Der Bourgeois - Franco Moretti - E-Book

Der Bourgeois E-Book

Franco Moretti

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Beschreibung

Die industrielle Revolution hat keinen Stein auf dem anderen gelassen. Sie hat alle »altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen« aufgelöst, alles »Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige« entweiht, konstatieren Marx und Engels im »Kommunistischen Manifest«. Die Protagonisten dieser Umwälzung sind die Bürger, die Kaufleute und Industriekapitäne. Die Figur des Bourgeois hat nicht nur Max Weber, Werner Sombart und Joseph Schumpeter fasziniert, sie spielt auch eine Hauptrolle in den großen Werken der Weltliteratur: bei Defoe und Goethe, Balzac und Dickens, bei Thomas Mann und Henrik Ibsen. Franco Moretti rekonstruiert die Mentalität dieser Ära durch das Fenster Literatur: Warum hört Robinson Crusoe auch dann nicht auf zu arbeiten, als sein Überleben auf der paradiesischen Insel längst gesichert ist? Was verraten Ton, Schlüsselwörter und Grammatik der großen Romane des 19. Jahrhunderts über den Geist des Kapitalismus? Und was haben uns die Stücke Ibsens heute, das heißt in unseren postbürgerlichen Zeiten, noch zu sagen, in denen die Wachstumsideologie ebenso hinterfragt wird wie die Integrität von Bankern, Beratern und Analysten?

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Die industrielle Revolution hat keinen Stein auf dem anderen gelassen. Sie hat alle »altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen« aufgelöst, alles »Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige« entweiht, konstatieren Marx und Engels im Kommunistischen Manifest. Die Protagonisten dieser Umwälzung sind die Bürger, die Kaufleute und Industriekapitäne. Die Figur des Bourgeois hat nicht nur Max Weber, Werner Sombart und Joseph Schumpeter fasziniert, sie spielt auch eine Hauptrolle in den großen Werken der Weltliteratur: bei Defoe und Goethe, Balzac und Dickens, bei Thomas Mann und Henrik Ibsen.

Franco Moretti rekonstruiert die Men-talität dieser Ära durch das Medium Literatur: Warum hört Robinson Crusoe auch dann nicht auf zu arbeiten, als sein Überleben auf der paradiesischen Insel längst gesichert ist? Was verraten Ton, Schlüsselwörter und Grammatik der großen Romane des 19. Jahrhunderts über den Geist des Kapitalismus? Und was haben uns die Stücke Ibsens heute, das heißt in unseren postbürgerlichen Zeiten, noch zu sagen, in denen die Wachstumsideologie ebenso hinterfragt wird wie die Integrität von Bankern, Beratern und Analysten?

Franco Moretti, geboren 1950 im italienischen Sondrio, lehrt Anglistik und Komparatistik an der Stanford University, wo er das »Literary Lab« leitet. Er gilt als innovativster Literaturwissenschaftler der Gegenwart. Anstatt sich immer wieder mit einigen kanonischen Werken zu befassen, sollten Philologen mit Hilfe von Datenbanken große Mengen von Texten analysieren, um so zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. 2013 wurde Moretti mit dem National Book Critics Circle Award ausgezeichnet. Zuletzt erschien Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte (es 2564).

Franco Moretti

Der Bourgeois

Eine Schlüsselfigur der Moderne

Aus dem Englischen von Frank Jakubzik

Suhrkamp

Textgrundlage dieses eBooks ist die 1. Auflage der gedruckten Version gleichnamigen Titels.

Titel der Originalausgabe:

The Bourgeois. Between History and Literature

Erstmals erschienen 2013 bei Verso.

© Franco Moretti 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

© Franco Moretti 2013

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

eISBN 978-3-518-73833-7

www.suhrkamp.de

Inhalt

Einleitung: Bezeichnende Widersprüche

1. Ich bin ein Mitglied der Bourgeoisie

2. Eigentlich ganz unmögliche Verbindungen

3. Bourgeoisie oder Mittelklasse?

4. Geschichte und Literatur

5. Ein abstrakter Held

6. Prosastil und Stichworte: Einige Bemerkungen vorab

7. »Der Bürger ist verloren…«

I. Der arbeitsame Herr

1. Abenteuer, Unternehmung, Fortuna

2. »Dies alles liefert den Beweis, daß ich nicht müßig war«

3. Stichwort I: »Nützlich«

4. Stichwort II: »Effizienz«

5. Stichwort III: »Komfort«

6. Prosa I: »Der Rhythmus der Kontinuität«

7. Prosa II: »Wir haben die Produktivität des Geistes erfunden«

II. Das Jahrhundert der Ernsthaftigkeit

1. Stichwort IV: »serious«

2. Einschübe

3. Rationalisierung

4. Prosa III: Das Realitätsprinzip

5. Beschreibung, Konservativismus, Realpolitik

6. Prosa IV: Eine »Versetzung des Objektiven in die Subjektivität«

III. Verschleierungen

1. Nackt, eiskalt, nüchtern und direkt

2. »Wenn der Schleier weicht«

3. Die Neugotik: Wiederkehr des »bereits Bestehenden«

4. Der Gentleman

5. Stichwort V: »Einfluß«

6. Prosa V: Das viktorianische Adjektiv

7. Stichwort VI: »earnest«

8. »Wer haßt die Wissenschaft?«

9. Prosa VI: Verschleierungen

IV. »Nationale Mißbildungen«: Die Bourgeoisie in halbperipheren Gesellschaften

1. Balzac, Machado de Assis und das Geld

2. Stichwort VII: »Roba«

3. Die »Resistenz der alten Ordnung« I: Die Puppe

4. Die »Resistenz der alten Ordnung« II: Torquemada

5. »Das ist ja ein Rechenexempel!«

V. Ibsen und der Geist des Kapitalismus

1. Die Grauzone

2. »Zeichen gegen Zeichen«

3. Bourgeoise Prosa, kapitalistische Lyrik

Namenregister

Abbildungsnachweise

Zu den verwendeten Quellen

Ein Wort zu einigen der Quellen, die ich in diesem Buch regelmäßig heranziehe: Mit Hilfe von Google Books lassen sich Millionen Bücher auf einfachste Weise durchsuchen. Die zu den »Chadwyck-Healey Literature Collections« gehörende Datenbank der »Nineteenth-Century Fiction« ist eine ungewöhnlich gut kuratierte Sammlung, die 250 zwischen 1782 und 1903 in Großbritannien und Irland erschienene Romane umfaßt. Der Korpus des »Stanford Literary Lab« wiederum erschließt rund 3500 im 19. Jahrhundert erschienene Romane aus Großbritannien, Irland und den USA.

Daneben zitiere ich einige Wörterbücher, die ohne weitere Angaben in Klammern genannt werden. Dabei steht »OED« für das Oxford English Dictionary, »Robert« bzw. »Littré« für die entsprechenden französischen Wörterbücher, »Grimm« für das deutsche der Gebrüder Grimm und »Battaglia« für das Grande dizionario della lingua italiana.

Für Perry Anderson und Paolo Flores d’Arcais

13Einleitung: Bezeichnende Widersprüche

1. Ich bin ein Mitglied der Bourgeoisie

Die Bourgeoisie: Es ist noch gar nicht so lange her, daß kein sozialwissenschaftlicher Aufsatz auf diesen Begriff verzichten mochte; heute kann es Jahre dauern, bis man ihm mal wieder begegnet. Der Kapitalismus ist mächtiger denn je, doch seine menschliche Verkörperung scheint vollkommen von der Bildfläche verschwunden. »Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen, fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen«, so Max Weber 1895.1 Wer würde sich heute noch zum »Mitglied der bürgerlichen Klassen«, zum »Mitglied der Bourgeoise«, erklären?2 Und sich zu bourgeoisen »Anschauungen und Idealen« bekennen – und was soll man darunter überhaupt verstehen?

Dieser Gezeitenwechsel schlägt sich auch in der wissenschaftlichen Debatte nieder. Für Simmel und Weber, Sombart und Schumpeter waren Kapitalismus und Bourgeoisie noch zwei Seiten – Ökonomie und Anthropologie – derselben Medaille. »Ich weiß von keiner ernstzunehmenden historischen Darstellung dieser unserer modernen Welt«, notierte Immanuel Wallerstein vor gut einem Vierteljahrhundert, »die 14ohne den Begriff der Bourgeoisie […] auskommt. Und das mit gutem Grund. Es ist schwierig, eine Geschichte zu erzählen, ohne ihren wichtigsten Protagonisten zu nennen.«3 Trotzdem interessieren sich heute selbst jene Historiker, die bourgeoisen »Anschauungen und Idealen« eine wichtige Rolle beim Aufstieg des Kapitalismus zusprechen (wie Meiksins Wood, de Vries, Appleby oder Mokyr), kaum noch oder gar nicht mehr für die Figur des Bourgeois. Der Kapitalismus sei zwar »in England entstanden«, schreibt Meiksins Wood, »aber er wurde nicht von der Bourgeoisie ins Leben gerufen. In Frankreich war die Bourgeoisie (im großen und ganzen) siegreich, doch hatte ihr revolutionäres Projekt wenig mit Kapitalismus zu tun« – und daher sei »bourgeois nicht zwingend gleichbedeutend […] mit kapitalistisch«.4

Stimmt schon, Bourgeoisie und Kapitalismus sind nicht zwingend dasselbe; allerdings ist das wohl auch nicht der Punkt. Schon Weber konstatiert in »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, daß »die Entstehung des abendländischen Bürgertums und seiner Eigenart« zwar »mit der Entstehung kapitalistischer Arbeitsorganisation […] im nahen Zusammenhang steht«, aber »nicht einfach [mit ihr] identisch ist«.5 »In nahem Zusammenhang« stehend, doch »nicht einfach identisch« – das ist die Vorstellung, von der das vorliegende Buch ausgeht, um den (die meiste Zeit über fraglos 15männlichen) Bourgeois und seine Kultur als Elemente einer Machtstruktur zu betrachten, ohne sie ungebrochen mit ihr gleichzusetzen. Allerdings steht gar nicht ohne weiteres fest, daß es so etwas wie »die Bourgeoisie« überhaupt gibt: Das Großbürgertum, so beobachtet Eric Hobsbawm in Das imperiale Zeitalter,»konnte sich […] nicht formell von denen lösen, die unmittelbar unter ihm standen, da es für Neuankömmlinge offen bleiben mußte – das lag in seinem Wesen begründet«.6 Und gerade diese Durchlässigkeit unterscheidet die Bourgeoisie, wie Perry Anderson schreibt, sowohl

»von ihrem Vorgänger, dem Adel, als auch von ihrem Nachfolger, dem Proletariat. Diese beiden Klassen sind bei aller Heterogenität ihrer Zusammensetzung strukturell weit homogener als das Bürgertum: Die Zugehörigkeit zur Aristokratie beruhte gewöhnlich auf einem rechtlichen Status, der mit Titeln und Privilegien verbunden war, die zur Arbeiterklasse vor allem auf der Ausübung manueller Lohnarbeit. Die Bourgeoisie als gesellschaftliche Formation verfügt nicht über ein vergleichbares einheitliches Merkmal.«7

Schwache Abgrenzung, geringe Homogenität: Verliert das Konzept der Bourgeoisie als Klasse damit jeden Sinn? Aus Sicht von Jürgen Kocka, dem herausragenden zeitgenössischen Historiker des Bürgertums, muß das zumindest dann nicht der Fall sein, wenn man den Kern des Phänomens in den Blick nimmt und von der Peripherie absieht. Tatsächlich sind die Randbereiche des Bürgertums historisch hochgradig variabel gewesen; bis ins späte 18. Jahrhundert hinein bestanden 16sie vor allem aus »kleinen Selbständigen in Handel und Gewerbe – […] Handwerker[n], Kleinhändler[n] und Gastwirte[n]«, kaum hundert Jahre später wurden sie überwiegend von den »an Zahl bald zunehmenden mittleren und kleinen Angestellten und Beamten« gebildet.8 In der Zwischenzeit aber trat im 19. Jahrhundert überall in Westeuropa der synkretistische Typus des »wohlhabenden und gebildeten Bourgeois« auf den Plan, welcher der Rede von der Bourgeoisie einen festen Anknüpfungspunkt bot und über Eigenschaften verfügte, die ihren Aufstieg zur neuen Herrschaftsklasse erheblich wahrscheinlicher machten – was sich in Deutschland im Begriff des Besitz- und Bildungsbürgertums* widerspiegelte und, etwas nüchterner, auch darin, daß »in den Formularen der britischen Einkommensteuererklärung ›Gewinne‹ und ›Honorare‹ unter derselben Rubrik geführt« wurden.9

Besitz und Bildung: Der von Jürgen Kocka entworfene Idealtypus wird auch der meine sein, allerdings mit einem wichtigen Unterschied. Da ich mich mit Literaturgeschichte befasse, geht es mir nicht um das Verhältnis zwischen den einzelnen bürgerlichen Gruppen – Bankern, Beamten, Industriellen, Intellektuellen und so weiter –, sondern darum, auf welche Weise sich die Lebensweise dieser Klasse im Bereich der Kultur widerspiegelt: Inwiefern etwa der Begriff »Komfort« für ein genuin bürgerliches Konsumverhalten stehen kann oder ob und wie sich das Erzähltempo im Roman unter dem Eindruck 17eines von Regelmäßigkeit geprägten Alltags verändert. Die Bourgeoisie, gebrochen durch das Prisma der Literatur: das ist der Gegenstand des vorliegenden Buches.

2. Eigentlich ganz unmögliche Verbindungen

Gibt es überhaupt so etwas wie eine einheitliche bürgerliche Kultur? Für die Klasse, »die ich so lange unter dem Mikroskop beobachtet habe«, resümiert Peter Gay in der »Coda« seiner fünfbändigen Studie The Bourgeois Experience, könne »durchaus« das Adjektiv »bunt« stehen.10 »Wirtschaftliches Eigeninteresse, Religionspolitik, intellektuelle Überzeugungen, soziale Konkurrenz, die Gleichberechtigung der Frauen – all dies waren politische Themen, um die sich Bürger mit Bürgern stritten«, erläutert er anderenorts und fügt hinzu: Die »Spaltungen« bezüglich dieser Themen »gingen so tief, daß man versucht ist zu fragen, ob das Bürgertum überhaupt eine fest definierbare Größe war«.11 Aus Gays Sicht sind all diese »feinen Differenzierungen«12 die Folge der enormen Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert und mithin typisch für die viktorianische Phase in der Geschichte des Bürgertums.13 Doch die Widersprüche der bürgerlichen Kultur finden sich auch in viel früheren Epochen. In seinem Aufsatz über die Porträtkunst im Florenz der 18Medici zitiert Aby Warburg eine Charakterisierung Lorenzo de’ Medicis aus Machiavellis Geschichte von Florenz – »Wenn man sein leichtsinniges und ernsthaftes Leben [la vita leggere e la grave] nebeneinander betrachtet, so sieht man, wie in ihm zwei ganz verschiedene Personen in einer eigentlich ganz unmöglichen Verbindung verbunden sind [quasi con impossibile congiunzione congiunte]« – und stellt ganz allgemein fest:

»Die ganz heterogenen Eigenschaften des mittelalterlich christlichen, ritterlich romantischen oder klassisch platonisierenden Idealisten und des weltzugewandten etruskisch-heidnisch praktischen Kaufmanns durchdringen und vereinigen sich im Mediceischen Florentiner zu einem rätselhaften Organismus von elementarer und doch harmonischer Lebensenergie, die sich darin offenbart, daß er jedwede seelische Schwingung als Erweiterung seines geistigen Umfanges freudig an sich entdeckt, und ruhig ausbildet und verwertet.«14

Ein »rätselhafter Organismus«, Idealist und weltzugewandter Kaufmann. Auch Simon Schama wundert sich beim Rückblick auf ein anderes »Goldenes Zeitalter« des Bürgertums, nämlich das niederländische (lange nach den Medici, aber lange vor dem Viktorianismus), über die »eigentümliche Koexistenz« gewöhnlich unvereinbarer Eigenschaften, die

19»auch eine Möglichkeit für die kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten [war], mit etwas zu leben, das andernfalls ein in sich widersprüchliches Wertesystem gewesen wäre, ein beständiger Kampf zwischen Gewinnsucht und Askese. […] Die schwer zu bändigenden Untugenden der materiellen Genußsucht und der Lust an gewagten Unternehmungen, die im holländischen Wirtschaftssystem tief verwurzelt waren, ließen die berufenen Wächter der Orthodoxie immer wieder zu warnenden Tönen und feierlichen Strafpredigten greifen. […] Die eigentümliche Koexistenz von augenfällig gegensätzlichen Wertsystemen […] gab [holländischen Kaufleuten und Bankiers] die Möglichkeit, zwischen Heiligem und Profanem zu manövrieren, wie Gewissen oder Bedürfnisse es erforderten, ohne die brutale Alternative der Armut und des Ruins riskieren zu müssen.«15

»Materielle Genußsucht« einerseits, orthodoxe Moral andererseits. Auf dem Umschlag der englischen Ausgabe von Schamas Buch über das »Unbehagen im Wohlstand« prangt Jan Steens »Der Bürger von Delft und seine Tochter« (Abbildung 1): Ein korpulenter Mann sitzt, fast ganz in Schwarz gehüllt, zwischen seiner Tochter im feinen silber- und golddurchwirkten Gewand und einer heruntergekommenen Bittstellerin mit Kind. Die strahlende Vitalität der Gesichter in Florenz hat sich auf dem Weg nach Amsterdam offenbar verloren; der Bürger drückt sich freudlos in seinem Stuhl herum, als raubte ihm das »moralische Drängen und Mahnen« (abermals Schama) in seiner mißlichen Lage jede Entschlußkraft: Räumlich ist er seiner Tochter näher, gleichwohl sieht er sie nicht an; er neigt sich vage in Richtung der Bittstellerin, ohne sich ihr jedoch wirk20lich zuzuwenden; er senkt den Blick und starrt ins Nichts. Wie soll er da bloß wieder rauskommen?

Abb. 1: Jan Steen, Der Bürger von Delft und seine Tochter (1655), Rijksmuseum, Amsterdam.

Machiavellis »eigentlich ganz unmögliche Verbindung«, Warburgs »rätselhafter Organismus«, Schamas »beständiger Kampf«: Neben diesen älteren Widersprüchen bürgerlicher Kultur wirkt das Viktorianische Zeitalter vergleichsweise kontrastarm und erscheint eher als eine Epoche der Kompromisse – was es ja auch war. Kompromisse sind jedoch nicht unbedingt 21gleichbedeutend mit kultureller Uniformität, und man kann auch noch den Viktorianern eine gewisse »Buntheit« nachsagen; doch ihre Farben sind Überbleibsel der Vergangenheit und haben an Leuchtkraft eingebüßt. Grau, nicht bunt, ist das Jahrhundert, das man das »bürgerliche« nennt.

3. Bourgeoisie oder Mittelklasse?

»Ich verstehe nicht recht, warum sich der Bourgeois dagegen sträubt, bei seinem Namen genannt zu werden«, schreibt Bernard Groethuysen in seiner großartigen Studie Origines de l’esprit bourgeois en France: »Könige nennt man Könige, Priester nennt man Priester und Ritter Ritter; nur der Bourgeois möchte lieber sein Inkognito wahren.«16Garder l’incognito: Dazu fällt einem natürlich das ebenso allgegenwärtige wie vage Etikett »Mittelklasse« ein. »Mit jedem Begriff werden bestimmte Horizonte, aber auch Grenzen möglicher Erfahrung und denkbarer Theorie gesetzt«, schreibt Reinhart Koselleck,17 und indem sie sich gegen den »bourgeois« und für die »middle class« entschied, hat die englische Sprache der gesellschaftlichen Wahrnehmung fürwahr einen bestimmten Horizont gesetzt. Aber warum? Tatsächlich trat der Bourgeois irgendwo in der »Mitte« ins Dasein – er »war wederBauer noch Leibeigener, aber auch kein Adliger«, wie Wallerstein schreibt18 –, doch war diese mittlere Position andererseits ge22nau das, was er überwinden wollte: Der in den »Mittelstand« des frühmodernen Englands geborene Robinson Crusoe weist die Auffassung seines Vaters zurück, dieser Stand sei der »beste in der Welt«, und widmet sein ganzes Leben dem Bestreben, über ihn hinauszugelangen. Warum also hat man sich auf eine Benennung festgelegt, die diese Klasse auf ihre indifferente Herkunft verweist, anstatt eine zu wählen, die ihren Erfolgen Rechnung trägt? Was stand auf dem Spiel, als es die Wahl zwischen »bourgeois« und »middle class« zu treffen galt?

Das Wort »bourgeois« entsteht im Frankreich des 11. Jahrhunderts, wo als »burgeis«jene Bewohner mittelalterlicher Städte (bourgs) bezeichnet werden, die »frei und von der feudalen Jurisdiktion ausgenommen« sind (Robert). Zu dieser juristischen Bedeutung des Begriffs – auf die die typisch bürgerliche Vorstellung von Freiheit als Freiheit von etwas zurückgeht – tritt gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine ökonomische, in der das Wort mit dem uns schon bekannten Verfahren der Negation auf Menschen verweist, die »weder dem Klerus noch dem Adel angehörten, nicht mit den Händen arbeiteten und 23wirtschaftlich unabhängig waren« (abermals Robert). Von diesem Zeitpunkt an dringt das Wort, wenn auch mit von Land zu Land variierender Semantik,19 in alle westeuropäischen Sprachen vor, ins Italienische (borghese), Spanische (burgués), Portugiesische (burguês), Deutsche (Bürger) und Niederländische (burger). Dabei ragt das englische Wort »bourgeois« als das einzige heraus, das nicht morphologisch von der Landessprache assimiliert wird, sondern als unmißverständlicher Import aus dem Französischen erhalten bleibt. Tatsächlich lautet die erste Definition des Oxford English Dictionary (OED) für das Substantiv »bourgeois« denn auch: »(französischer) Bürger oder Freier«; und die für das Adjektiv: »zur französischen Mittelklasse gehörend«, was prompt mit einer Reihe auf Frankreich, Italien und Deutschland verweisender Belege untermauert wird. Das Substantiv »bourgeoise« steht demnach für »ein weibliches Mitglied der französischen Mittelklasse«, während der Begriff »bourgeoisie« – die ersten drei Bedeutungen verweisen auf Frankreich, Kontinentaleuropa beziehungsweise Deutschland – entsprechend »die Gruppe der freien Bürger in einer französischen Stadt; die französische Mittelklasse, oder die Mittelklasse anderer Länder« bezeichnet.

Das Wort »bourgeois«, als eindeutig »unenglisch« markiert. In Dinah Craiks Bestseller John Halifax, Gentleman (1856), der fiktiven Lebensbeschreibung eines Textilindustriellen, taucht es lediglich dreimal auf, zum Zeichen der Fremdheit jedesmal kursiviert, und nur in pejorativer Absicht (»I mean the lower orders, the bourgeoisie«) oder als Ausdruck der Verach24tung (»What! A bourgeois – a tradesman?«) verwendet.20 Was andere Romanciers zu Craiks Zeiten angeht: totales Schweigen. In der Chadwyck-Healey-Datenbank, deren 250 Romane einen erweiterten Kanon der Literatur des 19. Jahrhunderts bilden, kommt das Wort »bourgeois« im Jahrzehnt von 1850 bis 1860 genau einmal vor, »rich« hingegen 4600mal, »wealthy« 613mal und »prosperous« 449mal. Wenn wir die Untersuchung auf das gesamte Jahrhundert ausweiten – und den Blickwinkel von der Häufigkeit der Nennung auf die Anwendungsbreite verschieben –, ergibt sich aus den 3500 Romanen des Stanford Literary Lab folgender Befund: Die Adjektive »rich«, »wealthy« und »prosperous« werden 1060, 215 beziehungsweise 156 verschiedenen Hauptwörtern zugeordnet, das Adjektiv »bourgeois« ganzen acht: »family«, »doctor«, »virtues«, »air«, »virtue«, »affectation«, »playhouse« und, merkwürdig genug, »escutcheon« (Wappen, Namensschild).

Woher rührt diese Scheu? Im allgemeinen war, was die bürgerlichen Gruppen »bei aller Verschiedenheit der Interessen und Erfahrungen […] einigermaßen einte«, so Jürgen Kocka,

»die kritische Absetzung von den alten Mächten, vom privilegierten Geburtsadel einerseits, vom monarchischen Absolutismus andererseits. […] In dem Maße, in dem diese Frontstellungen fehlten oder verblaßten, in dem Maße verlor das Reden von einem zugleich umfassenden und abgrenzbaren Bürgertum an Realitätsgehalt. So kann man einige internationale Unterschiede erklären: Wo die Adelstradition schwach war oder gar fehlte (wie in der Schweiz und in den USA), wo die frühe Entfeudalisierung des Landes und die frühe Kom25merzialisierung der Landwirtschaft die Adel-Bürger-Differenz und überhaupt den Land-Stadt-Unterschied zeitig abschliffen (England, Schweden), dort wirkten starke Faktoren der Herausbildung eines distinkten Bürgertums und einer einheimischen Bürgertum-Diskussion entgegen.«21

Das Fehlen einer klaren »Frontstellung« im Diskurs über das Bürgertum*: deshalb die Indifferenz des Englischen gegenüber dem Wort »bourgeois«. Tatsächlich wurde die Bezeichnung »middle class« sogar aktiv gefördert – aus dem einfachen Grund, weil viele Autoren im frühindustriellen Großbritannien eine mittlere Klasse herbeisehnten. Besonders in Industrieregionen litt man, wie James Mill in seinem Essay on Government (1824) schreibt, »unter dem sehr großen Mangel an mittleren Rangstufen [middle rank], weil die Bevölkerung dort fast nur aus reichen Fabrikanten und armen Arbeitern besteht«.22 Nur aus Armen und Reichen: In keiner anderen Stadt, versichert Richard Parkinson in seiner damals vielzitierten Schilderung der Zustände in Manchester, »ist der Abstand zwischen Reich und Arm derart groß, die Barriere zwischen ihnen so schwer zu überschreiten«.23 Da das industrielle Wachstum die englische Gesellschaft immer stärker polarisiert – und sie, wie es im Kommunistischen Manifest heißen wird, »mehr und mehr in zwei große feindliche Lager [spaltet], in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen«,24 nämlich die der Besitzenden und die der Besitzlosen –, wächst das Bedürfnis nach einer vermit26telnden Instanz, die nur in Form einer mittleren Klasse denkbar ist, die die »Notlage der bedrängten Arbeiter […] nachfühlen«, sie »mit ihrem Rat […] anleiten« und ihnen als »gutes Beispiel und Vorbild« dienen kann.25 Diese Klasse »verbindet die oberen und die unteren Ränge«, fügt Lord Brougham in seinen Ausführungen über die »Intelligence of the Middle Classes« anläßlich der Wahlrechtsreform von 1832 hinzu und lobt sie als »genuinen Treuhänder des nüchternen, rationalen, intelligenten und aufrichtigen englischen Empfindens«.26

Wenn es die Ökonomie ist, die die historische Notwendigkeit einer mittleren Klasse herbeiführt, dann ist es die Politik, die ihr den entscheidenden strategischen Dreh gibt. Noch zwischen 1800 und 1825 treten die Begriffe »middle class«, »middle classes« und »bourgeois« im Korpus von Google Books etwa gleich häufig auf; doch in den Jahren unmittelbar vor der Neueinteilung der Wahlkreise 1832 – in denen das Verhältnis von sozialer Struktur und politischer Repräsentation im Zentrum der öffentlichen Debatten steht – begegnen »middle class« und »middle classes« plötzlich zwei- bis dreimal häufiger als »bourgeois«. Vermutlich, weil der Ausdruck »middle class« es ermöglicht, die Bourgeoisie nicht als unabhängige Gruppe zu sehen, sondern gleichsam von oben auf sie hinabzublicken und ihr die Eindämmung der Oppositionsbewegungen aufzutragen.27 Sobald das Kind erst einmal getauft und der neue Begriff 27durchgesetzt ist, ergeben sich alle möglichen Konsequenzen und Umkehrungen: Obgleich »middle class« und »bourgeois« dieselbe soziale Realität bezeichnen, stellen sie diese in ganz unterschiedlicher Beleuchtung dar. Die in die »Mitte« gerückte Bourgeoisie erscheint nun als eine Gruppe, die ihrerseits anderen untergeordnet ist, womit man sie nicht mehr ernsthaft für den Zustand der Welt verantwortlich machen kann. Daneben legen die Begriffe »low«, »middle« und »upper« (Unter-, Mittel- und Ober-) die Existenz eines sozialen Kontinuums nahe, in dem Mobilität eher vorstellbar wird als zwischen inkommensurablen Kategorien oder »Klassen« wie Landbevölkerung, Proletariat, Bourgeoisie und Adel. So erweist sich der durch den Begriff »middle class« gesetzte Horizont als auf lange Sicht außerordentlich günstig für die Bourgeoisie in England (und den USA): Diese Wortwahl, an deren Anfang die Niederlage von 1832 steht, durch die eine »unabhängige bürgerliche Repräsentation«28 verhindert wurde, nimmt die Bourgeoisie vor direkter Kritik in Schutz, indem sie eine euphemistische Sicht auf die soziale Hierarchie nahelegt. Groethuysen hat recht: Die Wahrung des Inkognitos zahlte sich aus.

284. Geschichte und Literatur

Der Bourgeois in Geschichte und Literatur.29 Ich kann in diesem Buch nur einige der vielen möglichen Beispiele herausgreifen. Zunächst den Bourgeois vor seiner prise de pouvoir im Kapitel »Der arbeitsame Herr«: eine im Dialog mit Defoe und Weber durchgeführte Untersuchung über den Mann, den es auf eine einsame Insel fern vom Rest der Menschheit verschlagen hat, wo er das seinem Dasein zugrunde liegende Muster zu erkennen und sprachlich zu fassen beginnt. Kurz darauf, im »Jahrhundert der Ernsthaftigkeit«, ist aus dem einsamen Eiland schon ein halber Kontinent geworden: Die Bourgeoisie hat sich über ganz Westeuropa ausgebreitet und ihren Einfluß in vielerlei Richtungen ausgedehnt. Es ist der in ästhetischer Hinsicht bedeutsamste Moment ihrer Geschichte: narrative Innovationen, konsistente Stilistik, Meisterwerke – eine grandiose bürgerliche Literatur entsteht, wie es sie kein zweites Mal gegeben hat. Die »Verschleierungen« im viktorianischen England hingegen sprechen eine andere Sprache: Nach Jahrzehnten enormer Erfolge kann der Bourgeois nicht mehr einfach »er selbst« sein; sein Einfluß auf die übrige Gesellschaft, seine »Hegemonie«, steht auf der Tagesordnung – und genau in diesem Moment beginnt er sich für sich selbst zu schämen. Zu Macht und Einfluß gelangt, hat er den klaren Blick, die Sicherheit seines bürgerlichen »Stils« verloren. Das ist der Wendepunkt, die Stunde der Wahrheit dieses Buchs: Der Bourgeois stellt fest, daß er weit besser darin ist, wirtschaftliche Macht auszuüben, als darin, sich politische Präsenz zu sichern und 29eine ihm entsprechende allgemeine Kultur zu erschaffen. Anschließend beginnt die Sonne über dem bürgerlichen Jahrhundert zu sinken: In den südlichen und östlichen Randgebieten des Kapitalismus kommt es zu »Nationalen Mißbildungen«; dort scheitert ein »Macher« nach dem anderen am Beharrungsvermögen des Ancien régime und wird zum belächelten Außenseiter; während die mehr in einem tragischen Nirgendwo als in Norwegen angesiedelten Gesellschaftsstücke Ibsens zur gleichen Zeit die finale, radikale Selbstkritik des bürgerlichen Daseins formulieren (»Ibsen und der Geist des Kapitalismus«).

Lassen wir es vorerst bei diesem Überblick bewenden; lediglich einige Worte zum Verhältnis zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft seien hier noch angefügt. Inwiefern können literarische Werke historische Evidenz für sich in Anspruch nehmen? Zweifellos nicht ungebrochen: Der Baumwollspinnereibesitzer Thornton in Elizabeth Gaskells Roman North and South (1855) oder der Entrepreneur Wokulski in Bolesław Prus’Roman Die Puppe (1890) können nicht stellvertretend für die Bourgeoisie Manchesters respektive Warschaus stehen. Sie entstammen einem parallelen kulturellen Strang, der – als Teil einer Art Doppelhelix – die Erschütterungen der kapitalistischen Modernisierung mit den Mitteln literarischer Formgebung abbildet und interpretiert. »Jede Form ist die Auflösung einer Grunddissonanz des Daseins«, schreibt der junge Georg Lukács in der Theorie des Romans;30 und wenn das stimmt, dann ist die Literatur ein ziemlich seltsames Universum, in dem nur die »Auflösungen« – in Form der überlieferten Texte – erhalten bleiben, während von den für sie ursächlichen »Grunddissonanzen« nur noch wenig zu erkennen 30ist: und desto weniger, je mehr Erfolg der Auflösung beschieden war.

Diese Form der historischen Forschung, bei der man sich mit den erhalten gebliebenen Lösungen nicht mehr direkt greifbarer Probleme befaßt, hat ohne Frage etwas Gespenstisches. Doch wenn wir die Vorstellung akzeptieren, daß literarische Formen gleichsam versteinerte Überbleibsel einer einst lebendigen und problembeladenen Gegenwart sind, und nach dem Vorbild des reverse engineering von ihnen auf die zugrundeliegenden Probleme zurückschließen, dann kann eine formale Analyse unter Umständen – im Prinzip, wenn auch nicht unbedingt immer in der Praxis – Dimensionen der Vergangenheit aufschließen, die ansonsten verborgen blieben. Hier liegt der potentielle Beitrag der Literatur zum Verständnis der Geschichte: Indem wir Ibsens dunkle Anspielungen auf in der Vergangenheit liegende Geschehnisse ausleuchten oder die verblümte Semantik viktorianischer Adjektive entblättern oder gar (auch wenn das auf den ersten Blick keine erfreuliche Aufgabe ist) die Funktion des Gerundium Perfekt im Robinson Crusoe untersuchen, betreten wir ein Schattenreich, in dem die Vergangenheit noch lebendig ist und zu uns spricht.31

315. Ein abstrakter Held

Doch spricht sie zu uns ausschließlich durch das Medium der literarischen Form. Erzählungen, Erzählstile: In ihnen habe ich den Bourgeois gefunden. Vor allem aber im Stil: Was mich durchaus überrascht hat, gemessen daran, daß Erzählungen gemeinhin als Fundamente sozialer Identität gelten32 und daß es gerade von der Bourgeoisie heißt, sie stünde für Unruhe und Veränderung – von den berühmten Stellen in Hegels Phänomenologie über das Kommunistische Manifest, in dem sie »alles Ständische und Stehende verdampft«, bis hin zum »Prozeß der schöpferischen Zerstörung« bei Schumpeter. Daher hatte ich erwartet, daß sich die Literatur dieser Klasse vor allem über neue, mit den Erwartungen brechende Plots definiert: über den »Sprung ins Ungewisse«, der jede kapitalistische Innovation Jon Elster zufolge ist.33 Statt dessen jedoch war, wie wir im »Jahrhundert der Ernsthaftigkeit« sehen werden, ganz offenbar das Gegenteil der Fall: Nicht etwa der Gleichge32wichtsverlust, sonderndie Regelmäßigkeit ist die große narrative Innovation des bürgerlichen Europas.34 Alles Stehende wird – noch standfester gemacht.

Warum? Der Hauptgrund liegt wahrscheinlich in der Figur des Bourgeois selbst. Im Lauf des 19. Jahrhunderts verbanden sich mit ihm, nachdem er das Stigma des »Neureichen« abgestreift hatte, einige immer gleiche Eigenschaften: Tatkraft zuallererst, Selbstbeherrschung, klarer Verstand, Kaufmannsehrlichkeit, Zielorientiertheit. Alles »gute« Eigenschaften – aber doch nicht so gut, daß der Bourgeois im selben Maß zum Helden getaugt hätte wie der Krieger, der Ritter, der Eroberer oder der Abenteurer, die seit Jahrtausenden im Zentrum westlicher Erzählkunst standen. »Die Börse ist ein armseliger Ersatz für den Heiligen Gral«, kommentiert Schumpeter spöttisch; »die industrielle und kommerzielle Tätigkeit« – »im Büreau zwischen all den Zahlenreihen« – »ist ihrem Wesen nach unheroisch«.35 Darin zeigt sich ein immenser Unterschied zwischen der alten und der neuen Herrscherklasse: Während sich die Aristokratie vermittels einer schier endlosen Reihe furchtloser Ritter schamlos selbst idealisierte, brachte die Bourgeoisie keinen vergleichbaren Helden, keinen vergleich33baren Mythos hervor. Die großartige Maschinerie der Abenteuergeschichte wurde von der bürgerlichen Zivilisation untergraben und zersetzt – und ohne das Abenteuerliche mangelt es den Figuren an jener prägnanten Unverwechselbarkeit, die die Begegnung mit dem Unbekannten und Einzigartigen zu verleihen vermag.36 Im Vergleich zum Ritter wirkt der Bourgeois kontur- und eigenschaftslos; alle Bourgeois sind mehr oder weniger gleich. Hier eine Szene vom Anfang von North and South, in der die Heldin ihrer Mutter einen Industriellen aus Manchester zu beschreiben versucht:

»›Ach! Ich weiß kaum, wie er ist‹, sagte Margaret […] ›Um die Dreißig, mit einem Gesicht, das nicht völlig unscheinbar, aber auch nicht hübsch ist, nichts Bemerkenswertes – nicht ganz Gentleman; aber das war auch kaum zu erwarten.‹

›Aber auch nicht vulgär oder gewöhnlich‹, warf ihr Vater ein.«37

»Kaum«, »um die«, »nicht völlig«, »nichts«, »auch nicht«: Margarets Urteil, sonst recht präzise, verliert sich in einer Spirale von Vagheiten. Das liegt an der Abstraktheit des bourgeoisen Typus: In seiner Reinform ist er lediglich »personifiziertes Kapital« oder gar »Maschine zur Verwandlung [des] Mehrwerts in Mehrkapital«, um zwei Formulierungen von Karl Marx zu zitieren.38 Bei Marx wie später bei Weber läßt die methodische Ausklammerung aller sinnlich-konkreten Merkmale 34und Eigenschaften des Bourgeois es praktisch undenkbar werden, daß eine solche Figur je im Mittelpunkt einer interessanten Erzählung stehen könnte – außer natürlich, sie handelt von Selbstbeherrschung, wie Thomas Manns Porträt des Konsuls Thomas Buddenbrook (das großen Eindruck auf Weber machte).39 Am Beginn der bürgerlichen Epoche und an den Rändern Europas liegt die Sache freilich anders: Hier bleibt, da das kapitalistische System nur unvollständig durchgesetzt ist, mehr Freiraum für die Erfindung eindrucksvoller Figuren, wie es Robinson Crusoe, Gesualdo Motta oder Stanislaw Wokulski sind. Wo sich die kapitalistischen Strukturen aber verhärtet haben, da steht nicht mehr ein Individuum, da stehen narrative und stilistische Mechanismen im Zentrum des literarischen Texts. Insofern läßt sich die Struktur meines Buchs auch so beschreiben: zwei Kapitel über bourgeoise Figuren – zwei über bourgeoise Sprache.

6. Prosastil und Stichworte: Einige Bemerkungen vorab

Wie ich oben schrieb, fand ich den Bourgeois mehr in einem spezifischen Stil als in einer neuen Art von Handlung. Dieser »Stil« zeichnet sich in erster Linie durch zweierlei aus: durch Nüchternheit und das Auftreten bestimmter Stichworte. Um 35welche Art Prosa es mir geht, wird in den ersten beiden Kapiteln deutlich werden, in denen ich dem ansteigenden Bogen der literarischen Entwicklung durch das 18. und 19. Jahrhundert folge und die einzelnen Aspekte dieses Stils (Kontinuität, Genauigkeit, Produktivität, Neutralität usw.) herausarbeite. Die bourgeoise Prosa ist eine großartige Errungenschaft – und äußerst arbeitsintensiv. Daß »Inspiration« – jenes Göttergeschenk, in dem Idee und Ausführung auf magische Weise in einem einzigen Schöpfungsmoment verschmelzen – für diese Literatur keine Rolle spielt, ist ein Hinweis darauf, in welchem Maß sie sich der Arbeit verschrieben hat. Sprachlicher Arbeit natürlich, doch von solcher Art, daß sie einige typische Merkmale bourgeoiser Tätigkeit in sich trägt. Wenn Der Bourgeois einen Protagonisten hat, dann ist es ohne Zweifel diese arbeitsintensive Prosa.

Insofern sie ein Idealtyp ist, findet sie sich allerdings in keinem einzelnen Text in Reinform realisiert. Die Stichworte hingegen sind Wörter, die von realen Autoren verwendet wurden und die sich konkret in diesem oder jenem Buch, an dieser oder jener Stelle nachweisen lassen. Was sie angeht, haben Raymond Williams in Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte und Keywords sowie Reinhart Koselleck in seinem Aufsatz »Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte« schon vor Jahren Maßstäbe gesetzt. Koselleck, dem es um den »semantische[n] Kampf […] um politische oder soziale Positionen« im modernen Europa geht, schreibt: »Ein Begriff ist nicht nur Indikator der von ihm erfaßten Zusammenhänge, er ist auch deren Faktor«,40 nämlich in dem »Spannungsverhältnis«, in dem »eine ›Gesellschaft‹ und ihre ›Begriffe‹ stehen«, weshalb letztere oft36mals bewußt als »Kampfbegriffe« verwendet werden.41 Dieser Ansatz eignet sich zwar sehr wohl für Untersuchungen zur Geistesgeschichte, aber doch weniger, wenn es um ein soziales Individuum geht, das, wie Groethuysen schreibt, »handelt, ohne viel zu reden«,42 und, wenn es doch einmal etwas sagt, alltäglichen Wörtern den Vorzug vor klar definierten Termini gibt. Pragmatische und konstruktive Stichworte wie »nützlich«, »Effizienz« oder »serious« – ganz zu schweigen von großen Mediatoren wie »Komfort« oder »Einfluß« – lassen sich kaum als »Kampfbegriffe« verstehen; sie verweisen weniger auf ein soziales »Spannungsverhältnis«, sondern entsprechen eher Émile Benvenistes Idee von der Sprache als »Instrument, die Welt und die Gesellschaft zu ordnen«.43 Soweit ich sehe, ist es wohl auch kein Zufall, daß fast die Hälfte meiner »Stichworte« Adjektive sind: Sie spielen im semantischen System einer Kultur eine weniger zentrale Rolle als Hauptwörter (ganz zu schweigen von Begriffen), treten kaum systematisch auf und sind damit für alle möglichen Zwecke verwendbar – oder wie Humpty Dumpty meint: »Mit den Adjektiven […] kannst du machen, was du willst.«44

Der Prosastil und die Stichwörter: zwei rote Fäden, die im Laufe dieses Buchs immer wieder hervortreten werden, auf der Ebene von Absätzen und Sätzen bis hinunter zum einzelnen Wort. Auf diese Weise werden wir Merkmale der bourgeoisen Kultur aus den impliziten, ja verborgenen Dimensionen ihrer Sprache bergen: ihre mehr aus unbewußten grammatischen 37Mustern und semantischen Assoziationen denn aus klaren und eindeutigen Ideen bestehende »Mentalität«. Das ist ursprünglich gar nicht der Plan dieses Buchs gewesen, und manchmal erstaunt es mich noch immer, daß die Ausführungen über das viktorianische Adjektiv womöglich dessen konzeptuellen Mittelpunkt bilden. Doch im Gegensatz zu den Ideen des Bourgeois, denen viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde, ist seine Mentalität – abgesehen von einigen isolierten Versuchen wie der fast einhundert Jahre alten Studie Groethuysens – weitgehend unerforscht geblieben. Zudem lassen sich am sprachlichen Detail Aspekte aufzeigen, die bei der Auseinandersetzung mit großen Ideen leicht unter den Tisch fallen können: der Reibungswiderstand, den die alten Gewohnheiten den neuen Bestrebungen entgegensetzen, die Fehlschläge, das Zögern, die Kompromisse – mit einem Wort: die Langsamkeit der Kulturgeschichte. Da ich die Kultur der Bourgeoisie für ein unabgeschlossenes Projekt halte, schien mir dieser Ansatz der methodisch richtige zu sein.

7. »Der Bürger ist verloren…«

Am 14. April 1912 befand sich Benjamin Guggenheim, der jüngere Bruder des Kunstsammlers und -mäzens Solomon Guggenheim, an Bord der Titanic. Als das Schiff zu sinken begann, gehörte er zu denen, die Frauen und Kindern in die Rettungsboote halfen und sich den panischen und zuweilen brutalen Manövern anderer männlicher Passagiere in den Weg stellten. Als sein Kabinensteward zur Bemannung eines der Boote befohlen wurde, bat Guggenheim ihn zum Abschied lediglich darum, seiner Gemahlin mitzuteilen, daß »keine Frau an Bord zurückbleiben mußte, weil Ben Guggenheim ein Feig38ling war«. Das war alles.45 Vielleicht waren seine letzten Worte auch ein bißchen weniger pointiert, aber darauf kommt es gar nicht an; wichtig ist, daß er, obwohl es alles andere als leicht war, genau das Richtige tat. Und deshalb machte der Rechercheur, der bei den Vorarbeiten zu James Camerons Film Titanic (1997) auf diese Anekdote stieß, die Drehbuchautoren auch unverzüglich auf sie aufmerksam: Was für eine Szene! Allerdings wurde sie rundheraus abgelehnt: zu unrealistisch. Kein Reicher opfert sich aufgrund eines abstrakten Grundsatzes wie dessen, nicht als Feigling dastehen zu wollen. Und tatsächlich unternimmt die vage an Guggenheim angelehnte Figur im Film dann auch den Versuch, sich den Platz im Rettungsboot mit der Waffe zu erzwingen

»Der Bürger ist verloren«, schrieb Thomas Mann 1932 in seinem Essay Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters,46 und diese beiden Episoden aus der Geschichte der Titanic, die eine vom Anfang, die andere vom Ende des 20. Jahrhunderts, geben ihm recht. Verloren ist er, aber nicht etwa, weil der Kapitalismus untergegangen wäre: Im Gegenteil, der ist stärker denn je (wenn auch, wie der Golem, vor allem in puncto Zerstörung). Was allerdings verlorengegangen ist, ist das Gefühl der Legitimität der Bourgeoisie: Die Idee einer herrschenden Klasse, die nicht einfach nur herrscht, sondern zu herrschen verdient. Es war diese Idee, die Guggenheims Handeln auf der Titanic motivierte; es ging ihm um die Grundlage des »Konsenses« der »großen Massen der Bevölkerung« mit »der von der herrschenden […] Gruppe gepräg39ten Ausrichtung des gesellschaftlichen Lebens […], eines Konsenses, der ›historisch‹ aus dem Prestige (und folglich aus dem Vertrauen) hervorgeht, das der herrschenden Gruppe […] erwächst«, um einen von Gramscis Gedanken über das Wesen der Hegemonie zu zitieren.47 Auf dieses für die gesellschaftliche Stellung seiner Klasse fundamentale, vertrauenstiftende Prestige zu verzichten hätte in Guggenheims Augen bedeutet, sich des Rechts auf Herrschaft zu begeben.

Eine auf Werten beruhende und dadurch legitimierte Herrschaft. Doch jedesmal wenn der politische Sieg des Bürgertums bevorzustehen schien,48 veränderten neue Entwicklungen die Lage unwiederbringlich. Die erste dieser Entwicklungen war der Kollaps des politischen Systems. Als die Belle époque – wie die Operette, in der sie sich so gerne selbst bespiegelte –, an ihr unschönes Ende kam, schlug sich die Bourgeoisie auf die Seite der alten Eliten, um Europa in die Katastrophe eines Krieges zu stürzen; anschließend ließ sie ihre Klasseninteressen von Schwarz- und Braunhemden beschützen und ebnete damit noch schlimmeren Massakern den Weg. Ausgerechnet in dem Moment, in dem die alte Ordnung unterging, erwiesen sich die neuen mächtigen Männer als unfähig, wie eine echte Herrscherklasse zu agieren: Und als Schumpeter 1942 mit kalter Verachtung schrieb, daß »die Bourgeoisie, politisch hilflos und unfähig, […] einen Herrn braucht«,49 bedurfte sein Urteil keiner weiteren Erklärung.

40Die zweite Entwicklung, in mancher Hinsicht geradezu das Gegenteil der ersten, war die breitangelegte Etablierung demokratischer Systeme nach dem Zweiten Weltkrieg. »[D]ie Besonderheit der historischen Zustimmung, die den Massen in den modernen kapitalistischen Sozialformationen abgewonnen wird«, schreibt Perry Anderson,

»besteht darin, daß sie die fundamentale Form eines Glaubens der Massen annimmt, daß sie innerhalb der bestehenden Ordnung letztlich über sich selbst bestimmen können. Es handelt sich also […] um den Glauben an die demokratische Gleichheit aller Bürger bei der Regierung der Nation – mit anderen Worten, um den Unglauben an die Existenz einer herrschenden Klasse überhaupt.«50

Hatte sich die europäische Bourgeoisie zunächst hinter uniformierte Bataillone geflüchtet, verbarg sie sich nun hinter einem politischen Mythos, der von ihr verlangte, sich als Klasse unkenntlich zu machen; ein Akt der Selbstverschleierung, der durch das unablässige Reden von der »Mittelklasse« noch erleichtert wurde. Dann kam der letzte Schliff: Als der Kapitalismus einer großen Masse von Werktätigen im Westen zu relativem Wohlstand verholfen hatte, wurden Konsumgüter zu seiner Legitimationsgrundlage: Der gesellschaftliche Konsens stützte sich auf Dinge, nicht auf Menschen – geschweige denn auf Grundsätze. Das war die Morgendämmerung unserer Gegenwart: der Sieg des Kapitalismus, der Tod der bourgeoisen Kultur.

* * *

41Einiges kommt in diesem Buch nicht vor. Zu manchen Dingen, die ich anderswo behandelt habe, hatte ich nichts wirklich Neues zu sagen: Das gilt für die Balzacschen Parvenus und die Mittelklasse bei Dickens, die in meinen Büchern The Way of the World und Atlas des Europäischen Romans eine wichtige Rolle spielen. Die US-amerikanischen Autoren des späten 19. Jahrhunderts wiederum – etwa Frank Norris, William Dean Howells oder Theodore Dreiser – schienen mir kaum Wesentliches zum Thema beizutragen zu haben; und davon abgesehen, ist Der Bourgeois ein Essay, der sich nach Partisanenart durch die Landschaft bewegt und keinen enzyklopädischen Anspruch verfolgt. Ein Thema allerdings hätte ich gerne noch aufgenommen, wäre nicht ziemlich sicher gewesen, daß es den Rahmen dieses Buchs sprengen würde: eine Parallelführung des viktorianischen Großbritanniens und der USA der Jahre seit dem Zweiten Weltkrieg, im Hinblick auf die Paradoxie, daß diese beiden – bislang einzigen – hegemonialen kapitalistischen Kulturen in hohem Maße auf antibürgerlichen Wertvorstellungen beruhten beziehungsweise beruhen.51 Dabei denke ich natürlich in erster Linie an den enormen Einfluß religiöser Topoi auf den politischen Diskurs beider Systeme, der heute in scharfer Umkehrung frü42herer Säkularisierungsbestrebungen sogar noch zugenommen hat. Aber auch an die großen technischen Fortschritte des 19. wie des 20. Jahrhunderts: Anstatt das rationale Denken zu fördern, haben zunächst die industrielle und dann die digitale »Revolution« eine schlicht unglaubliche Melange aus naturwissenschaftlichem Analphabetismus und abergläubischer Religiosität hervorgebracht, und auch hier wieder: heute in schlimmerer Form als damals. In diesem Punkt sind die heutigen USA ein radikalisiertes Beispiel für das, was ich im Kapitel über den Viktorianismus nachzeichne: die Niederlage der von Max Weber im Kern des kapitalistischen Systems entdeckten Entzauberung und ihre Ersetzung durch die abermalige sentimentale Verklärung der sozialen Verhältnisse. In beiden Fällen ist die drastische Infantilisierung der Kultur eine wesentliche Zutat dieses Vorgangs: von der frommen Idee der »Familienausgabe«, mit der die Bowdlerisierung52 der viktorianischen Literatur begann, bis zu ihrer klebrigen Wiederkehr im »Familienfernsehen«, das amerikanisches Entertainment heute so einschläfernd macht.53 Die Parallelen ließen sich in beinahe jede Richtung fortführen, vom Antiintellektualismus der Forderung nach »nützlichem« Wissen über die jeweilige Bildungspolitik – mit ihrer Vorliebe für sportliche Ertüchtigung – bis hin zur penetranten Allgegenwart von Wörtern wie »earnest« (einst) beziehungsweise »fun« (heute), in denen sich eine nur dünn übertünchte Verachtung für die kritische Aus43einandersetzung mit menschlichen Gedanken und Gefühlen widerspiegelt.

Der »American way of life« als Viktorianismus der Gegenwart: So verlockend diese These auch war, so sehr war mir auch meine mangelnde Kenntnis zeitgenössischer Verhältnisse bewußt, und so entschied ich mich dagegen. Es war die richtige Entscheidung, aber sie ist mir nicht leichtgefallen, weil sie dazu führt, daß Der Bourgeois lediglich eine historische Untersuchung ist, die keine direkte Verbindung zur Gegenwart aufweist. Allerdings weiß schon Doktor Cornelius in Thomas Manns Erzählung »Unordnung und frühes Leid«, »daß Professoren der Geschichte die Geschichte nicht lieben, sofern sie geschieht, sondern sofern sie geschehen ist; […] und daß ihr Herz der zusammenhängenden, frommen und historischen Vergangenheit angehört«, denn »[d]as Vergangene ist verewigt, das heißt: es ist tot«.54 Wie Cornelius bin auch ich Geschichtsprofessor; doch bilde ich mir gerne ein, daß leblose Frömmigkeit nicht alles ist, wessen ich fähig bin. In diesem Sinne drückt die Tatsache, daß ich das vorliegende Buch Perry Anderson und Paolo Flores d’Arcais widme, mehr als meine Freundschaft und Bewunderung ihnen gegenüber aus; nämlich auch die Hoffnung, daß ich eines Tages von ihnen lernen werde, meine Kenntnis der Vergangenheit für eine Kritik der Gegenwart fruchtbar zu machen. Der Bourgeois wird dieser Hoffnung noch nicht gerecht. Aber vielleicht mein nächstes Buch.

1Max Weber: »Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik«, in: ders.: Schriften 1894-1922. Stuttgart 2002, S. 22-46, S. 40.

2In Franco Morettis Übersetzung lautet Max Webers erster Satz: »I am a member of the bourgeois class« (Anmerkung des Übersetzers). Da in der deutschen Ausgabe Anmerkungen (etwa zu den deutschen Übersetzungen der von Moretti herangezogenen Originaltexte) hinzugefügt wurden, weicht die Numerierung der Fußnoten vom Original ab (Anmerkung des Verlags).

3Immanuel Wallerstein: »The bourgeois(ie) as concept and reality«, in: New Left Review I/167 (Januar/Februar 1988), S. 9-106, S. 98.

4Ellen Meiksins Wood: The Pristine Culture of Capitalism. A Historical Essay on Old Regimes and Modern States. London 1992, S.#024#; das zweite Zitat stammt aus dies.: The Origin of Capitalism. A Longer View. London: 2002 [1999], S. 63.

5Max Weber: »Vorbemerkung zu den ›Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie‹«, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, Tübingen 1920 [1905], S. 1-16, S. 10 (Hervorhebungen von F.M.).

6Eric Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter. 1875-1914. Übersetzung: Udo Rennert. Frankfurt am Main/New York 1989 [1987], S. 225.

7Perry Anderson: »The notion of bourgeois revolution« [1976], in: ders.: English Questions. London 1992, S. 105-118, S. 112.

8Jürgen Kocka: »Obrigkeitsstaat und Bürgerlichkeit. Zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert«, in: Wolfgang Hardtwig und Harm-Hinrich Brandt (Hg.): Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert. München 1993, S. 107-121, S. 107f.

*Im Original deutsch. Im folgenden sind im Original deutsche Ausdrücke durch Kursivierung und Sternchen gekennzeichnet (Anm. des Verlags).

9Eric Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter (s. Anm. 6), S. 218.

10Peter Gay: Bürger und Boheme. Kunstkriege des 19. Jahrhunderts. Übersetzung: Ulrich Enderwitz, Monika Noll, Rolf Schubert. München 1999 [1984], S. 328.

11Peter Gay: Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Übersetzung: Ulrich Enderwitz, Monika Noll und Rolf Schubert. Frankfurt am Main 2002 [2001], S. 29.

12Peter Gay: Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter. Übersetzung: Holger Fliessbach. München 2000 [1984], S. 31.

13Ebd., S. 56ff.

14Aby Warburg: »Bildniskunst und florentinisches Bürgertum« [1902], in: ders.: Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Herausgegeben von Dieter Wuttke. Zweite, verbesserte und bibliographisch ergänzte Ausgabe. Baden-Baden 1980, S. 65-102, S. 82 und 74. Einen ähnlichen Gegensatz beobachtet Warburg in dem Aufsatz »Flandrische Kunst und florentinische Frührenaissance« (1902) in seinen Ausführungen über das Stifterbildnis: »[W]ährend die Hände des Stifters noch das übliche Gebärdenspiel des selbstvergessen, schutzflehend Aufblickenden bewahren, richtet sich der Blick schon träumerisch oder beobachtend in irdische Fernen« (ebd., S. 103-124, S. 122).

15Simon Schama: The Embarassment of Riches. An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age, New York 1987; deutsch: Überfluß und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter. Übersetzung: Elisabeth Nowak. München 1988, S. 365 und 398ff.

16Bernard Groethuysen: Origines de l’esprit bourgeois en France. I: L’Eglise etla Bourgeoisie. Paris 1927, S. VII.

17Reinhart Koselleck: »Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte«, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979, S. 107-129, S. 120.

18Immanuel Wallerstein: »The bourgeois(ie) as concept and reality« (s. Anm. 3), S. 91f. In Wallersteins doppelter Negation scheint eine ferne Vergangenheit auf, die Émile Benveniste in seinem Vocabulaire des institutions indo-européennes unter der Überschrift »Ein namenloses Gewerbe: der Handel« ausleuchtet. Handelsgeschäfte – also eine der frühesten Formen »bourgeoiser« Tätigkeit – »lassen sich nicht positiv definieren«, so Benvenistes These, »weil es sich – zumindest ursprünglich – um eine Beschäftigung handelt, die keiner eingebürgerten und herkömmlichen Tätigkeit entspricht«. Infolgedessen können sie wie im griechischen ascholía (»Zustand, keine Muße zu haben, Beschäftigung«; gebildet aus gr. a-,ohne, und scholé, Muße) oder dem lateinischen negotium (aus nec-otium, »Fehlen von Muße«) nur durch Negationen umschrieben oder durch Allgemeinbegriffe wie das griechische prâgma (»Tat«), das französische affaires (»nur eine Substantivierung des Ausdrucks ›à faire‹«) oder das englische busy (das dann »das abstrakte business […] ergibt«) ausgedrückt werden; im »Deutschen ist das abstrakte Geschäft genauso vage: schaffen verweist nur ganz allgemein auf das Tun, das Bilden und Schöpfen« (Émile Benveniste: Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen. Übersetzung: Wolfram Bayer, Dieter Hornig und Kathrina Menke. Frankfurt am Main/New York 1993 [1969], S. 114-117).

19Besonders eindrucksvoll ist der »Begriffswandel« des deutschen Worts »Bürger«, der sich »vom (Stadt-)Bürger um 1700 über den (Staats-)Bürger um 1800 bis zum Bürger (= Nichtproletarier) um 1900« vollzieht; s. Reinhart Koselleck: »Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte« (s. Anm. 17), S. 116.

20In der (stark gekürzten) deutschen Übersetzung des Romans (s. Anm. 29 im dritten Kapitel) finden sich auf S. 129 und 129f., jeweils ohne Kursivierung: »Ein Bourgeois ist er, ein Gerberlehrling« sowie: ein »Handwerker ohne Vermögen« ist »dein junger Bourgeois« (Anm. d. Übers.).

21Jürgen Kocka: »Obrigkeitsstaat und Bürgerlichkeit« (s. Anm. 8), S. 109f.

22James Mill: An Essay on Government. Herausgegeben von Ernest Baker. Cambridge 1937 [1824], S. 73.

23Richard Parkinson: On the Present Condition of the Labouring Poor in Manchester; with Hints for Improving It. London/Manchester 1841, S. 12.

24Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: dies.: Werke (= MEW), herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1968 [1848], Band 4, S. 463.

25James Mill: AnEssay on Government (s. Anm. 22), S. 73.

26Henry Brougham: Opinions of Lord Brougham on Politics, Theology, Law, Science, Education, Literature, &c. &c.: As Exhibited in His Parliamentary and Legal Speeches, and Miscellaneous Writings. London 1837, S. 314f.

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