Der Champagnergarten - Fiona McIntosh - E-Book

Der Champagnergarten E-Book

Fiona McIntosh

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Beschreibung

Das Grauen des Krieges, die Macht der Liebe und die unsterbliche Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft.

Épernay, 1914: Sophie Delancré ist eine leidenschaftliche Winzerin. Sie leitet das Weingut ihrer Familie und hat einen großen Traum: Sie will den edelsten Champagner Frankreichs herstellen. Als sie auf den gutaussehenden und herzlichen Jerome Mea, ebenfalls Winzer, trifft, ist es Liebe auf den ersten Blick. Schon bald läuten die Hochzeitsglocken und das Glück scheint perfekt. Doch schon kurz nach der Hochzeit muss Jerome in den Krieg ziehen und Sophie bleibt alleine auf dem gemeinsamen Anwesen zurück.
Während die junge Winzerin darum kämpft, ihr Weingut alleine am Laufen zu halten, zwingt sie eine kritische Zuckerknappheit, sich auf einen gefährlichen Handel mit einem zwielichtigen Bekannten einzulassen. Und plötzlich scheint der Krieg nicht mehr die einzige Bedrohung in ihrem Leben zu sein …

Die historischen Romane von Fiona McIntosh:

1. Herzen aus Gold
2. Der Duft der verlorenen Träume
3. Wenn der Lavendel wieder blüht
4. Das Mädchen im roten Kleid
5. Der Schokoladensalon
6. Die Diamantenerbin

Alle Romane sind einzelstehend lesbar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 598

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Buch

Épernay, 1914: Sophie Delancré ist eine leidenschaftliche Winzerin. Sie leitet das Weingut ihrer Familie und hat einen großen Traum: Sie will den edelsten Champagner Frankreichs herstellen. Als sie auf den

gut aussehenden und herzlichen Jerome Mea, ebenfalls Winzer, trifft, ist es Liebe auf den ersten Blick. Schon bald läuten die Hochzeitsglocken, und das Glück scheint perfekt. Doch schon kurz nach der Hochzeit muss Jerome in den Krieg ziehen, und Sophie bleibt alleine auf dem gemeinsamen Anwesen zurück.

Während die junge Winzerin darum kämpft, ihr Weingut alleine am Laufen zu halten, zwingt sie eine kritische Zuckerknappheit, sich auf einen gefährlichen Handel mit einem zwielichtigen Bekannten einzulassen. Und plötzlich scheint der Krieg nicht mehr die einzige Bedrohung in ihrem Leben zu sein …

Autorin

Fiona McIntosh wuchs in England auf, verbrachte aber viele Jahre ihrer Kindheit in Westafrika. Sie gab ihren Beruf als PR-Managerin auf, um zu reisen, und entschloss sich 1980, in Australien zu bleiben. Sie hat weltweit bereits zahlreiche Romane und Kinderbücher veröffentlicht und gilt als eine der beliebtesten australischen Autorinnen. Wenn sie nicht auf der Suche nach neuen Ideen ihrer Reiselust folgt, lebt Fiona McIntosh mit ihrer Familie in Adelaide.

Von Fiona McIntosh bereits erschienen:

Herzen aus Gold

Der Duft der verlorenen Träume

Wenn der Lavendel wieder blüht

Das Mädchen im roten Kleid

Der Schokoladensalon

Die Diamantenerbin

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FIONA MCINTOSH

Der Champagnergarten

Roman

Deutsch von Theda Krohm-Linke

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Champagne War« bei Penguin Random House Australia, Melbourne.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2020 by Fiona McIntosh

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Friedel Wahren

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © Elly De Vries/Trevillion Images; www.buerosued.de

LA ˙ Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-641-28344-5V001

www.blanvalet.de

Hat das Schicksal oder der Zufall eine australische Schriftstellerin und eine französische Champagner-Produzentin zusammengeführt? Die eine wurde durch die Geschichte inspiriert, die andere schrieb sie auf. Keine von uns konnte wissen, dass wir beide während der Entstehung dieses Buches die Männer verlieren würden, die uns als Erste an der Hand gehalten und als kleinen Mädchen schon versichert hatten, dass wir alle unsere Träume verwirklichen könnten.

Für unsere wunderbaren Väter, die für immer in unseren Herzen leuchten.

Frederick Richards und Michel Antoine Gonet

Prolog

Es ging auf den Februar des Jahres 1910 zu. Im Januar war die Seine über acht Meter angestiegen und hatte die gesamte Innenstadt überflutet. Doch erstaunlicherweise hatte es nur wenige Tote in Paris gegeben. Entgegen allen Voraussagen sprengte das Wasser die Uferbefestigungen nicht; stattdessen bahnte es sich einen viel teuflischeren Weg, stieg durch die Metro-Ausgänge auf und drang durch jeden Abfluss und jeden Kanal, den es fand. Heimlich und leise zwang Mutter Natur die Stadt auf die Knie und bedeckte alles mit Wasser. Dabei hatte sie die Einwohner gewarnt. Im Winter hatte es wesentlich mehr als sonst geregnet, und auch andere Flüsse führten Hochwasser. In Paris mussten Behelfsbrücken gebaut werden, damit sich die Menschen fortbewegen konnten, und auf vielen Straßen und Boulevards, sogar auf den Champs Élysées waren Ruderboote das Transportmittel der Wahl. Es herrschte eine Atmosphäre in der Stadt, die an Karneval erinnerte. Die Szenen, die für den Rest der Welt dokumentiert und in Fotografien festgehalten wurden, wirkten surreal.

Die Seine riss alles mit sich, Baumstämme, Möbel und Verkaufsstände, aber auch die Kadaver von Tieren, die vom Wasser überrascht worden waren.

Und drei Mitglieder der Familie Delancré fanden in den Fluten den Tod.

Sophie war als Einzige am Leben geblieben, weil sie in Épernay zu tun gehabt hatte, während ihre Familie sich in Paris aufhielt. Sie war wütend gewesen, weil sie ihren absoluten Lieblingsort, die Opéra Garnier, nicht besuchen konnte. Mittlerweile jedoch wollte sie lieber nie mehr an den Winter 1910 denken. Ihre Gedanken allerdings nahmen darauf keine Rücksicht. Sie konnte ihre Trauer nicht einfach so ablegen, wie Paris die Erschütterungen der Flut überwunden hatte.

Vier traurige Jahre waren vergangen, seitdem sie erfahren hatte, dass ihre Eltern in den schlammigen Fluten umgekommen waren. Ihr Bruder jedoch – ein Himmelsgeschenk, wie ihre Mutter ihn genannt hatte – war nie gefunden worden. Dass er sein Leben in den wirbelnden Tiefen ausgehaucht hatte, war nur ein winziges Ereignis in dem unfassbaren Drama, in dem mehr als zweihunderttausend Pariser in der Flut ihr Zuhause verloren hatten.

Sophie hatte nie erfahren, was tatsächlich passiert war, als ihre geliebten Angehörigen von der Flut mitgerissen wurden, doch sie musste davon ausgehen, dass der zehnjährige Olivier vielleicht ins Wasser gefallen war. Wie seine Mutter hatte sein Vater bestimmt versucht, ihn zu retten, und sie waren beide von den reißenden Wassermassen weggespült worden. Keiner von ihnen konnte schwimmen, und sie hoffte nur, dass ihr Todeskampf nicht allzu lange gedauert hatte. Der entsetzliche Gedanken daran quälte sie in vielen einsamen Winternächten, bis der Winzer Jerome Méa sie am Ellbogen packte, als sie stolperte, und ihr Leben so rasch veränderte, wie die Flut das ihrer Familie verändert hatte.

Sie waren sich nur zufällig begegnet, denn obwohl ihre Väter sich kannten, hatten sich die Wege der Kinder nie gekreuzt. Jerome war in Avize geboren, knapp dreißig Kilometer von Épernay entfernt, wo Sophie geboren und aufgewachsen war. Vier Jahre nach dem Tod ihres Vaters erhielt sie eine Nachricht von Louis Méa, Jeromes älterem Bruder, der mit dem Champagner-Produzenten eine neue Technik besprechen wollte. Sie sollte beim Winterschnitt ausprobiert werden.

Méas überraschter Gesichtsausdruck, als statt des Firmeninhabers die Tochter den Termin mit dem Seniorchef des Weingutes, Étienne Doremus, wahrnahm, wich rasch einem süffisanten Lächeln. Er zeigte ihr das Schloss … obwohl sie aus diesem Grund ja gar nicht gekommen war. Er gab sein Bestes, um sie zu beeindrucken, und prahlte damit, welcher König in welchem Flügel während der letzten Jahrhunderte übernachtet hatte und in welchem Zimmer Napoleon seine Geliebte Josephine mit den nach Rosen und Veilchen duftenden Handschuhen überrascht hatte, die er für sie im Haus Gallimard in Grasse hatte anfertigen lassen. Dabei stellte Sophie fest, wie sehr sie dieser ziemlich beleibte und extravagante Méa langweilte. Er war mindestens zehn Jahre älter als sie. Als er es wagte, sie sanft am Rücken zu berühren, um sie durch einen Flur zu geleiten, fiel ihr auf, wie klein und sorgfältig manikürt seine Hände waren. Wusste er überhaupt, wie ein Weinberg aussah?

»Meine Liebe, wissen Sie, was das hier ist?«

Sophie hätte ihn am liebsten mit einem scharfen Blick zum Schweigen gebracht und ihm erklärt, dass sie es nicht nur nicht wissen konnte, sie konnte es noch nicht einmal erraten. Außerdem interessierte es sie nicht die Bohne, aber das wäre unhöflich gewesen … und hier ging es ums Geschäft. Also hielt sie den Mund und lächelte fragend.

Er redete weiter, als hätte er lediglich eine rhetorische Frage gestellt. »Dies ist der Raum, in dem Victor Hugo, der meine Vorfahren regelmäßig besuchte, am liebsten schrieb. Er wurde nur etwa drei Stunden von hier in Besançon an der Schweizer Grenze geboren«, fuhr er fort. Seine hohe Stimme klang, als würde sie Klatsch und Tratsch lieben. »Es heißt, er verehrte das Licht in diesem Zimmer … Ich stelle mir gern vor, wie er hier am Glöckner von Notre-Dame schrieb. Vielleicht inspirierte ihn ja unsere Kathedrale in Reims.«

Er war wirklich ein aufgeblasener Dummkopf! Sie konnte es kaum erwarten, dem grässlichen Kerl zu entkommen, aber sie blieb diplomatisch. Seine Trauben waren von unvergleichlicher Qualität, und die brauchte sie.

»Und, meine Liebe, glauben Sie an den ersten Eindruck?«

Erstaunt blickte sie ihn an. »Ja, daran glaube ich«, behauptete sie und verkniff sich erneut die Wahrheit, die ihr am liebsten über die Lippen gekommen wäre.

»Oh, ich auch«, sagte er und leckte sich über die Lippen. Ständig saugte er daran, damit sie röter wirkten. »Und mein erster Eindruck ist, dass Sie eine Frau von Geist und Motivation sind. Sie haben die Oper erwähnt … nur wahrhaft intelligente Menschen verstehen sie.«

»Und doch geht es in der Oper nicht um Intellekt, sondern eher um Gefühle …«

Ohne Entschuldigung unterbrach er sie, als ob er ihre Erwiderung gar nicht gehört hätte. »Eines Tages möchte ich mit Ihnen in die Oper gehen, meine Liebe … In der Tat, lassen Sie mich in diesen schwierigen Zeiten aufrichtig sein, Ihnen und Ihrem Champagnerhaus gegenüber. Wie gern würde ich Sie zu vielen schönen Anlässen begleiten. Ich habe das Gefühl, Ihnen das bieten zu können, was Sie am meisten brauchen.« Angesichts seines schmierigen Lächelns erschauerte sie innerlich.

»Und was soll das sein, Monsieur Méa?« Er sollte es laut aussprechen.

Nach kurzem Überlegen wählte er ein Wort. »Bindung«, erwiderte er und hob eine Augenbraue, was aussah, als würde sich eine Raupe in eine neue Richtung bewegen.

Ihr innerliches Erschauern verwandelte sich in Ekel. Was dachte er sich nur? »Äh, Monsieur Méa, ich …«

Er zog ihre Hand an die Lippen, schnupperte daran und stieß einen leisen Seufzer aus, ehe er sie küsste. Seine roten Lippen lagen viel zu lang auf ihrer Haut und hinterließen einen feuchten Fleck. »Für Sie Louis, bitte«, drängte er. »Wir sind jetzt Freunde und wahrscheinlich bald noch mehr. Wir müssen schützen, was unsere beiden Familien aufgebaut haben. Unsere Väter standen sich immer nahe, und ihre Kinder sollten dieses Band vertiefen. Vor allem jetzt, da unsere geliebten Eltern verstorben sind. Mögen sie in Frieden ruhen.«

Sophie war so angewidert, dass sie die Hand am liebsten an ihren Röcken abgewischt hätte. Stattdessen lachte sie nur nervös. »Äh, Louis, was ist mit den Weinbergen? Es ist wichtig, dass …«

Da wurden sie durch das hektische Heranstürmen eines groß gewachsenen Mannes unterbrochen, der sich beim Laufen die Kappe vom Kopf zog. Leise keuchend verzog er das Gesicht zu einem entschuldigenden Grinsen. Seine Stimme war laut, seine riesigen Hände starrten vor Schmutz, und seine Augen unter den buschigen Augenbrauen blickten von Louis zu Sophie. Louis’ Berührung hatte sich feucht angefühlt, aber der Blick dieses Mannes schien ihr die Haut zu versengen, als er ihr seine Aufmerksamkeit zuwandte. Er war unrasiert, schien sich aber nicht viel um seinen Aufzug zu scheren. Bevor er die Hand ausstreckte, um sie zu begrüßen, wischte er sie rasch an seiner fleckigen Arbeitshose ab, als hätte er ihre Gedanken erraten.

»Es tut mir leid, ich komme zu spät. Louis musste einen Boten schicken, um mich zu holen.«

Sophie starrte ihn fasziniert an. »Wer sind Sie?«

Er lachte, laut und herzlich. »Entschuldigung, Mademoiselle Delancré! Ich bin Jerome Méa, der Bruder von Louis.«

»Mit seinen Verspätungen hat mein Stiefbruder seit seiner Geburt meine Geduld ständig auf die Probe gestellt, meine Liebe«, warf Louis ein.

Sophie blinzelte verwirrt.

»Wir haben verschiedene Mütter«, erklärte Jerome freundlich. »Aber das stört mich nicht weiter. Was mich angeht, so sind Louis und ich Brüder. Wir teilen alles.«

Sophie warf Louis einen raschen Blick zu. Sie bezweifelte, dass er genauso empfand.

»Meine Mutter starb bei meiner Geburt. Jeromes Mutter zog uns groß.« Er gab sich Mühe, sachlich zu klingen, aber sie hörte das Bedauern in seiner Stimme.

»Ah«, sagte sie. Langsam dämmerte es ihr. »Das wusste ich ja nicht. Es tut mir leid, dass Sie Ihre Mutter so früh verloren haben.«

Louis nickte und sprach sichtlich ungerührt weiter. »Ich bat Jerome, Ihnen das Weingut zu zeigen, damit Sie sehen, was unsere Familie mit den Reben bewirken möchte.«

Jerome grinste sie an. »Ich hoffe, es ist Ihnen recht, Mademoiselle.«

Welches Glück! »Ja, sehr recht«, erwiderte sie so fröhlich, wie ihr zumute war. Sie freute sich, dem angeberischen älteren Bruder zu entkommen. »Sollen wir gleich losgehen?«

Er verneigte sich, als ob er zu ihren Diensten stünde. Er roch nach dem Land, auf dem er arbeitete, nach Erde und Blättern. Seine Haut glänzte eher vor Schweiß als vom ständigen Lippenlecken.

»Im Morgenzimmer habe ich eine kleine Mahlzeit anrichten lassen«, erklärte Louis. »In Victors Zimmer«, fügte er mit gezwungenem Lächeln hinzu, das sich mühsam einen Weg über sein blasses rundes Gesicht bahnte. »Ich hoffe, wir sehen uns dort später, Mademoiselle Delancré. Wir haben noch so viel zu besprechen.«

Sophie schenkte ihm ein Lächeln, das sein Ansinnen zwar nicht ablehnte, ihm aber auch nicht zustimmte. Dann folgte sie seinem Bruder, der sie mit raschen Schritten aus dem Schloss in die frische, klare Luft der Weinberge … seiner Weinberge führte.

»Louis gehört das Haus. Mir die Weinberge. So ist die Abmachung. Den Ertrag teilen wir uns.«

Sie hatte ihn nicht um eine Erklärung gebeten, aber sie war dankbar für seine Offenheit. »Das ist sehr … äh, brüderlich.«

Er grinste sie von der Seite an. »Ich weiß, wir sind sehr unterschiedlich.«

Erleichtert seufzte Sophie auf. »Ich hätte Sie nie für Brüder gehalten. Worin sind Sie sich ähnlich?« Er runzelte die Stirn, und sofort bereute Sophie ihre Kühnheit. »Verzeihen Sie mir! Ich hätte nicht einfach so fragen dürfen.«

»Doch, selbstverständlich.« Jeromes Lachen klang unbekümmert. »Louis und mich verbindet lediglich unser Vater. Und wir haben ihn beide sehr geliebt. Meine Mutter versuchte, Louis zu lieben, und sie standen einander sicher auch sehr nahe, bis ich kam.« Er zuckte mit den Achseln. »Blut ist dicker als Wasser, sagt man«, fuhr er fort, und seine Stimme klang leicht schuldbewusst. »Ich war ihr leiblicher Sohn, und die Gefühle für mich konnte sie vermutlich nicht unterdrücken.«

»Kommen Sie denn gut miteinander aus?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich liebe ihn als Bruder, auch wenn das wahrscheinlich seltsam klingt, weil wir nicht einmal gute Freunde sind. Ich gehe ihm einfach aus dem Weg. Hier, bei meiner Arbeit in den Weinbergen, bin ich glücklich. Louis fährt gern nach Reims oder Paris zu Bällen oder großen gesellschaftlichen Ereignissen. Nach Avize kommt er hauptsächlich, um die Bücher zu überprüfen oder anwesend zu sein, wenn er jemanden beeindrucken will.« Er pflückte ein Blatt von einer Weinrebe. »Jemanden wie Sie«, fügte er hinzu.

»Mich? Er kennt mich doch gar nicht.«

Jerome nickte, und sein Gesichtsausdruck wurde ernst. »Doch. Seit wir das mit Ihrem Vater erfahren haben … Louis verfolgt einen Plan.«

Erschreckt zuckte Sophie zusammen. »Oh, nein!«

Jerome kratzte sich die Bartstoppeln. »Er sieht es als ideale Vereinigung zweier Familien, die durch Heirat verbunden sein möchten. Sie, Sophie, erzeugen Champagner. Er verfügt über die Trauben.«

Sophie warf ihm einen entschlossenen Blick zu. »Aber die Weinberge gehören Ihnen.«

Im Lauf der Zeit hatte die Familie Méa ihr Geld mit zahlreichen Unternehmungen gemacht. Vor allem aber im Weinanbau war sie äußerst erfolgreich. Die drei berühmten Traubensorten der Region um Épernay – Meunier, Pinot Noir und Chardonnay – waren ihre Spezialität. Und Chardonnay ganz besonders die von Jerome.

Er erwiderte ihren Blick mit einem amüsierten Lächeln, als wären sie Komplizen. »Ich kann mich ja weigern, die Trauben für Sie anzubauen … würde Ihnen das helfen?«

Sie stach mit dem Finger in die Luft. »Ich werde Louis nicht heiraten, und wenn er der einzige Mann auf der ganzen Welt wäre oder mir die letzte Traube auf diesem Land anböte.«

Jerome lachte herzhaft. »Ich glaube Ihnen, Mademoiselle. Ich hielt es nur für angemessen, Sie über die hinterhältigen Pläne meines Bruders aufzuklären.« Er fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar, das in der Sonne rötlich schimmerte. Seine Haut war gebräunt, und seine Lachfalten, von denen er viele hatte, traten umso deutlicher hervor. Sie dachte daran, wie blass sein Bruder war. Jeromes glatte Haut wies kaum Falten auf, die auf herzliches Lachen hindeuteten. Er war kräftig gebaut, während die dickliche Figur seines Bruders auf ein bequemes Leben hinwies. Jeromes Körper war fest und muskulös von der Arbeit im Weinberg, während Louis verweichlicht und schlaff wirkte, da er sich offensichtlich nur selten sportlich betätigte.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er und kniff die Augen zusammen, als er bemerkte, dass sie ihn musterte.

»Ja, auf einmal ist alles in Ordnung«, antwortete sie kryptischer als beabsichtigt. »Zeigen Sie mir Ihre Weinberge und erzählen Sie mir von Ihren Plänen. Dann überlegen wir, wie Sie und ich am besten zusammenarbeiten.«

Lachen war der Funke gewesen, aber ihre gemeinsame Faszination für Chardonnay brachte den eigentlichen Durchbruch. An jenem Nachmittag entdeckte Sophie, wie gern sie ihm zuhörte, während er von seinen Reben erzählte. Über den Wachstumszyklus eines Weinbergs wusste sie Bescheid, aber die Art, wie Jerome Méa von seiner Arbeit in den Rebenreihen berichtete, bezauberte sie. Er sprach von den Weinreben, als wären sie seine Kinder, und Sophie begeisterte sich angesichts seiner Liebe und seines Respekts für das Land, das seinen kostbaren Trauben ihr besonderes Aroma verlieh.

»Ich wollte Étienne zeigen, wie ich dieses Jahr einen kraftvolleren Schnitt erreichen konnte. Es war nur respektvoll ihm gegenüber, ihm die Gründe für mein Tun zu erklären, zumal mein Vater – würde er noch leben – mit meinen Maßnahmen wahrscheinlich nicht einverstanden wäre, nachdem die katastrophale Seuche Frankreichs Weinberge so stark geschädigt hat.«

Sophie nickte. »Sie sind also ein Revolutionär, Monsieur Méa.«

Er grinste. »Sie planen doch sicher ebenfalls Neuerungen.«

»In der Tat.« Sie erwiderte sein Lächeln.

»Als Erben unserer Familien müssen wir fortschrittlich denken und dürfen keine Angst vor Risiken haben.«

»Darauf sollten wir anstoßen! Doch höre ich da die Warnung heraus, dass der Ertrag in diesem Jahr nicht so hoch sein wird, wie wir ihn sonst von Ihrem Weingut erwarten sollten?«

»Ja.« Sie schätzte seine offene Art. »Es könnte weniger sein als sonst, aber 1915 werden wir mit Sicherheit eine unserer besten Ernten einfahren. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Delancré dann stolz einen der besten Jahrgänge anbieten kann.«

»So gut werden die Trauben sein?«

Er legte die Hand aufs Herz und versprach es ihr. Seine Augen funkelten amüsiert, und das romantische Gefühl, das in ihr aufstieg, hatte sie noch nie für einen Mann empfunden. Viele hatten versucht, ihr den Hof zu machen, aber bisher hatte sie sich eher geschämt, weil sie allen so gleichgültig gegenübergestanden hatte. Sogar ihre Mutter hatte ihr geraten, nicht so viele ansehnliche junge Männer abzuweisen.

»Sie sind mir alle zu ernst, zu glatt und zu vornehm«, hatte Sophie erklärt. Ihre Mutter hatte nur geseufzt, dass sie solch lobenswerte Eigenschaften ablehnte. »Ich möchte jemanden, der mich zum Lachen bringt, der anders ist als ich, nicht aus einer Winzerfamilie stammt. Vielleicht jemanden, der das genaue Gegenteil von mir ist.«

Wenn ihre Einstellung ihre Eltern zur Verzweiflung gebracht hatte, so hatten sie es nicht gezeigt, aber selbst Sophie war klar gewesen, dass es Anlass zu Klatsch gab, wenn ein Mädchen mit fünfundzwanzig immer noch nicht verlobt war.

Und jetzt hatte ein Winzer ohne jede Vorwarnung ihr Herz erobert. Sie hatte Liebesromane gelesen und sich dabei gefragt, ob es wohl tatsächlich möglich war, wenn das Herz schneller schlug, wenn ihr der Atem stockte, wenn es ihr beim Anblick des anderen die Brust zuschnürte. Das konnten doch nur Klischees sein. Doch dass sie jetzt all das empfand, entsetzte und freute sie zugleich. Also waren es tatsächlich reale Erfahrungen und nicht nur Erfindungen der Schriftsteller. Die Erkenntnis brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie stolperte, und Jerome ergriff sie am Ellbogen, damit sie nicht stürzte. Als sie in diesem Moment in sein offenes, leicht zu lesendes Gesicht blickte, wusste sie, dass dieser breitschultrige große Mann mit den rauen Bartstoppeln, dem zerzausten Haar und der Tweedkappe, die er verwegen nach hinten geschoben hatte, der Bruder war, den sie heiraten wollte.

Wie sich herausstellte, empfand er genauso wie sie. Und als er ihr später an jenem Tag in den Wagen half, wussten sie beide, dass ihnen etwas Besonderes widerfahren war. Er küsste ihr die Hand und blickte ihr tief in die Augen.

»Sind Sie sicher, dass Sie nicht zu Louis’ Imbiss bleiben möchten?«

Sie lächelte darüber, wie er das Wort Imbiss betonte. »Würden Sie ihm bitte erklären, dass ich mich länger in den Weinbergen aufhielt, als ich vorhatte, und dass ich mich nun ein wenig erschöpft fühle?«

»Natürlich. Besuchen Sie uns wieder?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich vertraue Ihnen, Jerome. Und Ihrem Bruder möchte ich lieber nicht noch einmal begegnen. Kommen Sie doch nach Épernay! Sie können ja erwähnen, dass ich Ihnen unsere Kellerei zeigen möchte.« Sie versuchte, munter zu klingen, aber am liebsten wäre sie noch länger geblieben … um zu spüren, wie sich diese großen Arbeitshände um ihre Taille legten und sie an sich zogen.

»Ja, gern.« Er zuckte mit den Achseln. »Morgen?«

Sophie lachte. »Wunderbar. Kommen Sie allein! Bleiben Sie zum Abendessen.«

Er blieb über Nacht. Und von diesem Moment an wich er ihr kaum noch von der Seite.

Die Familie Méa hatte immer Wein angebaut, während ihre Familie Champagner hergestellt hatte. Man hätte ihre Verbindung als strategischen Schachzug ansehen können, aber Sophie wusste, dass die Engel ihre Finger im Spiel gehabt hatten. Sie empfanden eine so tiefe Zuneigung zueinander, dass sie beide ihrem großen Glück kaum trauen konnten.

Ihre Freude war jedoch ebenso groß wie Louis’ Entsetzen, als er von ihrer Verlobung erfuhr. Er entwickelte einen solchen Hass auf das Paar, dass Sophie ihn förmlich spürte, wenn er sie ansah, ganz gleich, wie er ihn hinter seinem Lächeln verbarg, als er ihnen gratulierte.

An der Hochzeit im Spätsommer nahm die ganze Stadt teil. Zahlreiche Menschen säumten die Straßen, um zuzusehen, wie der Bräutigam seine Braut zur Kirche begleitete.

Sophie trat aus ihrem leeren Haus, das auf einmal so still war ohne die Geräusche ihres geschäftigen Alltags. Sie hatte als Braut keine Mutter, die aufgeregt an ihrem Schleier herumzupfte, keinen strahlenden Vater, der sie am Fuß der Treppe erwartete. Diese Rolle übernahm natürlich Gaston de Saint Just, ihr Cousin und bester Freund, der sie anstelle ihres Vaters zum Altar führte.

»Ich warte draußen«, flüsterte er, damit der Bräutigam ungestört einen ersten Blick auf die Braut werfen konnte.

Das Gesicht ihres Verlobten wurde ernst bei ihrem Anblick, und Sophie zögerte.

»Jerome?«

»Du siehst aus wie eine Erscheinung. Beweg dich nicht!«, bat er. Gehorsam blieb sie mitten auf der Treppe stehen. Die Morgensonne, die durch das Fenster im Treppenhaus drang, umgab ihren Kopf mit schimmerndem Licht. »Dieser Moment wird sich mir für immer einprägen. Dieses Bild deiner strahlenden Schönheit und den Gedanken, dass du Ja zu mir gesagt hast, werde ich nie vergessen.«

In Sophie wollte leises Schuldgefühl aufsteigen, weil sie so glücklich war, aber sie drängte es zurück, raffte ihr seidenes Kleid und ging vorsichtig über die letzten Stufen auf ihn zu. Erneut blieben sie stehen, um den intimen Moment festzuhalten.

»Jerome, ich war noch nie glücklicher als gerade jetzt«, gestand sie. »Mein Herz gehört für immer dir.«

»Auf dass es nie anders werde!«

Sie traten aus dem Haus. Gaston ergriff ihren Arm, um sie zur Kirche zu geleiten, während Jerome unter dem Jubel der Bürger von Épernay den Festzug über die Hauptstraße anführte. Einige von ihnen arbeiteten für das Haus Delancré, andere für die benachbarten Champagner-Kellereien, aber alle kannten sie. Sie war unter diesen Menschen aufgewachsen, und in dem jubelnden Applaus spürte sie ihre Zuneigung.

Gaston beugte sich über sie. »So hast du seit einer Ewigkeit nicht mehr gestrahlt, Sophie«, sagte er. »Es macht mich sehr stolz, für dich da sein zu dürfen. Danke, dass du mich darum gebeten hast!«

»Außer meinem Vater kann ich mir niemanden vorstellen, neben dem ich heute lieber in die Kirche ginge, mein liebster Gaston.«

»Jerome ist ein guter Mann. Ihr seid ein ideales Paar.« Gaston zwinkerte ihr zu.

»Es freut mich, dass du meine Wahl billigst«, murmelte sie unter ihrem Schleier. Soweit überhaupt möglich, fühlte sie sich noch glücklicher.

»Vor seinem Bruder musst du dich allerdings hüten. Ich kenne Louis Méa seit meiner Kindheit. Er ist kein Mann, der sich zurückweisen lässt.«

»Er macht mir keine Angst.«

»Darum geht es nicht. Du hast mir doch erzählt, dass er sich Hoffnungen auf dich gemacht hat. Du musst dir im Klaren sein, dass er einen Weg finden wird, um dir diese Demütigung heimzuzahlen, auch wenn du seinen Bruder geheiratet hast.«

»Das ist doch lächerlich.«

»Seiner Meinung nach nicht. Für ihn ist deine Zurückweisung eine Beleidigung.«

»Gaston, er straft mich mit Nichtachtung, seit meine Beziehung zu Jerome bekannt wurde.«

»Das heißt gar nichts. Louis ist wie eine Spinne. Er hockt in der Ecke und lauert.«

»Nun gut, dann musst du mir eben helfen, eine Frau für ihn zu finden. Diese hier ist bereits vergeben.«

Gaston beugte sich zu ihr herab und küsste sie durch den Schleier auf den Scheitel. »Entschuldige, dass ich ihn überhaupt erwähnt habe. Und dass dein verdientes Glück von so viel Unfrieden in Europa umgeben ist.«

»Darüber wollen wir an meinem Hochzeitstag nicht sprechen. Es wird schon nichts passieren. Wir empfinden eben alle nur nationalistisch«, behauptete sie zuversichtlicher, als sie sich fühlte. In Wahrheit hatte man selbst hier, im kleinen Épernay, das Gefühl, als sei Europa ein Pulverfass, das beim kleinsten Funken in die Luft fliegen könnte. Sophie las regelmäßig die Zeitungen aus Paris, sie wusste von den Unruhen und Aufständen in Europa, und politisch war sie besser informiert, als sich die meisten Männer vorstellten. Da sie so lange das einzige Kind gewesen war, hatte ihr Vater sie zu seiner Erbin erzogen. Ein Teil ihrer Ausbildung hatte darin bestanden, die politische Weltlage zu beurteilen.

»Unsere Welt ist nicht Épernay … unsere Großstadt ist nicht Reims. Wir gehören nicht zur Champagne, auch nicht zur Marne-Region, mein Kind. Nein, wir gehören zu Europa. Das musst du im Blick behalten, und du musst über Frankreich hinaus auf Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika blicken. Dort werden unsere Produkte verkauft, und dorthin müssen wir schauen.«

Diese Gedanken hatte er ihr schon eingeimpft, als sie noch so klein war, dass er sie durch die Kellergewölbe tragen musste, die sich in schmalen Gängen unter ihrem Haus und den anderen Spitzenhäusern erstreckten. Als Kind verstand sie überhaupt nichts und hatte auch kaum Ahnung von Geografie. Als sie älter wurde, begriff sie, dass ihr Vater ihr wichtige Kenntnisse vermittelte. Fortan hörte sie ihm aufmerksam zu, und mit den Jahren erweiterte er ihre Sicht auf die Welt, brachte ihr viel über Politik bei und ermutigte sie, mit ihm darüber zu diskutieren und sich eine eigene Meinung zu bilden. Allerdings stimmte die nicht immer mit der ihrer Freunde überein.

»Als zukünftige Chefin des Hauses musst du die Welt der Männer kennenlernen und dich zugleich mühelos in der Welt der Frauen bewegen«, hatte er gesagt. »Bis du meinen Platz einnimmst, werden die meisten dich nur als schöne Tochter wahrnehmen, die nichts anderes im Sinn hat, als zu heiraten und mit einem wohlhabenden Mann der Champagne eine Familie zu gründen. Nur du, deine Mutter und ich wissen, dass dies nur der kleinste Teil von dir ist, mein Kind. Die Zukunft des Hauses Delancré liegt in deinen Händen. Du bist seine Tochter, sein Lebenssaft … seine Erbin.«

Und so war sich Sophie kurz vor ihrer Heirat sehr wohl der Tatsache bewusst, dass der Kaiser in Deutschland aufrüstete und zwischen England, Amerika und Frankreich … ja, sogar Russland diplomatische Gespräche geführt wurden. Wie jeder, der Interesse an einem friedlichen Europa hatte, verließ auch sie sich darauf, dass die familiären Beziehungen zwischen den drei Monarchen in Deutschland, England und Russland einen Krieg verhindern würden. Aber sie war auch besorgt über die Konsequenzen, die die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers und seiner Gattin in Sarajewo vor einem Monat nach sich ziehen mochten. Die Weisheit ihres Vaters war ihr noch nie prophetischer vorgekommen.

»Was auch immer in der Welt geschieht, wirkt sich auch auf den Champagner aus«, hatte er zu ihr gesagt.

Ihr Champagner wurde von den Reichen dieser Welt, vor allem in Übersee getrunken. Sie produzierten nicht nur für Paris, sie brauchten auch London, New York, Berlin und andere große Städte wie St. Petersburg und Moskau, um ihren Champagner in großen Mengen abzusetzen. Falls es Krieg gab, würde der Umsatz leiden, weil sie dann nicht mehr ohne Weiteres exportieren konnten.

Doch dies war nicht der Tag, um darüber nachzudenken. Dies war der größte, schönste und glücklichste Tag ihres Lebens, und Sophie wollte nicht an politische Probleme denken.

Das junge Mädchen, das zu der Kinderprozession gehörte, die sie zum Rathaus begleitete, wandte sich um und winkte ihr lächelnd zu. Der Spätsommertag war so warm wie ihr Lächeln, und die Sonne strahlte weich und golden vom klaren azurblauen Himmel. Es herrschte ideales Wetter für das Festmahl im Freien, das später stattfinden sollte. Die Kinder hüpften voran und schwenkten aufgeregt Bögen aus schmalen Bändern, durch die das Brautpaar beim Verlassen der Kirche schreiten würde. Jerome plante eine große Familie. Sie musste jedes Mal lachen, wenn er über mögliche Vornamen sprach und dabei mindestens ein halbes Dutzend Vorschläge für jedes Geschlecht machte.

»Wir werden so viele Kinder haben, dass wir alle unsere Lieblingsnamen aufbrauchen«, hatte er ihr versprochen.

Sophie lächelte innerlich, da sie wusste, dass sie sich schon heute Nacht an die Realisierung dieses Versprechens machen würden. Jerome war nicht ihr erster Verehrer gewesen. Unter den Männern, die ihr seit ihrem neunzehnten Geburtstag den Hof gemacht hatten, hatte sie ihre Wahl getroffen. Aber er war ihr erster Liebhaber, und das fand sie aufregend. Sie konnte verstehen, dass man in den letzten Jahren schon befürchtet hatte, dass sie dem Unternehmen keinen Erben schenken würde. Sie verlor ihre Jungfräulichkeit spät – niemandem war das deutlicher bewusst als ihr –, aber gerade weil sie ohne Eltern dastand, hatte sie auf die wahre Liebe gewartet.

Gaston tätschelte ihr die Hand und unterbrach ihre Gedanken. »Genießt du die allgemeine Aufmerksamkeit? Ich weiß, dass dir eigentlich nicht allzu viel daran liegt.«

»Ich freue mich über ihre Bedeutung. Aber ich bin tatsächlich froh, wenn alle Formalitäten vorüber sind.«

Er nickte. Mittlerweile waren sie am Rathaus angekommen, und nachdem der Bürgermeister sie getraut und zu Mann und Frau erklärt hatte, durften sie ihre Prozession für die heilige Zeremonie in Saint-Pierre Saint-Paul fortsetzen. Sophie hatte die romanisch-byzantinische Kirche mit ihren Buntglasfenstern schon immer schön gefunden. Darauf waren die heiligen Schutzpatrone der Champagne dargestellt, Vincent aus dem Jahr 304 und Urban, der Schutzpatron der Flaschenabfüller.

Jerome grinste sie an, während er in der Kirche verschwand, um am Altar auf sie zu warten. Alle Kinder der Stadt rollten ihre weißen Bänder auseinander.

Jemand reichte Sophie eine Schere, und sie schnitt sich einen Weg durch die Seidenbänder, die von den Kindern hochgehalten wurden. Für die Dorfbewohner bedeutete diese Sitte, dass Sophie alle Hindernisse im Leben überwinden würde. Aber ihr kam es so vor, als schnitte sie damit jegliche Verbindung zu ihrer traurigen Vergangenheit ab. Sie bahnte sich einen Weg in ihre Zukunft, und bei jedem Band, das sie zerschnitt, sagte sie im Stillen ein optimistisches Wort vor sich hin.

Liebe

Glück

Zuneigung

Lachen

Kinder

Sicherheit

Starke Weinstöcke

Starke Arme, die mich umschlingen

Musik

Tanz

Liebemachen

Familie

Beim letzten Wort, Freude, mit dem der Kummer der vergangenen Jahre gebannt wurde, betraten sie und Gaston die Kirche. Der Bau, gespendet von der Familie Chandon, war erst zwei Jahre nach ihrer Geburt vollendet worden. Dies war die Kirche, in der sie gefirmt worden war.

Der Duft von Weihrauch, Myrrhe und Sandelholz stieg vom Kohlebecken auf. Ringsum wurde es so still, dass sie das leise Rascheln ihres Seidenkleides hörte.

Im Entwurf des Gewandes zeigte sich ihre rebellische Natur. Von den Korsetts, die zur Zeit ihrer Mutter modern gewesen waren, hielt sie nichts. Sie hatte sich auf Anhieb in Paul Poirets avantgardistische Empiresilhouette verliebt. Die war feminin und schmeichelnd, betonte ihre schmale Taille und verlängerte den Oberkörper. Die weiche Seide schmiegte sich in sanften Falten um ihren Leib. Statt des traditionellen Weiß, hatte sie sich für einen exquisiten Cremeton in der Farbe ihres Champagners entschieden. Durchsichtige Glasperlen deuteten die winzigen Champagnerperlen an, während graue Stiftperlen die Erde darstellten, auf der Jeromes Weinstöcke wuchsen. Sie hatte auf einer bescheidenen Schleppe bestanden, und Meister Poiret hatte ihren Wunsch respektiert, indem er das Kleid mit einer kurzen, spitzen Seidenschleppe versehen hatte, die durch kleine Bleigewichte in Form gehalten wurde.

Von vorn wirkte der Aufzug klassisch, aber von hinten enthüllte ein tiefer Rückenausschnitt Sophies Schulterblätter. Einige ältere Frauen keuchten überrascht auf, während ihr die jüngeren entzückte, zustimmende Blicke zuwarfen. Wenn eine Frau von Sophies Reichtum und Status ein so gewagtes Hochzeitskleid trug, konnten in Zukunft alle Bräute ihre Korsetts und voluminösen Röcke ablegen. Jede Braut konnte nun ein solches Kleid tragen. Es zeugte von Freiheit und Unabhängigkeit, zeigte Haut und Weiblichkeit.

Während sie durch den Mittelgang auf ihren strahlenden Ehemann zuschritt, dachte sie an die starken Frauen der Champagne, die vor ihr gegangen waren, so die Witwe Clicquot oder Madame Pommery. Sie hätten ihre Entschlossenheit begrüßt, sich nicht unterzuordnen, sich vor der Männerwelt der Champagnerproduktion nicht zu fürchten. Und vor allem hätten sie gutgeheißen, dass sie einen Gatten gewählt hatte, der modern dachte und sie in ihrer Unabhängigkeit ermutigte.

Kurz überlegte sie, wie es gewesen wäre, wenn sie Louis geheiratet hätte. Sie nahm seinen finsteren Blick im Rücken wahr wie einen unangenehmen Geruch. Er muss sich damit abfinden, dachte sie. Vielleicht tröstet es ihn ja, dass sein Plan, ihre Familien miteinander zu verbinden, erfolgreich war. Eben nur mit seinem Bruder. Jerome drehte sich um, und Sophies Herz schlug schneller. Louis war auf einmal völlig unwichtig. Er hatte sowieso keinen Einfluss auf ihr Leben, weil die Brüder sich endgültig darauf geeinigt hatten, dass Jerome den gesamten Gewinn aus dem Weingut erhielt, während Louis das Schloss mit dem Mobiliar und die Einkünfte aus ihrer äußerst ertragreichen Landwirtschaft bekam.

Sophie besaß ihr eigenes Schloss sowie mehrere Häuser und war reicher als beide Brüder zusammen. Sie brauchte weder Louis’ Ratschläge noch sein Geld und erst recht nicht seine Einmischung. Ab jetzt waren sie nur noch Monsieur und Madame Delancré-Méa. Sophie trat unter den Baldachin aus Seide und Spitze, ein Relikt aus jener Zeit, bevor der Schleier in Mode kam, und atmete erleichtert auf. Endgültig wurde ihr bewusst, dass sie und Jerome bis an ihr Lebensende glücklich miteinander leben würden.

Vor der Kirche war der Weg mit Lorbeerblättern ausgelegt worden, die Liebe und Respekt bedeuteten, und die Frischvermählten wurden von den fröhlichen Gästen mit Reis beworfen. Die Wohlhabenderen verwendeten sogar Goldmünzen, damit die Unternehmungen des Brautpaares stets vom Glück begünstigt wurden. Und noch später im Garten hinter Sophies Haus, als der offizielle Teil und das Festmahl vorüber waren, türmten die Gäste nach alter Tradition kleine Kuchen zu einer Pyramide auf, und die Frischvermählten mussten sich über dem Stapel hinweg küssen, ohne dass ein Gebäckstück herunterfiel.

»Und jetzt kommt die Hochzeitstorte«, erklärte Sophie schließlich. Mit ihren Gehilfen trug die stolze Haushälterin eine mehrstöckige Torte aus Windbeuteln auf, die von einer Wolke aus gesponnenem Zucker zusammengehalten wurden. Der Croque-en-bouche war übersät von winzigen frischen Blüten, die erst am Morgen auf den umliegenden Wiesen gepflückt worden waren. Die schimmernde hohe Kreation entlockte den Gästen bewundernde Rufe.

Zum Kuchen öffnete Gaston weitere Flaschen von Sophies Champagner, und zwar auf traditionelle Art durch Sabrieren mit einem Champagnersäbel. Den intakten Flaschenhals samt Korken überreichte er dann dem Brautpaar, und Jerome legte Sophie einen Choker mit Kristallperlen um den Hals.

»Sie erinnern mich an die perlenden Bläschen deines Champagners«, flüsterte er, als er die Schließe befestigte, und küsste sie sanft auf den Scheitel.

Der Blick aus seinen grauen Augen sagte ihr, dass sie später, wenn sie endlich allein waren, noch viel mehr Zuneigung erfahren würde.

»Sie sind wunderschön, Jerome«, erwiderte sie und strich mit den Fingerspitzen über die Perlen.

»Mit dir verglichen sind sie nichts«, flüsterte er. »Womit habe ich ein solches Glück verdient?«

Sie schenkte ihm ein Lächeln, das nur für ihn bestimmt war. Nie würde sie einen anderen Mann so lieben wie ihn.

»Ich fürchte, ich muss singen, sonst platze ich vor Glück«, warnte er sie.

»Oh, nein! Bitte nicht, Jerome!« Sophie lachte.

»Doch, ich muss!« Und schon schmetterte er ein Lied, in das bald alle Gäste einfielen.

So war Jerome. Laut, lärmend und liebevoll. Er liebte jeden, und jeder liebte ihn … außer vielleicht Louis, der sich heimlich von den Festlichkeiten weggestohlen hatte. Niemand vermisste ihn, am wenigsten Sophie. Sie fühlte sich gesegnet. Ihre Verbindung war wahrhaftig im Himmel geschlossen worden, und Épernay würde davon profitieren, dass eine der wichtigsten Champagner-Produzentinnen in der Region sich mit einem der aufregendsten jungen Winzer zusammengetan hatte.

»Ich habe noch ein weiteres Geschenk für dich, meine Liebste«, meinte Jerome, als sein Lied geendet hatte.

Ob er jetzt wohl etwas Verführerisches zu mir sagt?, fragte sie sich im Stillen.

Aber er grinste nur. Er sah ihr an, was sie dachte. »Dieses Geschenk kann warten. Kommst du mit mir?«

Sophie runzelte die Stirn. »Sollen wir unsere Gäste allein lassen?«

»Nur kurz.« Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern teilte allen Hochzeitsgästen mit, dass er und seine Frau kurz einmal verschwinden müssten.

Seine Ankündigung wurde mit Jubelrufen und Pfiffen begrüßt.

»Beruhigt euch, Leute! Nur ein Geschenk für die Frau, die ich liebe. Wir kommen gleich wieder zurück.«

»Nur zu!«, rief Gaston. »Ich kümmere mich um alles.«

Mit offenem Mund spähte Sophie über die Weinreben hinweg, die von der untergehenden Sonne in schimmerndes Licht getaucht wurden. Ihr Seidenkleid hatte sie gerafft, damit die Schleppe nicht mit der trockenen dunklen Erde in Berührung kam.

»Chardonnay!«, wisperte sie. »Hier?«

»Ein Experiment, in das diese Göttin der Trauben eingewilligt hat. Sie gehört dir allein.«

»Jerome!« In ihrem Gesichtsausdruck spiegelten sich ihre Freude, ihre Dankbarkeit und ihre Liebe wider. »Das hast du für mich getan?«

Lächelnd nickte er. »Ich habe alle zu absoluter Geheimhaltung verpflichtet. Dieses Feld lag zwar schon seit Jahren brach, aber ich glaube, die Traube wird hier gut gedeihen, weil ich deinen Traum vom Champagner ganz aus Chardonnay wahrmachen will. Ich glaube fest daran, dass eines Tages alle Champagnerhäuser danach streben werden. Aber du wirst zu den Ersten gehören, die diesen Wunsch umsetzen. Wahrscheinlich wirst du sogar die Allererste sein.«

Plötzlich bekam sie feuchte Augen. Sie liebte ihn so sehr! »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin dir unendlich dankbar, dass du an mich glaubst.«

»Verhilf den kleinen Weinstöcken zum Erfolg! Liebe sie so, wie ich dich liebe.«

Sie schlang die Arme um ihn, wollte ihn leidenschaftlich küssen und ihm mit den Händen durchs Haar fahren, aber dann fiel ihr etwas Besseres ein. »Komm, bringen wir rasch unser Hochzeitsfest hinter uns, damit du mich die Treppe hinauftragen kannst und wir endlich allein sind.«

»Das sind aber viele Stufen«, murmelte er, als sich seine Lippen auf ihren Mund senkten und sie einen Vorgeschmack davon bekam, was sie im Schlafzimmer erwartete … in ihrem gemeinsamen Haus.

Aber es war ihnen nicht vergönnt, für sich zu sein. Als sie ihren Mann an sich zog, rannte ein Junge herbei und unterbrach sie.

»Monsieur, Madame!«

»Was gibt es, Stéphane?« Jerome runzelte die Stirn, und bei dem dringlichen Tonfall des Jungen hob auch Sophie die Brauen.

»Sie müssen rasch kommen.«

»Was ist passiert?«, fragte Sophie, und eine böse Vorahnung stieg in ihr auf.

»Kommandant de Saint Just hat mich geschickt. Sie sollen sofort kommen.« Verwirrt blickten sie ihn an. »Er hat eine Nachricht bekommen und ihren Gästen gerade mitgeteilt, dass Deutschland Russland den Krieg erklärt hat, Monsieur … Er sagt, Frankreich sei als Nächstes dran.«

Der Junge zupfte an Jeromes Ärmel. Aufgeregt verfielen alle in Laufschritt, und Sophie dachte nicht mehr daran, dass ihr Seidenkleid möglicherweise schmutzig wurde. Sie erinnerte sich an damals, als sie erfahren hatte, dass ihre Familie vermisst wurde. Eisige Furcht erfasste sie. Hastig griff sie nach Jeromes Hand und wollte sie nie wieder loslassen.

»Wartet!« Sie blieben stehen. »Woher wissen wir denn, dass sich auch Frankreich beteiligen wird?«, fragte Jerome. Er machte den Eindruck, als wolle er keinen Schritt weitergehen, bevor er eine Antwort auf seine Frage bekam.

Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, was der Kommandant mir aufgetragen hat, Monsieur. Offensichtlich sammeln sich die deutschen Truppen an der belgischen Grenze.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber er meinte, Sie wüssten es.«

Verzweifelt verzog Sophie den Mund. »Ja, wir wissen es.«

Teil I

1

Ypern, Belgien

April 1915 

Dieter dachte an seinen Säugling zu Hause, während er den Rückzug seiner Infanterie beobachtete. Wenn sein Sohn alt genug wäre, um alles zu verstehen, wäre er bestimmt stolz darauf, dass sein Vater für diese besondere Aufgabe ausgewählt worden war. Und wenn er später einmal ebenfalls Interesse an Naturwissenschaften hätte, wäre er sicher fasziniert, dass der kluge deutsche Chemiker Fritz Haber seinen schlauen Plan ausgeführt hatte.

Das wird den Krieg beenden, hatte man ihnen gesagt, und Dieter glaubte seinen Vorgesetzten. Er wollte unbedingt zu jenen Männern gehören, die die neue Waffe auf diesem verfluchten Vorsprung in Belgien einsetzten, um den sie alle kämpften. Er wollte nach Hause zu Frau und Kind … rechtzeitig zum Sommer. Vielleicht blieb das ja kein Traum, und der Krieg endete tatsächlich im Frühjahr. Er konnte sich kein besseres Geburtstagsgeschenk für seine Frau ausdenken. Und wenn alles nach Plan lief, beendete die Wissenschaft diesen höllischen Krieg und nicht die Artillerie. Er wollte endlich nach Hause in sein friedliches Dorf Kerpen, zurück in seinen Beruf als Lehrer für naturwissenschaftliche Fächer, als Ehemann, als Vater. Mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren, in der er unterrichtete, kam ihm auf einmal nicht mehr unwahrscheinlich vor. Es war seine sichere Welt, und er wollte von ganzem Herzen dorthin zurückkehren, denn die neue Welt, in der er sich hier bewegte, war hässlich und beängstigend. Nichts konnte so wichtig sein, dass dafür unzählige Menschen leiden und ihr Leben lassen mussten.

Die Verantwortlichen hatten den Tag perfekt ausgewählt. Es herrschte klare Sicht, und der Wind aus Flandern würde seine kühle, feuchte Luft am Abend in die richtige Richtung schicken. Dieter gehorchte einfach nur den Befehlen. Er stellte fest, dass es einen kurzen Augenblick lang ungewöhnlich still war. Die Waffen schwiegen, nichts rührte sich. Es fühlte sich so an, als hielten – zumindest auf seiner Seite – alle die Luft an.

Dieter warf seinem Nachbarn im Schützengraben einen Blick zu, den dieser in beunruhigter Erwartung erwiderte. Der Brustkorb wurde ihm eng, und sein Herz schlug wie ein Hammer auf einen Amboss. Es war sein Moment, er war einer der Helden. Er gehörte zu jenen, die diesen Krieg beenden würden, dank Fritz Haber und seinem Verstand.

Und so zog Dieter Meyer aus einem kleinen Dorf etwa zwanzig Kilometer von Köln entfernt an der Schnur, die die Ventile der Flaschen öffnete, für die er verantwortlich war – drei von mehr als fünftausend, hatte er gehört – an diesem sonnigen Spätnachmittag im Gebiet nördlich von Ypern. In der Ferne sah er zwischen dem Gewirr der französischen Schützengräben grüne Flecken mit frischem Gras, da der Frühling allmählich in den Sommer überging. Wenn Fritz Haber mit seinen Berechnungen recht hatte, würde in der nächsten Stunde kein Franzose mehr am Leben sein. Dieter lauschte dem zischenden Geräusch, mit dem das Gas entwich, und fragte sich, wie es wohl den Tieren in diesem Gebiet ergehen würde. Würden alle Lebewesen durch das Gas sterben? Niemand seiner Vorgesetzten beim Militär hatte ihm die Wirkungsweise oder die Effizienz des Gases als Waffe genau erklären können.

Der Gasdampf, der entwich, sollte eigentlich die Farbe des frischen Frühlingsgrases annehmen, aber das Grün war eher so giftig wie Schleim in einem Brunnen oder wie grüner Eiter. Dieter beobachtete, wie das Chlorgas am Rand des Schützengrabens aufstieg. Dort hing es einen Moment lang in der Luft, als müsse es sich erst einmal orientieren, aber dann bewegte sich die grüne Nebelmauer mit dem Wind. Langsam, aber stetig kam sie vorwärts, bis sie sich wie eine Walze über die Schützengräben der Franzosen und ihrer Verbündeten legte.

Während Dieter Meyer sich für einen Helden hielt, dachte Jerome Méa im gegenüberliegenden Schützengraben darüber nach, dass die Armee zum Glück endlich etwas gegen die furchtbaren Verluste der französischen Infanterie getan hatte. Die roten Hosen hatten sie für den Feind nur allzu deutlich sichtbar gemacht. Aber jetzt waren neue Uniformen geschneidert worden, die gerade auf dem Weg nach Belgien waren und in Kürze zur Verfügung stehen würden. Bitter verzog Jerome das Gesicht. Ypern hätte eigentlich ganz oben auf der Liste stehen sollen, denn hier waren die Kämpfe am heftigsten. Der Stoff, der ursprünglich in den Farben der Trikolore hergestellt worden war – rot, blau und weiß –, wurde anscheinend nur noch zweifädig gewebt, wobei der Farbton Horizontblau entstand. Ironischerweise konnte das Rot nur mit einer ausschließlich in Deutschland erhältlichen Farbe erreicht werden. Kopfschüttelnd überlegte Jerome, warum er eigentlich über so triviale Probleme nachdachte … wahrscheinlich deshalb, weil diese flandrische Gegend berühmt war für ihren Tuchhandel. Aber das machte seine Gedanken nicht weniger nutzlos als seine Anwesenheit hier. Er bedauerte es nicht, sich freiwillig gemeldet zu haben und seine Pflicht für das Vaterland zu erfüllen. Aber er glaubte nicht daran, dass der Ort, an dem er kämpfte, sein Leben und das seiner Männer wert war. An ihrer Seite kämpften auch Algerier in farbenfrohen Uniformen und sogar Australier von der anderen Seite der Welt. Es machte ihn stolz, dass alle diese Männer von so weither gekommen waren. Sie wollten für Frankreich in den Krieg ziehen, stattdessen aber lagen sie in Flandern im Schützengraben, um die Deutschen an der Einnahme von Belgien zu hindern.

Ja, er würde sie bis zum letzten Atemzug verteidigen, aber es war nicht die Nation, der sein Herz gehörte und für die er freudig sein Leben geben würde, sondern es war seine Frau Sophie. Sie waren kaum einen Monat verheiratet gewesen, als er zur Armee ging und unter brausendem Jubel mit den anderen Männern aus Épernay und Reims und dem Versprechen in den Krieg zog, schon bald siegreich heimzukehren. Das war letzten Sommer gewesen – noch kein ganzes Jahr her, aber es kam ihm so vor, als hätte er ihr liebes Gesicht schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gestreichelt. Sie legte keinen Wert auf ihr Aussehen und machte sich selten die Mühe, ihre Schönheit mit Kosmetik oder schicker Kleidung zu unterstreichen. Missgünstig nörgelten manche, es sei leicht, sich nicht um ein hübsches Aussehen zu kümmern, wenn man mit einem Körper wie ein Mannequin und derartig harmonischen Gesichtszügen gesegnet war. Und es stimmte, der Spiegel konnte die Schönheit ihrer weit auseinanderstehenden Augen und ihrer fein gezeichneten Wangenknochen nicht verbergen. Der Schwung ihrer Augenbrauen passte zu ihren makellosen Lippen, mit denen sie ihn so liebevoll anlächelte. Und am besten gefiel es ihm, wenn sie den Strohhut abnahm, den sie auf dem Feld trug, und ihr Haar löste, dessen goldene Strähnen in der Sonne schimmerten. Jerome verstand immer noch nicht, warum sie nicht ihren attraktiven Cousin, Gaston de Saint Just, geheiratet hatte. Er befehligte arabische Truppen und hielt sich wahrscheinlich ganz in der Nähe auf. Stattdessen hatte sie ihn gewählt. Unwillkürlich musste er lächeln. Er hatte sie bis zu ihrer ersten Begegnung nur von Weitem als Mitglied der Familie Delancré gekannt. Im Gegensatz zu seinem beleibten Bruder hatte er nie geglaubt, für die Erbin des Champagnerhauses infrage zu kommen. Deshalb hatte er auch nie versucht, ihre Aufmerksamkeit zu erringen, um nicht zurückgewiesen oder enttäuscht zu werden.

Doch wenn er ehrlich war, sah nur er sich als einfacher Weinbauer, und Sophie hatte ihm schon bei einigen Gelegenheiten falsche Bescheidenheit vorgeworfen. Diese Frau duldete einfach keine Dummköpfe. Natürlich war er Bauer, aber er kam auch aus einer wohlhabenden Winzerfamilie, die bestes Ackerland und Weinberge in und um Reims und Épernay besaß.

Und jetzt wollte er endlich wieder nach Hause. Er hatte seine Pflicht erfüllt und sich in den letzten sechs Monaten in den unvorstellbar heftigen Kämpfen als Held erwiesen. Er war seinen Männern mit Mut und gutem Beispiel vorangegangen, hatte nie etwas von ihnen verlangt, was er selbst nicht auch getan hätte. An diesem Frühlingstag aber, in der milden Luft des späten Nachmittags, war ihm besonders sentimental zumute. Ihn überkam das seltsam morbide Gefühl, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, als ob ihn eine Kugel treffen oder eine Granate in seinem Schützengraben explodieren würde. Warum? Warum hegte er gerade an diesem Tag so prophetische Gedanken? Vielleicht weil die Waffen einen Moment lang schwiegen, so als wäre der Feind nicht mehr aufs Töten aus. In der letzten Stunde schienen die Deutschen gar nicht mehr vorhanden gewesen zu sein. Aber der feuchte Wind, der auf sie zuwehte, brachte wie immer den Gestank des Todes mit sich. Das Schweigen der Deutschen kam ihm verdächtig vor, zumal sie am Morgen unter heftigem Beschuss gestanden hatten. Warum war es auf einmal so still?

Während er noch darüber nachdachte, tauchte ein Unteroffizier neben ihm auf. »Abendessen, Kommandant?«

Jerome nickte; er hatte gar nicht gemerkt, dass der Nachmittag in den Abend übergegangen war. In dem kurzen Monat, den er und Sophie als Ehepaar zusammengelebt hatten, war das Abendessen seine Lieblingsmahlzeit gewesen. Was hätte er darum gegeben, endlich wieder die Mahlzeiten zusammen mit ihr einnehmen zu können! Und für eine Nacht mit Sophie hätte er sein Leben geopfert.

»Ich komme sofort.« Er nickte, aber seine Aufmerksamkeit war auf einen seltsamen Dunst gerichtet, der über den Rand des feindlichen Schützengrabens in der Ferne kroch. Giftig grüne Rauchsäulen stiegen auf und bildeten eine Wand, die sich über die ganze Breite der Front zog. Setzten die Deutschen ein neues Schießpulver ein? Er begriff nicht, was er da sah. Unwillkürlich stieß er einen Ruf aus.

Männer eilten herbei, Befehle wurden gegeben, und sie schossen. Die grüne Wand aber setzte sich in ihre Richtung in Bewegung, als führe sie auf unsichtbaren Rädern. Entsetzen packte Jerome. »Zieht euch zurück!«, schrie er. Insgeheim jedoch wusste er nicht, ob sie sich tatsächlich weit genug entfernen konnten. Was immer dieser grüne Nebel bedeutete, er wollte es nicht herausfinden. »Lauft!«

Die meisten seiner Kameraden kamen etwa tausend Meter weit, dann hatte das Gift sie eingeholt, und sie stürzten, grünen Schaum vor den Mündern. Die Schreie der Pferde und Esel mischten sich mit den Schreien der Menschen. Jerome war stark, er zog zwei Soldaten mit sich, bevor er selbst stürzte. Sein Brustkorb zog sich zusammen, und sein ganzer Körper prickelte, als er verzweifelt nach Luft rang.

Erstaunt und zugleich tief betrübt stellte er fest, dass rings um ihn Mäuse und andere Kleintiere ebenfalls den Erstickungstod starben.

Épernay, Frankreich

August 1915 

Die Frau vor Sophie wandte sich um und warf ihr einen Blick zu. Seit über zwei Stunden drehten sie Champagnerflaschen, die in den Pulten lagen. Die Aufgabe erforderte volle Konzentration, da Tausende von Flaschen nur um ein Achtel aus ihrer Lage vom Vortag weitergedreht werden durften. Sophie wollte der Frau eine Pause empfehlen, sah aber, dass der Bürgermeister auf sie wartete.

Stirnrunzelnd richtete sie sich auf. Hatte sie einen Termin vergessen?

Lächelnd wandte sie sich dem Besucher zu, angesichts seiner Miene aber verzog sie das Gesicht, als würde sie plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund verspüren. Bürgermeister Maurice Pol-Roger sah aus, als hätte er etwas gleichermaßen Bitteres geschmeckt, und wirkte niedergeschlagen und kraftlos. Beunruhigt wischte sich Sophie die Hände an der Schürze ab. Im Keller, der zuvor vom fröhlichen Geschnatter der Frauen erfüllt gewesen war, wurde es auf einmal still. Es konnte nur einen Grund dafür geben, dass der Bürgermeister unangemeldet in der Villa Delancré erschien. Trotz ihrer Angst tat er ihr leid, bevor der Schmerz sie überflutete und verzehrte. Die Nachricht traf sie mitten ins Herz, und innerlich schrie sie auf wie ein gepeinigtes Tier.

Nur Sophie hörte sich. Nach außen hin bewahrte sie die Fassung, denn sie musste in diesem Augenblick Mut zeigen. Dies verlangte das Land von allen Frauen, aber gerade ihr Name stand für so viel, und ihre Tapferkeit musste für die Frauen in Épernay ein Vorbild sein. Auf ihre Stärke stützten sie sich. Seit der Krieg vor knapp einem Jahr auch in Frankreich angekommen war, trieben die Frauen auf einem dunklen Meer. Mit der heutigen Nachricht war auch Sophie nicht mehr vor den Schmerzen des Krieges geschützt.

Jerome war tot. Ihr blieb nur noch die Trauer.

Der Bürgermeister sah ihr an, dass sie es bereits wusste, und ersparte ihr lange Vorreden. »Madame Delancré, es tut mir so leid …«

Mehr brauchte sie nicht zu hören. Diese Worte, an andere trauernde Frauen, Mütter, Verlobte und Schwestern gerichtet, hatte sie immer wieder gehört.

Pol-Roger überbrachte nur Nachrichten von Verlusten. Verlust der Zukunft und ihrer Möglichkeiten, Verlust des einzigen Aspektes ihrer Existenz, der das Leben im Krieg erträglich machte. Und vor allem überbrachte er Nachrichten über den Verlust der Liebe. Nur dank der Liebe konnten die Frauen den Krieg überleben. Wenn sie schwand, wurde einem Menschen alles geraubt. Sophie hatte so lange gebraucht, um die Liebe ihres Lebens zu finden, und nachdem sie ihr endlich begegnet war, hatte sie jeden Winkel ihrer Existenz beherrscht. Mit dieser Liebe hatte sie sich unbesiegbar gefühlt. Liebe war ihre Rüstung gewesen. Als Jerome stolz mit seiner Uniform mit den roten Hosen in den Krieg gezogen war, hatte sie sich stark gefühlt und gelächelt, obwohl sie innerlich von Traurigkeit überwältigt wurde. Sie hatten einander doch gerade gefunden, gerade erlebt, wie sich ein übervolles Herz anfühlte. Sie verlangte nach ihm und trauerte, das gemeinsam angestrebte Ziel nun nicht zu erreichen.

Der Krieg hatte ihn aus Épernay weggeholt. Und jetzt holten wenige Worte ihn von ihr weg … für immer.

Sophie Delancré weinte nicht. Die Tränen würden später kommen, wenn sie allein war. Jetzt stand sie unter Schock, und ihre Augen blieben so trocken wie das Rascheln des Umschlags, als der Bürgermeister ihr mit weiteren Worten des Beileids das Telegramm in die Hand drückte. Er hätte einen Boten schicken können, aber er betrachtete es als seine Pflicht, jeder Frau die Nachricht persönlich zu überbringen, sosehr ihn das auch quälte. Er war ein guter Mann, eine exzellente Galionsfigur für Épernay, und ihm zuliebe musste sie stark sein. Als sie den Blick vom Telegramm hob, sah sie, wie er um Fassung rang. Alle hatten Jerome geliebt.

»Wir müssen tapfer sein«, hörte sie sich selbst sagen, erschrocken über ihren kühlen Tonfall. Die Worte klangen bedeutungslos, doch in ihrer Hohlheit lag ein Gefühl des Trostes. Den Satz auszusprechen half allein schon deshalb, weil sie damit das furchtbare Schweigen durchbrach. Mit seinem dicken, drahtigen Schnurrbart ähnelte er seinem immer glatt rasierten Vater, einem der Gründer der Branche, der auch sie angehörte. Stumm berührte er die Krempe seines Hutes und zog sich zurück, als die Arbeiterinnen sich mit leisen Lauten eng um Sophie scharten. Sie spürte Hände auf dem Körper, und die Frauen umarmten sie, um ihr Mitgefühl und ihre Anteilnahme auszudrücken.

»Danke«, flüsterte sie. »Entschuldigt mich bitte!« Sie konnte die mitleidigen Blicke nicht mehr ertragen. Genau wie die anderen Frauen wusste sie, dass der Schmerz gerade erst begann. Eine Zeit lang würde der Schock die Qual der Trauer noch in Schach halten, aber schon bald würde die Realität sie überwältigen und ihr nicht einmal das kleinste bisschen an Selbstbeherrschung lassen. Sie schaffte es bis in die erste Etage, wo sie einem Hausmädchen, das von den Neuigkeiten nichts wusste, ein lächelndes Gesicht zeigen musste. In der Tiefe ihrer Schürzentasche wartete der Umschlag darauf, geöffnet zu werden.

»Madame?«

»Es geht mir gut, Helene … nur leichte Kopfschmerzen.«

»Ruhen Sie sich aus, Madame!« Die junge Frau runzelte die Stirn. »Sie arbeiten zu viel.« Dann ging sie weiter ihren Pflichten nach, auch sie viel zu dünn und überarbeitet, weil sie mehrere Hausmädchen ersetzen musste. Jeder von ihnen schulterte weit mehr, als eine einzelne Person es sonst vermochte. Niemand beklagte sich.

Mühsam zog sich Sophie die Holztreppe hinauf, über die sie zu den Hausgöttern entkommen konnte. Sie hatte den Dachboden ausbauen lassen und sich dort einen Zufluchtsort geschaffen. Die anderen sechs Schlafräume hatte sie für Besucher vorbereiten lassen, für Politiker, Offiziere und andere bedeutende Männer, die für Frankreich arbeiteten und einen privaten Raum benötigten. Es tat ihr gut, ihnen allen Gastfreundschaft anbieten zu können. Damit war sie nicht allein. Alle größeren Häuser trugen ihren Teil zu den Kriegsanstrengungen bei. Vielleicht sollte sie ganz auf den Dachboden ziehen. Dann konnte das gesamte erste Stockwerk als Gästehaus genutzt werden, und der größte Teil des Erdgeschosses konnte für verwundete oder genesende Soldaten ausgebaut werden.

Mit einem Wimpernschlag hatte sich ihre Welt verändert. Am Tag zuvor hatte sie noch Pläne geschmiedet. Und heute? Hatte das Leben überhaupt noch einen Sinn?

Sophie hatte noch nie eine so große Last auf den Schultern gefühlt wie in dem Moment, als sie die Klappe zum Dachboden aufdrückte und hinter sich wieder zufallen ließ. Allein. Sie griff nach einem der Balken und umschloss ihn so fest mit den Händen, dass ihre Knöchel ganz weiß wurden. Und immer noch schluchzte sie nicht laut, ihr Schmerz blieb stumm. Halt ihn zurück!, befahl sie sich. Ertrag ihn! Du musst! Du hast keine andere Wahl. Du bist nichts Besonderes. In deiner Trauer bist du eine von Hunderten in Épernay, eine von Tausenden in Frankreich, eine von Zehntausenden in Europa.

Sie zwang sich, ruhig zu atmen, so wie sie es auch den Frauen empfohlen hatte, die das Gleiche erlebt hatten. Erneut atmete sie aus, hörbar diesmal, mit gespitztem Mund, damit der Atem wie durch einen Tunnel floss. Unterdrück die Angst!, sagte sie sich. Atme ein und aus … und noch einmal. Beim letzten Atemzug stöhnte sie, aber sie fühlte sich ein wenig ruhiger und gefestigter. Als sie spürte, dass ihr die Beine wieder gehorchten, trat sie an den Sessel, den sie hinaufgeschleppt und ans Fenster gestellt hatte. Dieser Rückzugsort war seit einem Jahr ihr einziger Luxus.

Vor dem Krieg hatte sie ein privilegiertes Leben geführt, aber mittlerweile war es hart geworden. Dieser Sessel jedoch gehörte zu den tröstlichen Utensilien der Vergangenheit, und dankbar sank sie in das weiche Kissen und legte die feuchten Hände auf die Lehnen aus goldenem Walnussholz, die teilweise mit dem gleichen Stoff gepolstert waren wie die Sitzfläche. Sie liebte diesen Sessel. Hier fühlte sie sich sicher und geliebt. Der Sessel hatte ihrer Mutter gehört. Sophie sah sie vor sich, wie sie dasaß und mit ihrer Handarbeit beschäftigt war, umflossen vom Licht, das durch die großen Panoramafenster drang. Im Licht des Dachfensters musste Sophie sich jetzt dem Telegramm stellen, obwohl es ihr lieber gewesen wäre, sich wie ihre Mutter zufrieden ihrer Handarbeit widmen zu können. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie aussah. Bestimmt war ihr schmales Gesicht blass und verkniffen. Zum Glück hatten wenigstens ihre Eltern diesen Krieg nicht mehr erlebt, der sie so erschöpft und unglücklich machte.

Doch nun ging es nicht mehr nur darum, dass sie zu dünn, zu müde, aufgrund der Situation zu bekümmert war. Auf einmal betraf sie dieser Krieg zutiefst persönlich.

Sie zog den Umschlag aus der Schürzentasche, während sie ihren Tränen freien Lauf ließ. Heiß und salzig rannen sie ihr über die Wangen, und die Sätze des offiziellen Schreibens verschwammen ihr vor den Augen. Der Text war sorgfältig formuliert, konnte doch den heftigen Schlag aber nicht abmindern.

Jerome war auf dem Feld gefallen. Sie überflog das Telegramm, ohne es wirklich zu verstehen, doch es bestätigte nur, was sie schon vermutet hatte. Der Bürgermeister wusste anscheinend mehr, und das würde man ihr bald schriftlich mitteilen. Zeugen hatten offenbar gesehen, wie er starb. Zwei oder drei Zeugen? Es war ihr gleichgültig. Der Bürgermeister versicherte, es habe sich um einen breitschultrigen großen Mann mit lockigem dunklem Haar gehandelt. Er war Bauer – Weinbauer, erinnerten sich zwei –, immer gut gelaunt und trotz der düsteren Lage stets optimistisch. Besser hätten sie ihn nicht beschreiben können.

Und so, einfach so … war ihre große Liebe innerhalb eines Wimpernschlags gestorben.

»Weihnachten bin ich zu Hause«, hatte er versprochen.

Sophie atmete ihre Qual aus.

»Das war vor acht Monaten, mein Geliebter«, flüsterte sie ihm zu, wo auch immer er unter französischer Erde lag, wahrscheinlich mit einer deutschen Kugel in der Brust. Hoffentlich war sie ihm nicht durchs Herz gedrungen. Das gehörte allein ihr.