spaziergang auf. Die Frau des Bankiers zog es zur Kirche. Die hatten sie zwar schon am zweiten Tag besichtigt, doch war da der Fotoapparat dummerweise im Hotelzimmer geblieben. Das Innere des Gotteshauses zu fotografieren, wollten sie an diesem Morgen nachholen. Brigitte Bergmann ahnte nicht, dass ihr Mann schon mit Grausen an die Bergtour dachte, die am übernächsten Tag stattfinden sollte.

»Wollen wir uns das nicht noch einmal überlegen?«, fragte Hans hoffnungsvoll, als sie auf dem Weg zur Kirche anfing, davon zu schwärmen.

Er war nun wirklich kein Sportsmann, und ein Spaziergang, der länger als eine Viertelstunde dauerte, war ihm ein Graus. Schon bei der Anmeldung zur Bergtour muss­te er einen Schock verdauen, als er hörte, dass sie mehrere Stunden unterwegs sein würden. Indes wünschte sich Brigitte eine solche Tour mehr als alles andere, und da er seine Frau nun einmal liebte, war Hans bereit gewesen, die Strapazen auf sich zu nehmen. Der Sinneswandel setzte indes gestern Nachmittag ein, als er selbst merkte, wie anstrengend die relativ kurze Wanderung für ihn schon war.

Wie sollte er da erst einige Stunden durchhalten!

Der »Diättee« kam da reichlich spät. Um richtig abzuspecken, hätte Hans Bergmann wahrscheinlich schon vor Wochen damit beginnen müssen, ihn zu trinken.

Brigitte schaute ihren Mann mitleidig an.

»Du traust es dir nicht zu, was?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wenn ich ehrlich sein soll, nein. Ich fürchte, dass ich schon nach kurzer Zeit schlapp machen würde. Dabei hätte ich dir den Wunsch so gerne erfüllt.«

Sie tätschelte seine Hand.

»Ich weiß, mein Dickerchen«, antwortete sie. »Vielleicht fällt uns ja noch was anderes ein.«

»Dann bist du mir nicht böse?«

»Unsinn!«, gab sie zurück. »Schließlich sind wir hier im Urlaub, um uns zu erholen. Und was hätte ich davon, wenn es dir schlecht ginge?«

Sie hatten inzwischen das Got­teshaus erreicht und blieben vor der Tür stehen. Hans nahm die Hand seiner Frau und zog sie an sich.

»Ich bin über jeden Tag froh, den wir uns kennen«, sagte er mit belegter Stimme. »Wenn ich noch einmal vor der Wahl stünde – ich würde dich sofort wieder heiraten!«

»Ach, mein Dickerchen!«, entfuhr es Brigitte gerührt.

In zwei Jahren würden sie ihre Silberhochzeit feiern und sie liebten sich noch immer wie am ersten Tag!

Zärtlich küssten sie sich, bevor Hans Bergmann die Klinke herunterdrückte und seiner Frau den Vortritt ließ.

Inzwischen waren auch weitere Besucher den Kiesweg heraufgekommen. Wie das Ehepaar bei ihrer ersten Besichtigung, staunten auch sie über all die Pracht, und unab­lässig klickten die Verschlüsse der Fotoapparate.

Ein Gegenstand hatte es Brigitte Bergmann ganz besonders angetan. Es war die herrlich geschnitzte Madonnenfigur, die, etwas abseits, unter der Galerie stand.

»Davon musst du unbedingt ein Foto machen!«, sagte sie zu ihrem Mann.

Der kam dem Wunsch seiner Frau nur zu gerne nach.

»Herrliche Arbeit«, meinte er, nachdem er die Statue auf Film gebannt hatte. »Mich wundert bloß, dass die hier so einfach ’rumsteht, ohne jegliche Sicherung. Wenn wir in der Bank mal Bilder oder irgendwas von einem Künstler ausstellen, haben wir sofort die Versicherungen auf dem Hals. Und das gute Stück hier scheint mir gänzlich ungeschützt.«

»Oft trügt der Schein«, ertönte eine Stimme hinter dem Ehepaar, das sich umdrehte und erstaunt auf den Mann blickte, der in der Tür zur Sakristei stand und die Worte des Bankiers offenbar gehört hatte.

Lächelnd trat er heraus und schloss die Tür hinter sich.

»Grüß Gott«, sagte er. »Ich bin Pfarrer Trenker, und ich kann Ihnen versichern, dass die Mutter Gottes keineswegs ungeschützt ist …«

Brigitte und Hans waren überrascht. Wie so viele Leute vor ihnen, hatten sie sich einen Geistlichen auch ganz anders vorgestellt. Sebastian, der diese Reaktion kannte, schmunzelte nur und erzählte ihnen, dass die Madonnenfigur schon einmal Opfer eines dreis­ten Kirchenraubes geworden war, glücklicherweise sei es ihm und seinem Bruder, der hier im Dorf als Polizist für Recht und Ordnung sorgte, seinerzeit gelungen, die Diebe zu überführen und die Got­tesmutter in den Schoß der Kirche zurückzuholen.

Das Ehepaar war von der Schilderung sehr angetan, und schnell war man in ein Gespräch vertieft. Als dann die Sprache auf die nun nicht mehr stattfindende Bergtour kam, machte Sebastian einen Vorschlag.

»Wenn Sie mögen, dann kommen S’ doch morgen mit mir«, sagte er. »Ich kann Ihnen versprechen, dass die Tour nicht so anstrengend sein wird. Meine Begleiterin erholt sich nämlich noch von einer langen Krankheit, und dementsprechend muss ich natürlich Rücksicht nehmen.«

Brigitte und Hans Bergmann waren erstaunt und erfreut zugleich. Erstaunt, weil sie nie im Leben damit gerechnet hätten, dass ein Geistlicher sie zu einer Bergtour einladen würde, erfreut waren sie indes über die Aussicht, dass eine solche doch noch würde stattfinden können.

»Kommen S’ doch am Nachmittag ins Pfarrhaus«, schlug Sebastian vor. »Bei einer Tasse Kaffee bereden wir dann alles Weitere.«

Diesem Vorschlag stimmte das Ehepaar nur zu gerne zu.

*

Sophie Tappert hatte den Tisch auf der Terrasse des Pfarrgartens gedeckt. In der Mitte stand ein verlockend anzusehender Käsekuchen. Die Haushälterin hatte ihn noch am Vormittag gebacken, nachdem Sebastian ihr von dem Besuch des Ehepaares erzählt hatte. Gaby hatte staunend zugeschaut, wie flink der Pfarrköchin die Arbeit von der Hand gegangen war.

»Morgen machen wir eine kleine Wanderung zur Kachlachklamm hinauf«, erklärte der Geistliche beim Mittagessen. »Das ist net zu anstrengend, und auch das Ehepaar, das heut’ Nachmittag herkommt, kann die Tour schaffen.«

Kurz nach drei Uhr klingelte es an der Tür des Pfarrhauses, und Sebastian begrüßte Brigitte und Hans Bergmann. Dann machte er sie mit seiner Haushälterin und der jungen Frau bekannt.

»Einen herrlichen Garten haben Sie«, nickte der Bankier anerkennend.

Sebastian Trenker lächelte.

»Es steckt auch viel Arbeit darin.«

»Das glaube ich gern. Uns fehlt leider die Zeit dafür. Das heißt, meine Frau kümmert sich schon um unseren Garten, aber für die Hauptarbeit haben wir natürlich jemanden angestellt. Ich selbst komme ja nicht dazu, etwas zu machen. Der Beruf frisst einen ja regelrecht auf.«

»Ja, leider!«, sagte Brigitte Bergmann und nickte dabei mit Nachdruck. »Umso glücklicher bin ich, dass wir in diesem Jahr hier unseren Urlaub verbringen, wo es so angenehm ruhig und beschaulich ist. Wissen Sie, Hochwürden, all die Jahre sind wir überall hingeflogen, die halbe Welt haben wir gesehen, aber wie wunderschön es bei uns in Deutschland ist, welche herrliche Fleckchen Erde es da gibt, das weiß man eigentlich gar nicht so genau.«

Sophie Tappert hatte inzwischen den Kaffee geholt und schenkte ein. Gaby übernahm es, den Kuchen zu verteilen.

»Lecker!«, kommentierte Hans Bergmann nach dem ersten Bissen.

»Da kann ich meinem Mann nur beipflichten«, nickte seine Frau. »Wie haben Sie den nur so locker hinbekommen, Frau Tappert? Bei unserer Köchin hat man immer das Gefühl, einen Lehmbrocken gegessen zu haben.«

Lächelnd erzählte die Haushälterin, wie sie den Kuchen gebacken hatte. Es war ein ganz einfaches Rezept.

»Wichtig ist, dass der Topfen, oder Quark, wie man anderorts sagt, ausgedrückt wird, und die restliche Molke net mit in die Eiermasse kommt«, erklärte sie und versprach, auf Brigitte Bergmanns Bitte hin, das Rezept für die Frankfurter Kollegin aufzuschreiben.

Nachdem sie Kaffee und Kuchen ordentlich zugesprochen hatten, nahm Sebastian Trenker eine Wanderkarte zur Hand und breitete sie auf dem inzwischen abgeräumten Tisch aus. Interessiert beugten sich die anderen darüber und verfolgten die Linie, die der Geistliche mit dem Finger darauf zeichnete.

»Sie werden seh’n, bis zur Klamm hinauf ist’s ein Kinderspiel«, sagte der Bergpfarrer. »Frau Tappert wird uns genug zu essen einpacken, so dass wir net bis zur Streusachhütte hinauf müssen. Ich kenn’ da ein paar idyllische Plätzchen, an denen wir rasten und die Aussicht genießen können. Packen S’ also Ihre Fotoapparate ein.«

Gaby meldete sich zu Wort.

»Braucht man dafür net eine besondre Ausrüstung?«, wollte sie wissen. »Auf eine Bergtour bin ich nämlich gar net eingerichtet.«

»Das ist überhaupt kein Problem«, winkte der Geistliche ab. »Hier im Pfarrhaus gibt’s genug Jacken, Hosen und Stiefel. Da wird sich schon was für Sie finden.«

Die junge Frau freute sich nicht weniger als das Ehepaar auf die morgige Tour. Pfarrer Trenker meinte augenzwinkernd, dass er auch nicht vorhabe, vor dem Aufstehen loszugehen.

»Nein, im Ernst«, fügte er dann hinzu, »zu einer längeren Tour müssten wir tatsächlich in aller Herrgottsfrühe aufbrechen. Aber da sind dann auch an die acht Stunden eingeplant. Morgen allerdings werden wir um diese Zeit schon wieder zurück sein.«

Dem Ehepaar gefiel es im Pfarrhaus ausnehmend gut und es verabschiedete sich nur ungern. Indes wollten Brigitte und Hans Bergmann die Gastfreundschaft des Geistlichen nicht über Gebühr beanspruchen.

»Vielleicht können wir uns mit einer Einladung zum Essen revanchieren«, meinte der Bankier, als sie zum Hotel zurückgingen.

»Schon«, nickte seine Frau. »Aber wir sollten eines bedenken: Wenn die Frau Tappert nur halb so gut kocht, wie sie bäckt, dann kann da selbst die hervorragende Kochkunst der Frau Reisinger nicht mithalten.«

*

Als Gaby am nächsten Morgen aufstand, fühlte sie sich nicht ausgeschlafen, was allerdings nicht an der Uhrzeit lag, zu der sie ins Bett gegangen war, sondern vielmehr an einem bestimmten jungen Mann, der ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.

Vorgestern hatte sie seine Bekanntschaft gemacht, und schon gestern musste sie immerzu an ihn denken. Dass Thomas Birkner einen so breiten Raum in ihren Gedanken einnahm, konnte sich die Kindergärtnerin zunächst nicht erklären. Aber je länger sie darüber nachdachte, umso sicherer war sie, dass sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben ernsthaft verliebt hatte.

Gewiss, es hatte schon andere Männer gegeben, die ihr den Hof gemacht hatten, aber keiner war darunter gewesen, der sie so angesprochen hatte wie dieser smarte Bursche.

Indes fragte sich Gaby, inwieweit sie ihm trauen durfte.

War da wirklich nichts mit der Frau, die sie so eifersüchtig angeblickt hatte? Oder hatte er das nur behauptet, um sie, Gaby, in Sicherheit zu wiegen?

Sie sehnte den Samstag herbei. Schon längst hatte Gaby sich fest vorgenommen, auf den Tanzabend zu gehen, und natürlich hoffte sie, Thomas Birkner wiederzusehen.

Doch bis dahin waren es noch ein paar Tage, die einfach nicht vorübergehen wollten!

Und über alles dies nachzudenken, hatte ihr einige Stunden Schlaf gekostet.

So war sie für die Abwechslung doppelt dankbar, die die Wanderung mit Pfarrer Trenker ihr bot. Gaby schlüpfte in die Wandersachen, die sie gestern Nachmittag noch mit Sophie Tappert aus dem reichhaltigen Fundus herausgesucht hatte, und lief die Treppe hinunter.

Der Geistliche und seine Haushälterin saßen bereits in der Küche, als Gaby eintrat.

»Grüß dich. Gut schaust’ aus«, sagte Sebastian lächelnd.

Er duzte sie, seit die junge Frau ihn gestern darum gebeten hatte.

»Vielen Dank«, antwortete sie und setzte sich.

Sophie Tappert schenkte ihr Kaffee ein, und Gaby nahm sich eine Semmel, die sie mit Butter und Marmelade bestrich. Auf der Eckbank standen zwei Rucksäcke, von denen einer prall gefüllt aussah.

»Unser Proviant«, erklärte ihr Pfarrer Trenker.

Er gab ihr den kleineren Rucksack und trug den schweren selbst. Nachdem sie sich von der Haushälterin verabschiedet hatten, gingen sie zum Hotel, um das Ehepaar Bergmann abzuholen. Die beiden standen schon wartend davor. Die vier Wandersleute begrüßten sich und zogen los. Bis zum Parkplatz am Kogler war es schon noch ein gutes Stück zu laufen. Sebastian überlegte daher, mit Rücksicht auf Hans Bergmann, mit dem Wagen dorthin zu fahren, doch noch während er darüber nachdachte, fuhr ein Traktor die Straße entlang, der einen leeren Anhänger hinter sich herzog.

»Grüß Gott, Hochwürden!«, rief Thomas Birkner ihm zu. »Schon so früh auf den Beinen?«

Als Gaby den Bauernsohn erkannte, schlug ihr Herz bis zum Hals hinauf.

»Grüß dich, Thomas«, antwortete der Geistliche. »Bist ja auch schon unterwegs.«

Der Bursche hatte angehalten und den Motor abgestellt.

»Ich musste ein paar Baumstämme zur Sägemühle liefern«, erklärte er und schaute dabei Gaby besonders intensiv an. »Kann ich Sie ein Stückl mitnehmen?«

»Das wär’ ganz prima«, nickte Sebastian. »Wir wollen zum Kogler hinauf; du könntest uns am Parkplatz absetzen.«

»Aber gern doch«, antwortete Thomas sofort und sprang vom Traktor herunter.

Er holte eine kleine Leiter, die unter dem Anhänger befestigt war, hervor und stellte sie auf.

»So, bitt’ schön«, sagte er lächelnd und reichte Gaby die Hand.

Sie spürte ein leises Zittern in den Knien, als sie seine Hand nahm und auf den Anhänger kletterte. Sie setzte sich und versuchte, ihre Nervosität zu verbergen.

Hans Bergmann atmete insgeheim auf, als er endlich auf dem Hänger saß und sie langsam lostuckerten. Er hatte schon befürchtet, den ganzen Weg laufen zu müssen. Dabei ging es ihm heute Morgen überhaupt nicht gut. Schon beim Aufstehen hatte er so ein komisches Gefühl gehabt, das er sich gar nicht erklären konnte. Am liebs­ten hätte er sich sofort wieder hingelegt, aber er wollte es, seiner Frau zuliebe, auf sich nehmen, die Wanderung mitzumachen, und hatte deshalb lieber nichts gesagt.

»So, da sind wir auch schon«, rief Thomas Birkner und hielt auf dem großen Parkplatz an.

Gaby hatte während der Fahrt die meiste Zeit auf seinen Rücken geschaut und erst den Blick abgewendet, wenn sie bemerkte, dass er sie im Rückspiegel ansah. Jetzt bedauerte sie es fast, schon angekommen zu sein; viel zu schnell war die Zeit vergangen.

Sie bedankten sich bei dem jungen Mann, der weiter nach Engelsbach fuhr, und begannen dann den Aufstieg.

*

Thomas fuhr nur ungern wieder zum Hof zurück. Viel lieber hätte er die kleine Wandergruppe auf den Berg hinauf begleitet.

Doch leider wartete die Arbeit auf dem Hof auf ihn!

Er stellte den Traktor unter dem Vordach der Scheune ab und ging ins Haus. Weil er heute schon in aller Frühe losfahren musste, hatte es nur ein karges Frühstück gegeben, und jetzt hatte er richtiggehend Hunger.

In der Küche hantierte Andrea, als er eintrat. Die hübsche Magd lächelte ihn an.

»Soll ich dir ein paar Eier braten?«, fragte sie ihn.

Thomas schüttelte den Kopf.

»Ich mach’ mir nur ein Brot. Sind meine Eltern schon fort?«

Vater und Mutter wollten an diesem Morgen in die Stadt fahren. Der Bauer hatte einen Termin bei seinem Steuerberater, und die Bäuerin nutzte solche Gelegenheiten gerne, um einmal herauszukommen und ein wenig durch die Stadt zu bummeln.

»Ja, vor einer ganzen Weile schon«, lautete die Antwort, die Andrea ihm mit vielsagendem Blick gab.

Wir sind ganz alleine!, sollte das heißen …

Thomas tat, als habe er den versteckten Hinweis nicht bemerkt. Er ging an den Küchenschrank und nahm das Brot aus der Klappe.

»Wart’«, sagte die Magd und trocknete sich die Hände an der Schürze ab, »ich mach’ das schon.«

Sie schnitt zwei Scheiben Brot ab und holte Butter, Wurst und Käse aus dem Kühlschrank. Thomas nahm sich derweil eine Tasse von dem Kaffee, der noch in der Warmhaltekanne stand, und setzte sich an den Tisch. Die Magd nahm ihm gegenüber Platz.

»Guten Appetit«, wünschte sie.

Der Bauernsohn nickte nur und begann zu essen. Während er es sich schmecken ließ, dachte er die ganze Zeit an Gaby Westmeier. Er hatte nicht damit gerechnet, sie so schnell wiederzusehen, umso erfreuter war er über die unerwartete Begegnung.

Das musste doch etwas bedeuten!

Er erinnerte sich, wie er sie im Rückspiegel angesehen und bemerkt hatte, dass sie ihn auch ansah. Dabei lächelte er still vergnügt in sich hinein.

Die Magd redete die ganze Zeit, ohne dass er es überhaupt wahrnahm. Zwar hörte er ihre Stimme, doch was Andrea wirklich sagte, ging völlig an ihm vorbei. Erst als sie mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, schien er aufzuwachen.

»Du hörst mir ja gar net zu!«, rief sie beleidigt.

»Wie? Was?«

Thomas blickte Andrea irritiert an.

»Entschuldige«, bat er dann, »ich hab’ eben an was andres gedacht.«

»Das hab’ ich gemerkt«, erwiderte die Magd und verzog gekränkt ihr Gesicht. »Muss ja sehr wichtig gewesen sein.«

Der ironische Unterton entging ihm nicht. Indes hatte Thomas Birk­ner keine Lust auf eine Diskussion, und außerdem ging es sie nichts an, an wen oder was er dachte. Er schob sein Frühstücksbrett zur Seite, trank den Kaffee aus und stand auf.

»Ich muss an die Arbeit«, sagte er und wollte hinausgehen.

Doch da hing die junge Magd schon an seinem Arm.

»Was gibt’s denn so Dringendes, dass du dir eine solche Gelegenheit entgehen lässt?«, fragte sie und drängte sich an ihn. »Wir sind mindestens bis zum Mittag ganz allein auf dem Hof.«

Thomas schüttelte den Kopf und befreite sich aus ihrer Umklammerung.

»Lass das doch sein«, sagte er. »Ich hab’ dir doch gesagt, dass da nix mehr ist mit uns.«

Enttäuschung spiegelte sich auf dem hübschen Gesicht wider. Andrea presste eine Hand vor den Mund und unterdrückte den Schrei, der ihr auf den Lippen lag.

»Aber, Thomas …«, sagte sie leise. »Was … was ist denn bloß los mit dir? Erklär’s mir. Ich versteh’ net, was geschehen ist. Wir waren doch so glücklich miteinander!«

Fast hilflos sah er sie an.

»Ich hab’ dir doch schon erklärt, dass das mit uns keine Zukunft hat«, entgegnete er endlich. »Muss ich das denn alles wiederholen? Nimm doch Vernunft an. Der Vater wird niemals zustimmen.«

»Du hast es ja nie versucht, es deinen Eltern zu sagen!«, rief sie anklagend. »Weil du zu feig’ warst!«

»Es ist genug, Andrea«, sagte der Bauernsohn scharf. »Auch dir war doch von Anfang an klar, dass es net mehr als nur eine Liebelei zwischen uns sein kann.«

Die Magd holte tief Luft und antwortete nicht darauf.

Freilich war es ihr klar gewesen. Oft genug hatte der Bauer verlauten lassen, was für eine Partie er sich für seinen Sohn wünschte. Geld musste das Madel haben und ordentlich was mitbringen. Am bes­ten noch einen eigenen Hof, oder zumindest ein paar Wiesen und Äcker.

Dennoch hatte Andrea die Hoffnung nie aufgegeben. Sie hatte auf die Zeit gesetzt. Geld hatte sie nicht, dafür war sie fleißig und ordentlich und konnte arbeiten bis zum Umfallen. Irgendwann würde der Bauer schon erkennen, dass sie die Richtige für seinen Sohn war. Thomas’ Mutter mochte sie ohnehin, zwischen ihr und der Magd herrschte ein fast schon freundschaftliches Verhältnis, weil Andrea so etwas wie die Tochter verkörperte, die Franziska Birkner sich immer gewünscht, aber nie bekommen hatte.

Geschickt hatte Andrea begonnen, ihr Netz auszuwerfen, in dem sie Thomas zu fangen gedachte. Erst sacht und scheinbar zufällig, dann zielstrebig, kam sie ihm näher und umgarnte ihn, noch ehe er es selber bemerkte. Als sie dann sicher war, ging die Magd aufs Ganze. Auf dem Tanzabend machte sie sich regelrecht daran, den Bauernsohn zu verführen, und offenbar hatte diese Taktik den gewünschten Erfolg. In der folgenden Zeit tat sie alles, um Thomas noch mehr an sich zu binden, und umso tiefer war der »Sturz«, als er ihr schließlich sagte, dass Schluss sei.

Noch brachte Andrea jene junge Frau, mit der Thomas vor ein paar Tagen – vor ihren Augen – so ungeniert geflirtet hatte, nicht mit seiner abweisenden Haltung an diesem Morgen in Verbindung. Aber sie war sicher, dass es dafür einen anderen Grund gab als die Angst vor seinem Vater.

Und sie war gewillt, diesen Grund herauszufinden!

*

Pfarrer Trenker hatte einen leichten Aufstieg gewählt, der auch von Leuten benutzt werden konnte, die weniger gut zu Fuß waren. Nun waren die Füße von Hans Bergmann zwar in Ordnung, aber sein Übergewicht machte ihm zu schaffen. Jetzt aber hatte er kaum Probleme, mit den anderen mitzuhalten. Selbst das Unwohlsein vom Morgen spürte der Privatbankier kaum noch. Er hielt sich dicht hinter dem Bergpfarrer und lauschte dessen Ausführungen über die Sehenswürdigkeiten, an denen sie ohne diesen ortskundigen Bergführer sicher achtlos vorübergegangen wären. Brigitte Bergmann folgte ihrem Mann auf dem Fuß, Gaby Westmeier an ihrer Seite. Die beiden Frauen verstanden sich auf Anhieb und unterhielten sich prächtig miteinander. Längst waren sie dazu übergegangen, sich zu duzen.

Nachdem sie eine gute Stunde unterwegs waren, hörten sie aus der Ferne ein merkwürdiges Rauschen

»Was ist denn das?«, fragte der Bankier.

»Das ist die Kachlach, die ein Stück weiter oben in eine Klamm stürzt«, erklärte Sebastian. »Net mehr lang, dann haben wir die Brücke erreicht.«

Er schaute Hans Bergmann prüfend an.

»Alles in Ordnung?«

»Aber ja, Hochwürden.«

»Gut. Doch wenn Sie eine Pause brauchen, oder wir umkehren müssen, sagen S’ sofort Bescheid.«

»Mache ich. Aber ich fühle mich bestens. Machen Sie sich keine Gedanken.«

Unterwegs hatte Hans schon zahlreiche Fotos geschossen. Er hatte einen recht altmodischen Fotoapparat.

»Ich muss einen Film einlegen können«, erklärte er kategorisch, als der Händler, bei dem er die Filme immer entwickeln ließ, ihm eine moderne Digitalkamera empfehlen wollte.

Am liebsten fotografierte er sogar in schwarz-weiß. Und das war keine Frage des Geldes, schließlich hätte er sich zehn Digitalkameras kaufen können.

Jetzt bannte er einen bizarr geformten Felsen auf Film, auf dessen glatten Stein ein Gamsbock leichtfüßig hinauf sprang.

»Na ja«, seufzte er, »so sportlich werde ich wohl nie mehr sein.«

Brigitte strich ihm tröstend über den Bauch.

»Lass man«, meinte sie gutmütig, »trink’ man nur weiterhin schön deinen Tee, dann wird das schon.«

Lächelnd gab er ihr einen Kuss und folgte Pfarrer Trenker, der bereits ein kleines Stück vorausgegangen war.

Gaby war sehr davon berührt, wie liebevoll die beiden miteinander umgingen. Sie wünschte sich von Herzen, eines Tages einen Mann zu finden, der ebenso zu ihr war, wie Hans Bergmann zu seiner Frau.

Der Bankier hatte morgens nur widerwillig den Tee getrunken. Am ersten Morgen hatte der ja noch ganz ordentlich geschmeckt, aber heute …

Brrr!

Er schüttelte sich bei dem Gedanken an das Gebräu und freute sich schon auf die Brotzeit, die Pfarrer Trenker versprochen hatte.

Hoffentlich hatte er auch Kaffee dabei!

Sebastian war stehen geblieben und wartete auf die anderen. Hier an dieser Stelle war das Rauschen zu einem ohrenbetäubenden Getöse geworden, und man musste schon laut schreien, um sich zu verständigen. Der Geistliche deutete vor sich.

»Das ist die Brücke, über die wir gehen«, erklärte er. »Wenn wir auf der anderen Seite sind, machen wir erst einmal eine Rast.«

Er nahm seinen Hut ab und schlug die Kapuze seines Anoraks über den Kopf. Die anderen folgten seinem Beispiel und zurrten sie richtig unter dem Kinn zusammen. Die Brücke war schon sehr alt, aber in einem sicheren Zustand, wie der Bergpfarrer erzählt hatte. Nur am Geländer musste vor geraumer Zeit ein Teil ausgebessert werden. Sebastian lief los, die anderen hinterher. Zwar hatte die Brücke ein Dach, aber das konnte auch nicht verhindern, dass die hoch aufspritzende Gischt die Wanderer traf. Indes liefen sie so schnell, dass sie nur geringfügig nass wurden. Auf der anderen Seiten angekommen, beschrieb der Weg eine Kurve, die um den Felsen herumführte. Dahinter wurde es schon deutlich ruhiger, und als die kleine Gruppe fünf Minuten später auf einer Bergwiese ankam, war von dem rauschenden Gebirgsfluss kaum noch etwas zu hören.

»So«, verkündete der gute Hirte von St. Johann, »jetzt wird gefrühstückt.«

*

Sie hatten ihre Jacken ausgezogen und benutzten sie als Unterlage beim Sitzen. Die Hüte behielten sie zum Schutz vor der Sonne auf. Aus demselben Grund hatten die Wanderer auch Gesicht und Hände und alle freien Stellen am Körper eingecremt. Jetzt saßen sie auf der Wiese, und Sebastian öffnete den Rucksack mit dem Proviant.

»Du meine Güte!«, staunte Brigitte Bergmann. »Wer soll denn das alles essen?«