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Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. »Wir sind da«, sagte Richard Pfeifer zufrieden und stellte den Motor seines BMW ab. Er hatte in einer Seitenstraße St. Johanns vor einem Zweifamilienhaus, das im alpenländischen Stil errichtet worden war, angehalten. »Von außen schaut das Haus ja ganz passabel aus«, erklärte die sechsunddreißigjährige Andrea Greiner, nachdem sie das Gebäude durch das Seitenfenster des Autos einem ersten Augenschein unterzogen hatte. »Auf jeden Fall dürft's eine Menge wert sein. In dieser Gegend sind Immobilien fast genauso unerschwinglich wie in München.« »Da sind ja allein schon die Grundstücke unbezahlbar«, pflichtete ihr Richard Pfeifer bei. Die beiden waren seit neun Jahren ein Paar. Andrea hatte einen nunmehr zwölfjährigen Sohn mit in die Verbindung gebracht. Weder sie noch Richard hatten bisher einen Gedanken daran verschwendet, ihre Verbindung vor dem Standesamt besiegeln zu lassen. Es hatte ihnen immer so gepasst, wie es war. »Steigen wir aus und schauen wir uns das Haus von innen an«, schlug Andrea vor. Wenig später schloss sie die Haustür auf. Der Schlüssel war ihr von der Gemeinde St. Johann zugesandt worden, nachdem sie dieser den Erbschein vorgelegt hatte, der sie als Erbin des vor vier Wochen verstorbenen Martin Greiner auswies. So hatte sie es zumindest aufgefasst.
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Seitenzahl: 133
Veröffentlichungsjahr: 2025
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»Wir sind da«, sagte Richard Pfeifer zufrieden und stellte den Motor seines BMW ab. Er hatte in einer Seitenstraße St. Johanns vor einem Zweifamilienhaus, das im alpenländischen Stil errichtet worden war, angehalten.
»Von außen schaut das Haus ja ganz passabel aus«, erklärte die sechsunddreißigjährige Andrea Greiner, nachdem sie das Gebäude durch das Seitenfenster des Autos einem ersten Augenschein unterzogen hatte. »Auf jeden Fall dürft’s eine Menge wert sein. In dieser Gegend sind Immobilien fast genauso unerschwinglich wie in München.«
»Da sind ja allein schon die Grundstücke unbezahlbar«, pflichtete ihr Richard Pfeifer bei. Die beiden waren seit neun Jahren ein Paar. Andrea hatte einen nunmehr zwölfjährigen Sohn mit in die Verbindung gebracht. Weder sie noch Richard hatten bisher einen Gedanken daran verschwendet, ihre Verbindung vor dem Standesamt besiegeln zu lassen. Es hatte ihnen immer so gepasst, wie es war.
»Steigen wir aus und schauen wir uns das Haus von innen an«, schlug Andrea vor.
Wenig später schloss sie die Haustür auf. Der Schlüssel war ihr von der Gemeinde St. Johann zugesandt worden, nachdem sie dieser den Erbschein vorgelegt hatte, der sie als Erbin des vor vier Wochen verstorbenen Martin Greiner auswies. So hatte sie es zumindest aufgefasst. Im Hausflur roch es muffig und es wurde deutlich, dass in dem Gebäude seit längerer Zeit nicht mehr gelüftet worden war. Andrea rümpfte die Nase.
Sie und Richard schauten sich sämtliche Räume im Erdgeschoss an, und in allen roch es penetrant nach kaltem Tabakrauch. Sämtliche Zimmer und die Küche waren komplett eingerichtet, allerdings waren die Möbel abgewohnt und altmodisch. Die Teppiche und Teppichböden, aber auch die PVC-Fußböden waren abgetreten und verstaubt. Die einstmals weißen Wände waren gelblich verfärbt vom Nikotin. Martin Greiner musste ein starker Raucher gewesen sein. Andrea war nun nicht mehr verwundert über den Lungenkrebs ihres verstorbenen Vaters.
»In diesem Zustand lässt sich das Haus nur verkaufen, wenn du Abstriche beim Preis machst«, gab Richard zu verstehen. »Oder du renovierst die ganze Bude. Da musst du aber einiges an Geld und Zeit reinstecken.«
»Mal sehen«, erwiderte Andrea knapp. Das Verhältnis zwischen ihr und Richard wirkte ziemlich abgekühlt. Ehe sie am Morgen in München weggefahren waren, hatten sie sich wieder einmal gestritten. Andreas zwölfjähriger Sohn Marko und Richard hatten schon am Abend zuvor eine ziemlich heftige Auseinandersetzung, weil Marko die Autorität seines ›Stiefvaters‹, der Richard aber zwar nicht war, als den er sich aber fühlte, nicht anerkennen wollte. Am Morgen war der Zwist weitergegangen, und Andrea hatte, wie meistens, Partei für ihren Sohn ergriffen und Richard gebeten, das Verhalten Markos zu entschuldigen, befände sich der Bub doch am Beginn der pubertären Phase, und damit wären die Probleme und Schwierigkeiten gewissermaßen vorprogrammiert.
»Der Lümmel ist patzig und frech«, hatte ihr Richard geantwortet. »Das muss ich mir net bieten lassen. Vielleicht hättest du ihn ein wenig strenger erziehen sollen. Mir hast du ja immer geraten, mich rauszuhalten. Ich kann mich aber nicht ständig raushalten. Und wenn ich mal was sag‘, dann wird der Rotzlöffel pampig.«
Der Grund für den Streit am Morgen lag also wieder einmal auf der Hand.
Sie begaben sich ins Obergeschoss. Dort waren die Zustände ähnlich wie im Erdgeschoss.
»Man muss die Fußböden auswechseln«, murmelte Andrea, »und die Wände streichen. Die Teppiche und die Möbel müssen raus. Ich werde mich mal erkundigen, ob die Gemeinde Sperrgut abholt. Wenn nicht, lass ich zwei Container in den Garten stellen, in die wir alles schmeißen.«
»Die Balkone sowie die Holzverkleidungen und die Fensterläden müssen auch abgeschliffen und gebeizt werden«, sagte Richard. »Du wirst jemand damit beauftragen müssen. Erst wenn das Haus auf Vordermann gebracht ist, kannst du den Preis fordern, den es tatsächlich wert ist. Vorher musst du allerdings investieren.«
»Ja, das ist so. Ich werde mir überlegen, was ich tu‘. Verkauft wird das Anwesen jedenfalls. Ich habe nicht vor, von München wegzuziehen.«
»Mit dem Geld, das du für das Haus und den Grund bekommst, hat du die nächsten zwanzig Jahre ausgesorgt. Ach, was sag‘ ich? Da du ja selber Geld verdienst, reicht dir der Erlös aus dem Haus für den Rest deines Lebens.«
»Ich werde das meiste für den Buben anlegen«, versetzte Andrea. »Wie du schon sagst: Ich habe mein Auskommen und mir gehts soweit ganz gut. Mehr brauch‘ ich nicht.«
Richard schoss ihr einen unergründlichen Blick zu. ›Dann wird sie mich wohl auch nimmer brauchen‹, durchfuhr es ihn. ›Unser Verhältnis ist längst nimmer so, wie es mal war. Und schuld daran ist nur dieser aufmüpfige Bengel.‹
»Nun ja«, sagte Andrea, »ich weiß jetzt, wie das Haus sowohl von innen als auch von außen ausschaut. Vielleicht schalt‘ ich einen Immobilienmakler ein. Ich bin mir selber noch nicht schlüssig, was ich tu‘. Renovier‘ ich das Haus, ehe ich’s zum Verkauf ausschreib‘, oder gebe ich’s in dem Zustand her, in dem es sich im Moment befindet? – Fahren wir erst mal ins Hotel und checken wir dort ein.«
Sie verließen das Haus, Andrea schloss es ab, dann setzten sie sich ins Auto und Richard chauffierte sie zum Hotel. Andrea hatte für drei Tage ein Zimmer gebucht. Ihrer Meinung nach war diese Zeit ausreichend, um in St. Johann, das geerbte Haus betreffend, das Nötige zu veranlassen. Während der kurzen Zeit hatte sich ihre Mutter bereit erklärt, den Buben in ihre Obhut zu nehmen.
Das Hotel lag an der Hauptstraße des Ortes. Richard steuerte den BMW auf den Hotelparkplatz, die beiden stiegen aus, Richard holte die beiden Reisetaschen vom Rücksitz, verschloss das Auto und ging hinter Andrea her in das Hotel.
In der Rezeption saß, wie fast immer, Susanne Reisinger, die älteste Tochter des Hotelinhabers Sepp Reisinger.
»Grüß Gott«, grüßte Andrea, und nachdem Susi ihren Gruß erwidert hatte, sagte sie: »Mein Name ist Greiner, Andrea Greiner. Ich habe vor einigen Tagen bei Ihnen ein Doppelzimmer gebucht.«
»Ja, ich erinnere mich«, erklärte Susi. »Ein Doppelzimmer für drei Tage. Sie sind die Tochter des Martin Greiner, gell? Er hat Ihnen sein Häusl vererbt.«
»Richtig«, antwortete Andrea knapp.
Susanne klickte einige Male mit der Computermaus, dann nickte sie und fuhr fort: »Da habe ich Sie ja schon. Das Zimmer ist fertig, Sie können es sofort beziehen. Es ist Zimmer acht. Sie finden es in der oberen Etage auf der rechten Seite.«
Susi überreichte Andrea den Zimmerschlüssel. »Schaffen S‘ die zwei Reisetaschen?«, wandte sie sich an Richard. »Sie können sie auch hier stehen lassen. Ich veranlass‘ dann, dass sie aufs Zimmer gebracht werden.«
Richard lachte. »Schau ich so schwach aus, Frau Reisinger? Keine Sorge, ich schaff‘ das. Sie brauchen niemand bemühen.«
»Ich hatte dreiunddreißig Jahre lang keinen Kontakt zu meinem Vater«, sagte Andrea. »Er hat meine Mutter und mich verlassen, als ich drei war. Daraufhin hat meine Mama mit mir St. Johann den Rücken gekehrt und sämtliche Brücken hinter sich abgebrochen. Ich hab’ überhaupt keine Erinnerung an meinen Vater. Von meiner Mama weiß ich, dass er bis zu meiner Volljährigkeit Unterhalt gezahlt hat, ansonsten weiß ich gar nix über sein Leben.«
»Er ist vor drei Wochen beerdigt worden«, sagte Susi. »Seine Frau ist schon vor drei Jahren gestorben. Das Haus, das Sie geerbt haben, hat eigentlich der Theresia gehört. Ihr Vater hat damals gewissermaßen in das Haus eingeheiratet. Die Theresia hat es ihm irgendwann zur Hälfte überschreiben lassen, und die beiden haben einen Erbvertrag geschlossen, wonach der Überlebende von ihnen alles erben soll.«
»Sie wissen aber gut Bescheid«, konstatierte Andrea.
»Es war damals, als die Theresia gestorben ist, Tagesgespräch im Ort, und nachdem auch der Martin das Zeitliche segnete, war die Erbschaftsangelegenheit wieder in aller Munde. Die beiden haben nämlich einen Sohn. Der ist allerdings unauffindbar.«
Andrea war wie vor den Kopf gestoßen. »Ich – ich habe einen Halbbruder?«, entrang es sich ihr vollkommen perplex. »Das – das würde ja heißen, dass ich das Haus gar nicht alleine geerbt hab‘.«
»Das weiß ich nicht, Frau Greiner«, erklärte Susi. »Ich habe auch keine Ahnung, ob der Martin ein Testament hinterlassen hat oder ob Sie im Rahmen der gesetzlichen Erbfolge das Haus geerbt haben. Darüber kann Ihnen nur das Nachlassgericht in Garmisch-Partenkirchen Auskünfte erteilen. Vielleicht erkundigen S‘ sich mal bei der Gemeinde. Womöglich kann man Ihnen dort auch den einen oder anderen Hinweis geben.«
»Jetzt bin ich ganz schön baff«, murmelte Andrea, die die Eröffnung, dass sie einen Halbbruder besaß, noch nicht verarbeitet hatte. Das würde sicherlich seine Zeit benötigen. Im Moment lag ihr die Eröffnung wie ein Bleigewicht im Magen.
»Suchen wir jetzt erst mal unser Zimmer auf«, schlug Richard vor, der ebenfalls ziemlich betroffen war. »Dort lässt du die Hiobsbotschaft erst einmal sacken, und dann schauen wir weiter.«
Andrea griff sich an die Stirn. »Wenn ich mit allem gerechnet hätte ...«, murmelte sie, »... mit so etwas nicht.«
Sie wirkte in der Tat völlig fassungslos.
*
Nachdem Andrea und Richard ihr Zimmer aufgesucht hatten, rief Susanne Reisinger im Pfarrbüro an. Der Pfarrer hatte die Rufumleitung aktiviert, sodass das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Ein Blick auf das Display verriet ihm, wer anrief. Der Anruf kam vom Hotel, und wahrscheinlich war Susanne am Apparat. »Hallo«, grüßte der Pfarrer. »Bist du es, Susi?« In neunundneunzig Prozent aller Anrufe des Hotels war es Susanne, die den Pfarrer aus irgendeinem Grund kontaktierte.
»Ja, Herr Pfarrer. Sie haben mich doch gebeten, Sie zu informieren, wenn die Tochter des Greiner-Martin eintrifft. Sie hat vor wenigen Minuten zusammen mit ihrem Lebensgefährten eingecheckt.«
»Sie hat nicht lang auf sich warten lassen«, kommentierte Sebastian den Hinweis. »Hat sie Fragen gestellt?«
»Das nicht, Herr Pfarrer. Ich habe ihr aber verraten, dass aus der Ehe des Martin mit der Theresia ein Sohn hervorgegangen ist. Sie hat nix davon gewusst und ist gewissermaßen aus allen Wolken gefallen.«
»Du hast ihr sicher auch verraten, dass kein Mensch weiß, so sich der Bursch‘ herumtreibt«, sagte Sebastian.
»Ja. Ich hab‘ ihr geraten, sich an das Nachlassgericht in Garmisch-Partenkirchen oder an die Gemeinde zu wenden«, antwortete Susi. »Von den Problemen, die der Bursch‘, ehe er nach dem Tod seiner Mutter spurlos verschwunden ist, gehabt hat, hab‘ ich der Frau Greiner allerdings nix erzählt. Ich wollt‘ sie ja nicht noch mehr schockieren.«
»Es wird vermutet, dass er sich nach Berlin abgesetzt hat, vielleicht auch nach Frankfurt«, sagte Sebastian. »Was Konkretes weiß niemand. Wie lange bleibt denn die Frau Greiner in St. Johann?«
»Sie hat drei Übernachtungen gebucht.«
»Dann hat sie nicht vor, allzu lange zu bleiben«, stellte Sebastian fest. »Ich werde jedenfalls versuchen, mit ihr zu reden. Der Martin hat mir, kurz bevor er verstorben ist, verraten, dass er dreiunddreißig Jahre lang keinen Kontakt zu seiner Tochter hatte. Er hat mir aufgetragen, mit ihr zu reden, falls sie nach St. Johann kommt, und mich gebeten, die Andrea in seinem Namen für seine Versäumnisse um Verzeihung zu bitten.«
»Sie hat keinerlei Erinnerung an ihren Vater, hat die Frau Greiner geäußert.«
»Hat sie dir verraten, was sie mit dem Häusl vorhat?«, erkundigte sich der Bergpfarrer.
»Nein. Ich denk‘ aber, dass sie’s verkaufen wird. Sie hat ihren Lebensmittelpunkt in München. Das ist aber nur, wie gesagt, meine Vermutung, Herr Pfarrer. Wir haben nicht darüber gesprochen.«
»Ich werde wahrscheinlich morgen mal mit ihr das Gespräch suchen«, gab Sebastian zu verstehen. »Nachdem sie erst angekommen ist, will ich sie nicht gleich überfallen. Außerdem wird sie’s erst mal verdauen müssen, dass sie einen Stiefbruder hat. Ich schätz‘, das wird bei ihr einige Fragen aufwerfen. Sei doch so gut, Susi, und sag‘ der Frau Greiner morgen, nach dem Frühstück, Bescheid, dass ich gern mit ihr sprechen würd‘. Frag‘ sie, ob und wann sie für ein Gespräch bereit ist, und gib mir dann Bescheid.«
»In Ordnung, Herr Pfarrer.«
»Danke, Susi.«
Sebastian beendete das Gespräch und widmete sich wieder seiner Arbeit. Es waren keine zwanzig Minuten vergangen, als sein Telefon erneut schellte. Auch jetzt war es Susanne Reisinger, die ihn anrief. »Ich muss Sie noch einmal stören, Herr Pfarrer. Aber die Frau Greiner und ihr Lebensgefährte haben soeben das Hotel verlassen, weil die Frau Greiner das Grab ihres Vaters besuchen möcht‘. Das wär‘ doch eine gute Gelegenheit für Sie, die Frau Greiner anzusprechen.«
»Natürlich, Susi, eine Gelegenheit, die ich auch wahrnehmen werde. Prima, Susi, danke für den Hinweis. Die beiden müssen ja am Pfarrhaus vorbei, wenn sie zum Friedhofsportal gehen.«
»Keine Ursache, Herr Pfarrer«, erwiderte Susi bezogen auf den von Sebastian ausgesprochen Dank. »Darf ich noch was anmerken?«, fragte sie.
»Gewiss. Mach‘ aus deinem Herzen keine Mördergrube, Susi.«
»Ich glaub‘, das alles überfordert die Frau Greiner ein bissel«, verlieh Susi ihrer Vermutung Ausdruck.
»Du willst mir sagen, dass ich im Umgang mit ihr ein wenig zurückhaltend respektive rücksichtsvoll sein soll, nicht wahr?«
»Die Tatsache, dass sie einen Bruder hat, hat sie ziemlich mitgenommen. Wenn sie nun erfahren muss, dass ihr Bruder drogenabhängig ist und wahrscheinlich in der Berliner oder Frankfurter Drogenszene abgetaucht ist, wird sie das noch mehr belasten. Dass auch ihr Bruder Erbe des Greiner-Martin ist, hat sie vielleicht noch gar nicht so richtig gecheckt.«
»Ich werde es ihr so schonend wie möglich vermitteln«, versicherte Sebastian. »Die beiden werden ja jeden Moment aufkreuzen. Wir hören uns, Susi. Nochmal danke und - tschüs.«
Er stellte das Telefon in die Station, erhob sich und ging zum Fenster. In der Tat tauchte wenige Minuten später das Paar auf, bei dem es sich nur um Andrea Greiner und deren Lebensgefährten handeln konnte.
Sebastian verließ sein Büro und sogleich auch das Pfarrhaus. Die Blicke der Frau und ihres Begleiters richteten sich auf ihn, als er ins Freie trat und seine Aufmerksamkeit offensichtlich auf sie beide richtete. Da rief er auch schon: »Grüß Sie Gott! Geh‘ ich richtig in der Annahme, dass Sie Frau Greiner sind?«
Andrea, die neben Richard ging und sich bei ihm eingehängt hatte, hielt an und nötigte ihren Partner, ebenfalls stehen zu bleiben. »Ja, mein Name ist Greiner. Kennen wir uns?«
Sebastian trat näher an das Paar heran und erwiderte: »Ich bin der Gemeindepfarrer von St. Johann. Mein Name ist Trenker – Sebastian Trenker. Ich hab‘ die Susanne Reisinger gebeten, mich zu informieren, sobald Sie in St. Johann eintreffen. Es ist nämlich so, dass ich in den Tagen vor seinem Tod des Öfteren mit Ihrem Vater gesprochen hab‘, und er lässt Ihnen etwas bestellen.«
»Hat sich bei ihm wohl in seinen letzten Tagen das Gewissen gemeldet?«, stieß Andrea verbittert hervor. Dann wies sie mit dem Kinn auf Richard. »Das ist mein Lebensgefährte, Herr Pfeifer«, stellte sie diesen dem Pfarrer vor. »Wir wollen das Grab meines Vaters besuchen. Ich hab‘ ihn das letzte Mal gesehen, als ich drei Jahre alt war. Meine Erinnerung an ihn ist gleich Null.«
»Haben Sie ein paar Minuten Zeit, Frau Greiner?«, fragte Sebastian. »Dann würde ich Sie in mein Büro bitten.«
»Sicher. Die Frau Reisinger hat mich schon ein bisschen aufgeklärt. Die Eröffnung, dass ich einen Stiefbruder hab‘, ist mir ziemlich an die Nieren gegangen. Das wirft alle meine Planungen über den Haufen.«
»Bitte, treten S‘ näher. Ich denk‘, es ist für Sie sehr wichtig, ein paar Dinge zu erfahren, die Sie einfach wissen müssen.« Sebastian ging zur Tür des Pfarrhauses, öffnete sie, vollführte eine einladende Handbewegung, und als das Paar über die Schwelle getreten war, folgte er ihm und zog die Tür zu. Er geleitete Andrea und ihren Lebensgefährten in sein Büro und bat sie, an dem runden Besuchertisch in der Ecke Platz zu nehmen. »Möchten S‘ vielleicht eine Tasse Kaffee?«, fragte er.
Das Paar lehnte dankend ab. Andrea war es anzusehen, dass sie ungeduldig darauf wartete, von Pfarrer Trenker mehr über ihren Vater und die Verhältnisse, in denen er gelebt hatte, zu erfahren. Es war eine geradezu fiebrige Ungeduld.
Sebastian setzte sich. »Wie gesagt«, begann er, »ich habe Ihren Vater in der letzten Phase seines Lebens begleitet und viel mit ihm geredet. Er hat mir von der Ehe mit Ihrer Mutter berichtet und auch kein Hehl daraus gemacht, dass er sie damals betrogen hat, worauf sie mit Ihnen - Sie waren damals gerade mal drei Jahre alt -, das Wachnertal verließ und die Scheidung einreichte.«