E-Book 251-260 - Toni Waidacher - E-Book

E-Book 251-260 E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. E-Book 1: Die Sehnsucht führt sie nach St. Johann E-Book 2: Jungbauer gesucht! E-Book 3: Der falsche Schwiegersohn E-Book 4: Graf wider Willen E-Book 5: Lüge und Intrige E-Book 6: Wird doch noch alles gut? E-Book 7: Du kannst kein Schwindler sein E-Book 8: Brennende Herzen E-Book 9: Ein neuer Senn auf der Kandereralm? E-Book 10: Hof ohne Zukunft?

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Inhalt

Die Sehnsucht führt sie nach St. Johann

Jungbauer gesucht!

Der falsche Schwiegersohn

Graf wider Willen

Lüge und Intrige

Wird doch noch alles gut?

Du kannst kein Schwindler sein

Brennende Herzen

Ein neuer Senn auf der Kandereralm?

Hof ohne Zukunft?

Der Bergpfarrer – Staffel 26 –

E-Book 251-260

Toni Waidacher

Die Sehnsucht führt sie nach St. Johann

Aufregende Tage für Maria und ihren Sohn

Roman von Waidacher, Toni

»Sie sollten das net auf die leichte Schulter nehmen«, sagte Dr. Brenner und sah die junge Frau eindringlich an. »Der Thomas braucht dringend eine Luftveränderung. Fahren S’ mit ihm in die Berge. Sie werden seh’n, Frau Leitner, in ein paar Wochen ist der Bub wieder gesund und munter.«

Maria Leitner biss sich auf die Lippe und nickte. Dabei neigte sie den Kopf zur Seite und blickte zu ihrem Sohn, der in der Spielecke des Zimmers saß und mit einem Auto herumkurvte. Der Sechsjährige war ganz in sein Spiel vertieft und achtete nicht auf das, worüber sich die Mama und der Onkel Doktor unterhielten.

»Haben S’ ein Problem?«, hakte der Arzt nach. »Ich weiß, dass Sie allein erziehend sind, da muss man schon auf jeden Cent schau’n. Aber es gibt Stellen, an denen man sich Hilfe holen kann. Auch finanzieller Art.«

»Nein, nein, es geht schon«, schüttelte sie den Kopf. »Ich mein’, das mit dem Geld …«

»Aber?«

Die junge Frau zuckte die Schultern.

»Die Berge«, antwortete sie, »sie sind meine Heimat, dort bin ich geboren und als ich sie damals verlassen hab’, da war ich sicher, nie wieder zurückzukehren …«

Dr. Kurt Brenner ahnte, was die Mutter seines kleinen Patienten durchlebte. Ganz sicher, es war seinerzeit nicht harmonisch zugegangen, als sie die Heimat verließ. Und nun hatte sie vermutlich ein Problem damit, wieder dorthin fahren zu müssen.

»Wo genau kommen Sie her?«, erkundigte sich der Arzt.

Er war Mitte vierzig, schlank und hatte ein freundliches Auftreten, das den Kindern, die er behandelte, die Angst nahm, sobald er sie ansprach.

Maria strich sich eine Strähne aus der Stirn. Ihre Haare waren weizenblond, das Gesicht hatte einen bräunlichen Teint. Zwei lebhafte, blaue Augen blitzten darin, konnten aber auch zornig blicken, wenn es einen Anlass gab. Die Sechsundzwanzigjährige hatte eine Figur, die manchen Mann veranlasste, den Kopf zu drehen, wenn Maria an ihm vorüberging, und ihr einfühlsames Wesen, ihr liebenswerter Charakter, machten sie bei Nachbarn, Bekannten und Vorgesetzten beliebt.

»Ich wurde in St. Johann geboren«, antwortete sie auf die Frage des Arztes. »Das liegt im Wachnertal.«

»Also genau dort, wohin Thomas für ein paar Wochen müsste. Noch besser wäre sogar einige Monate oder auch ein halbes Jahr. Sie werden seh’n, die Luftveränderung wird ihm gut tun.«

Maria Leitner sah wieder zu ihrem Sohn. Die letzte Nacht war besonders dramatisch gewesen. Seit er einige Zeit Ruhe gehabt hatte, bekam Thomas gestern Abend einen erneuten Erstickungsanfall. Die Hustenkrämpfe kamen völlig unerwartet und waren so beängstigend, dass Maria einen Notarzt gerufen hatte. Der hatte den Bub mit Sauerstoff versorgt und ihm ein Medikament verabreicht, das ihm besser Luft verschaffen sollte.

Seit Thomas vor einem guten Vierteljahr zum ersten Mal Anzeichen dieser Krankheit gezeigt hatte, lebte seine Mutter in ständiger Angst um ihn. Gerne hätte sie sich mehr um ihn gekümmert, doch Maria war gezwungen, arbeiten zu gehen, nachdem Franz Leitner vor drei Jahren überraschend verstorben war und Frau und Kind alleine gelassen hatte.

Es war schon schwer genug gewesen, heute frei zu bekommen, doch Maria, die als Bedienung in einem Wirtshaus arbeitete, hatte es bei ihrem Chef so dringlich gemacht, dass er schließlich ein Einsehen hatte und ihr zumindest den Vormittag frei gab.

Ansonsten kümmerte sich Gülcan, die Nachbarin, um Thomas, der in der Familie von Mehmet Cunkurt und seiner Frau immer herzlich willkommen war.

Der Kinderarzt suchte etwas auf dem Schreibtisch und zog eine Zeitungsseite unter einem Stapel anderer Papiere hervor.

»Schauen Sie mal«, sagte er und reichte Maria die Zeitung. »Das hab’ ich in der Wochenendausgabe gefunden. Ein Bauernhof im Wachnertal bietet Feriengästen Unterkünfte an. Offenbar ist es ein noch junges Unternehmen, denn die Preise sind sehr moderat, finde ich. Vermutlich müssen sie noch um Gäste werben und machen deshalb so ein gutes Angebot.«

Sie nahm das Blatt und las die umrandete Anzeige.

Ferien am Brandnerhof, stand dort in dicken Lettern zu lesen. Genießen sie Ruhe und Erholung im schönen Wachnertal. Auf unserem Bauernhof ist die Welt noch in Ordnung. Ihre Kinder werden begeistert sein, und Sie genauso! Unsere Tiere warten darauf, gefüttert und gestreichelt zu werden, während die Kinder beschäftigt sind und auf einem Esel reiten oder im Garten Gemüse ernten, können Eltern Kühe melken, beim Käsen helfen oder ganz einfach die Seele baumeln lassen. Unser gutes Essen und die gesunde Bergluft sind ein wahres Labsal für Körper und Geist.

Es folgte eine Staffelung der Übernachtungspreise, einschließlich Vollpension, sowie Hinweise auf Ausflugsziele und Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung.

Maria schloss sich der Meinung des Arztes an; der Urlaubsbauernhof war sicher noch nicht lange in Betrieb.

»Das wäre wirklich eine Überlegung wert«, meinte sie, nachdem sie auch noch gesehen hatte, dass der Brandnerhof eher in der Nähe von Engelsbach lag, als in der von St. Johann.

»Tun Sie’s«, nickte Dr. Brenner nachdrücklich, »tun Sie’s für Ihren Sohn, und vielleicht lässt sich dabei gleich das wieder geraderücken, was damals der Grund für den Bruch mit Ihrer Heimat war.«

Maria nickte, aber es geschah eher automatisch, als dass sie den Worten des Arztes folgte. Freilich, für Thomas würde sie alles auf sich nehmen, aber dass die alte Geschichte sich würde wieder einrenken lassen, da hatte sie so ihre Zweifel …

*

»Was sagt denn der Doktor?«, erkundigte sich Gülcan, als Maria Thomas zu der türkischen Nachbarin brachte.

Ihr Chef hatte darauf bestanden, dass sie die Mittagsschicht übernahm, wenn sie schon am Vormittag fehlte. Maria war daher sehr in Eile.

»Praktisch eine Kur müsste der Bub machen«, sagte sie. »Wir sollen in die Berge fahren.«

»Das ist doch prima!«

»Du ahnst net, was du sagst«, entgegnete Maria Leitner.

»Dann erklär’s mir doch.«

»Heute Abend. Jetzt muss ich los. Gegen acht hole ich Thomas wieder ab. Danke, Gülcan. Ich wüsst’ net, was ich ohne eure Hilfe machen sollte.«

Die junge Türkin lächelte und strich über ihren leicht gewölbten Bauch; Gülcan und Mehmet Cunkurt erwarteten ihr erstes Kind.

»Kannst dich ja revanchieren, wenn unser Baby da ist«, sagte sie. »Also, bis heute Abend.«

Maria eilte zum Bus und fuhr in die Innenstadt. Das Wirtshaus ›Zum Hirschen‹ lag in der Nähe der Sendlingerstraße, in der zahlreiche Einzelhandelsgeschäfte zu einem ausgiebigen Einkaufsbummel einluden. Nicht wenige der Leute kamen anschließend zum Essen in das gutbürgerliche Lokal.

Das Restaurant hatte knapp hundertfünfzig Sitzplätze und war in mehrere Reviere eingeordnet, die die Bedienungen sich teilten. Die jungen Frauen, meist angelernte Kräfte, darunter viele Studentinnen, die sich hier etwas dazuverdienten, trugen einheitliche Dirndl mit weißen Schürzen dazu. Schweinshaxen und Braten mit Knödel waren die Renner bei den meist auswärtigen Gästen. Gegen drei Uhr kamen dann die Kaffeetrinker, und es wurde etwas ruhiger. Indes liebte Maria den Trubel, denn dann ging die Zeit schneller vorüber – und die vielen Gäste waren nach einem guten Essen auch mit dem Trinkgeld sehr spendabel …

Endlich war es sieben Uhr, und die junge Mutter hatte Feierabend!

Maria rechnete ab und überschlug kurz in Gedanken, wie viel sie zusätzlich eingenommen hatte. Die Trinkgelder kamen zu Hause in ein großes Sparschwein, das schon prall gefüllt war. Jetzt würde sie den Inhalt gut für den Urlaub gebrauchen können.

Mit dem Bus fuhr Maria nach Hause. Mehmet Cunkurt spielte mit Thomas Quartett, Gülcan wusch das Geschirr vom Abendessen ab.

»Hallo«, begrüßte Mehmet die Nachbarin, »ihr wart beim Arzt?«

Der junge Türke arbeitete auf dem Münchner Hauptbahnhof, wo er, zusammen mit seinem Bruder, einen Imbissstand betrieb. Er zeigte sich sehr besorgt um Marias Sohn.

»Ja«, nickte sie und erzählte, was Dr. Brenner ihr geraten hatte und deutete an, warum sie zögerte zu fahren.

»Ihr müsst aber!«, sagte Mehmet eindringlich.

Sie nickte ergeben.

»Ich muss erst den Chef um Urlaub bitten«, antwortete Maria. »Eigentlich wollte ich es heut’ schon machen, aber es war zuviel los, und nachher war der Pilch net mehr im Geschäft. Na ja, dann erfährt er es eben morgen. Sicher wird er toben und behaupten, er fände keinen Ersatz für mich, aber das ist mir egal.«

»Aber klar!«, nickte Gülcan, die Tee gekocht hatte und mit dem vollen Tablett an den Tisch kam. »Du kannst doch darauf keine Rücksicht nehmen!«

»Gewiss net. Die Krankheit wird immer wieder zurückkehren, wenn sie net ausgeheilt wird. Dr. Brenner meint zwar, wir sollten ein halbes Jahr dort bleiben, aber das kann ich mir nun wirklich net leisten. Vier Wochen müssen genügen. Ich hoff, dass Thomas bald ohne die Tabletten auskommt. Die Nebenwirkungen sind ja net ohne!«

Sie tranken den süßen türkischen Tee und unterhielten sich noch einen Moment. Maria wollte erst noch ausführlicher darüber sprechen, warum sie einer Rückkehr in die Heimat eher skeptisch gegenüber stand, doch Thomas hatte schon ganz müde Augen, und so verabschiedeten sich Mutter und Sohn.

Maria brachte Thomas ins Bett und las ihm noch eine Gutenachtgeschichte vor. Der Bub freute sich schon darauf, im Sommer in die Schule zu kommen.

Er liebte Geschichten über alles und wollte endlich lesen lernen!

Anschließend ging Maria in das kleine Wohnzimmer und öffnete den Stubenschrank. Im dritten Fach des Seitenteils fand sie, was sie suchte. Ein Fotoalbum, in braunes Kunstleder gebunden. Die junge Frau nahm es heraus und setzte sich auf das Sofa. Ihr Herz klopfte, als sie das Album aufschlug und das Foto auf der ersten Seite betrachtete.

Es zeigte die Eltern am Tag ihrer Silberhochzeit, Katharina Sonninger und ihren Mann, Veit. Gut sieben Jahre war es her, seit Maria von zuhause fortgegangen war. Im Jahr zuvor war die Mutter verstorben, und die Tochter hatte das mürrische, übellaunige Verhalten des Vaters nicht mehr ertragen können. Ganz sicher war es seine hilflose Reaktion auf den Verlust der geliebten Frau, dass der Sonningerbauer mit Gott und der Welt haderte.

Aber musste er das ausgerechnet auch Maria spüren lassen?

Sie hatte gewiss alles getan, um ihm so viel Unterstützung zu geben, wie sie nur konnte. Fleißig arbeitete sie von früh bis spät auf dem Hof, musste sich aber dennoch Vorwürfe anhören. Mehr als einmal drohte sie, Hof und Heimat zu verlassen. Doch erst als Veit Sonninger verlangte, sie solle einen Mann heiraten, den sie nicht liebte, setzte Maria ihre Drohung auch in die Tat um.

Dabei wusste sie gar nicht, wohin sie überhaupt wollte, nur fort musste sie. Auf dem Bahnhof der Kreisstadt löste sie eine Fahrkarte für den nächsten Zug, der gerade fuhr. Er brachte sie nach München.

Allein und sich verloren vorkommend, stand die junge Maria, gerade mal etwas mehr als achtzehn Jahre alt, auf dem Bahnsteig und war den Tränen nahe.

Die Leute rings um sie herum schienen sie gar nicht wahrzunehmen. Rücksichtslos wurde Maria angerempelt und erwachte endlich aus ihrer Lethargie. Sie verließ den Bahnhof und ging zum Taxistand, wo sie einen Fahrer bat, sie zu einer preiswerten Pension zu bringen. Daheim hatte sie zwar ihr Sparbuch geplündert, aber das Geld würde nur dann reichen, wenn sie sorgsam damit umginge.

Als Magd hatte sie keine Möglichkeiten, eine Arbeit zu finden, aber Maria war sich nicht zu schade, mit Putzen ihr Geld zu verdienen. In der Gastwirtschaft lernte sie auch Franz Leitner kennen, der dort als Koch arbeitete. Er machte ihr rasch den Hof und sorgte bei Hubert Pilch dafür, dass Maria als Servicekraft angelernt wurde.

Auch bei ihr war es Liebe auf den ersten Blick, und kaum ein Vierteljahr später heirateten sie und zogen in die kleine Wohnung, in der sie mit Thomas heute noch lebte.

Der Bub wurde pünktlich neun Monate später geboren und machte ihr Glück perfekt. Ein Glück jedoch, das nur drei Jahre halten sollte. Dann erkrankte Franz schwer und verstarb mit achtundzwanzig Jahren – ein großer Schock für alle, die ihn kannten – und unvorstellbar schrecklich für Maria und ihren Sohn.

Maria hatte das Album durchgeblättert, bei manchem Foto geschmunzelt, bei anderen sich die Tränen aus den Augen gewischt.

Wie es dem Vater wohl gehen mochte? Lebte er überhaupt noch? Und Resl, die gute alte Magd, schaffte sie immer noch auf dem Sonningerhof? Oder müsste sie nicht längst in Rente sein?

Die junge Frau klappte das Album wieder zu. Vielleicht konnte sie ja einiges während ihres Aufenthalts im Wachnertal darüber in Erfahrung bringen. Jetzt galt es erst einmal den Chef zu überzeugen, dass sie dringend Urlaub haben müsse. Willigte er nicht ein, dann würde sie gezwungen sein, zu kündigen.

Etwas, was sie nur sehr ungern tat, aber die Gesundheit ihres Sohnes hatte nun einmal Vorrang!

*

»Grüß euch Gott.«

Martin Brandner hatte das Frühstückszimmer betreten und schaute in die Runde.

»Habt ihr gut geschlafen?«

Vier Köpfe, die sich dem jungen Bauern zugewandt hatten, nickten.

»Prima, Herr Brandner«, antwortete Karsten Hoffmann, der mit Frau und zwei Kindern am Tisch saß. »Und Ihr Frühstück ist wirklich ein Erlebnis!«

Martin lächelte.

»Na ja, so soll’s ja auch sein. Aber den Herrn Brandner, den lass mal fort. Ich heiß’ Martin, wenn’s recht ist. Wir sind hier net so vornehm und duzen uns einfach.«

»Jawoll!«, rief der Familienvater. »Da bin ich ganz Ihrer …, äh, ich meine, deiner Meinung. Schließlich sind wir hier nicht in einem Luxushotel, sondern auf einem Bauernhof. Aber ich wette, in einem Hotel hätte ich nicht besser geschlafen, als hier, Martin.«

Er deutete nacheinander auf Frau und Kinder.

»Also, Ingrid, die Kerstin und der Frank sind derselben Meinung.«

Der Bauer nickte den beiden Jugendlichen zu. Sie waren um die sechzehn Jahre alt, und Martin wunderte sich ein wenig, dass die Eltern sie hatten überreden können, ausgerechnet auf einem Bauernhof Ferien zu machen.

»Wann wird denn gemolken?«, fragte das Madel zu seinem Erstaunen.

»Erst am Abend wieder«, antwortete er. »Wenn du mal morgens dabei sein willst, dann musst schon ganz früh aufsteh’n.«

»Wie früh denn?«, wollte Frank Hoffmann wissen.

»Na, so gegen halb fünf sollte der Wecker schon klingeln«, schmunzelte der Bauer.

Und staunte gleich noch mal!

»Okay«, nickten die Geschwister, »morgen früh sind wir dabei.«

Ingrid Hoffmann lachte.

»Zuhause können sie morgens kaum aus dem Bett kommen und hier wollen sie so früh aufstehen«, sagte sie. »Aber tatsächlich konnten sie es kaum erwarten, endlich das Leben auf einem Bauernhof kennen zu lernen. Bei uns daheim gibt es so etwas ja nicht.«

Familie Hoffmann kam nämlich aus dem Ruhrgebiet und war eher Schlote und Stahlwerke, Förderbänder und Kohlegruben gewöhnt, als Landluft und Schweinesuhlen.

»Wenn ihr Lust habt, dann könnt’ ihr später beim Käsen helfen«, schlug Martin vor.

Die beiden waren Feuer und Flamme.

Der Bauer sah auf die Uhr.

»Nachher kommt noch eine Familie«, fuhr er fort. »Eine Mutter mit ihrem Bub. Wenn ich denen alles gezeigt hab’, geht’s los.«

Martin Brandner zeigte jedem neuen Gast erst einmal den Hof und alles was dazu gehörte. Jeder konnte sich überall frei bewegen. Im ehemaligen Gesindehaus sowieso, aber auch das Erdgeschoss des Bauernhauses konnten die Gäste betreten und sich darin aufhalten. Hier war auch das Speisezimmer, das außerhalb der Mahlzeiten als Aufenthaltsraum fungierte, wenn es draußen regnete. Doch meistens schien die Sonne und die Urlauber hielten sich lieber im Freien auf. Hinter dem Haus gab es eine große Wiese, auf der Liegen und Bänke bereitstanden, rings um den Hof konnte man wandern und die Umgebung erkunden, und wer Lust dazu hatte, ›durfte‹ bei der Arbeit mit anpacken. Martin hatte festgestellt, dass sich kaum ein Gast dem Reiz entziehen konnte, bei der Arbeit auf einem Bauernhof mitzuhelfen.

Seit einem knappen Jahr betrieb er auf dem Brandnerhof das ›Bauernhotel‹, wie er es nannte. Urlaub am Brandnerhof hatte eingeschlagen wie eine Bombe, obwohl er zu Anfang skeptisch gewesen war.

Auf die Idee gebracht, hatten ihn zahlreiche Anfragen von Reiseunternehmen, die Unterkünfte für ihre Kunden suchten. Nachdem sich die Anfragen häuften, hatte der Bauer überlegt, ob dieses Geschäft vielleicht ein zweites Standbein für ihn sein könne.

Der Brandnerhof war immer noch ein landwirtschaftlicher Betrieb, aber Martin hatte den Schwerpunkt mehr auf Viehhaltung gelegt, und den Großteil seiner Felder an andere Bauern verpachtet. Das alte Gesindehaus erschien ihm geradezu als ideal, um es umzubauen und für Urlauber herzurichten. Das obere Stockwerk des Bauernhauses wurde für ihn selbst und Walburga Berghofer, die Magd, die schon bei seinem Vater in Lohn und Brot gestanden hatte, sowie Georg Henkel, den Knecht, reserviert. Zimmer gab es genug, und unten richtete Martin den Aufenthaltsraum für die Gäste im ehemaligen Wohnzimmer ein. Während er und Georg sich um die Tiere kümmerten, den Käse und die Butter herstellten, hatte Burgl es übernommen, die Gäste zu bekochen. Wenn die insgesamt sieben Zimmer alle belegt waren, kam eine Aushilfe aus Engelsbach hinzu, die die Magd unterstützte. Alles in allem war Martin Brandner mit der Entwicklung zufrieden und bereute seinen Entschluss nicht.

Es war kurz vor der Mittagszeit, als ein kleines Auto auf den Hof fuhr. Georg, der gerade vorüberging, zeigte der jungen Fahrerin, wo sie parken konnte, und half mit dem Gepäck.

»Grüß Gott und herzlich willkommen am Brandnerhof«, sagte Martin, der aus dem Haus gekommen war. »Du bist die Maria Leitner aus München, net wahr?«

Sie nickte.

»Dann musst du der Thomas sein«, sprach der Bauer den Kleinen an und reichte ihm die Hand. »Grüß dich, und auch dir ein herzliches Willkommen. Ich bin der Martin. Der Georg zeigt euch erst einmal wo ihr wohnt, und dann kommt ihr ins Haus und erfrischt euch bei einem Glaserl Milch, gell?«

Thomas nickte strahlend.

»Vielen Dank für die herzliche Begrüßung, Herr Brandner«, lächelte Maria.

»Einfach Martin.«

Ach ja, das hatte sie fast vergessen. Hier war man nicht so förmlich, sprach sich einfach mit dem Vornamen an und duzte sich.

»Wirst seh’n«, sagte sie zu ihrem Bub, als sie die Koffer auspackten, »die Milch hier schmeckt ganz anders, als die aus dem Supermarkt. Viel, viel leckerer.«

Sie hatte ein Einzelzimmer gebucht, und wie versprochen stand ein Kinderbett an der Wand. Maria sah sich zufrieden um. Alles war perfekt. Das Zimmer hell und freundlich eingerichtet. Wie der Knecht erzählte, hatte man beim Umbau aus zwei Kammern ein Fremdenzimmer gemacht und ein kleines Bad dazu eingerichtet. Es war wirklich wunderschön, und man konnte sich hier wohlfühlen.

»Der Martin ist sehr nett«, bemerkte Thomas, während er sorgfältig seinen Schlafanzug auf das Bett legte. »Genauso nett wie Mehmet. Oder wie Papa es war …«

Maria spürte einen dicken Kloß in ihrer Kehle stecken, wie immer, wenn Thomas seinen verstorbenen Vater erwähnte. Sie hatte geglaubt, dass er doch eigentlich gar keine Erinnerung an Franz haben könne, weil er ja damals noch so klein gewesen war, doch offenbar war sie viel stärker, als sie vermuten konnte.

Sie nahm ihren Sohn in die Arme.

»Sollst mal seh’n«, sagte sie und lächelte, »wir werden eine ganz, ganz schöne Zeit hier haben. Und dein böser Husten, der geht hier sicher auch weg.«

Angstvoll dachte sie an die Tasche mit den Medikamenten, die noch in ihrem Koffer steckte. Vor allem die Nebenwirkungen fürchtete Maria Leitner. Schlimm genug, dass Thomas in dem Alter schon so krank war. An das, was durch die Tabletten noch alles geschehen konnte, musste sie ständig denken und gegen ihre Angst ankämpfen.

»Komm«, sagte sie, »jetzt geh’n wir mal die Milch probieren und schau’n uns alles hier an.«

*

Ja, Thomas hatte Recht, Martin Brandner war wirklich ein sehr netter Mensch. Milch und ein paar Kekse standen schon bereit, und der Bauer setzte sich zu ihnen, um zu plaudern.

Als sie und ihr Sohn das Bauernhaus betraten, da war es für Maria, als käme sie nach Hause. Überhaupt erinnerte alles hier an den Hof auf dem sie aufgewachsen war.

Dieses Gefühl hatte sie schon gehabt, als sie von der Autobahn abgebogen war und über die Landstraße dahinfuhr. Beinahe jeden Ort kannte sie und konnte Thomas erklären, wo sie früher einmal eine Freundin gehabt hatte oder zur weiterführenden Schule gegangen war. Dort hatte sie mit Freundinnen die Kirchweih besucht, in einem anderen Dorf an der Hochzeit einer Verwandten ihrer Mutter teilgenommen.

Gülcan hatte ihr uneigennützig das kleine Auto geliehen.

»Ich brauche es im Moment nicht«, hatte die hilfsbereite Nachbarin gesagt. »Und so, wie ich dich verstanden habe, ist da unten ein Auto ganz nützlich.«

Maria hatte das großzügige Angebot gerne angenommen. Freilich wäre sie auch mit der Bahn an ihr Urlaubsziel gelangt, und im Wachnertal fuhren auch Busse, doch so war sie unabhängiger von den Fahrplänen und konnte ihre Zeit besser nutzen.

Ja, alles erinnerte Maria an den Hof des Vaters, und ein bisschen Wehmut stieg in ihr auf. Aber auch Ärger über sich selbst, weil sie von sich aus nie versucht hatte, den Kontakt zu suchen. Vielleicht hätte sich da noch alles einrenken lassen.

Jetzt war es ganz sicher zu spät!

Auf jeden Fall würde sie irgendwann nach St. Johann fahren und das Grab der Mutter besuchen. Auf der Fahrt hatte Maria überlegt, ob sie Thomas überhaupt von ihren Eltern erzählen sollte. Sie hatte es nie getan, und der Bub wusste gar nicht, dass er noch einen Großvater hatte. Er kannte nur Oma Friederike, die Mutter von Franz; dessen Vater hatte Maria schon nicht mehr kennen gelernt.

»Komm«, sagte sie zu Thomas, »du musst noch deine Tablette nehmen.«

Martin Brandner, der mit am Tisch saß, beugte sich vor und sah sie fragend an.

»Was hat denn der Bub?«

Maria erzählte ihm von der Erkrankung, die der eigentliche Auslöser für diesen Urlaub gewesen war.

Der Bauer strich Thomas über den Kopf.

»Das wird schon wieder«, sagte er zuversichtlich. »Wirst mal seh’n, unsre gute Luft hilft dir, ganz schnell wieder gesund zu werden.«

»Das hat der Doktor Brenner auch gesagt«, meinte der Kleine. »Sag’ mal, Martin, da stand doch in der Anzeige, dass ihr einen Esel auf dem Hof habt …?«

Martin Brandner lachte laut auf.

»Freilich haben wir einen Esel«, antwortete er. »Zwei sogar, und der größte davon bin ich.«

Er zwinkerte mit dem rechten Auge.

»Nein, im Ernst, draußen auf der Weide steht der ›Gulliver‹. Wenn du magst geh’n wir gleich zu ihm, wenn ich euch alles andre gezeigt hab’.«

Thomas nickte begeistert.

»Also, dann mal los!«, sagte der Bauer.

Maria hatte ihn die ganze Zeit still beobachtet.

Fantastisch, wie er mit Thomas umging!

Ob er selbst Kinder hatte?

Bisher wusste sie nicht einmal, ob er überhaupt verheiratet war. Indes war es bei so einem gestandenen Mannsbild kaum vorstellbar, dass er noch keine Frau hatte.

Verstohlen betrachtete sie ihn weiter, während er neben Thomas vor ihr ging und alles erklärte.

Martin Brandner war kaum viel älter als sie selbst. Er hatte eine schlanke Figur, breite Schultern, ein sympathisches Gesicht, mit einem markanten Kinn. Das dunkle, fast schwarze Haar hing ein bissel widerspenstig in der Stirn, aber gerade das gab ihm ein männliches Aussehen, das von den Muskel bepackten Oberarmen, die aus den heraufgekrempelten Ärmeln schauten, noch unterstrichen wurde.

Warum bloß klopfte ihr Herz plötzlich so unruhig, während sie hinter ihnen über den Hof ging?

Wie Vater und Sohn, schoss es ihr durch den Kopf, und in ihr krampfte sich alles zusammen. Und dass es eine Ewigkeit her war, dass sie einen Mann so angesehen hatte, wie eben Martin Brandner, beunruhigte sie zusätzlich.

Und war es eine Einbildung gewesen, oder hatte sein Blick nicht auch nachdenklich und interessiert auf ihr geruht, als sie am Tisch saßen und Milch tranken?

Doch Maria rief sich rasch zur Räson. Die Gedanken, die ihr eben durch den Kopf spukten, waren absurd. Sie kannte den Mann doch gar nicht, und sein Interesse an Thomas war sicher rein geschäftsmäßiger Natur. Bestimmt behandelte er die Kinder der anderen Gäste nicht weniger nett als ihren Sohn.

›Gulliver‹ stand auf der Weide und zeigte sich keineswegs störrisch, als der Bauer ihn rief. Munter kam er angetrabt und ließ sich zu Thomas’ Entzücken von dem Bub streicheln.

»Wie bist du denn an den gekommen?«, fragte Maria und strich dem Grautier über den Rücken.

»Du wirst es net glauben«, antwortete Martin, »aber den hab’ ich gefunden.«

»Gefunden?«

»Ja, bestimmt. Eines Tags stand er auf einer Wiese, die ich zuvor an einen Zirkus verpachtet hatte, der hier ein Quartier gemacht hat. Als ich, einen Tag, nachdem die Zirkusleute wieder abgereist waren, nach dem Rechten seh’n wollt, stand der ›Gulliver‹ da ganz allein und schrie immer ›Iiaa, Iiaa!‹. Na ja, was sollt’ ich tun? Ich hab’ ihn mit nach Haus genommen und vom Tierarzt untersuchen lassen. Aber außer Fressen und Wasser hat ihm nix gefehlt. Und seitdem steht er hier auf dem Hof. Ich hab’ keine Ahnung, ob die Zirkusleut’ ihn vergessen oder absichtlich dagelassen haben. Er ist ja net mehr der Jüngste. Jedenfalls hat sich von ihnen nie wieder jemand gemeldet.«

Er sah Thomas fragend an.

»Magst’ mal drauf reiten?«

Der Bub schüttelte den Kopf.

»Traust’ dich noch net, was? Na, das ist net weiter schlimm. Man soll nur das machen, was man sich auch wirklich zutraut«, meinte Martin Brandner lächelnd. »Das ist keine Feigheit, sondern beweist, dass man so klug ist, über sein Handeln nachzudenken. Freunde dich erst mal mit dem ›Gulliver‹ an, und dann wirst’ bald von ganz allein wissen, ob du dich auf ihn rauftrauen kannst.«

Der Bub lächelte glücklich zurück, und Maria gab es einen Stich ins Herz.

Mein Gott, dachte sie gerührt, genauso hätt’ der Franz mit seinem Sohn auch gesprochen!

*

Der Bauer schaute auf die Uhr.

»So, es wird Zeit«, sagte er. »Wenn ihr Lust habt, dann könnt ihr beim Käsen helfen.«

Maria hatte große Lust dazu. Als junges Madel war sie oft zur Kandereralm aufgestiegen und hatte dem Franz Thurecker bei der Arbeit geholfen. Der Senner, der berühmt für seinen Käse war, hatte ihr dabei so manchen Kniff gezeigt.

Ach, wie lange war das her!

Kerstin und Frank Hoffmann warteten schon vor dem Stall, als Martin, Maria und Thomas, dort ankamen. Die Käserei war vor Jahren gebaut worden und befand sich dahinter. Ein sauberer Raum, der bis unter die Decke gefliest war. Der Bauer erklärte, dass der beste Käse aus einer Mischung von Morgen- und Abendmilch gemacht wurde, die vor allem nicht behandelt worden war. Auf dem Brandnerhof stellte man also Rohmilchkäse her, der unvergleichlich besser schmeckte, als jener aus pasteurisierter Milch.

»Sag’ mal, das machst’ aber auch net zum ersten Mal, oder?«, fragte Martin verblüfft, als er sah, wie Maria sicher und ohne Zögern mit der Käseharfe hantierte.

»Je feiner der Bruch, um so fester wird später der fertige Käse«, zitierte sie, was sie beim Thurecker-Franz gelernt hatte, ohne auf die Bemerkung des Bauern einzugehen.

Die beiden Jugendlichen hörten aufmerksam zu, und Maria ließ sie schließlich selbst den Käsebruch weiter zerteilen.

»Wir stellen nur für den Eigenverbrauch her«, erklärte Martin. »Deshalb wird auch nur zwei Tage gekäst. Der Großteil der Milch geht an die Molkerei.«

Im Reifelager standen hohe Regale, und wieder verblüffte Maria Leitner den Bauern, als sie sachkundig feststellte, welcher Käse in welchem Reifestadium war.

»Der hier ist höchstens zwei Monate alt«, sagte sie und deutete auf einen Laib, der eine helle Rinde hatte.

»Stimmt«, nickte Martin.

»Und der hier …, sechs Monate würd’ ich sagen.«

Wieder nickte er.

Maria nahm einen Laib aus dem Regal.

»Hier, schaut mal«, sagte sie an die Jugendlichen und ihren Sohn gewandt. »Die Rinde ist ein bissel klebrig und hat Flecken. Das ist Schimmel, aber ein guter, den man essen kann. Wenn ihr mal ganz vorsichtig darauf drückt, dann werdet ihr feststellen, dass der Laib weicher ist als die anderen.«

Sie sah Martin an, der sie nachdenklich betrachtete.

»Du versuchst, so etwas wie einen Gorgonzola zu machen, gell?«

»Ja«, antwortete er. »Es ist tatsächlich ein Versuch. Ich hab’ den Käse mit den Schimmelpilzen geimpft. Allerdings wär’s besser, er würd’ in einer Natursteinhöhle reifen.«

»Das stimmt«, pflichtete sie ihm bei. »Die natürliche Umgebung, die Luftfeuchtigkeit und die Bakterien in der Luft würden den Reifeprozess günstig beeinflussen.«

Martin Brandner schüttelte den Kopf.

»Jetzt sag’ bloß mal, woher du das alles weißt«, forderte er sie auf.

Maria winkte ab.

»Ach, das ist eine lange Geschichte. Später vielleicht mal …«

Zum Essen gingen sie ins Haus. Die Gäste hatten die Möglichkeit, das Zimmer mit Frühstück zu buchen, aber auch Voll- und Halbpension waren möglich. Maria hatte sich für Vollpension entschieden, um nicht in einem Wirtshaus essen zu müssen. In Engelsbach gab es ohnehin nur den ›Ochsen‹, in Waldeck den ›Waldecker Hof‹ und in St. Johann das Hotel ›Zum Löwen‹, mit Restaurant, Gaststube und Biergarten.

Doch gerade dort würde sie ganz sicher nicht essen gehen wollen!

Burgl Berghofer hatte eine leckere Vorsuppe gekocht, hinterher gab es ein Gulasch, mit Spätzle und Gurkensalat, und als Nachtisch wurde Vanillepudding mit Kirschen gereicht.

Thomas aß mit gutem Appetit, mehr als er sonst zu sich nahm, wie Maria glücklich feststellte. Es schien ihm wirklich gut zu schmecken. Sicher war das schon der Einfluss der guten Bergluft.

Auch wenn der Bub gesund und munter wirkte, so bestand die Mutter doch darauf, dass er nach dem Essen einen Mittagsschlaf machte. Thomas fügte sich artig, und zur Belohnung las Maria ihm noch eine Geschichte vor. Als sie das Buch zuklappte, war Thomas schon eingeschlummert. Sie zog die Decke über ihn und ging zu einem Sessel, der am Fenster stand. Seufzend setzte sie sich und schaute hinaus.

Doch, es war die richtige Entscheidung gewesen, hierher zu fahren. Auch wenn der Urlaub fast alle ihre Ersparnisse aufbrauchen würde. Schließlich ging es um ihr Kind, das Einzige, was ihr von Franz übrig geblieben war.

Marias Augen füllten sich mit Tränen, als sie an ihren verstorbenen Mann dachte.

Warum hatte das Schicksal es erst so gut gemeint und ihr diesen Mann geschickt, wenn es kurze Zeit später sein Leben forderte?

Sie hatte es nie verstanden, auch wenn sie lange nach dem Sinn geforscht hatte. Eine Antwort war stets ausgeblieben, und Maria gab es schließlich auf.

»Niemand wird je herausfinden, warum einem Menschen ein schwerer Schicksalsschlag trifft, während ein andrer davon verschont wird«, hatte der Pfarrer auf Franz’ Beerdigung gesagt. »Es ist Gottes Wille!«

War es auch Gottes Wille, dass so ein kleiner Bub schwer erkrankte?

Maria hatte aufgehört, in die Kirche zu gehen, als der Kinderarzt die Diagnose stellte. Sie haderte mit Gott und ihrem Schicksal.

Nie wieder würde sie ein Gotteshaus betreten!

Als sie hochschreckte, wurde ihr bewusst, dass sie über all diese Gedanken eingeschlafen war. Thomas wälzte sich in seinem Bett und schlug die Augen auf. Lächelnd ging sie zu ihm und gab ihm einen Kuss.

»Ich möcht’ zu ›Gulliver‹«, sagte der Bub, als er angezogen war, und sie mit einer Bürste sein Haar glättete. »Darf ich?«

Maria nickte. Hier auf dem Hof konnte er überall herumlaufen.

»Bloß net über Zäune klettern, vom Scheunendach springen oder die Kühe ärgern«, gab sie ihm lächelnd mit auf den Weg. »Ich bin im Bauernhaus.«

»Ist gut, Mama«, antwortete er und war schon um die Ecke.

Im Aufenthaltsraum stand ein Tisch an der Wand, auf dem Kaffee, Tee und Kuchen aufgebaut waren. Als Maria eintrat, war niemand sonst da. Die Familie Hoffmann wollte an den Achsteinsee fahren, hatte sie beim Essen verkündet. Doch Burgl Berghofer kam aus der Küche und lächelte die junge Frau freundlich an.

»Na, schon ein bissel eingelebt?«, erkundigte sich die Magd.

»Ja, und es ist sehr schön hier.«

»Wo ist denn der Thomas?«

»Der wollt’ unbedingt zum Esel.«

»Ach ja, der ›Gulliver‹«, schmunzelte Burgl. »Na, der ist lammfromm, da kann nix passieren.«

Sie deutete auf das Büffet.

»Ein Stückl Kuchen?«

Maria strich sich über den Bauch.

»Ach, ich weiß net«, erwiderte sie. »Ich hab’ heut’ Mittag schon so reichlich gegessen. Aber einen Kaffee, den trink’ ich.«

Burgl sah sie lächelnd an.

»Ein bissel Kuchen schadet sicher net, so schlank wie du bist«, meinte sie. »Ich hab’ ihn heut’ Früh erst gebacken. Du musst ihn einfach probieren!«

Maria Leitner gab sich geschlagen.

»Also gut«, willigte sie ein und nahm sich ein Stück Schokoladenkuchen.

Die Magd setzte sich zu ihr. Noch immer betrachtete sie die junge Frau mit einem nachdenklichen Blick.

»Sag’ mal, ich will net neugierig sein«, begann sie vorsichtig, »der Vater vom Thomas …?«

»Mein Mann ist vor drei Jahren gestorben«, antwortete Maria. »Seitdem sind wir alleine.«

»Oh, das tut mir leid«, bedauerte Burgl. »War er krank, dein Mann?«

Die junge Frau nickte.

»Er hatte Krebs.«

Einen Moment herrschte betroffene Stille.

»Der Martin hat erzählt, wie geschickt du dich beim Käsemachen angestellt hast«, wechselte Burgl dann das Thema.

Maria lächelte. Es hatte ihr Spaß gemacht, zu sehen, wie verblüfft der Bauer gewesen war.

»Hast’ das mal gelernt?«, hakte die Magd nach, als Maria nicht antwortete.

»Ja«, gab sie schließlich zu. »Ein bissel zumindest.«

Hätte sie geahnt, welche Gedanken der Burgl Berghofer durch den Kopf gingen …

Seit Jahren schon lag sie Martin in den Ohren, er solle endlich heiraten, gestern erst wieder.

»Wen denn?«, fragte er lachend zurück – ein Beweis, dass er ihre Forderung nicht ernst nahm.

»Du brauchst eine Frau auf dem Hof!«, bestand sie trotzdem darauf. »Ich bin net mehr die Jüngste, eines Tags’ stehst’ dann allein’ da.«

Erschrocken hatte er sie in den Arm genommen.

»Sag’ so was net!«, rief er. »Ich brauch’ dich doch hier!«

»Und überhaupt, heiraten kann ich immer noch.«

Burgl fragte sich oft, warum Martin sich so gegen eine Ehe sträubte. Schließlich sah er gut aus, hatte mit seinem Hof etwas vorzuweisen, und wenn sie samstags auf den Tanzabend in St. Johann gingen, was selten genug vorkam, aber hin und wieder schon, dann standen die Madeln Schlange, um mit Martin Brandner zu tanzen.

Insgeheim hielt die Magd schon eifrig nach einer geeigneten Kandidatin Ausschau – auch unter den weiblichen Gästen, die nicht verheiratet waren …

»Wenn man so schaut, wie du dich hier bewegst, dann könnt’ man glauben, du wärst’ auf einem Bauernhof groß geworden«, bemerkte sie und achtete genau auf Marias Reaktion.

Die junge Frau zuckte tatsächlich unwillkürlich zusammen.

»Das bin ich«, gab sie schließlich zu. »Aber das ist eine lange Geschichte …«

Burgl lächelte.

»Ich bin eine gute Zuhörerin«, sagte sie. »Und nix geht hier aus dem Haus, was du net selbst willst.«

Maria sah sie an. Ein wenig erinnerte die Magd sie an Resl vom Sonningerhof.

Auch die hatte stets ein einfühlsames Wesen und konnte so manchen Ratschlag geben.

»Ich hab’ vor ungefähr sieben, beinahe acht Jahren meine Heimat verlassen«, erzählte die junge Frau. »Meinem Vater gehört der Sonningerhof, drüben bei St. Johann.«

»Ach, daher weißt’ so gut Bescheid.«

»Ja, bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr hab’ ich ja nix andres gemacht. Ich hab’ alles gelernt, was man auf einem Bauernhof können muss.«

Langsam erzählte sie von ihrem Vater, der Mutter, die so plötzlich verstarb, und wie Veit Sonninger immer unleidlicher zu seiner Umwelt wurde und ungerecht ihr gegenüber.

Burgl hörte geduldig zu, ohne sie zu unterbrechen. Als Maria fertig war, griff sie nach ihrer Hand und drückte sie fest.

»Gewiss ist’s ein schweres Schicksal, das dir widerfahren ist«, sagte die alte Frau. »Aber du musst bedenken, dass du nur einen Vater hast. Versuch’ deinen Frieden mit ihm zu machen, solang’ du hier bist. Auch der Thomas muss erfahren, dass er noch einen Großvater hat. Und vielleicht stimmt es deinen Vater ja grad mild, wenn er erfährt, dass da noch ein Enkel ist.«

Maria hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.

»Das hab’ ich mir auch schon überlegt. Allerdings kann ich’s net so recht glauben. Ich kenn’ ihn schließlich lang genug.«

Die Magd hob die rechte Hand.

»Sag das net so einfach, ohne es probiert zu haben«, mahnte sie. »Sieben Jahr’ sind eine lange Zeit. Da ändert sich der Mensch. Und warum sollt’ sich bei deinem Vater net was zum Positiven geändert haben.«

»Vielleicht, aber erst einmal will ich abwarten, wie’s Thomas hier ergeht. Du weißt ja, dass er der eigentliche Grund für diesen Urlaub ist. Der Arzt meint jedenfalls, die Luftveränderung würde ihm gut tun. Wenn sich da tatsächlich was tut, dann hab’ ich auch den Kopf frei für andre Dinge.«

Die Magd beugte sich vor.

»Und sonst? Gibt’s keinen Mann in deinem Leben?«, fragte sie.

Es klang nicht neugierig, einfach nur interessiert, und doch verbarg sich etwas ganz Bestimmtes hinter dieser Frage …

Maria winkte ab.

»Freilich wär’s schön, hin und wieder eine starke Schulter zu haben, an die man sich lehnen kann. Einen Menschen, der alles mit dir teilt, Leid und Freud’. Aber das

muss hinten ansteh’n, solange Thomas mich braucht. Ich leb’ nur für meinen Sohn, für alles andre ist später noch Zeit.«

»Da kann’s schon zu spät sein«, widersprach die Magd vehement. »Ehe du dich versiehst, sind die besten Jahre vorbei.«

Die junge Frau lächelte.

»Dann hab’ ich sie Thomas geschenkt.«

Burgl schüttelte den Kopf.

»Ich glaub’ net, dass unser Herrgott das so gewollt hat, als er Mann und Frau erschuf.«

Marias Miene versteinerte.

»Hat er denn gewollt, dass Menschen so jung sterben müssen? Dass Kinder krank werden?«, entgegnete sie heftig. »Komm mir net mit dem Herrgott, ich hab’ meinen Glauben an ihn längst verloren!«

Die Magd schlug entsetzt die Hände zusammen.

»Maria!«, flüsterte sie entsetzt. »Maria, versündige dich net!«

Ratlos schüttelte sie den Kopf.

»Schad’, dass Pfarrer Trenker net mehr bei uns ist …«, sagte sie.

Maria sah sie betroffen an.

»Pfarrer Trenker ist net mehr da?«, fragte sie überrascht. »Meinst du etwa, er …, er ist doch wohl net … tot?«

»Nein, nein«, antwortete Burgl hastig. »Das hast’ falsch verstanden. Hochwürden lebt und ist gesund und munter wie eh und je. Er betreut nur die Pfarre in Engelsbach net mehr, seit wir einen neuen Geistlichen haben.«

Sie hob die Augenbrauen.

»Bedauerlicherweise, muss ich sagen«, setzte sie hinzu. »Pfarrer Eggensteiner ist ganz das Gegenteil unsres Bergpfarrers! Aber das gehört net hierher. Doch grad weil Pfarrer Trenker nur noch in St. Johann ist, musst du dorthin und mit ihm reden. Ganz sicher wird er dir einen Rat geben können. In Bezug auf deinen Vater und auf dein Verhältnis zu Gott.«

Burgl lächelte aufmunternd.

»Tu’s«, sagte sie. »Für deinen Seelenfrieden und für deinen Sohn.«

Maria hatte ihre Tasse geleert. Langsam stellte sie sie ab.

»Mal seh’n«, sagte sie.

*

Maria schaute zur Tür, durch die Thomas und Martin hereinkamen.

»Mama, ich bin auf ›Gulliver‹ geritten!«, rief der Bub, mit vor Begeisterung rot glühenden Wangen.

»Nein! Wirklich?«

Thomas nickte stolz. Martin schenkte sich Kaffee ein und kam an den Tisch. Burgl stand auf und ging in die Küche, um für Thomas Milch zu holen.

»Es stimmt wirklich«, bestätigte der Bauer. »Der Thomas hat’s gewollt, von sich aus und ohne Zwang.«

Nach dem Essen hatte Martin Brandner das getan, wovor ihm am meisten graute – er hatte sich an die Bücher gesetzt. Eine unangenehme und lästige Pflicht, die aber sein musste, wenn der Betrieb funktionieren sollte.

Glücklicherweise war ihm die Arbeit schnell von der Hand gegangen. Der Bauer hatte eher zufällig aus dem Fenster geschaut und gesehen, dass Thomas zu der Weide ging, wo der Esel stand, während seine Mutter auf das Haus zuschritt. Martin wusste nicht so recht, was er von dieser Frau halten sollte.

Abgesehen davon, dass sie geradezu unverschämt gut ausschaute!

Erstaunt hatte er festgestellt, dass Maria Leitner ihn mehr beschäftigte, als er selber wahrhaben wollte. Selbst bei der Buchführung hatte er hin und wieder unterbrochen und an sie gedacht. Wie sie so souverän in der Käserei hantiert hatte, erstaunte ihn immer noch. Jetzt sah er sie über den Hof gehen. Das Kleid schmiegte sich im leichten Sommerwind eng an ihren Körper und betonte ihre gute Figur.

Der junge Bauer schloss einen Moment die Augen, als er sie wieder öffnete, war sie von seinem Platz aus nicht mehr zu sehen. Kurz darauf klappte die Haustür.

Martin schloss den Ordner mit den Rechnungen und stand auf. Der Bub gefiel ihm. Thomas Leitner war gerade so, wie er sich einen Sohn vorstellte. Ein bissel schüchtern noch, aber er wusste jetzt schon genau, was er wollte.

Der Bub stand auf der Weide und strich dem Esel über das Fell, als der Bauer hinzukam.

›Gulliver‹ ließ sich das gerne gefallen. Er war schon immer gut mit Kindern ausgekommen, seit er auf dem Hof war. Vielleicht, hatte Martin überlegt, waren beim Zirkus immer welche auf ihm geritten.

»Gell, du würdest mich doch net runterwerfen?«, hörte der Bauer den Kleinen sagen.

»Das würd’ er ganz gewiss net«, sagte er.

Thomas wendete den Kopf und lächelte schief.

»Ich würd’ ja schon mal schrecklich gern’ auf ihm reiten«, meinte er.

Martin war hinter den Zaun geklettert.

»Wenn du wirklich magst, dann helf’ ich dir hinauf«, bot er an. »Es sind schon viele Kinder auf ›Gulliver‹ geritten. Du brauchst auch gar keinen Sattel, und festhalten kannst’ dich an seinem Hals.«

Er sah, wie es hinter der Stirn des Buben fieberhaft arbeitete. Thomas betrachtete den Esel und strich ihm wieder über das Fell.

»Ich trau’ mich!«, sagte er plötzlich entschlossen.

»Na, dann komm.«

Martin packte ihn bei der Hüfte und hob ihn mit einem Schwung auf den Rücken des Esels. ›Gulliver‹ schritt langsam los, sobald er das Gewicht spürte. Die ersten Meter hielt der Bauer die Hand des kleinen Reiters, dann ließ Thomas von ganz alleine los, drückte sich an den Hals des ›Grauen‹ und ließ sich über die Weide tragen. Dabei strahlte er über das ganze Gesicht.

»Komm«, sagte Martin lächelnd, nach der sechsten oder siebten Runde, »das müssen wir der Mama erzählen. Was denkst’ wohl, wie die staunen wird!«

Das tat Maria Leitner wirklich. Sie strich ihrem Sohn über das Haar und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Und Martin hat aufgepasst!«, sagte er und schaute seine Mutter treuherzig an. »Martin ist nämlich mein Freund!«

»Aber freilich bin ich dein Freund«, lachte der Bauer und packte ebenfalls nach Thomas’ Schopf.

Maria spürte Martins Finger an ihrer Hand, als sie gleichzeitig über den Kopf ihres Sohnes strichen, und es war, als durchströme sie ein elektrischer Schlag. Fast abrupt nahm sie die Hand fort und griff nach ihrer Tasse, die aber längst leer war.

»Möchtest’ noch Kaffee?«, bot Martin an und wollte sich schon erheben.

Doch sie schüttelte den Kopf.

»Vielen Dank«, sagte Maria, »ich hab’ genug.«

Sie schaute ihren Sohn an.

»Ich wollt’ mit dir nach St. Johann fahren. Bist’ noch sauber?«

Sie hatte nichts dagegen, wenn Thomas sich schmutzig machte. Im Gegenteil, wenn er spielte und herumtobte, wusste sie, dass es ihm gut ging.

Der Bub sah sie bittend an.

»Muss ich da mit?«, fragte er. »Ich möcht’ lieber hierbleiben.«

»Fahr’ nur allein«, sagte die Magd, die zwischenzeitlich Thomas die Milch gebracht und sich wieder gesetzt hatte. »Hier kann ihm nix passieren.«

»Ich weiß«, lächelte Maria.

»Er kann auch gern’ mit mir auf dem Trecker fahren«, bot der Bauer an und sah zu Thomas. »Was meinst, hast’ Lust, mit in den Bergwald hinaufzukommen?«

Marias Sohn nickte begeistert. Sie lächelte und gab ihre Zustimmung. Sicher hatte er vom Autofahren genug, auch wenn die Entfernung von München hierher keine weite Strecke war.

Eine Treckerfahrt hingegen, war für einen Bub in seinem Alter freilich ganz was anderes.

»Er fällt euch auch wirklich net zur Last?«, vergewisserte sie sich noch einmal, bevor sie losfuhr.

Martin und Burgl verneinten, und Maria setzte sich beruhigt in das Auto. Sie winkte, als sie vom Hof fuhr.

»Zum Abendessen bin ich spätestens wieder zurück.«

Es waren gemischte Gefühle, die sie auf ihrem Weg nach St. Johann begleiteten. Maria hoffte inständig, niemandem zu begegnen, der sie erkannte. Ein wenig bedauerlich war es schon, dass Thomas nicht mitfahren wollte, es wäre eine gute Gelegenheit, ihm mehr von sich und den Eltern zu erzählen, als das Wenige auf der Fahrt hierher.

Aber vielleicht hatte es ja auch sein Gutes …

*

Sebastian Trenker saß auf der Terrasse des Pfarrgartens. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Kaffeetasse, den Kuchenrest und das übrige Geschirr hatte Sophie Tappert schon abgeräumt. Max hatte sich bereits wieder verabschiedet und war zum Dienst gegangen.

Der Geistliche schaute den Terminkalender für die nächsten Tage durch. Eine Hochzeit stand am Wochenende an, dazwischen ein paar Besuche bei kranken Gemeindemitglieder, sowie der Nachmittag am Mittwoch, im Waldecker Seniorenheim. Ansonsten schien es eine ruhige Woche zu werden.

Genügend Zeit also, um wieder einmal eine Bergtour zu unternehmen, überlegte der gute Hirte von St. Johann.

Sebastian schaute eher zufällig über die Hecke, die das Grundstück zum Friedhof hin abgrenzte. Er sah eine junge Frau, die dort vor einem Grab stand. Sie wandte ihm den Rücken zu, dennoch kam sie ihm bekannt vor.

Der Bergpfarrer erhob sich und ging ein Stück näher. Eine kleine Pforte ermöglichte es ihm, den Friedhof vom Pfarrhausgrundstück zu betreten, ohne außen herumgehen zu müssen. Er öffnete sie und trat hindurch. Im selben Moment drehte sich die Frau um.

»Maria! Bist’ du’s wirklich?«

Im ersten Moment sah es so aus, als wolle sie fortlaufen, doch dann blieb sie stehen und nickte ihm zu.

»Grüß Gott, Hochwürden.«

»Grüß dich, Maria. Das ist aber eine Überraschung.«

Sebastian war heran und nahm ihre Hand.

»Gut schaust’ aus. Seit wann bist’ denn wieder zurück?«

Sie räusperte sich.

»Heut’ …, heut’ bin ich angekommen.«

»Da wird der Vater sich gefreut haben. Bleibst’ jetzt für immer?«

Maria Leitner schüttelte den Kopf.

»Ich bin nur auf Urlaub hier«, antwortete sie. »Und der Vater weiß es gar net. Ich hab’ ein Zimmer auf dem Brandnerhof, in Engelsbach.«

Der Geistliche zeigte sich bestürzt.

»Dein Vater weiß net, dass du hier bist?«

»Nein. Wir haben seit Jahren keinen Kontakt. Seit damals …«

Sebastian deutete zum Pfarrhaus hinüber.

»Hast’ einen Moment Zeit?«, erkundigte er sich. »Komm, wir müssen uns darüber unterhalten.«

Maria biss sich auf die Lippe.

»Ich glaub’ net, dass ich das möcht’«, erwiderte sie. »Eigentlich hab’ ich ja gar net zurückkommen wollen. Die Umstände zwangen mich dazu. Und jetzt wollt’ ich nur das Grab meiner Mutter besuchen.«

Der Bergpfarrer ließ nicht locker.

»Maria, was ist gescheh’n? Was sind das für Umstände von denen du redest?«

Er kannte sie seit ihrer Geburt, hatte Maria getauft und gefirmt, sie als Jugendliche begleitet und ihr Trost gespendet, als ihre Mutter verstarb. Maria war immer ein offenes, ansprechbares Madel gewesen. Mit Begeisterung hatte sie in der Kirche mitgearbeitet und mehr als eine Bergtour mit ihm unternommen. Beim alten Franz droben hatte sie gelernt, Käse zu machen und auf dem Hof des Vaters war sie eine fleißige Magd gewesen.

Hautnah hatte er miterlebt, wie sie damals fortgelaufen war, weil ihr Vater, nach dem Tode seiner Frau, so streng und unnachgiebig geworden war.

Und es hatte Sebastian sehr enttäuscht, dass Maria sich ihm nicht anvertraut hatte.

Jetzt aber musste etwas geschehen sein, was sie genauso hatte hart werden lassen wie den Sonningerbauer.

»Maria, was sind das für Umstände?«, fragte er noch einmal. »Du weißt, dass ich immer für dich da bin, dass ich dir helfe, wenn ich kann.«

In dem schönen Gesicht zuckte es. Maria war in den Jahren noch hübscher, fraulicher geworden.

Nein, sie war kein Madel mehr, sondern eine richtige Frau!

»Also gut«, sagte sie leise, »ich will es Ihnen erzählen.«

Der Geistliche lächelte erleichtert. Gemeinsam gingen sie durch die Pforte, und Sebastian holte Apfelsaft und Gläser aus der Küche. Die Haushälterin war zu einer Freundin gegangen.

»So«, sagte er, nachdem er eingeschenkt hatte, »lass es dir schmecken.«

Sie tranken einen Schluck. Maria lehnte sich zurück und leckte sich die Lippen.

»Sicher interessiert es Sie, wo ich damals abgeblieben bin«, begann sie, ihre Geschichte zu erzählen.

Der gute Hirte von St. Johann hatte geduldig zugehört, und wenn auch das, was er hörte, ihn erschütterte, so ließ er Maria ausreden, ohne sie zu unterbrechen.

»Nein«, sagte er endlich, als sie darauf zu sprechen kam, dass sie mit Gott haderte, »nein, es ist net der Wille unsres Herrn, dass solche Dinge gescheh’n. Aber bitte frag’ mich net, warum es dann überhaupt passiert. Das ist ein Mysterium, das der Mensch niemals begreifen wird. Aber eines will ich dir sagen, Maria, du solltest deinen Vater besuchen. Reich’ ihm die Hand, schlägt er sie aus, kannst’ immerhin sagen, dass du es versucht hast.«

Die junge Frau nickte.

»Und deinen Bub, den Thomas, den möcht’ ich sehr gern’ mal kennen lernen«, setzte Sebastian lächelnd hinzu. »Ich freu’ mich, dass du dem Rat des Arztes gefolgt bist. Du weißt, unser Doktor ist ebenfalls sehr tüchtig und wenn er auch kein ausgesprochener Kinderarzt ist, so kann der Toni Wiesinger sich deinen Sohn vielleicht ja doch mal anschau’n. Und was deinen Vater angeht, da kann ich dir net viel sagen. Seit dem Tode deiner Mutter ist er net mehr in der Kirche gewesen. Bloß von der Resl weiß ich, dass es ihm gesundheitlich ganz gut geht. Er hat einen Knecht eingestellt, der ihm auf dem Hof hilft.«

Maria Leitner erhob sich. Sie reichte dem Bergpfarrer die Hand.

»Vielen Dank, Hochwürden«, sagte sie. »Es beruhigt mich, dass es meinem Vater gut geht. Ob ich ihn wirklich besuche, kann ich jetzt allerdings noch net sagen.«

Sebastian war ebenfalls aufgestanden.

»Dann komm’ wenigstens noch mal her und stell’ mir deinen Sohn vor«, bat er. »Vielleicht können wir ja mal zusammen eine Tour machen. Eine kleine freilich. Den Kogler hinauf.«

Sie lächelte.

»Ja, das wäre schön.«

Vor dem Pfarrhaus verabschiedete sie sich. Der Bergpfarrer sah ihr hinterher, und ein Glücksgefühl durchströmte ihn, als er sah, dass Maria nicht den Kiesweg hinunterging, sondern sich nach rechts wandte – der Kirche zu.

*

Sie hatte nie wieder eine Kirche betreten wollen. Doch während des Besuchs im Pfarrhaus waren die Erinnerungen zurückgekommen. An die Zeit der Firmung, an die vielen Stunden, die sie in der Pfarrgemeinde zugebracht und mitgearbeitet hatte, an die Ausflüge mit dem Bergpfarrer und den Burschen und Madeln in ihrem Alter.

Erwartungsvoll schaute Maria im Vorraum durch die Glasscheibe und trat durch die Tür. Hoch über ihr wölbte sich die Decke, mit dem herrlichen Fresko; Szenen aus der Bibel, angefangen bei der Erschaffung der Welt, bis hin zur Sintflut und der Arche Noah.

Wie hatte sie es nur vergessen können!

Wunderschön waren auch die Fensterbilder, die ebenfalls Motive aus dem Alten und Neuen Testament zeigten. Maria erkannte jedes einzelne wieder. Über einige der Bilder hatten sie in den Bibelstunden mit Pfarrer Trenker gesprochen.

Überall standen die schönen Heiligenfiguren, von frommen Holzschnitzern geschaffen, die ebenfalls Gegenstand ihrer Gespräche gewesen waren. Maria und die anderen hatten viel über die dargestellten Heiligen erfahren, die schon zu Lebzeiten Wunder gewirkt hatten oder den Märtyrertod gestorben waren.

Die junge Frau ging langsam durch den Mittelgang, froh und glücklich darüber, dass sie alleine war mit sich und ihren Gedanken.

Die Begegnung mit Pfarrer Trenker hatte viel aus den Tiefen ihrer Erinnerung wieder an die Oberfläche geholt. Maria war sich bewusst, dass der Geistliche es gut mit ihr meinte. Schon immer war es sein Bestreben gewesen, für seine Schäfchen da zu sein und ihnen zu helfen, wenn es ihm möglich war.

Sollte sie also seinem Rat folgen und den Vater besuchen?

Maria wusste es nicht. Vielleicht war es richtig, vielleicht aber auch falsch.

Wer konnte das schon vorhersagen?

Sie dachte an die Worte Dr. Brenners, der gesagt hatte, dass sich bei dieser Gelegenheit vielleicht auch die alte Geschichte wieder einrenken ließ.

Würde das auch bedeuten, dass sie mit Thomas hierbleiben konnte? Eine neue Heimat für ihren Sohn, die seiner Gesundheit zuträglicher sein würde, als die Großstadt?

Maria spürte, wie ihr Herz rascher klopfte, als sie an die mögliche Begegnung mit dem Vater dachte. Ihr Blick fiel auf ein Gemälde, das an der Wand, unter der Galerie hing. Es war ein Porträt des Gottessohnes. ›Gethsemane‹, stand auf einem kleinen Schild daneben. Es zeigte Jesus Christus am Abend vor der Kreuzigung, im Gebet versunken. Dem unbekannten Künstler war es meisterhaft gelungen, das Wissen um die Unabänderlichkeit seines Schicksals im Gesicht des Erlösers wiederzugeben. Und nur wenige Schritte davon entfernt, stand, auf einem Sockel, ›die‹ Madonna, das Kleinod und gleichzeitig der größte Schatz, den die Kirche in St. Johann beherbergte.

Die Figur war so schlicht gearbeitet, dass genau diese Einfachheit jeden Betrachter ergriffen dastehen ließ. Maria hatte oft davor gestanden und bei der Gottesmutter, die ja auch ihre Namenspatronin war, Trost und Rat gesucht, damals, als der Vater sich so verändert und an allem und jedem was sie tat oder ließ etwas auszusetzen hatte.

Jetzt stand Maria wieder vor der Statue und hielt ein stummes Zwiegespräch mit der Heiligen, bat um eine Eingebung, einen Rat für das, was sie tun solle.

In diese Gedanken mischte sich plötzlich ein Gesicht.

Die junge Frau erschrak, als sie das Antlitz des Bauern sah. Es lächelte sie an, und es schien, als wolle dieses Lächeln ihr Mut machen.

Mut machen, zu bleiben.

Maria fühlte, wie sie von einem Schwindel gepackt wurde. Sie wankte zur nächsten Kirchenbank und ließ sich darauf sinken. Wie ein Blitz hatte es sie die Erkenntnis durchzuckt.

Sie liebte Martin Brandner!

Eine ganze Weile saß sie so da und kämpfte. Mit sich selbst, mit ihren Gefühlen, die sie so plötzlich überwältigt hatten. Plötzlich schreckte sie hoch, schaute auf die Uhr und stand auf.

Höchste Zeit zurückzufahren!

Maria eilte den Kiesweg hinunter, achtete nicht auf rechts und auf links. Das Auto stand an der Straße, sie schloss die Tür auf.

Jemand ging an ihr vorüber, warf ihr einen Blick zu, stutzte im Weitergehen, blieb stehen und drehte sich zu ihr um.

»Maria?«

Sie hob den Kopf und sah den Mann an. Es war Sepp Graininger …

Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Maria Leitner hätte beinahe den Autoschlüssel fallen lassen.

Nur mit Mühe gelang es ihr, ihn ins Schloss zu stecken und herumzudrehen.

Sepp war zurückgegangen.

»Sag’ mal, kennst’ mich net mehr?«, fragte er.

Der Klang seiner Stimme war eine Mischung aus Verwunderung und Verlegenheit. Er kam um das Auto herum auf die Fahrerseite und wollte ihren Arm greifen, doch Maria schüttelte ihn rasch ab und stieg ein.

»Tut mir leid«, rief sie noch, »ich hab’ keine Zeit.«

Sie startete den Motor, gab mehr Gas als nötig und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

Ausgerechnet Sepp!

Von allen Bewohnern des Wachnertales war er der einzige, auf den sie am wenigsten hatte treffen wollen – von ihrem Vater einmal abgesehen.

Während Maria Leitner durch das Dorf fuhr, auf die Landstraße nach Engelsbach abbog und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, schaute sie immer wieder in den Rückspiegel, ob sie vielleicht von ihm verfolgt wurde.

Sepp Graininger hatte einmal um sie geworben. Einige Male war sie mit ihm zum Tanzen gegangen, einmal war er ihr Tischherr bei einer Silberhochzeitsfeier gewesen, zu der sie und ihr Vater eingeladen worden waren. Veit Sonninger hatte es allerdings vorgezogen, dem Fest fernzubleiben, und Maria musste alleine gehen.

Vermutlich war es seit dieser Gelegenheit, dass die Leute annahmen, sie und Sepp wären ein Paar. Er jedenfalls sah es auch so und machte ihr sogar einen Heiratsantrag.

Das war zwei Tage, bevor sie verschwand, und sie war ihm die Antwort schuldig geblieben …

Endlich hatte sie so viel Distanz zwischen sich und St. Johann gebracht, dass sie sich beruhigte und langsamer fuhr.

Vermutlich war es ohnehin nur ein Hirngespinst gewesen, zu glauben, er würde ihr hinterherfahren. Vielleicht schimpfte er jetzt auf sie, weil sie so abweisend zu ihm war, aber das konnte ihr egal sein.

Maria bog in die Einfahrt des Brandnerhofes und stellte das Auto an der Seite der Scheune ab. Burgl Berghofer saß vor dem Haus und las in einer Zeitschrift. Als Maria zu ihr kam, legte sie die Lektüre auf den Tisch.

»Thomas und Martin sind noch net wieder da«, bemerkte die Magd. »Magst’ einen Kaffee trinken?«

»Vielen Dank, jetzt net«, schüttelte die junge Frau den Kopf.

Sie setzte sich mit auf die Bank, und sie unterhielten sich über dieses und jenes. Von ihrem Besuch im Pfarrhaus und in der Kirche erzählte Maria nichts. Sie musste erst einmal alles mit sich selbst abmachen und entscheiden, ob sie wirklich auf den Sonningerhof fahren würde oder nicht.

Diese Entscheidung konnte ihr niemand abnehmen.

*

Sepp Graininger hatte dem Auto verblüfft nachgeschaut.

Floh Maria etwa vor ihm?

Er hatte geglaubt, nicht richtig zu sehen, als er sie den Kiesweg herunterkommen sah. Von der anderen Straßenseite aus, hatte er sie bemerkt und war rasch hinübergelaufen. Vermutlich hatte sie das Grab ihrer Mutter besucht. Mit raschem Blick auf das Kennzeichen stellte er fest, dass sie jetzt offenbar in München lebte.

Doch jetzt war sie wieder da!

Sein Herz hämmerte in der Brust. Der junge Bursche spürte, dass er Maria immer noch liebte.

Doch halt! Maria war kein Madel mehr, sondern eine Frau! Und was für eine!

Wunderschön war sie ja schon damals gewesen, jetzt war sie nicht nur schön, sondern auch weiblich. Eine Frau, wie er sie sich immer gewünscht hatte.

Schon damals war sie seine große Liebe gewesen. Sepp hatte alles daran gesetzt, Maria Sonninger für sich zu erobern. Zugegebenermaßen war es ihm nur halb gelungen. Doch jeden Augenblick mit ihr hatte er genossen.

Nur zu deutlich erinnerte er sich an den Abend, als er sie fragte, ob sie seine Frau werden wolle …

Der Grainingerhof lag auf der anderen Seite des Tales, und Sepp musste jedes Mal eine Viertelstunde fahren, wenn er Maria besuchen wollte. Doch das nahm er gerne in Kauf.

Sein Vater war ganz begeistert von der Aussicht, sein Sohn könne auf den Sonningerhof einheiraten. Als Zweitgeborener würde Sepp sich nur mit einem Erbteil begnügen müssen. Jetzt hatte er die Chance, selber Bauer zu werden. Xaver Graininger unterstützte Sepp also in seinen Bemühungen.

»Wart’ net zu lang’!«, mahnte er immer wieder.

Auch Wolfgang, der ältere Bruder, redete dem Jüngeren zu.

»Auf das Madel könnt’ ich glatt noch neidisch werden«, hatte er gemeint, als Sepp ihm Maria auf dem Tanzabend vorstellte. »Die musst’ dir warmhalten.«

Sepp hatte seinen ganzen Mut zusammengenommen, einen großen Rosenstrauß gekauft und war zum Hof der Angebeteten gefahren.

Einige Male war er schon dort gewesen und wusste, dass Marias Vater nicht leicht zu nehmen war. Indes hoffte er, dass die Aussicht, einen tüchtigen, in der Landwirtschaft erfahrenen Schwiegersohn auf den Hof zu bekommen, den Bauern gnädig stimmen würde.

Denn daran führte kein Weg vorbei – ohne die Zustimmung Veit Sonningers würde er Marias Hand niemals bekommen!

Auch wenn sie inzwischen volljährig war …

Tatsächlich schien der Bauer dem Gedanken wohlgesonnen zu sein. Er lud Sepp zum Schnaps ein und schenkte sogar nach. Er war mit der Hochzeit einverstanden.

»Meinen Segen habt ihr«, sagte Marias Vater.

Doch dann kam es anders, als erhofft. Sepp ging hinüber zum Garten, wo Maria saß. Hier zog sie sich oft zurück, wenn es mal wieder Ärger mit dem Vater gab. Als sie den Rosenstrauß erblickte, ahnte sie schon, was da auf sie zukam.

Tatsächlich kniete Sepp sich vor sie hin.

»Du weißt, dass ich dich sehr gern’ hab’, Maria«, sagte er, mit belegter Stimme, »und ich will dich fragen, ob du mich heiraten willst.«

Sie schaute ihn an und schwieg. Seit ein paar Tagen war es besonders schlimm mit ihrem Vater. Veit Sonninger war mittags später als erwartet heimgekommen und hatte prompt über das nicht mehr heiße Essen geschimpft. Maria zuckte nur die Schultern und gab nichts weiter darauf. Irgendwann würde er sich wieder beruhigt haben, dachte sie. Bisher war es ja immer so gewesen. Wenn er seine schlechte Laune an ihr ausgelassen hatte, dann redete er eine Weile nicht mehr mit seiner Tochter, bis er dann irgendwann so tat, als sei nichts gewesen.

Doch diesmal war es besonders schlimm. Maria wusste woran das lag, ihre Mutter hatte Geburtstag, und der Vater war auf dem Friedhof gewesen. Eigentlich brachten sie immer gemeinsam Blumen zum Grab, doch diesmal war der Bauer alleine gegangen. Abends merkte sie sehr schnell, dass er getrunken hatte. Auch wenn sie seinen Jähzorn fürchtete, wagte Maria doch, ihren Vater darauf hinzuweisen, wie leichtsinnig er gewesen war, betrunken Auto zu fahren.

»Was geht’s dich an?«, gab er unwirsch zurück. »Soll er mich doch holen, der Tod. Dann hab’ ich mei’ Ruh’ und bin bei der Mutter.«

Er starrte sie aus glasigen Augen an.

»Ich fürcht’ den Tod net«, setzte er hinzu und holte eine Obstlerflasche aus dem Schrank.

Maria musste hilflos mit ansehen, wie sich ihr Vater noch mehr betrank. Erst am nächsten Tag schien er einigermaßen wieder zur Besinnung zu kommen. Als sie ihn darauf ansprach, was gestern geschehen war, brüllte der Bauer seine Tochter an, und Maria lief und versteckte sich, bis der Tobsuchtsanfall vorüber war.

In ihr reifte schon seit Langem der Gedanke, hier alle Zelte abzubrechen und irgendwo anders ein neues, ein besseres Leben zu beginnen. Der erneute Krach, den ihr Vater geschlagen hatte, ließ sie sich endlich dazu durchringen, den Plan in die Tat umzusetzen. Als dann Sepp Graininger kam und um ihre Hand anhielt, hatte sie schon heimlich ein paar Sachen gepackt und wartete nur noch auf eine günstige Gelegenheit, um fortzulaufen.