Der Betrüger - Damon Galgut - E-Book
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Der Betrüger E-Book

Damon Galgut

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Beschreibung

Der »Große Gatsby« Südafrikas – von Booker-Preisträger 2021 Damon Galgut (»Das Versprechen« ). Ein brillanter Roman über eine verhängnisvolle Affäre, über die Wandlung eines Landes und deren moralische Auswirkungen. »Damon Galgut ist mit J. M. Coetzee der herausragende Vertreter der weißen südafrikanischen Literatur.« Verena Lueken, FAZ

Als Adam Napier in einen gottverlassenen Ort mitten in Südafrika zieht, hofft er, als Dichter zu sich selbst zu finden. Doch dann begegnet er seinem ehemaligen Schulkameraden Kenneth Canning und gerät in den Bann von dessen eigenartiger Welt. Canning lebt in einem nahezu surrealen Paradies namens Gondwana: ein Garten Eden inmitten einer Halbwüste. Doch im Zentrum dieses trügerischen Paradieses herrschen Gier und Rachsucht. Hier trifft er auf die verführerische Baby. Hier wird Adam unweigerlich in eine Tragödie verstrickt.

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Seitenzahl: 348

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Zum Buch

Der »Große Gatsby« Südafrikas. Ein brillanter Roman über eine verhängnisvolle Affäre, über die Wandlung eines Landes und deren moralische Auswirkungen. Von Booker-Preisträger Damon Galgut.

Als Adam Napier in einen gottverlassenen Ort mitten in Südafrika zieht, hofft er, als Dichter zu sich selbst zu finden. Doch dann begegnet er seinem ehemaligen Schulkameraden Kenneth Canning und gerät in den Bann von dessen eigenartiger Welt. Canning lebt in einem nahezu surrealen Paradies namens Gondwana: einem Garten Eden inmitten einer Halbwüste. Doch im Zentrum dieses trügerischen Paradieses herrschen Gier und Rachsucht. Hier trifft er auf die verführerische Baby. Hier wird Adam unweigerlich in eine Tragödie verstrickt.

»Damon Galgut ist ein Meister der psychologischen Spannung.« Globe and Mail

»Sein nüchterner, schnökelloser Stil erinnert an Hemingway.« The New York Times

Zum Autor

Damon Galgut, 1963 in Pretoria geboren, zählt zu den renommiertesten Autoren Südafrikas. Sein jüngster Roman »Das Versprechen« wurde mit dem Booker Prize 2021 ausgezeichnet, einem der bedeutendsten internationalen Literaturpreise. Bereits zwei Mal stand Galgut mit »Der gute Doktor« (2005) und »In fremden Räumen« (2010) auf der Shortlist für diesen Preis. Auch seine Romane »Der Betrüger« und »Arktischer Sommer« wurden für zahlreiche Literaturpreise nominiert. Sein literarisches Werk erscheint in sechzehn Sprachen. Damon Galgut lebt in Kapstadt.

Damon Galgut

Der Betrüger

Roman

Aus dem südafrikanischen Englisch von Thomas Mohr

Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »The Impostor« bei Penguin Books (South Africa) (Pty) Ltd. und Atlantic Books Ltd., London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Neuausgabe August 2022

Copyright © der Originalausgabe 2008 Damon Galgut

Copyright © der deutschen Ausgabe 2022 btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Zuerst erschienen im Wilhelm Goldmann Verlag, München 2009

Coverdesign: Buxdesign | Ruth Botzenhardt unter Verwendung eines Motivs von © plainpicture/ Adeline Spengler

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-29887-6V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Alison Lowry

ANMERKUNG DES AUTORS

Begriffe wie »Buschmann« oder »Farbige(r)« sind mit den Spannungen der Geschichte Südafrikas befrachtet. Nachdem sie lange als Verunglimpfungen oder zum Zweck der Rassenzuordnung gebraucht wurden, sind sie in den letzten Jahren gewissermaßen in neutralisierter Form in die Alltagssprache zurückgekehrt. In diesem Sinne werden sie hier verwendet, ohne verletzende Absicht.

EUERHINTERLANDISTDORT

Inschrift einer Statue von Cecil John Rhodes, Company’s Garden, Kapstadt

VORHER

1

DIEFAHRTWARFASTVORBEI; sie näherten sich ihrem Ziel. Vor ihnen lag eine Kreuzung, doch weit und breit war nichts zu sehen, nur ein Baum, eine Wiese voller Schafe und die flirrende Hitze über dem Asphalt. Eigentlich hätte Adam anhalten müssen, aber er trat nur kurz auf die Bremse und beschleunigte dann wieder. Es war sonst niemand unterwegs, und er brachte weder sich noch andere in Gefahr.

Plötzlich trat wie aus dem Nichts ein Polizist hinter dem Baum hervor. In seiner Uniform wirkte er makellos, aufrecht und energisch, wie ein Ausrufezeichen. Er hob die Hand, und Adam hielt am Straßenrand. Sie musterten einander durch das offene Fenster.

»Ich bitte Sie. Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst«, sagte

Adam.

Der Polizist war ein junger Mann mit dunkler Sonnenbrille. Trotz der staubigen Hitze wirkte er unfassbar kühl und gelassen. »Da steht ein Stoppschild«, erklärte er Adam. »Sie haben nicht angehalten. Das macht tausend Rand Strafe.«

»Was? So viel?«

Der Polizist zuckte lächelnd die Achseln. »Den Führerschein, bitte.«

»Können Sie es denn nicht mit einer Verwarnung oder so bewenden lassen?« Adam suchte nach den Augen des Mannes, fand aber nur dunkles Glas.

»Ich muss mich an die Vorschriften halten, Sir. Sie wollen doch nicht, dass ich gegen die Vorschriften verstoße?«

»Also, äh, es wäre nett, wenn Sie sie etwas großzügiger auslegen würden.«

Wieder lächelte der Mann. »Dafür könnte ich in Teufels Küche kommen, Sir.« Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Das müsste sich für mich schon lohnen.«

»Wie bitte?«

»Wenn ich gegen die Vorschriften verstoßen soll, müsste sich das für mich schon lohnen.«

Es war so beiläufig, so nonchalant dahingesagt, dass Adam im ersten Moment glaubte, sich verhört zu haben. Aber nein: Er hatte richtig verstanden. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Zwar hatte er von derlei Praktiken gehört, aber nie damit zu tun gehabt. Er saß stocksteif hinterm Steuer und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, sein Zeitgefühl erstarrt im grell gleißenden Licht, während der Polizist einmal um den Wagen stakste und Reifen, Scheinwerfer und Kennzeichen überprüfte. Als er zum Beifahrerfenster zurückkam, sagte er: »Wie ich sehe, ist Ihre Zulassung abgelaufen. Das macht noch einmal tausend. Also, was meinen Sie? Sagen wir … zweihundert, und wir vergessen die ganze Geschichte.«

Da packte Adam die Wut. »Nein«, sagte er.

»Nein?«

»Kommt nicht in Frage. Von mir kriegen Sie keinen Cent.«

Wieder zuckte der Mann die Achseln. Das Lächeln war noch immer da. Schwach spielte es um seinen feisten kleinen Mund. »Den Führerschein, bitte«, sagte er.

*

Als er weiterfuhr, konnte Adam gerade noch die Nummer des Streifenwagens lesen, der halb versteckt hinter dem Baum stand, und sprach sie auf den nächsten Kilometern immer wieder vor sich hin. Leider hatte er weder Stift noch Papier zur Hand, und als sie an der nächsten Tankstelle hielten, war er sich schon nicht mehr sicher, ob die Reihenfolge der Ziffern stimmte. Trotzdem notierte er sie auf einem Zettel, um den er die Bedienung im Café neben der Tankstelle gebeten hatte. Er las sie ein paarmal und versuchte, sie mit seiner Erinnerung in Einklang zu bringen, als Gavin und Charmaine zur Tür hereinkamen. Auch sie hatten vorhin angehalten und die Szene im Rückspiegel verfolgt. »Was war denn da los?«, fragte Gavin.

»Der Typ wollte Geld. Er hat ganz offen danach gefragt, einfach so.«

Gavin schnaubte. »Wie viel hast du ihm gegeben?«

»Gar nichts.« Adam sah seinen Bruder besorgt an. »Was hättest du denn getan?«

»Na ja …«, sagte Gavin, und sein Oberlippenbärtchen zuckte. »Immer noch billiger als ein Bußgeld.«

»Darum geht’s nicht.«

»Schon gut, schon gut.« Gavin blickte sich um. »Ich habe ein ganz anderes Problem. Ich frage mich, ob wir überhaupt auf der richtigen Straße sind. Bis zur letzten Kreuzung war ich mir eigentlich ziemlich sicher. Aber auf den ganzen Straßenschildern steht ein Ortsname, den ich noch nie gehört habe.«

»Ja, der Ort ist noch derselbe«, sagte die Bedienung im Vorbeigehen. »Nur der Name hat sich geändert. Der neue Bürgermeister hat ihn vor einem Jahr umbenannt. Damit hat er viele Leute vor den Kopf gestoßen.«

»Kein Wunder«, meinte Gavin. »Das machen sie neuerdings überall. Eine Riesengeldverschwendung. Jetzt müssen sämtliche Karten neu gedruckt werden.«

Adam hörte nur mit halbem Ohr hin. In Gedanken war er noch immer bei dem Polizisten. Obwohl der Mann ihm nicht gedroht hatte, ging etwas Bedrohliches von ihm aus. Wie ein dunkler Wächter stand er am Tor zu Adams neuem Leben und verstellte ihm den Weg, mit gierig ausgestreckter Hand.

Bis in den Ort waren es nur noch ein, zwei Kilometer. Die Straße hatte sich ziellos durch die Ebene geschlängelt, auf eine Gebirgskette in der Ferne zu, als müsse sie sich ihren Weg erst suchen. Doch unweit der Tankstelle überwand sie eine Anhöhe, und dahinter lag die Stadt, in einem Talkessel verborgen: eine verstreute Ansammlung einstöckiger Gebäude, die allein der Kirchturm wie ein mahnend erhobener Zeigefinger überragte. Am anderen Flussufer in der Talmitte, mit dem Ort nur durch eine Betonbrücke verbunden, lag das Township. Am Hang eines nahe gelegenen Hügels buchstabierten weiße Steine den alten Ortsnamen. Irgendjemand hatte damit begonnen, aus den Steinen den neuen Namen zu bilden, aber nach der Hälfte aufgegeben.

Sie bogen von der Landstraße in die Hauptstraße ein. Vor der Kirche hielten sie das erste und einzige Mal. Das diffuse Unbehagen, das Adam seit seiner Begegnung mit dem Verkehrspolizisten begleitete, schien sich hier zu bündeln wie unter einem Brennglas. Beim Anblick der Straße – ein Supermarkt, eine Bank, eine Metzgerei, ein Postamt, ein Schönheitssalon, ein Hotel und ein Schnapsladen – zog sich sein Herz zusammen. Obwohl es auf Ende August zuging, baumelte die Weihnachtsbeleuchtung vom letzten Jahr schlaff von den Laternenmasten. Die Straße, der sie so lange gefolgt waren, verengte sich an ihrem Ende zu einem mit verdorrtem Gestrüpp bewachsenen Aussichtspunkt, wo ein Betrunkener der Länge nach hinschlug, sich hochrappelte und ein paar Meter weiterwankte, nur um dann von Neuem hinzuschlagen.

Gavin stieg aus und kam zu Adams Wagen. »Das macht Laune, was?«

»Na ja«, sagte Adam. »Heute ist Sonntag.«

Gavin schnaubte kopfschüttelnd in seinen Bart. »Sehen wir uns das Haus an.«

Das Haus war ein Schock. Es lag am Rand der weißen Stadt, wo die Straßen unbefestigt waren und das Gelände steil zum felsigen Kamm eines Bergrückens anstieg. Es war schlicht und schmucklos, mit abgeschrägtem Blechdach. Die Fenster starrten blind und ausdruckslos. Die Farbe war verblichen, der Anstrich abgeblättert. Kletterpflanzen hatten den Zaun verschlungen und sich einen Weg durchs Gartentor gebahnt.

Gavin riss die Ranken fort und legte den Durchgang frei. Er schimpfte leise vor sich hin und verstummte erst, als sie schließlich durch das Tor traten. Ein alter Weg aus Schieferplatten führte durch einen kleinen Obstgarten zur Haustür. Die Äste der wild wuchernden Bäume waren knorrig und verwachsen. Eine dicke Schicht aus verfaulendem Obst bedeckte den Schiefer, und darüber hing eine Wolke aus Gärgeruch und Fliegen. Schlitternd tasteten sie sich Schritt für Schritt durch den berauschenden Gestank. Gavin zog einen großen Eisenschlüssel aus der Tasche, der aussah, als gehörte er zum Portal eines mittelalterlichen Klosters. Aber er fügte sich mühelos ins Schloss und ließ sich drehen.

Adam ließ Gavin und Charmaine den Vortritt, als wären sie hier zu Hause und er nur zu Gast. Doch kaum war er über die Schwelle getreten, fühlte er, wie das Haus an ihm zerrte, ihn anzog, in Besitz nahm. Es war fast körperlich zu spüren.

Die Luft im Innern war schwer und verbraucht, als sei sie schon einmal geatmet worden, das Mobiliar eine deprimierende Mischung aus klobigem altem Plunder und einigen geschmacklosen modernen Stücken. Die vier Zimmer waren einfach und zweckmäßig eingerichtet. Kein Teppich auf dem nackten Estrich, keine Bilder an den Wänden, nichts Behagliches, nirgends. Alles war mit einem dicken braunen Staubpelz überzogen. Es schien, als hätte die Zeit vor diesen Mauern haltgemacht und strömte erst jetzt wieder herein, durch die Tür, die sie aufgestoßen hatten.

Gavin war stinkwütend. Stumm stampfte er durch die Zimmer und hinterließ deutliche Fußspuren im Staub. Ein Vogel war durch den Kamin ins Haus gelangt und hier verendet, und Gavin trat wütend mit der Schuhspitze gegen den kleinen Kadaver.

»Ich habe dich gewarnt«, sagte er schließlich.

»Ich weiß.«

»Aber ich muss sagen, es ist noch schlimmer, als ich erwartet hatte. Ziemlich übel.«

»Halb so wild«, sagte Adam tapfer. »Das kriege ich schon wieder hin.«

Charmaine hatte sich zu einem Erkundungsgang aufgemacht, Türen geöffnet, in Schränke gespäht. Jetzt kam sie aufgeregt zurück, ihre Stimme hohl und atemlos.

»Hier gibt es Geister«, sagte sie.

»Was?«

»Ich habe übersinnliche Fähigkeiten«, erklärte sie Adam. »Ich spüre die Geister der Vergangenheit. Dieses Haus ist voll davon. Es muss schon sehr alt sein.«

Gavin seufzte. »Ich habe keine Ahnung, wie alt es ist«, sagte er schroff. »Und das Einzige, was hier herumgeistert, ist Ungeziefer.«

»Wann warst du das letzte Mal hier?«, fragte Adam.

»Ich weiß nicht genau. Vor ein paar Jahren. Kurz nachdem ich es gekauft hatte. Ehrlich gesagt, hatte ich fast vergessen, dass es mir gehört. Wenn ich mich recht entsinne, war es damals noch nicht ganz so heruntergekommen. Ich war nur ein paarmal hier.«

»Warum hast du dir eigentlich ausgerechnet hier etwas gekauft?« Er konnte sich seinen Bruder beim besten Willen nicht in diesem Haus vorstellen.

»Weiß der Himmel. Das war damals ziemlich angesagt, ein kleines Häuschen in der Karoo. Ich glaube, meine Ex wollte es haben. Der Preis war ein Witz. Genau wie die Bude.«

»Ich spüre eine alte Frau«, sagte Charmaine. »Sehr alt und sehr traurig.«

»Lass gut sein, Mäuschen.«

»Mach dich nur lustig. Das ändert nichts an der Tatsache.«

»Meine Güte«, sagte Gavin. »Seht euch das an.«

Er war in die Küche gegangen und hatte die Hintertür geöffnet. Von dort gelangte man auf eine kleine, aus Zement gegossene stoep, von der eine Treppe in den Garten führte. Er hatte sich in einen Wald aus hohem braunem Unkraut verwandelt, das schon vor Ewigkeiten abgestorben und fest mit dem ausgedörrten Boden verwachsen war. Das dornige Gestrüpp bildete eine schier undurchdringliche Wand. Es war geradezu erdrückend. In ihm nahmen Verfall und Verwahrlosung Gestalt an. Es stellte selbst das kleine Windrad und das betonierte Sammelbecken ein Stück abseits in den Schatten.

Die beiden Brüder standen Schulter an Schulter und schauten auf den Wildwuchs. Ein leichter Wind pfiff leise durch die trockenen Halme.

»Heilige Mutter Gottes«, sagte Gavin leise. »Wie deprimierend.«

Das Gestrüpp zog Adam magisch an. Er musste den Kopf schütteln, um wieder klar denken und in die Wirklichkeit zurückkehren zu können.

»Tja«, sagte Gavin und klatschte aufmunternd in die Hände. »Übernachten können wir hier jedenfalls nicht.

Sehen wir uns das Hotel an.«

»Äh«, entfuhr es Adam. »Ich bleibe lieber hier.«

Die beiden starrten ihn ungläubig an. »Sei nicht albern«, sagte Gavin.

»Im Ernst«, sagte Charmaine, »ich finde, du solltest zuerst ein Reinigungsritual vollziehen. Und die Geister austreiben lassen. Ich kenne jemanden, der das für dich erledigen könnte.«

Adam brachte kein Wort heraus; er schüttelte bloß den Kopf.

Obwohl in Gavins Augen ein Funke glomm, sprach er mit ruhiger Stimme. »Wie du meinst«, sagte er achselzuckend. »Du bist erwachsen, du kannst machen, was du willst.«

*

Als er schließlich allein im Haus war und es langsam dunkel wurde, fragte er sich, warum er unbedingt hatte hierbleiben wollen. Alles war voller Staub und Schmutz. Es gab keinen Strom. Im Küchenschrank fand er eine alte Kerze, doch die zitternde Flamme verstärkte die Finsternis nur noch. Die nackte Matratze starrte vor Dreck und war beim besten Willen nicht zu gebrauchen. Das Haus war alt. Wer weiß, was sich in diesen Zimmern alles zugetragen hatte? Tod und Geburt hatten womöglich Spuren hinterlassen. Tagsüber war er ein rationaler, skeptischer Mensch und glaubte nicht an Geister. Aber jetzt, bei Nacht, umgeben von fremden Wänden und mit einem fremden, ächzenden Dach über dem Kopf, schien vieles möglich. Es war, als wäre ein anderer, aus einer anderen Zeit, in seine Haut gekrochen. Dieser andere hockte an einem Feuer, ringsum nichts als Dunkelheit.

Die Äste der Bäume im Obstgarten scheuerten aneinander. Irgendwo ein schmatzendes Geräusch – ein Stück Fallobst oder ein Schritt.

Schließlich nahm er ein Kissen und ging auf die stoep hinaus. Hier war es etwas besser. Eine schwache Brise strich über ihn hinweg, und am Himmel schimmerte ein Sternenfries. In der Ferne sah man die Scheinwerfer der Autos und Lastwagen, die an der Stadt vorbeifuhren, ein tröstliches Hin und Her. Die Welt dort draußen drehte sich weiter.

Er erwachte kurz vor Tagesanbruch; sein Gesicht war geschwollen, mit Mückenstichen übersät. Dunkle, beunruhigende Träume schienen wie ein Ebbestrom in ihn zurückzuweichen. In der Dämmerung sahen die Berge aus, als hätte jemand einen Streifen aus dem Himmel gerissen. Er setzte sich langsam auf, und ihm fiel alles wieder ein: die unbewohnten Zimmer, die knorrigen Bäume, der verwilderte Garten.

Da bemerkte er das Nachbarhaus zum ersten Mal. Es drang nach und nach in sein Bewusstsein, wie ein Foto im Entwicklerbad. Es war ein kleines Haus, das dem Gavins in Form und Grundriss fast aufs Haar glich – auch wenn es sich in jeder anderen Hinsicht davon unterschied. Es war hell gestrichen, schmuck und sauber. Der Garten war grün und gepflegt, in gleichmäßig angelegte Beetreihen unterteilt. Es waren reichlich Mühe und Anstrengung in die Instandhaltung des Hauses geflossen; und jetzt entdeckte Adam eine gedrungene menschliche Gestalt, die den Boden mit einem Spaten umgrub.

Sein Nachbar war ein älterer Weißer in blauen Latzhosen. Mehr konnte er aus dieser Entfernung nicht erkennen, nur dass der Mann mit beinahe manischem Eifer zu Werke ging. Voller Zorn oder Hingabe stieß er den Spaten in die Erde und führte Selbstgespräche, während in einem Mundwinkel rot wie das Warnlicht eines Motors eine Zigarette glomm. Als er Adam bemerkte, stellte er die Arbeit sofort ein, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Er stand geradezu unnatürlich still.

Jetzt schauten sich die beiden über den Drahtzaun hinweg an und taten doch so, als sähen sie einander nicht. Zwar gab es eigentlich keinen Grund, sich nicht zu grüßen, zu winken oder zu nicken, trotzdem taten sie es nicht. Dann plötzlich ließ der Mann in Blau den Spaten fallen, lief zur Hintertür und verschwand im Haus.

*

Adam war verängstigt und gereizt, als er wenig später zu Fuß zum Hotel ging. Das Hotel war ein großer, klotziger Kasten gleich gegenüber der Kirche, mit imposanter balustradengeschmückter Fassade. In Größe und Bauart erinnerte es an einen alten Westernsaloon.

Gavin und Charmaine saßen vorn auf der Veranda, an einem Tisch mit Blick auf die Straße. Ein dicker Mann mit weißer Schürze servierte ihnen das Frühstück, und als Adam an ihren Tisch trat, hörte er ihn sagen: »Die Stimme Gottes hat zu mir gesprochen, wie ich jetzt mit Ihnen spreche.«

»Faszinierend«, meinte Charmaine kopfschüttelnd.

»Das ist mein Bruder«, sagte Gavin. »Adam, das ist Fanie Prinsloo.«

Alles an dem Mann war feist und fleischig. Selbst sein stumpfes, nahezu ausdrucksloses Gesicht ähnelte einem Steak. Doch die Bewegung, mit der er sich die Finger an der Schürze abtrocknete, war erstaunlich grazil. Als er Adam die Hand gab, wiederholte er nachdrücklich seinen Namen, als habe der eine besondere Bedeutung.

»Wie ich höre, wollen Sie hierherziehen«, sagte er. »Herzlich willkommen.«

»Danke.«

»Ich habe Ihrem Bruder gerade erzählt, wie ich vor drei Jahren hier heraufgekommen bin. Meine Frau und ich wurden in unserem Haus in George von Einbrechern überfallen. Mitten in der Nacht. Sie haben uns gefesselt und geschlagen. Ich habe dabei einen Zahn eingebüßt – sehen Sie.« Sein Lächeln entblößte eine schwarze Lücke. »Und wie ich da so zusammengeschnürt auf dem Boden liege und denke, gleich ist es vorbei, da höre ich plötzlich eine Stimme. Genau wie ich jetzt mit Ihnen spreche. ›Fanie, zieh aufs Land‹, sagte die Stimme. ›Zieh aufs Land.‹ Und so bin ich hierhergekommen.«

»Unglaublich«, sagte Charmaine. »Diese Momente, in denen die Grenzen zwischen den Welten fallen.«

»Ich hatte in dieser Gegend ein paarmal Urlaub gemacht«, sagte Fanie Prinsloo. »Mit meiner Frau, im Wohnmobil. Aber ich wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen hierherzuziehen. Nicht bis zu besagter Nacht. Am nächsten Morgen habe ich die Koffer gepackt und das Haus verkauft. Und, mein Freund, ich habe es noch keine Sekunde bereut.«

»Das Hotel gehört Ihnen?«, fragte Gavin, und seine Augen verengten sich. »Und? Läuft der Laden?«

»Ja, inzwischen schon. Seit dem Bau der neuen Passstraße ist hier ziemlich viel Verkehr. Früher war das anders. Da war die Straße hier zu Ende. Aber das hat sich zum Glück geändert.«

»Wenn Gott zu einem spricht«, sagte Charmaine, »sollte man seinen Rat befolgen.«

Der Dicke lachte herzlich. »Ja, es ist wunderschön hier oben«, sagte er. »Die Berge, der Himmel, genau wie es der Allmächtige erschaffen hat. Sie werden es nicht bereuen, Adrian.«

»Adam.«

»Und was darf ich Ihnen zum Frühstück bringen?«

Als er in Richtung Küche davongetapst war, sagte Gavin: »Weißt du, wer das ist? Einer der besten Stürmer der Rugbygeschichte. Und das ausgerechnet hier.«

Das Gespräch hatte bei Adam einen Nerv getroffen. Er war sich seiner Sache ganz und gar nicht sicher, zweifelte an seiner Entscheidung, hierherzuziehen, sein Leben völlig umzukrempeln. Deshalb fiel seine Antwort vielleicht eine Spur zu schroff aus. »Rugby interessiert mich nicht«, sagte er. Er erntete betretenes Schweigen, die Stimmung war ruiniert.

»Dein ganzer Kopf ist voller roter Pusteln«, sagte Charmaine aufmunternd.

»Mückenstiche.«

»Du wolltest ja unbedingt dableiben«, sagte Gavin. »In der versifften Bude.«

»Es ist deine versiffte Bude.«

»Es hat dich schließlich niemand gezwungen.«

Sie starrten jeder in eine andere Richtung, während Fanie Prinsloo Toast und Kaffee brachte. Sie aßen wortlos. Beide Brüder dachten an früher zurück, an Ereignisse, die mit ihrem Gespräch nichts zu tun hatten. Die Spannungen zwischen ihnen hatten sich in den letzten Wochen immer wieder in offenen Reibereien entladen. Sie kauten und schluckten laut, doch die Feindseligkeit war bald verflogen, und zurück blieb nur ihre leere, zerbrechliche Hülle. Gavin wischte sich ausgiebig den Bart und sagte, ohne Adam anzusehen: »Wir sollten uns nicht streiten. Das ist doch alles Schnee von gestern.«

»Stimmt.«

Gavin stand auf. »Komm, Mäuschen. Wir müssen los.«

Adam begleitete die beiden zu ihrem Wagen. Aber sein Bruder hatte noch eine kleine Rede in petto. Er hatte sie sich offenbar sorgfältig zurechtgelegt, auch wenn sie nicht sehr überzeugend klang. Gavin blickte mit mürrischer Miene zu Boden und sagte, wenn Adam es sich anders überlegen und mit ihnen in die Stadt zurückfahren wolle, müsse er es jetzt sagen. Das Jobangebot stehe nach wie vor, und …

»Nein«, sagte Adam. »Ich möchte hierbleiben.«

Seit seiner Ankunft hatte er geschwankt, war unsicher gewesen. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, stellte er mit Erstaunen fest, dass es ihm ernst war.

Gavin knabberte an seinem Oberlippenbart und warf Adam einen finsteren Blick zu, traurig und resigniert zugleich. »Du willst also unbedingt den Märtyrer spielen.«

»Unsinn.«

Gavin kehrte hilflos die Handflächen nach oben. Dann umarmte er Adam zum Abschied. Das tat er sonst nie, die Geste passte einfach nicht zu ihm, und obwohl Adam sich innerlich dagegen sträubte, kamen ihm die Tränen. Seit Wochen schon hatte er sich aus dem Bann seines Bruders befreien wollen. Doch als der rote Sportwagen schließlich verschwunden war, beschlich ihn mit einem Mal ein ungutes Gefühl. Jetzt war er wirklich und wahrhaftig allein.

2

EINEVERKETTUNGUNGLÜCKLICHER Umstände hatte Adam hierhergeführt. Normalerweise wäre er nicht im Traum darauf gekommen, sich in der Karoo niederzulassen, aber sein Leben verlief schon seit Monaten nicht mehr in normalen Bahnen. Zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Ereignisse hatten alles auf den Kopf gestellt. Erst hatte er seinen Job verloren, dann sein Haus.

Das mit seiner Arbeit hätte ihn eigentlich nicht zu wundern brauchen. Doch da Adam sämtliche Vorzeichen geflissentlich übersehen hatte, war sein Entsetzen umso größer, als er erfuhr, dass der junge schwarze Praktikant, den er ein halbes Jahr lang eingearbeitet hatte, nun seine Nachfolge antreten sollte. Sein Chef bedauerte die Entscheidung, berief sich auf die Rassenquote und riet ihm, es nicht persönlich zu nehmen. Von wegen, nicht persönlich. Schließlich war er es, Adam Napier, und niemand sonst, der seinen Schreibtisch räumen, seine Bilder abhängen und zum letzten Mal zur Tür hinausgehen musste. Wenn er an die Szene zurückdachte, empfand er vor allem Scham darüber, dass er es nicht hatte kommen sehen.

Die Sache mit dem Haus hingegen hatte sich schon lange abgezeichnet. Mit der Johannesburger Gegend, in die er gezogen war – einst ein schickes, beliebtes und bunt gemischtes Viertel –, ging es seit ein paar Jahren rapide bergab. Alle seine Freunde hatten verkauft, waren fortgezogen und beknieten Adam, es ihnen gleichzutun.

Doch aus irgendeinem Grund, vermutlich seines angeborenen Phlegmas wegen, hatte er nichts unternommen und tatenlos mit angesehen, wie alles in die Brüche ging: Gangs machten sich im Viertel breit, Hausbesetzer hielten Einzug, Kriminalität und Drogenhandel blühten, bis es schließlich zu spät war. Er fand keine vertrauenswürdigen Mieter, und kaufen wollte es erst recht niemand. Am Ende konnte er das Haus nicht einmal mehr verschenken. Die Bank wollte es zunächst nicht zurücknehmen und gab erst nach, als feststand, dass Adam die Hypothek unmöglich würde abbezahlen können.

Es war ein echter Schlamassel, eine echte Pechsträhne. Binnen weniger Monate hatte er sich in eine Sackgasse manövriert – allein und ohne Zukunft in der Mitte seines Lebens. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Bruder um Hilfe zu bitten. Gavin war drei Jahre jünger als Adam und hatte nur wenig mit ihm gemein. Er lebte in Kapstadt, am anderen Ende des Landes, und in den letzten Jahren hatten sie lediglich sporadischen Kontakt gepflegt. Doch seit Adam in Schwierigkeiten steckte, hatte Gavin ihn häufig angerufen und schien sich ernsthafte Sorgen zu machen.

»Warum ziehst du nicht hierher?«, fragte er eines Tages. »Du könntest bei uns wohnen, bis du auf eigenen Füßen stehst.«

»Ich überleg’s mir«, sagte Adam. Aber da gab es eigentlich nicht viel zu überlegen. Insgeheim hatte er sogar auf Gavins Angebot gehofft. Er hatte Johannesburg und sein Leben dort gründlich satt. Die Vorstellung, das alles hinter sich zu lassen und noch einmal ganz neu anzufangen, war verlockend.

Als er seine Sachen packte, stellte er verblüfft fest, wie wenig er noch besaß. Die Möbel waren zusammen mit dem Haus an die Bank gefallen. Blieben nur seine Kleider, ein paar Haushaltsutensilien, ein paar Bücherkisten. Es passte alles in seinen Wagen.

*

Als junger Mann war Gavin kräftig und muskulös gewesen, doch seit einiger Zeit setzte er Fett an. Er machte einen wohlhabenden, zufriedenen Eindruck. Er trug teure Kleidung, teuren Schmuck und hatte sich ein smartes Oberlippenbärtchen stehen lassen. Vor Kurzem war er in eine riesige Penthousewohnung im obersten Stock eines schicken Apartmenthauses gezogen, das ihm gehörte.

Adams Schlafzimmerfenster bot einen grandiosen Blick auf Tafelberg und Löwenkopf. Die Aussicht erschien Adam fast ebenso unwirklich wie seine Lage. Hier war er nun, ohne Perspektive oder gar Geld, und lebte wie ein König.

Gavin streute genüsslich Salz in seine Wunden. »Nur die Ruhe, keine Eile«, erklärte er Adam. »Ich kann es mir leisten, dich durchzufüttern, bis du was gefunden hast.«

Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Bis vor ein paar Jahren war Adam der gesetzte, verlässliche, berechenbare Bruder gewesen, während Gavin sich mehr oder minder mittel- und orientierungslos durchs Leben bewegt hatte. Jetzt schienen sie die Plätze getauscht zu haben. Aber ihre gemeinsame Geschichte reichte weiter und tiefer, und Adam merkte bald, dass Gavin die vorübergehende Schwäche seines Bruders dazu benutzte, eine obskure moralische Rechnung zu begleichen. Er nörgelte ständig an ihm herum, versuchte, ihn langsam zu zermürben. »Du musst dich zusammenreißen«, sagte er ein oder zwei Tage nach Adams Ankunft. »Wie du schon aussiehst, wie ein Penner. Dein Hemd ist voller Flecken.«

»Was soll’s? Na schön, meinetwegen, ziehe ich eben ein frisches an.«

»Es geht doch gar nicht um das Hemd, Ad. Es geht um dich. Du lässt dich hängen, du verkommst. Warum unternimmst du nichts dagegen? Du kannst doch nicht einfach das Handtuch werfen. Du hast deinen Job verloren. Na und? Dann suchst du dir eben einen neuen.«

Aus seinem Mund hörte sich das alles ganz einfach an. Diese Denkweise war typisch für Gavin: Man ging dem Unglück tunlichst aus dem Weg, man nahm die Dinge, wie sie kamen. Und er hatte vielleicht nicht ganz unrecht – vielleicht suhlte Adam sich tatsächlich in Selbstmitleid. Gavin an seiner Stelle hätte sich nicht derart unterkriegen lassen; das hatte er wiederholt unter Beweis gestellt. Er hatte ohne den leisesten Anflug eines Selbstzweifels gleich mehrmals den Job gewechselt und nicht nur zwei Ehen, sondern auch zwei hässliche Scheidungen hinter sich gebracht, was ihn jedoch nicht davon abgehalten hatte, sich mit einer ganzen Reihe merkwürdiger Frauen einzulassen, deren letzte jetzt an seinem Arm hing und Adam Kaugummi kauend ansah. Sie hieß Charmaine.

»Ich habe eine Freundin, die auch einsam ist«, warf sie ein. »Ich könnte euch miteinander bekannt machen.«

»Ich bin nicht einsam.«

»Genau das ist dein Problem«, meinte Gavin. »Du willst es einfach nicht wahrhaben. Du musst den Tatsachen ins Auge sehen. Den Arsch hochkriegen. Und nicht den ganzen Tag zu Hause rumliegen und an die Decke starren.«

»Ich bin eben nicht wie du, Gavin. Ich neige eher zum Grübeln. Ich bin Hamlet, und du bist Laertes.«

»Bitte? Was soll denn das heißen? Ich wollte doch nur sagen, dass du dringend unter Leute musst. Wir treffen uns heute Abend mit ein paar Freunden auf einen Drink.

Willst du nicht mitkommen?«

»Nein, danke.«

Einige von Gavins »Freunden« hatte er bereits kennengelernt. Sie waren vor ein paar Tagen zu einem abendlichen braai unten im Garten vorbeigekommen – fette, versoffene Kerle mit affektiert lächelnden Frauen, die sich über Geschäfte, Autos und Versicherungen unterhielten und Witze über Blowjobs und Blondinen rissen. Einer von ihnen hatte Adam gefragt, was er beruflich mache, und auf seine Antwort war nervös knisterndes Schweigen eingetreten.

Als sie aufbrachen, sagte Charmaine: »Ich kann Auren lesen. Deine Aura ist sehr dunkel.«

»Um Himmels willen, Mäuschen«, sagte Gavin. »Lass meinen Bruder in Ruhe.«

»Ich sage ja nur. Du musst dich reinigen«, erklärte sie Adam. »Du musst dein Leben ändern.«

Er dachte den ganzen Abend über ihre Worte nach. Was seine Aura anging, war er sich nicht ganz sicher, aber mit allem anderen hatte sie recht. Er musste sich reinigen, er musste sein Leben ändern.

*

Der Gedanke geisterte ihm noch Tage später durch den Kopf, als Gavin ihn zu einer neuen Baustelle mitnahm. Überall herrschte hektische Betriebsamkeit. Hunderte von Männern plagten sich mit schwerem Gerät, um einen gigantischen Betonbau aus dem Boden zu stampfen. Sie waren in der obersten Etage, beide trugen Schutzhelme, und Adam litt schrecklich unter seiner Höhenangst, als Gavin ihm einen Job anbot.

»Natürlich nichts Anspruchsvolles, keine Führungsposition«, sagte er. »Dazu fehlt dir die nötige Qualifikation. Aber du könntest im Büro arbeiten. Ich brauche einen Assistenten. Ich könnte dich anlernen und einarbeiten. Nein, sag jetzt nichts, lass es dir lieber erst mal ein paar Tage durch den Kopf gehen, ja?«

Als Bauunternehmer hatte Gavin binnen weniger Jahre ein Vermögen gemacht. Angefangen hatte er mit einem Yacht- und Surfhafen an der Westküste, inmitten eines naturgeschützten Feuchtgebietes. Inzwischen konzentrierte er seine Bemühungen hauptsächlich auf Kapstadt. Er hatte ein Konsortium mitbegründet, das Altbauten aufkaufte und sie entkernen oder abreißen ließ, um an ihrer Stelle moderne Wohnblocks zu errichten. Einige dieser Geschäfte waren nicht ganz koscher, und Gavin hatte Adam stolz anvertraut, einer der Firmenchefs sei ein Schwarzer, der mit einem stattlichen Salär dafür belohnt wurde, dass er zu Hause in Gugulethu saß und Däumchen drehte, während sein Name im Briefkopf dem Unternehmen Seriosität und Kapital verschaffte. Es ging um exorbitante Summen.

Vor allem der Gedanke an das Geld ließ Adam keine Ruhe. Er hatte noch nie mit leeren Taschen dagestanden und konnte sich weiß Gott Angenehmeres vorstellen. In den letzten Jahren war ihm in Johannesburg ein neues Phänomen aufgefallen: Weiße, die zerlumpt und hilflos dreinschauend an den Straßenecken standen und bettelten. Zwar war er noch nicht annähernd so tief gefallen, aber das Wissen um die Möglichkeit entwickelte einen beunruhigenden Sog. Alles zu verlieren, nichts mehr zu besitzen – diese Vorstellung erschien ihm ebenso reizvoll wie beängstigend.

Und so dachte er über Gavins Angebot nach. Es war verlockend. Später wurde ihm klar, dass Gavin den Moment bewusst gewählt hatte: Die Aussicht vom Dach des Rohbaus war berauschend, verhieß Macht und Dynamik. Erst als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Auf dem Weg zum Wagen hörte er, wie sein Bruder per Handy eine lautstarke Auseinandersetzung führte. »Alles raus«, sagte Gavin. »Die ganzen alten Armaturen … ja, ja, ich habe einen Käufer für den Kram … nein, wir bauen Kupfer ein … die billigsten, hab ich dir doch gesagt, Hauptsache, es sieht gut aus … ich habe da jemanden an der Hand, der regelt das … Silber raus, Kupfer rein …«

Adam befiel trübe Melancholie. Billige Armaturen. Kupfer statt Silber. Nein, diese Welt war nichts für ihn.

Obwohl er versprochen hatte, sich die Sache ein paar Tage durch den Kopf gehen zu lassen, sprach er Gavin noch am selben Abend darauf an. Er wollte es hinter sich bringen, solange er den Drang dazu verspürte. Er fühlte mit völliger moralischer Klarheit, dass er das Richtige tat und empfand nichts als Freiheit und Erleichterung. »Ich möchte etwas Sinnvolles tun«, sagte er. »Mir geht es nicht ums schnelle Geld.«

Gavin war sofort auf hundertachtzig. »Soll das heißen, dass ich nichts Sinnvolles tue?«

»Ach ja? Inwiefern denn?«

»Ich beschäftige Hunderte von Menschen. Das Baugewerbe schafft jede Menge Arbeitsplätze. Davon profitieren alle, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer. Außerdem bringt es Südafrika voran. Also, wo liegt das Problem?«

Dem ließ sich nur schwer etwas entgegensetzen. Aber Adam hatte nicht vergessen, wie mutlos und deprimiert Gavin in der Vorwendezeit gewesen war. Er hatte gelegentlich sogar ans Auswandern gedacht. Adam war der Optimist gewesen, voller Hoffnung für die Zukunft.

Umso ungerechter erschien es ihm, dass er jetzt ohne Job und Wohnung dastand, während sein Bruder darüber schwadronierte, Südafrika voranzubringen.

»Wenn mich nicht alles täuscht«, schloss Gavin wütend, »kannst du es dir eigentlich nicht leisten, Nein zu sagen.«

»Ich bin dir dankbar für das Angebot. Wirklich. Aber mir geht es ums Prinzip.«

»Soso. Ums Prinzip. Wie praktisch, wenn man auf anderer Leute Kosten seinen Prinzipien treu sein kann.«

»Du hast mir den Job doch freiwillig angeboten«, sagte

Adam. »Ich habe dich nicht dazu gezwungen.«

»Und welche Tätigkeit ließe sich mit deinen Prinzipien vereinbaren, wenn ich fragen darf?«

Adam zögerte, antwortete dann aber doch. »Ich möchte Gedichte schreiben«, sagte er.

Als junger Mann hatte Adam einen Lyrikband veröffentlicht. Den Titel DASFLAMMENSCHWERT hatte er der Genesis entnommen. Die Sammlung war in einem Kleinverlag erschienen und hatte sich zwar nur ein paar hundert Mal verkauft, aber dennoch für einiges Aufsehen gesorgt, nicht zuletzt dank dem jugendlichen Alter ihres Autors. Es waren Naturgedichte, inbrünstig, leidenschaftlich und romantisch, und obwohl sie ihm inzwischen ziemlich peinlich waren und er seitdem weder etwas geschrieben noch veröffentlicht hatte, hielt er sich – insgeheim, im Stillen – nach wie vor für einen Dichter. Er betrachtete das eher als einen Wesenszug denn als Berufung, besonders solange er mit anderer, normaler Arbeit seinen Lebensunterhalt hatte verdienen müssen.

Jetzt, wo diese andere Arbeit, dieses andere Leben nicht mehr existierte, kam seine poetische Ader von Neuem zum Vorschein. Er hatte das Gefühl, zu seiner wahren Bestimmung zurückgefunden zu haben. Entsprechend verstand er seine momentane Krise als die Erfüllung eines verborgenen Wunsches. Er hatte seinen Job nicht verloren; er hatte ihn aufgegeben. Er hatte sein Haus nicht verloren; er entledigte sich seines weltlichen Besitzes. Er reduzierte sein Leben auf das Wesentliche.

Bislang hatte er diese Gedanken niemandem anvertraut. Er hatte sie sich ja selbst kaum eingestehen wollen. Doch Gavins Angebot und seine Reaktion darauf hatten ihm buchstäblich die Augen geöffnet. Er erlebte einen Moment der Wahrheit.

»Gedichte«, sagte Gavin. Aus seinem Mund klang das wie etwas Perverses.

Adam errötete. »Ja«, sagte er, überzeugter denn je. Er beschloss, es von nun an jedem zu verkünden, der ihn danach fragte: Er war, jawohl, ein Dichter.

Charmaine nickte ihm zu. »Finde ich super«, hauchte sie.

»Wie schön«, sagte Gavin, »aber die Miete bezahlen kann man davon nicht.«

»Die Miete ist nicht wichtig.«

»Doch, ist sie, vor allem, wenn man sie nicht hat.« Gavin funkelte seinen Bruder wütend an. »Pass auf«, sagte er, »im Augenblick läuft alles prima. Südafrika entwickelt sich prächtig. Das Geld liegt auf der Straße, wenn man nur weiß, wo man es suchen muss. Du hattest eine Pechsträhne, das ist alles. Deshalb braucht ein Weißer hierzulande aber noch lange nicht zu hungern, egal, was die Leute sagen.«

»Das mag ja alles sein«, sagte Adam. »Aber mir geht es nicht ums Geld. Mir geht es um etwas anderes.«

»Nämlich?«

Wie sollte er seinem Bruder das erklären? Er hätte es ohnehin nicht verstanden. Gavin wollte vom Leben weiter nichts als Geld und Macht und beurteilte andere ausschließlich nach diesen Maßstäben. Er ging davon aus, dass alle Welt dasselbe Ziel hatte wie er, was natürlich nicht stimmte. Adam hingegen glaubte an die Schönheit um ihrer selbst willen: Schönheit als Prinzip. Und obwohl er mit Gavin nicht darüber sprechen konnte, hatte Adam seinen weiteren Lebensweg in diesem Moment deutlich vor Augen. Er war der arme Poet, der der Welt außer Worten nichts zu bieten hatte, und doch verkörperte er die wahre Seele seines Landes. Er schaute in das Herz der Dinge.

Das erhebende Gefühl vollkommener Gewissheit hielt den Rest des Tages an. Abends, in seinem Zimmer, stellte er sich vor den Spiegel. Er hatte eine Theorie, nach der das Gesicht eines Menschen allmählich einen vorherrschenden Ausdruck annahm. Es gab zufriedene Gesichter, zornige Gesichter, traurige Gesichter. Aus seinem Gesicht, so fand er, sprach vor allem Enttäuschung: Sie war der rote Faden, der sich durch sein ganzes Leben zog. Doch jetzt, als er sich im Spiegel betrachtete, glaubte er plötzlich eine Wandlung in seinem Gesicht ausmachen zu können. Die kleinen Niederlagen, die Kompromisse hatten sich verflüchtigt. Übrig geblieben war sein eigentliches Ich.

Adam hatte sich gut gehalten. Zugegeben, die verführerische Schönheit seiner Jugend war dahin; die wilden Locken, der umwölkte Blick: Damals hatte er wirklich wie ein Dichter ausgesehen. Sein Haar war grauer und schütterer geworden, er hatte etwas zugenommen und ein paar Falten um die Augen. Aber die Grundzüge, die wesentlichen Konturen seines Gesichts waren unverändert. Seine wahre Natur schimmerte noch immer durch: der kreative Geist des Bohemiens. Der Jüngling war zu einem nicht mehr ganz so imposanten, aber immer noch attraktiven Mann gereift.

In seinem Entschluss bestärkt, schlief er ein. Doch als er in den frühen Morgenstunden erwachte, kamen ihm Zweifel. Er lag lange da, die Lichter der Stadt wie ein Teppich unter seinem Fenster, und hing bohrenden Fragen nach. Was bildete er sich eigentlich ein? War er größenwahnsinnig geworden? Gott sei Dank war er Gavin nicht mit dem Spruch gekommen, er verkörpere die wahre Seele seines Landes. Was für ein unglaublicher Unsinn. Gavin war dem Herzen der Dinge vermutlich sehr viel näher als er. Vielleicht war die Seele Südafrikas kein Dichter, sondern ein halbseidener Baulöwe mit einem fatalen Hang zu billigen Armaturen.

*

»Ich hätte da einen Vorschlag«, sagte Gavin ein paar Tage später. »Nein, nein, es geht nicht um den Job. Es geht um etwas anderes.«

Inzwischen war Adam wieder einigermaßen normal, weder siegestrunken noch deprimiert. Er wusste, was er wollte, zweifelte jedoch, ob es das Richtige war. Diese Unsicherheit machte ihn besonders empfänglich für die Worte seines Bruders, und so weckte der Vorschlag, den Gavin ihm unterbreitete, erst sein Interesse, dann seine Begeisterung.

Vor ein paar Jahren, sagte Gavin, habe er in einem etwa acht Autostunden entfernt gelegenen Kaff in der Karoo ein Haus gekauft. Er habe es ursprünglich renovieren wollen, um es als Wochenend- und Ferienhaus zu nutzen, sei aber bis heute nicht dazu gekommen. Und nun stehe es einfach da, ungenutzt und leer, und rotte langsam vor sich hin.

»Wenn du willst, kannst du dort einziehen. Ich habe es komplett gekauft, inklusive Mobiliar et cetera pp. Es würde dich kaum etwas kosten – nur Strom und Wasser. Zum Dichten geradezu ideal.«

Gavin sah Adam hämisch grinsend an. Es war ein herausfordernder Blick. Adam begriff erst im Nachhinein, dass Gavin ihm den Fehdehandschuh hingeworfen hatte. In den Augen seines Bruders war es ein ganz und gar absurder Vorschlag. Eigentlich wollte er sagen: »Soso, du möchtest also Gedichte schreiben. Na, dann wollen wir doch mal sehen, wie ernst es dir damit ist.«

Adam sah sich an einem Fenster sitzen, mit Blick auf sanfte Hügel und wogende Felder, während ihm ein langer, steter Strom von Worten aus der Feder floss. Genau so hatte er sich das vorgestellt. »Ja!«, sagte er. »Ich bin dabei.«

Prompt machte Gavin ein langes Gesicht und versuchte, seinen Bruder davon zu überzeugen, dass die Idee im Grunde töricht sei. Doch jedes seiner Argumente – das Haus sei alt und heruntergekommen, er sei schon seit Jahren nicht mehr dort gewesen, außerdem kenne er dort weit und breit keine Menschenseele – bestärkte Adam nur noch in seinem Entschluss. Er hatte das Gefühl, dass sein Leben sich auf einen winzigen Schicksalspunkt zubewegte, jenseits dessen ihn Genesung und Erneuerung erwarteten. Er hatte falschen Göttern gehuldigt, doch diese alten Götzen waren jetzt zerschlagen. Was an ihre Stelle treten würde, wusste er noch nicht, aber er konnte es fast schon mit Händen greifen.

Und so kam es, dass er bald darauf, an einem Sonntagvormittag, mit seinem alten Fiat über Land fuhr, hinter Gavin und Charmaine her, die in Gavins rotem Sportwagen dahinrasten. Kaum lag die Stadt hinter ihm, hatte er das Gefühl, endlich wieder frei atmen zu können. Er kurbelte sämtliche Fenster herunter, und als die Luft in den Wagen drang, war ihm, als wehte ein neuer, scharfer Wind in seinem Leben. Er fühlte sich so befreit wie schon seit Jahren nicht mehr, als würde er die drückende Last der Vergangenheit abwerfen. Er streifte sein altes Leben ab wie eine Haut, die ihm zu eng geworden war. Seine wenigen verbliebenen Habseligkeiten, die sich auf dem Rücksitz stapelten, sogar der Wagen selbst, waren ihm gleichgültig – darauf konnte er gut verzichten.

Die Landschaft, durch die sie fuhren, war wie ein Sinnbild dieses Neuanfangs, denn sie war ihm gänzlich unvertraut. Zwar hatte er die Karoo schon des Öfteren gesehen, aber immer nur flüchtig, im Vorüberfahren, auf dem Weg nach Kapstadt oder zurück nach Johannesburg. Jetzt betrachtete er sie zum ersten Mal mit offenen Augen. Er sah sonnenverbrannte Ebenen, jäh durchbrochen von grotesk geformten Hügeln. Die Leere war seltsam und gewaltig. Sie erinnerte an eine Wüste, dabei war Frühling, und in fruchtbaren Tälern, wo es Wasser gab, war das Grün kräftig und satt. Hier und da ein Farmhaus, umringt von verstreut liegenden Gebäuden, die Menschen nichts als Striche in der Landschaft. Und da und dort eine winzige Hütte, selten größer als ein oder zwei Zimmer, mitten in der Einöde. Kaum zu fassen, dass dort tatsächlich jemand lebte.