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Eine junge Frau mit einem Traum, eine geheime Nachricht mit ungeahnten Folgen und eine Liebe, so verheißungsvoll wie Schokolade ...
York, 1915: Die junge Alexandra hofft auf eine Karriere in Englands berühmter Schokoladenhauptstadt, doch ihre Eltern drängen sie stattdessen, endlich zu heiraten. Ihr Wunschkandidat Matthew ist gesellschaftlich angesehen, intelligent, charmant. Doch reicht eine freundschaftliche Verbindung, um ein erfülltes Leben zu führen?
Frankreich, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs: Captain Harry stößt in einem Schützengraben auf einen toten Soldaten, der eine handgeschriebene Notiz bei sich trägt. Um die Absenderin der geheimnisvollen Nachricht ausfindig zu machen, reist Harry nach Nordengland, wo sein Schicksal schon bald unwiderruflich mit dem von Alexandra und Matthew verbunden sein wird ...
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Seitenzahl: 665
Veröffentlichungsjahr: 2019
Buch
York, 1915: Die junge Alexandra hofft auf eine Karriere in Englands berühmter Schokoladenhauptstadt, doch ihre Eltern drängen sie stattdessen, endlich zu heiraten. Ihr Wunschkandidat Matthew ist gesellschaftlich angesehen, intelligent, charmant. Doch reicht eine freundschaftliche Verbindung, um ein erfülltes Leben zu führen?
Frankreich, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs: Captain Harry stößt in einem Schützengraben auf einen toten Soldaten, der eine handgeschriebene Notiz bei sich trägt. Um die Absenderin der geheimnisvollen Nachricht ausfindig zu machen, reist Harry nach Nordengland, wo sein Schicksal schon bald unwiderruflich mit dem von Alexandra und Matthew verbunden sein wird …
Autorin
Fiona McIntosh, geboren in Brighton, England, ist zeit ihres Lebens viel gereist: Sie verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in Afrika, arbeitete in Paris und siedelte schließlich nach Australien über. Gemeinsam mit ihrem Mann gibt sie ein Reisemagazin heraus. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Adelaide, Südaustralien.
Von Fiona McIntosh bereits erschienen:
Herzen aus Gold
Der Duft der verlorenen Träume
Wenn der Lavendel wieder blüht
Das Mädchen im roten Kleid
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Fiona McIntosh
Der SchokoladenSalon
Roman
Deutsch von Theda Krohm-Linke
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Chocolate Tin« bei Penguin Random House Australia Pty Ltd.
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Copyright der Originalausgabe © 2016 by Fiona McIntosh
This edition published by agreement with Penguin Random House Australia Pty Ltd.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Judith Schneiberg
Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de
Umschlagmotiv: Ildiko Neer/Arcangel Images; imageBROKER/Dr. Wilfried Bahnmüller/mauritius images; akg-images
KW · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-23687-8V001
www.blanvalet.de
Dieses Buch widme ich Dr. Alex Hutchinson, Kuratorin von Nestlé History and Archives.
Die Auseinandersetzung war harmlos verlaufen – sogar in höflichem Tonfall –, aber Alex Frobisher hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass andere die Entscheidung für sie treffen würden, wenn sie es nicht selbst in die Hand nahm. Sie schnalzte leise mit der Zunge und trieb ihre schwarze Stute an. Das vertraute Klappern der Hufe auf der Straße beruhigte sie, und sie versuchte, ihre Gedanken auf eine Zeit zurückzulenken, als die Sommer in Schottland noch endlos schienen, voller Lachen und Wärme. Die glücklichen Tage bis zu jenem Nachmittag im August 1905, als sich die Dunkelheit über ihre Familie senkte. Der Schmerz, der seitdem auf ihnen lag, war sicherlich die Ursache dafür, dass ihre Mutter so auf eine Ehe drängte … auch wenn Alex sie gar nicht wollte.
Blackberry kannte den Weg; sie wusste genau, wo sie links in die üppig blühende Landschaft der ausgedehnten Grünflächen von Knavesmire abbiegen musste, die an einer der berühmtesten Rennbahnen Englands lagen. Der Trab verwandelte sich in einen leichten Galopp, und als sie schneller wurden, verschmolz die Landschaft zu einem angenehmen Flirren der Blätter. Das goldene Sonnenlicht des Spätherbstes, jetzt kurz vor Einsetzen der Dämmerung besonders intensiv, schimmerte im blauschwarzen Fell der Stute. Der Wind zerrte an Alex’ Haaren, die jedoch unter ihrer Reitkappe sicher mit Haarnadeln festgesteckt waren; lediglich ein paar Strähnen lösten sich und genossen die Freiheit.
Mit den Jahren war ihre Haarfarbe zu einem tiefen Schokoladenbraun nachgedunkelt. Auch ihr Leben war dunkler geworden, und vor allem das letzte Jahr hatte sie in eine nicht enden wollende Dunkelheit gestürzt.
Im Geiste überdachte sie die Auseinandersetzung noch einmal, während sie am Eingangstor Blackberry zügelte, damit sie langsamer wurde. Die Stute fiel in Schritt, und ihr Atem dampfte weiß aus den Nüstern in den verblassenden Nachmittag. Ein eisiger Hauch legte sich über die weite Rasenfläche des Parks. Alex durchlebte im Geiste noch einmal das unangenehme Gespräch. Wie ein Film lief es vor ihrem inneren Auge ab.
Ihr Vater in seinem Tweedanzug, der seinen Nachmittagstee trank und sich unglücklich bemühte, die kleinen Pfannkuchen zu missachten, die er so gerne aß, um dem schrillen Wortwechsel zwischen seiner Frau und seiner Tochter zu entkommen. Er war an die hohen Fenster getreten, die von schweren pflaumenblauen Samtvorhängen eingerahmt waren und schaute auf das Land, das den weitläufigen champagnerfarbenen Backsteinbau namens Tilsden Hall umgab. Die Frobishers lebten dort schon seit Jahrzehnten, und Alex wusste genau, dass sein Blick sich auf den Ententeich richtete. Instinktiv verstand sie, dass ihr Vater jetzt am liebsten zum Teich gegangen wäre, um die beiden Schwäne zu beobachten, die friedlich über die klare Wasserfläche glitten. Stattdessen musste er mal wieder eine Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Frauen in seinem Leben ertragen.
Alex beobachtete, wie ihre Mutter die Augen zu der grauslich bemalten Decke im Arts-and-Crafts-Stil, den ihre Vorfahren so sehr geschätzt hatten, hob. Minerva behauptete gerne, es sei »Volkskunst« aus der Vergangenheit, aber ihre Tochter empfand das Gewirr aus Blumen und geometrischen Mustern auf der Holzdecke nur als peinlich. Alex blickte ihre Mutter an. Minerva Frobishers gerümpfte Nase und die geschürzten Lippen vermittelten den Eindruck, sie wolle etwas besonders Widerwärtiges abwehren.
»Mutter«, flehte Alex. »Ich muss wirklich einige Entscheidungen selbst treffen dürfen.«
»Das kannst du doch. Du kannst wählen, ob du dich mit Edward St. John, Ashley Langdon-Smith oder Duncan Cameron formell verloben oder dir von allen dreien den Hof machen lassen willst.«
»Wenn die Entscheidung bei mir liegt, dann wähle ich keinen von ihnen.«
Ihre Mutter stieß einen leisen empörten Laut aus. Ihr Vater warf Alex einen sanft verzweifelten Blick zu, weil sie wieder einmal schlafende Hunde geweckt hatte. Sie erwiderte ihn mit einem kleinen entschuldigenden Schulterzucken. Sie wussten beide, dass er nun unweigerlich in die Diskussion hineingezogen werden würde, die er so gerne vermieden hätte.
»Charles!«
»Ja, meine Liebe?«
»Was hast du dazu zu sagen?«, fragte Minerva.
Ihr Vater trat an den Kamin; auf dem verrußten Eisengitter unter dem Kaminsims aus Mahagoni stand in erhabenen Lettern, dass er 1898 erbaut worden war. Er wandte den tanzenden Flammen den Rücken zu und ergriff einen warmen Pfannkuchen, den er sorgfältig faltete, vorsichtig, um auch nicht einen Tropfen von der weichen Butter oder dem glänzenden Gelee zu verlieren. Absichtlich biss er sofort hinein, um nicht antworten zu müssen, und nickte lediglich, um anzudeuten, dass er etwas sagen würde, sobald sein Mund wieder leer war.
Erneut stieß Minerva einen empörten Seufzer aus. »Alexandra«, fuhr sie fort, »du hättest schon vor Jahren heiraten sollen. Aber da du unser einziges Kind bist, haben wir dir immer nachgegeben. Wir haben dir viel Zeit gelassen, viel mehr als den meisten Töchtern, und außerdem bist du privilegiert aufgewachsen …«
»Dessen bin ich mir bewusst, Mutter«, erwiderte Alex, die sich sehr bemühte, ihre Worte nicht allzu scharf klingen zu lassen.
»Tatsächlich? Wirklich, Liebes, ist das so? Du gibst nämlich nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass du deine Rolle ernst nimmst.«
»Bitte …«, begann Alex.
»Während ich jeden Abend dafür bete, dass deine Cousins Hugh und George verschont bleiben mögen, fürchte ich doch täglich, dass sie uns jederzeit genommen werden können. Tausende von Männern sterben täglich. Irgendjemand in dieser Familie muss doch realistisch an die Zukunft denken. Ohne Peter …«
Alex unterbrach sie. Diese emotionale Reise wollte sie nicht schon wieder machen. »Ich weiß, Mutter. Ich soll heiraten und dir Enkel schenken, damit Tilsden erhalten bleibt. Das ist mir vollkommen klar.«
»Wir beide wollen das. Aber eigentlich sorge ich mich aufrichtig darum, dass sich jemand um dich kümmert, Alexandra. Dein Vater will dich vielleicht nicht drängen, aber ich weiß, dass Frauen nicht annähernd so viel zu sagen haben, wie sie es gerne hätten. Nun, wir können uns dagegen wehren, und bitte versteh mich nicht falsch«, sagte sie und hob einen Finger, »ich bin voller Bewunderung für mutige Frauen, die die Welt verändern wollen, aber unser Weg, mein Schatz, ist es, die Tradition zu bewahren. Ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber ich werde es trotzdem sagen, und zwar sehr deutlich, damit du dir völlig im Klaren bist, welche Rolle du in der Familie Frobisher spielst. Es kann nicht sein, dass du hanebüchene Ideen hegst und davon träumst, berufstätig zu sein! Du kannst nicht ernsthaft in Betracht ziehen, für ein Gehalt zu arbeiten – niemand würde dich mehr heiraten wollen. Außerdem verstehst du ehrlich gesagt auch gar nichts davon. Überlass das Geschäft den Männern in deinem Leben – das ist ihre Aufgabe. Deine, mein geliebtes Kind, ist es zu heiraten. Die meisten jungen Frauen haben keine solche Auswahl, aber wir lieben dich sehr und wollen, dass du glücklich wirst mit deiner Wahl.« Es war beeindruckend, wie streitbar ihre Mutter wirken konnte, auch wenn sie so liebevolle Worte wählte. »Jeder von ihnen ist in fast jeder Hinsicht ideal.«
»Es fehlt nur das Wichtigste.«
»Ich kannte deinen Vater kaum, als ich ihm versprochen wurde, und ich habe mich nicht vor der Pflicht, ihn zu heiraten, gedrückt, obwohl ich wesentlich jünger war als du jetzt. Und ich habe rasch gelernt, ihn zu respektieren.«
»Aber was ist mit Liebe, Mutter?«
»Natürlich liebe ich deinen Vater«, erwiderte Minerva. Ihre Empörung flammte erneut auf, aber sie wich ihr aus, dachte Alex.
»Nun, damit das klar ist, keiner dieser Männer spricht mich an.«
»Spricht dich an?«, fragte ihre Mutter verächtlich. »Was um alles in der Welt soll das denn heißen, Kind? In welcher Hinsicht sprechen sie dich nicht an?«
»In vielerlei Hinsicht.« Alex seufzte. »Um es ganz einfach zu beantworten: Edward ist aufgeblasen und hat schrecklich schlechten Atem; Ashley hat Angst vor Spinnen und schläft am liebsten bei Licht – das ist wohl kaum besonders heldenhaft! Jedenfalls spüre ich, dass Ashley sich von seinen Londoner Society-Freunden leicht beeinflussen lässt … Und Duncan … nun ja, Duncan ist Schotte.«
»Er erbt den Titel eines Lairds!«
»Genau. Will ich wirklich auf dem Ben Nevis versauern, Mutter?« Es gefiel Alex selbst nicht, wie herablassend sie klang. Diese Männer kämpften an der Front, riskierten den Tod, damit sie ihr privilegiertes Leben weiterführen konnte.
»Duncan empfindet große Zuneigung zu dir.«
»Natürlich. Seine Wahl ist begrenzt. Entweder ich oder ein Schaf, nicht wahr?« Manchmal rutschten ihre Gedanken ihr einfach so heraus. Obwohl sie sich dafür schämte, empfand sie einen hilflosen Anflug von Triumph darüber, dass sich ihr Vater an seinem zweiten Pfannkuchen beinahe verschluckte.
»Charles, wirklich!« Charles’ amüsierte Miene wurde ernst, als seine Frau ihn in missbilligendem Ton zurechtwies. »Ich verzweifle an dir, Alexandra Frobisher. Duncan hat etwas Besseres verdient.«
»Mutter, ich weiß, dass er deine erste Wahl ist, aber sei fair. Duncan will keine Frau, um sie zu lieben. Er will eine Gattin zum Repräsentieren, die ihm den Haushalt führt und ihm in diesen öden Highlands das Bett warm hält«, sagte sie gereizt.
»Wenn wir auf diese Art und Weise Erben bekommen, dann umso besser.«
Alex ließ seufzend die Schultern hängen. »Du kannst dir sicher vorstellen, dass die Camerons jeden Sohn eher als ihren Erben ansehen würden und nicht als deinen.«
»Das ist mir egal. Je eher du eine Familie gründest, desto besser. Dann weiß ich jedenfalls, dass es Kinder gibt, die zu gegebener Zeit für dich sorgen.« Die verzweifelte Stimme ihrer Mutter wurde lauter. »Wir brauchen Enkel … Enkelsöhne wären großartig.«
»Der Nachname eines Sohnes wäre Cameron, nicht Frobisher. Wie soll uns das helfen?«
»Sei nicht absichtlich so begriffsstutzig. Ich finde das höchst ärgerlich!«
»Minerva!« Ihr Vater hatte endlich seinen zweiten Pfannkuchen aufgegessen. »Nicht, meine Liebe. Dein Blutdruck ist hoch genug, das weißt du doch.«
»Charles, ich brauche hier deine Unterstützung.«
Er nickte, stellte Tasse und Untertasse ab, setzte sich neben seine Frau und ergriff liebevoll ihre Hand. Alex liebte ihren Vater dafür, vor allem, da sie wusste, dass sein größter Wunsch Harmonie war: seine Tochter glücklich, seine Frau zufrieden.
»Für euch beide ist das alles in Ordnung, Charles. Ihr lebt manchmal nur in eurer eigenen kleinen Welt. Und Alex ist durch und durch Daddys Liebling …«
Alex ließ ihre Mutter ihre Litanei herunterbeten und gratulierte sich selbst, weil sie sich zurückhielt und nicht einwandte, dass sie im Gegensatz zu anderen verwöhnten Töchtern aus dem Kreis ihrer Mutter ihren Vater nicht mehr »Daddy« nannte. Ihr war das modernere und weltläufigere »Dad« lieber.
Ihr Vater lächelte verlegen, aber dann nickte er und wandte sich an Alex. »Alex, Liebling«, begann er, und sie schenkte ihm ihre volle Aufmerksamkeit, weil sie wusste, dass seine Worte endgültig waren. »Diese Diskussion ist nur entstanden, weil du uns mutig deinen Wunsch mitgeteilt hast, in der Fabrik mitarbeiten zu wollen, wo sie Freiwillige suchen.«
»Ja, Dad. Und bei Rowntree’s kann ich auch Erfahrungen sammeln.«
Sie sah die vertrauten Fältchen um die Augen ihres Vaters, als er sie anlächelte, wobei die Grübchen in seinen Wangen tiefer wurden. In diesem Moment war sie wieder ein kleines Mädchen und blickte den einzigen Mann an, den sie vergötterte. Er lächelte viel zu selten … in ein paar Monaten jährte sich ihr Leid zum zwanzigsten Mal. Entschlossen schüttelte sie die düstere Stimmung ab. Ihr Vater warf seiner Frau einen stolzen Blick zu.
»Natürlich kann man dir nicht verdenken, dass du dich mit dem Hauptgeschäft hier vertraut machen willst, schließlich lebst du in York«, sagte er. »Deine Mutter möchte dir nur vermitteln, dass du – als unsere einzige, über alles geliebte Tochter – das tun musst, was wir von dir erwarten.« Er nickte, zufrieden mit seiner Wortwahl. »Wir sind keine Schokoladenmacher wie die Familie Rowntree und …«
»Wir sind noch nicht einmal Quäker«, warf Minerva ein und verzog dabei das Gesicht, als habe sie etwas Unbekömmliches gegessen.
Charles schüttelte den Kopf. »Es gibt zahlreiche andere Wege für deinen Freiwilligendienst. Und was deine Träume von deinem eigenen Geschäft angeht … Ich möchte dich zwar nicht rundheraus entmutigen, weil du immer schon ein ehrgeiziges Kind warst …« Er wehrte Minerva, die ihn unterbrechen wollte, ab. »Lass mich ausreden, Min, meine Liebe. Alex war immer schon ein unabhängiges Mädchen mit einer eigenen Meinung, und ich glaube, wir sind uns beide einig darin, dass sie feste Moralvorstellungen hat. Sie wird nie jemanden im Stich lassen, den sie liebt, am wenigsten uns, deshalb denke ich, dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen.«
Alex dankte ihrem Vater mit einem Nicken und einem zärtlichen Lächeln.
Doch er hob warnend den Finger, und ihr zog sich der Magen zusammen. »Frauen haben jedoch gerade jetzt Verantwortung ihren Männern, ihrer Familie gegenüber, um das Land heil durch den Krieg zu bringen. Du bist das einzige Kind, was uns geblieben ist, und wenn du deine Verantwortung nicht wahrnimmst, brichst du deiner Mutter das Herz.«
»Du könntest natürlich einen Rowntree heiraten … Sogar ein Cadbury wäre denkbar, um deinen Vater und mich glücklich zu machen«, warf ihre Mutter ein.
Alex ignorierte den Einwurf. »Dad, ich glaube, es könnte mich inspirieren, etwas über das Geschäft zu lernen. Bitte, ich erwarte mehr von meinem Leben als den sicheren Hafen der Ehe.«
Ihr Vater holte tief Luft, um anzudeuten, dass er sie verstand. Alex hob flehend die Hände, um ihre Frustration zu verbergen. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Stimme sie nicht verriet. »Jeder hier hat etwas mit Schokolade zu tun, und ich kann lernen, Dad. Verstehst du das nicht? Es wäre für mich schon eine Bereicherung, mich einfach nur in dieser Umgebung aufzuhalten.«
Das entsetzte Keuchen ihrer Mutter ließ Alex’ kleinen Ballon der Hoffnung platzen, und ihre Klage erstarb ihr in der Kehle. Statt süßer Freude empfand sie Bitterkeit.
Charles Frobisher blickte sie zärtlich an, was alles nur noch schlimmer machte, aber sie musste dagegen ankämpfen, ihm nicht zu zürnen. »Nein, mein geliebtes Kind, das geht nicht. Es ist nicht standesgemäß, in der Fabrik zu arbeiten – nicht für eine Frobisher.«
Alex versuchte die klare Absage zu überhören. »Gib mir eine Chance, Dad. Ich glaube, ich kann mir eine Karriere aufbauen und auch als Frau meinen Lebensunterhalt selbst verdienen.«
»Karriere? Hörst du dir eigentlich zu, Alex?«, sagte Minerva. »Du bist verblendet. Frauen haben keine Karrieren, um Himmels willen! Es mag ja sein, dass du moderne Vorstellungen hast, weil wir das Jahr 1915 schreiben, aber deine Aufgabe ist es, deinen Ehemann zu unterstützen. Du bist dazu bestimmt, einen bedeutenden Mann zu heiraten, so oder so, und die Mutter seiner Kinder zu werden. Wir müssen wissen, dass deine Zukunft gesichert ist. Das ist deine Karriere als eine Frobisher. Wir haben dich doch nie im Zweifel über deine Pflicht gelassen, oder? Töchter aus Familien wie der unseren müssen ihren Teil zur Zukunft der Familie beitragen. Es ist an der Zeit, dass du für alle deine Privilegien deinen Beitrag leistest.«
Alex hasste es ihre Eltern zu enttäuschen, aber warum konnten sie nicht verstehen, dass sie keines der Privilegien, auf die sie beide anspielten, wollte? Die Söhne ihres Onkels konnten gerne alles haben, wenn sie lange genug lebten, um zu erben. Aber sie würde diesen Kampf lieber an einem anderen Tag ausfechten. Sie gab nach, um die finstere Miene ihrer Mutter und die Enttäuschung ihres Vaters darüber, dass seine beiden Frauen solche Dickköpfe waren, zu besänftigen. »Ich kann im Moment niemanden heiraten, weil alle unsere Männer in Europa für ihr und unser Leben kämpfen. Dad, Mutter, bitte regt euch nicht auf; die drei Männer, von denen ihr redet, liegen höchstwahrscheinlich gerade im Schützengraben. Sie mögen ja meiner Meinung nach nicht geeignet sein, aber sie sind sicher gute Männer, tapfer und patriotisch.« Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter entspannte sich, und Alex verspürte Erleichterung. »Wir können keine wichtigen Entscheidungen über eine Ehe treffen, wenn die infrage kommenden Bräutigame in einem Krieg kämpfen. Ihr beide kommt aus einer anderen Zeit; ihr wurdet geboren, als eine Königin das Empire regierte, und seitdem hat es einen weiteren König gegeben. 1915 ist erst ein Vierteljahr alt, und wir müssen sicherlich noch mit einem weiteren Kriegsjahr rechnen …« Sie hob eine Schulter. »Keiner von uns weiß, was passieren wird, aber die moderne Frau in mir akzeptiert eben, dass wir den Fortschritt nicht aufhalten können, komme, was wolle. Deshalb werde ich natürlich heiraten, und ich werde euch natürlich auch Enkel schenken, aber ich weiß nicht, wen ich heiraten werde oder wann. Können wir uns darauf einigen, dass wir über Heirat erst wieder reden, wenn wir wissen, dass es Frieden gibt?«
»Abgemacht!«, sagte Charles und klatschte in die Hände.
Seine Frau blickte ihn ungläubig an.
»Alex hat recht, meine Liebe. Dieses Gespräch ist müßig, solange diese drei netten Jungs an der Front sind. Der arme alte Cameron wurde nach Belgien geschickt, nicht wahr?«
»Nun, sie bekommen auch Urlaub, oder?«, erwiderte Minerva.
Alex stöhnte.
»Das ist sicher so«, pflichtete ihr Vater seiner Frau bei.
»Wenn sie lange genug am Leben bleiben«, warf Alex ein.
»Aber ich denke, unser einziges, kostbares Kind sollte eine überlegte Entscheidung treffen, wenn die Welt weniger chaotisch ist«, fuhr ihr Vater fort. »Außerdem hat es doch keinen Zweck, wenn sie sich darauf einlässt, einen Mann zu heiraten, der möglicherweise gar nicht vom Schlachtfeld zurückkehrt. Stell dir doch nur einmal vor, was das für eine schreckliche Situation für uns alle wäre. Wenn sie dann schon verheiratet wäre, schwanger oder sogar ein Kind hätte?«
Bravo,Dad, jubelte Alex im Stillen.
»Genug, Charles.« Die untere Hälfte von Minervas Gesicht schien in ihrem Hals zu verschwinden, als ob sie verzweifelt versuchte, eine neue Angriffsstrategie zu entwickeln, aber sie konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. »Gut«, sagte sie schließlich. »Dann sind wir uns also einig? Alle? Sobald es Frieden gibt, kann ich innerhalb von sechs Wochen deine Verlobung bekannt geben, Alexandra?« Sie blickte sie beide erwartungsvoll an.
»Ich glaube, das ist nur fair«, sagte Charles zum Kamin gewandt. Erneut beugte er sich über das Tablett mit den erkaltenden Pfannkuchen.
»Du solltest keinen mehr essen, Liebling. Denk an deine Verstopfung.«
»Ja, meine Liebe«, sagte er und zwinkerte seiner Tochter verstohlen zu.
»Alexandra?«
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Mutter zu. Diesen Tonfall konnte sie nicht ignorieren.
»Ich möchte deine Zustimmung zu diesem Pakt, auf den wir uns als Familie einigen, laut und deutlich hören. Sechs Wochen nach dem formellen Eintritt des Friedens wirst du verlobt sein. Du wirst zu deinem Wort stehen. Ich dulde nicht, dass meine Tochter länger unverheiratet bleibt. Du gibst uns ein feierliches Versprechen, Liebling, nicht wahr?«
»Ja, ich stimme zu«, sagte Alex, und ihre Mutter nickte, scheinbar zufriedengestellt. Alex blickte zu den hohen Fenstern, durch die nachmittags immer das Licht fiel. Bis zur Dämmerung waren es noch ein paar Stunden, und sie brauchte unbedingt frische Luft.
In der Ferne hörten sie das Telefon klingeln, dann klopfte es an die Tür. Eine Frau mit vertrauter leidender Miene trat ein. Ihr oft düsterer Gesichtsausdruck verbarg ihre wahre, großzügige und freundliche Natur. Sie war schon vor Alex’ Geburt auf Tilsden gewesen, und Charles Frobisher hatte dem Drängen der Haushälterin nachgegeben, dass kein neuer Butler eingestellt werden müsse, solange so viele Männer im Krieg waren. Und so hatte die Haushälterin die meisten Pflichten eines Butlers übernommen.
»Ja, Lambton?«, sagte Charles.
»Mr Britten-Jones ist am Telefon, Sir.«
»Britten-Jones? In Ordnung, Lambton, danke.«
»Wer ist das, Liebling?«, fragte Minerva.
»Kannst du dich noch an das Ehepaar erinnern, das wir in Bath kennengelernt haben? Er hatte mit der Erweiterung des Transportnetzes im Westen zu tun.«
»Vage.«
»Mit rotem Gesicht, gebaut wie ein Steinblock. Altes Geld. Und auch neues Geld, eine Menge sogar – aber das brauchte er auch. Soweit ich mich erinnere, hatte er eine ziemlich große Familie.«
»Die Frau war dünn wie ein Gespenst und sehr klein, glaube ich.«
»Ja, genau. Nun, ich habe in den vergangenen zwei Jahren einige Schienengeschäfte mit ihm abgewickelt. Er ist ein netter Kerl. Ich mag ihn. Hervorragende Familie. Aber schon seltsam, dass er mich zu Hause anruft.«
Alex folgte ihrem Vater an die Tür und lächelte Lambton zu, deren ruhige und doch bestimmende Art sie bewunderte. Für Alex war sie so etwas wie eine Großmutter.
»Ich reite mit Blackberry aus«, verkündete Alex.
»Zieh dich warm an, Liebling. Es sind Wolken aufgezogen; wenn die Sonne hinter ihnen verschwindet, wird es kalt«, rief Minerva ihr fröhlich nach. »Heute ein einfaches Abendessen ein bisschen früher, um sieben. Mrs Morrison möchte sich das Stück anschauen, das sie in der Aula der St. Peter’s School aufführen.«
Alex blickte sich nach ihrer Mutter um, die sie voller Zuneigung anlächelte, als habe es den Streit über die Heirat nie gegeben.
Die eisige Kälte riss sie aus ihren finsteren Gedanken. Blackberry war bereits ein zweites Mal durch den Park getrabt, allerdings dieses Mal langsamer, und sie standen wieder am Eingang nahe der Hauptstraße, die von London nach York führte, vorbei an den eleganten, wohlhabenden Wohnsitzen von The Mount, wo auch ihre Familie lebte. Die Erinnerung an das Gespräch verblasste. Ihr Atem kam stoßweise, weil es so kalt war, aber ihr Ärger war bei dem schnellen Galopp verflogen, und sie sah die Dinge jetzt gelassener. Als sie das Pferd zügelte, trat ihre Zofe auf sie zu.
»Es wird frisch, Miss.« Holly beschirmte ihre Augen mit der Hand, um zu Alex hinaufzublicken. »Sie haben vorhin ein wenig traurig ausgesehen?«
Alex glättete ihren langen schwarzen Rock und zog ihn über die Schnürstiefel. Die herbstliche Kühle drang ihr durch das dünne Jackett. Sie hätte auf ihre Mutter hören und sich wärmer einpacken sollen.
»Manchmal ist es schwer, das einzige Kind zu sein – man steht einfach viel zu sehr im Mittelpunkt.« Sie straffte die Schultern. »Jetzt hör dir das an; ich klinge wirklich jämmerlich. Achte nicht auf meine selbstmitleidigen Worte, Holly.« Geschickt schwang sie ihr Bein über den Sattelknauf und ließ sich zu Boden gleiten. Sie zog die Zügel über Blackberrys Kopf, um ihr Pferd wegzuführen. »Sie wollen, dass ich mich für einen Heiratskandidaten entscheide.«
Holly verzog mitfühlend das Gesicht.
»Ist fünfundzwanzig wirklich schon so alt? Wo steht geschrieben, dass ich in diesem Alter verheiratet sein muss?«
Ihre Zofe lächelte sie verständnisvoll an, aber Alex wusste, dass auch Holly sie wahrscheinlich viel zu wählerisch fand. »Lady Frobisher liebt Sie über alles, Miss. Sie macht sich Sorgen um Sie und will nur das Beste. Sie ist nicht Ihr Feind.«
»Ich weiß, ich weiß.« Alex seufzte. »Ich bin mein eigener Feind. Meine Mutter meint es ganz sicher nicht böse. Sie ist einfach in dieser viktorianischen Auffassung gefangen, nach der das Leben jeder Tochter im Wesentlichen auf die Ehe zuläuft. So ist sie ja auch aufgewachsen. Sie will unbedingt, dass ich auch diesen ausgeprägten Familiensinn habe, vor allem seit …« Sie sprach den schmerzlichen Gedanken nicht aus. »Nun ja, Frauen wie meiner Mutter zufolge sollten Töchter keine Träume haben, die über die Führung eines Haushalts hinausgehen. Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt etwas lernen durfte. Verzeih mir, Holly, ich klinge schrecklich undankbar.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Miss. Wir alle haben Träume. Daran ist nichts Schlimmes.«
Alex Schuldgefühle wurden nur noch größer, als sie an Hollys Leben dachte, ihre endlosen Arbeitspflichten für die Frobishers bei nur einem einzigen freien Tag im Monat. Und den verbrachte sie hauptsächlich mit der Reise nach Burnley und wieder zurück, um ihre Eltern und ihre Geschwister zu sehen.
»Was für Träume hast du? Ehe? Familie?«
Holly zuckte mit den Schultern. »Ja, natürlich. Ich hoffe auf beides, aber für Romanzen ist natürlich kaum Zeit, wegen der Arbeit.« Sofort wandte sie den Blick ab. »Das soll kein Vorwurf sein, Miss. Ich liebe meine Arbeit bei Ihrer Familie.« Aber sie runzelte die Stirn.
»Was ist? Sprich weiter«, ermunterte Alex sie.
»Nun, ich wollte immer schon einen Laden haben«, gestand Holly. So viel Aufrichtigkeit hatte Alex nicht erwartet, und sie blickte sie überrascht an.
»Entschuldigung, Miss. Das war unpassend.«
»Nein, keineswegs … Ich bin fasziniert, wirklich. Einen Laden«, wiederholte sie beeindruckt. »Wirklich?« Sie nickte Holly, die verlegen lächelte, zu. Sie freute sich für ihre Zofe, die seit dem Antritt ihrer Stellung vor vier Jahren zu einer Vertrauten für sie geworden war.
»Jetzt bist du einundzwanzig, Alex, und wir schenken dir zum Geburtstag deine eigene Zofe«, hatte ihre Mutter in einem aufgeblasenen Tonfall zu ihr gesagt. »Herzlichen Glückwunsch, Liebling. Das ist Holly.«
Alex konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie sich für sich und stellvertretend auch für die junge Frau geschämt hatte. Holly wurde überreicht wie eine Sache, was Alex empörend fand. Sie hatte von Anfang an darauf geachtet, ihre Beziehung so ausgewogen wie möglich zu halten, ohne Aufsehen zu erregen. Und sie hatte entdeckt, dass die pragmatische Holly für ihre zwanzig Jahre sehr klug war. Oft war sie es, die die junge Debütantin davor warnte, sich zu eng mit dem Personal zu verbünden. »Eines Tages müssen Sie mich vielleicht entlassen«, hatte Holly einmal im Scherz gesagt, aber Alex hatte die tiefere Wahrheit dahinter gespürt.
»Warum hast du mir in all der Zeit nie davon erzählt?«
Holly lächelte. »Warum sollte ich es erwähnen? Es ist ja nur ein dummer Traum.«
Alex verbarg den leisen Schmerz darüber, dass Holly sie aus ihren innersten Wünschen ausschloss, obwohl sie doch in den vergangenen Jahren sehr zusammengewachsen waren.
Blackberry schnaubte ungeduldig, und Alex führte ihn in Richtung Stall. An der Eingangstür blieb sie noch einmal stehen.
»An was für einen Laden denkst du denn?«
»Mir hat immer ein Stoffladen vorgeschwebt, aber mittlerweile träume ich von einer Teestube oder einer Konditorei.«
»Oh, das ist ja wundervoll.« Alex meinte ihre Worte ganz ernst. »Noch nicht einmal Mrs Morrison kann so gut Tee oder Schokolade machen wie du.«
Holly legte eine Hand an den Mundwinkel. »Das liegt daran, dass Mrs Morrison über Tilsden den Kriegszustand verhängt hat, und so oft es geht, die Teeblätter mehrmals verwendet.«
Alex lachte. »Erzähl das bloß nicht meiner Mutter.«
»Wir tun unser Bestes, um die Familie vor den Einflüssen der Außenwelt abzuschirmen«, gestand Holly.
»Amen«, murmelte Alex. »Und wie läuft es in deinem Krieg, Holly?«
Holly seufzte. »Meinen jüngsten Bruder haben sie noch nicht nach Europa geschickt, aber meine älteren Brüder sind in Nordfrankreich, gemeinsam in einem Schützengraben, deshalb versuchen wir, optimistisch zu bleiben.« Sie zuckte mit den Schultern. »Obwohl die anderen Mädchen sagen, wie glücklich ich mich schätzen kann, verliebt zu sein, wäre es manchmal wahrscheinlich doch einfacher, keinen Schatz zu haben.«
»Weil man sich dann um eine Person weniger Sorgen machen muss?«
Holly nickte. »Aber das Leben hat anders entschieden, und ich habe meinen Freund. Doch ab und zu fehlen mir seine Küsse.« Sie kicherte. »Küsse brauchen wir doch alle, oder?«
»Ja. Und es ist schön, dass du von deinem Laden träumen kannst.«
»Finden Sie?«
»Warum fragst du das?«
»Weil ich nicht in der Lage bin, meine Träume zu verwirklichen.«
Alex blinzelte. Es dauerte ein bisschen, bis sie verstand, was Holly damit sagen wollte. »Aber ich schon?«
»Sie haben viele Freiheiten, Miss. Und solange Sie niemanden damit verletzen …«
Hollys herausfordernde Worte gaben Alex das Gefühl, aus einem dunklen Raum plötzlich in strahlendes Sonnenlicht zu treten. »Ich soll meinem Herzen folgen, meinst du?«
»Nein, das sage ich nicht. Es steht mir nicht zu, Sie zu ermutigen, sich gegen Ihre Eltern aufzulehnen, Miss«, sagte Holly, aber ihre Miene drückte deutlich das Gegenteil aus.
Alex schaute auf die Rennbahn gegenüber, deren große Grünfläche sich vor ihnen ausbreitete. In ein paar Wochen würde sie überfluteter Morast sein. Es war schon vorgekommen, dass die Leute darauf mit Booten gefahren waren, und im Winter gesellte sie sich für gewöhnlich zu der fröhlichen Schar, die Ende Januar dort Schlittschuh lief. In der Ferne, auf der anderen Seite der Rennbahn, sah Alex einen einsamen Mann, der auf seinem Pferd die Strecke entlanggaloppierte. Sie wusste, dass das Arnold Rowntree war, der Neffe von Joseph Rowntree, dem Wohltäter und Gründer der berühmten Schokoladenmarke. Er kannte ihren Vater, da sie beide mit der ständig expandierenden Eisenbahn befasst waren, aber wie sie in ihrer Arbeit miteinander verbunden waren, wusste sie nicht. Arnold war Anfang vierzig, rundlich, mit schimmernder Halbglatze und dicken Haarbüscheln über und hinter seinen Ohren. Bis vor Kurzem war er Abgeordneter der Liberalen für York gewesen, und alle hatten ihn nur liebevoll Schokoladen-Jumbo genannt. Aber als Direktor des Familienunternehmens und guter Quäker hatte Arnold auch den Kriegsdienst verweigert, was ihm in Kriegszeiten keinen besonders positiven Ruf einbrachte.
Alex kniff die Augen zusammen, dachte an ihre Cousins und Hollys Brüder und ihren Schatz, die in schlammigen Schützengräben lagen und jeden Moment ohne Vorwarnung getötet werden oder Senfgas einatmen konnten, während dieser dickliche, joviale, vor der Zeit kahlköpfige Mann so reich und privilegiert war, dass er scheinbar sorglos die frische englische Luft atmen und mit seinem Pferd über den Knavesmire galoppieren konnte. Und doch mochte sie ihn; was ihr Vater über seine ständigen guten Taten für die Stadt erzählte, vor allem darüber, dass er einen Teil seiner Fabrik als Lazarett für verwundete Soldaten zur Verfügung gestellt hatte, klang sehr nett. Es gab auch schon Pläne zum Bau einer Siedlung für die Fabrikarbeiter, damit sie aus den Elendsvierteln in saubere, gesunde und moderne Behausungen kamen. Die Tukes, denen das Unternehmen der Rowntrees früher gehört hatte, hatten sogar von Wiesen und Obstgärten umgebenes Land am Rand der Stadt gekauft und dort mehrere Gebäude gebaut, in denen Yorker Bürger mit Geisteskrankheiten in einer freundlicheren, weniger düsteren Umgebung gepflegt und untergebracht wurden. Es hieß Die Zuflucht. Ihre Mutter hatte gesagt, die Quäker hätten sich deshalb zum Bau des Sanatoriums entschlossen, weil eine Quäkerfrau im Bezirksasyl wegen mangelnder Pflege gestorben war. Alex schauderte. Das Irrenhaus des Bezirks war ein wuchtiges Backsteingebäude aus dem 18. Jahrhundert, in dem den Gerüchten nach die Geisteskranken schrecklich behandelt wurden. Sie musste Rowntree für seine Großherzigkeit einfach bewundern, auch wenn andere ihn einen Feigling nannten.
»Einen Penny für Ihre Gedanken, Miss!«
»Entschuldigung? Oh, tut mir leid. Da drüben reitet Arnold Rowntree. Sein Hengst heißt ›Geschäftsreise‹.«
»Das ist ein eigenartiger Name für ein Pferd.«
Alex grinste. »Nun, es heißt, dass er es ebenso hasste, Leute anzulügen, wie ihm der ständige Strom von Besuchern zuwider ist, die ihn jeden Tag wegen Kleinigkeiten heimsuchen.«
»Fahren Sie fort, Miss.«
»Mein Vater sagte, es erleichtere Schokoladen-Jumbos Seele, dass seine Dienstboten die Hand aufs Herz legen und einem Besucher sagen können, der Herr sei auf Geschäftsreise.«
Kurz herrschte Schweigen, dann warf Holly den Kopf in den Nacken, und beide Frauen lachten herzlich.
»Das ist köstlich, oder?«, fügte Alex hinzu. »Mir hat diese Geschichte immer gefallen, und das Wissen, dass es ihn schmerzt zu lügen, hat ihn mir umso sympathischer gemacht.«
»Die Leute reden dieser Tage nichts Gutes über die Quäker.«
»Das haben sie nicht verdient, weil sie so viel Gutes für York getan haben. Und wir sollten nicht vergessen, dass Söhne von Quäkern der Sanitätseinheit der Freunde beigetreten sind, um an der Front zu dienen.«
Alex führte Blackberry den Hügel hinauf, und Holly lief nebenher. Es war unheimlich still, wenn man bedachte, dass normalerweise auf der Straße nach London ständig Kutschen, Busse und sogar ein paar Automobile fuhren, deren Fehlzündungen auf dieser Hauptverkehrsader laut knallten. Oben auf dem Hügel lag The Mount, das geschützte Wohngebiet der Reichen und Mächtigen. Eine Enklave am Rand von Yorks dunklen, überfüllten mittelalterlichen Straßen … abseits der Elendsviertel und Märkte, der Warenhäuser und Verwaltungsgebäude, die alle innerhalb der mächtigen Stadtmauer lagen … abseits vom Schmutz und Drama des städtischen Lebens erstreckte es sich in einer sauberen, kultivierten Schönheit vor der Weitläufigkeit und der frischen Luft von Knavesmire. Alex musste nicht zweimal gesagt werden, wie privilegiert sie lebte; sie akzeptierte es und versuchte, es nicht allzu sehr auszunutzen.
Holly kam wieder zu ihrem ursprünglichen Thema zurück. »Und, was wollen Sie jetzt tun, Miss?«
»Ich will endlich überhaupt etwas tun!« Alex stöhnte. »Ich will etwas finden, was meine Fantasie beflügelt und mich herausfordert, und nicht nur einfach akzeptieren, dass ich jetzt, wo ich Mitte zwanzig bin, vergessen muss, dass ich Verstand und Ehrgeiz besitze, und nur noch zählt, wen ich heirate.«
»Wem soll es denn wehtun, wenn Sie Freiwilligendienst in der Fabrik leisten? Ich finde das eher bewundernswert. Jede Hand hilft.«
»Meiner Mutter würde es wehtun.«
»Das dürfen wir natürlich nicht zulassen. Und wenn Sie es ausgleichen?«
»Wie meinst du das?«
»Sie wissen schon, Notlügen. Solche, die einem verziehen werden.«
Alex lächelte. »Sprich weiter.«
»Nun, es werden ständig Freiwillige im Fabrikkrankenhaus gesucht. Vielleicht könnten Sie dort eine Schicht arbeiten, und dann ein paar Stunden am Tag in der Schokoladenfabrik …«
»Warum um alles in der Welt bin ich darauf nicht schon früher gekommen?«
»Ich verwette mein Häubchen darauf, dass Ihre Eltern Ihnen zustimmen werden, dass Sie dem Vaterland auf ehrenhafte Weise dienen, wenn Sie verwundete Soldaten pflegen.«
»Das würden sie beide zumindest als sehr nobel empfinden. Ich werde es gleich heute Abend beim Essen erwähnen.«
»Dinner ist heute Abend um sieben, Miss. Sie müssen sich beeilen, wenn wir Ihre Haare noch hochstecken und Sie rechtzeitig fertig machen wollen.«
Mittlerweile hatten sie das Haus erreicht. Alex blickte an der St. Peter’s School vorbei hinunter zur Blossom Street, die vom Kloster dominiert wurde, das für seine geheime Kapelle berühmt war, in der die mumifizierte Hand der Märtyrerin Margaret Clitherow aufbewahrt wurde. Nun, wenn Margaret der Reformation von Heinrich VIII. standgehalten, geheime Messen abgehalten und zudem noch verfolgte katholische Priester hatte beherbergen können, dann konnte Alex doch sicher den Mut aufbringen, sich auf so harmlose Weise ihren Eltern zu widersetzen?
»Kannst du dir vorstellen, wie schmerzhaft es gewesen sein muss, als Margaret Clitherow von dem riesigen Felsblock zermalmt wurde?«
»Oh, darüber möchte ich lieber nicht nachdenken, Miss.«
»Margaret Clitherow glaubte so fest an ihren Weg, dass noch nicht einmal die Angst davor, unter der mit Gewichten und Steinen beschwerten Tür zu sterben, sie abschrecken konnte.«
»Es heißt, es habe eine entsetzliche Viertelstunde gedauert, bis ihr die Steine das Rückgrat gebrochen haben«, sagte Holly.
Alex seufzte. »Und meine einzige große Leistung heute ist, mir die Haare hochstecken zu lassen und auszuwählen, was ich anziehen möchte. Es muss doch mehr im Leben geben, Holly. In Europa sterben Männer für mein Recht, ein Leben in Freiheit zu führen.«
Holly grinste. »Für heute Abend haben Sie Ihre Seele genug erforscht, Miss. Kommen Sie, wir bringen Blackberry in ihren Stall. Ich gehe mit Ihnen.«
Holly griff nach den Gagat-Ohrringen.
»Ich glaube, heute Abend trage ich nur die Kette«, entschied Alex. Sie neigte den Kopf, damit Holly ihr die lange Kette mit den dunkel schimmernden Perlen anlegen konnte.
Sie überprüfte ihre Kleidung im Spiegel und zupfte an der dunkelgrauen Spitze des mauvefarbenen Shiftkleids. Nichts an diesem Kleid wirkte altmodisch, und es bestand auch nicht aus so vielen Schichten, weil die Spitze in breiten Bändern aufgenäht war. Es war ein gewagter und schlanker Abschied von den hochgeschlossenen Ausschnitten und hohen Kragen, die ihre Mutter bevorzugte.
»Ich fühle mich durch und durch modern, Holly«, gestand sie.
»Sie sehen sehr schön aus, Miss.«
»Zweifellos werde ich sofort eine Diskussion darüber auslösen, dass ich zu viel Dekolleté zeige«, bemerkte Alex und ahmte den Tonfall ihrer Mutter nach. »Meine Frisur gefällt mir so auch sehr gut, danke dir«, sagte sie und wandte den Kopf zur Seite, um Hollys locker gesteckte Wellen zu bewundern.
»Jetzt sehen Sie so aus wie die Modelle in den Magazinen.«
Dass die oberen Locken nicht geflochten und festgesteckt waren, zeugte von der Unabhängigkeit, nach der junge Frauen strebten, und in Verbindung mit dem schmalen, eleganten Kleid rechnete Alex mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Wollen Sie diesen neuen Lippenstift auflegen?«, fragte Holly aufgeregt. Sie ergriff das neu entwickelte Röhrchen und bewunderte es. »Ist es nicht wundervoll?«
»Und nur ganz leicht aufsässig.« Alex grinste. »Meine Mutter glaubt, dass nur Frauen von zweifelhafter Moral ihre Lippen färben, aber es ist anscheinend völlig in Ordnung, sich in die Lippen zu kneifen, um den gleichen Effekt zu erzeugen. Das ist angeblich nicht darauf ausgerichtet, die Aufmerksamkeit der Männer zu erregen.«
»Meine Mutter hat uns immer zum Beerenpflücken in den Garten geschickt.«
»Nun, das ist sehr klug.« Alex nahm das Metallröhrchen und zog den Deckel ab. Beide Frauen beobachteten gespannt, wie sie den winzigen Stift an der Seite des inneren Röhrchens drückte, um das himbeerrosa Wachs hochzuschieben. »Das ist viel besser als diese Töpfchen. Ehrlich gesagt, Holly, ich finde es ziemlich öde, sich stundenlang anzuziehen, nur um sich ein paar Stunden später wieder auszuziehen, oder?«
Holly blickte über ihre Schulter in den Spiegel. »Ich mag diese Traditionen – vor allem, wie sich die Frauen für das Dinner zurechtmachen, und die Männer ihr Dinnerjacket und den Kummerbund tragen. Womit sollte ich meinen Lebensunterhalt verdienen, wenn ich keine Lady hätte, die ich für alle Gelegenheiten in ihrem Leben ankleiden muss?«
Alex blies die Wangen auf. »Wie machst du das nur, Holly? Du lässt mich jede Situation mit anderen Augen sehen.«
»Sie sind zwar eine moderne Frau, Miss, aber trotz all ihrer Rebellion werden Sie Ihrer Schönheit niemals entkommen können, selbst wenn Sie nur einen Sack trügen und nicht die leiseste Spur Rouge aufgelegt hätten.« Sie lächelten einander an.
»Du bist sehr großzügig, Holly, danke. Und die beste Antwort auf deine Frage ist, dass du dann eben keine Kammerzofe mehr wärst. Du würdest unabhängig sein und deinen eigenen Laden eröffnen.«
»Ich träume weiter, wenn Sie Ihr Abendessen genießen, Miss. Um wie viel Uhr möchten Sie zu Bett gehen?«
»Das kann ich allein. Möchtest du dir heute Abend nicht die Aufführung anschauen?«
»Ich habe nicht gedacht, dass ich das könnte.«
»Ich bin absolut in der Lage, die Haarnadeln aus meinen Haaren zu entfernen, ohne dabei Finger zu verlieren, und ich werde mir auch bestimmt nicht die Beine brechen, wenn ich mit einem Nachthemd kämpfe. Ach, und weißt du was? Leg meinen Lippenstift auf, wenn du ausgehst.«
»Wirklich?«
»Du wirst daran viel mehr Freude haben als ich.«
Holly stieß einen leisen Pfiff aus. »Danke. Ich verspreche Ihnen, ich nehme nur einen Hauch. Und ich lege Ihnen Ihr Nachtgewand zurecht.«
»Für den Fall, dass ich es nicht allein schaffe?«, neckte Alex sie und sprühte sich ein wenig Parfüm aus ihrem Flakon auf. Sofort umhüllte ein Duft von warmem Anis und frischer Bergamotte, vermischt mit den weicheren, pudrigen Noten von Rose, Veilchen und Pomeranzen die beiden Frauen.
Holly atmete tief ein. »Mmm, ich liebe diesen Duft.«
»L’Heure Bleue«, sagte Alex und stellte den viereckigen Flakon auf ihren Schminktisch. »Mein Cousin hat einen exzellenten Geschmack.«
»Was bedeutet ›Lerblö‹?«
Alex korrigierte die falsche Aussprache ihrer Zofe nicht. »Die direkte Übersetzung ist ›blaue Stunde‹ … kurz vor Einbruch der Dunkelheit, bevor die ersten Sterne am Himmel erscheinen.«
»Es klingt genauso, wie es duftet, Miss. Aber das soll wahrscheinlich auch so sein.«
»Ja. Wünsch mir Glück in meiner blauen Stunde, wenn ich mit unserem neuen Plan versuche, meine Eltern zu überreden, mir mehr Freiheit zu lassen.«
»Es wird Ihnen gefallen, Miss. Denken Sie an meine Worte. Sie werden stolz auf Sie sein, weil Sie im Lazarett arbeiten wollen. Oh, und heute Abend haben Sie Gesellschaft.«
Alex, die sich zur Tür gewandt hatte, blieb stehen. »Gesellschaft? Doch nicht etwa einer der langweiligen Kollegen meines Vaters aus der Stadt?«
Holly schenkte ihr einen wissenden Blick. »Doch. Aber ich habe den Herrn in der Halle gesehen. Er sieht sehr gut aus.«
Alex lief eilig die Treppe hinunter und blieb vor den prächtigen, dreigeteilten Fenstern stehen. In der mittleren Scheibe war mit buntem Glas ein Blumenkranz dargestellt. Normalerweise fiel Licht in die Eingangshalle, aber es wurde immer früher dunkel, da der Winter nahte, und die Dämmerung wurde immer kürzer. Lampen wurden angezündet, und das Licht der elektrischen Glühbirnen des großen Kronleuchters in der Empfangshalle fiel schimmernd auf das warme Holz der Wandpaneele. Rasch lief sie weiter, die Hand auf dem Handlauf des Geländers, der mit den Jahren ganz glatt geworden war. Auf der Abschlusssäule hatte Minerva eine Vase mit frischen Rosen arrangiert.
Anscheinend war der heutige Dinnergast ihrer Mutter wichtig, dachte Alex. Lautlos huschte sie auf ihren niedrigen Absätzen über den dicken Treppenläufer. Als Kind hatte sie hier immer mehrere Stufen auf einmal übersprungen, um sich in die Arme ihres Vaters zu werfen, wenn er aus London oder sonst einem exotischen Ort zurückkehrte. Er hatte immer Berge von Geschenken mitgebracht, vielleicht um sie für den Verlust zu entschädigen. Sie verdrängte den Gedanken, als ihre Absätze jetzt über die Fliesen der großen Eingangshalle klapperten. Ein Blick auf die große Standuhr ließ Alex zusammenzucken. Sie war viel zu spät.
Gerade wollte sie die Tür aufmachen, als sie sich von innen öffnete. Alex wurde förmlich ins Zimmer gezogen. »Da bist du ja endlich, Liebling.« Ihre Mutter keuchte leise. »Du liebe Güte, Alexandra, dein Kleid ist aber sehr Avantgarde.« Doch sie schien es nicht komplett zu missbilligen, sie wirkte eher beeindruckt. Offensichtlich standen Probleme bevor.
»Es ist von Lucile’s am Hanover Square«, murmelte Alex so leise, dass nur ihre Mutter sie verstehen konnte. »Entschuldige meine Verspätung.« Sie beugte sich vor, um ihrer Mutter einen Kuss zu geben. »Mein Ritt hat ein wenig länger gedauert, als ich beabsichtigt hatte. Guten Abend, Lambton.«
Die Haushälterin nickte und lächelte sie liebevoll an. »Miss Alex.«
Alex blickte durchs Zimmer. Sie standen im Hauptsalon, dessen Einrichtung die Liebe ihrer Mutter zu Arts and Crafts deutlich widerspiegelte. »Guten Abend, Dad … äh, guten Abend …?«, sagte sie zu dem blonden Fremden. Er trug einen schwarzen Abendanzug mit steifem weißem Kragen und Fliege. Alex verstand genug von der Schneiderkunst, um zu sehen, dass sein hochwertiger Dreiteiler in der Savile Row gefertigt worden war. Die tief ausgeschnittene schwarze Weste spannte ganz leicht, als er sein Glas abstellte, um sich zu erheben; offensichtlich war er jemand, der ein angenehmes Leben führte … und ein wohlhabendes.
»Alex, das ist Matthew Britten-Jones«, stellte ihr Vater ihn vor, »äh, aus Bristol.«
Britten-Jones war nicht ganz so groß wie ihr Vater, aber sein Lächeln deutete an, dass ihm das nichts ausmachte. »Guten Abend, Alexandra.« Sie bemühte sich, nicht allzu auffällig auf sein Monokel zu starren, das er ein wenig arrogant in sein rechtes Auge geklemmt hatte.
Alex trat an den Sofas vorbei zum Kamin, wo er stand, und gestattete ihm, kurz ihre Hand zu ergreifen. Sein Handschlag war trocken und im Gegensatz zu dem anderer Männer nicht übermäßig fest. Es kam selten vor, dass der Ring, den sie am Mittelfinger trug, nicht an den Knochen gepresst wurde. »Willkommen auf Tilsden, Mr Britten-Jones.«
»Nennen Sie mich bitte Matthew, sonst komme ich mir vor wie mein Vater«, sagte er liebenswürdig mit einer rauchigen, nicht unattraktiven Stimme, und ihre Mutter kicherte. »Sie wohnen prachtvoll hier. Das Gebäude ist riesig, und vor allem der Turm gefällt mir sehr gut.«
»Das ist Alexandras Turm«, warf ihre Mutter ein, und Alex sah entsetzt, dass sie Matthew zuzwinkerte.
Doch sie verlor ihr Lächeln nicht. »Wir können uns glücklich schätzen, hier auf The Mount zu wohnen.«
»Die Herrenhäuser hier oben blicken wie königliche Herrscher über die Stadt«, sagte er.
Alex war sich nicht sicher, ob das eine versteckte Kritik oder nur eine Beobachtung war.
Ihr Vater schien es als Letzteres zu verstehen. »Ja, in der Tat. York ist recht flach, und uns ist es gelungen, uns auf der einzigen kleinen Erhebung weit und breit anzusiedeln.«
»Wie gefällt Ihnen das Innere des Hauses, Matthew? Die meisten Leute sind überrascht davon«, sagte Alex.
»Es ist ungewöhnlich«, gab er zu. »Auf eine gute Art natürlich. So viel Farbe und Freude.«
»Nicht zu viel für Ihren Geschmack?«, fragte Alex nach. Sie wies auf die Wandbemalungen, die jeden Zentimeter der weißen Wände bedeckten. Auffällig waren auch die dunklen Böden und Holzpaneele. Während sie das sagte, trat sie zu ihrem Vater, der ihr einen sanften Kuss auf die Stirn gab.
»Du siehst hinreißend aus heute Abend, Liebes«, flüsterte er.
»Danke, Dad«, murmelte sie. Es machte sie ein wenig verlegen, wie Britten-Jones sie mit seinen Blicken verschlang, und sie fragte sich, ob es so eine gute Idee gewesen war, heute Abend so viel nackte Haut zu zeigen. »Diese Innenausstattung ist der letzte Schrei, müssen Sie wissen, aber meiner Mutter schien sie besser zu gefallen als alles andere.« Sie hielt ihre Worte für angemessen vorsichtig.
»Ja, ich bin äußerst fasziniert davon, dies hier sozusagen in Fleisch und Blut zu sehen«, fuhr Matthew fort, wobei er seine Worte so betonte, dass Alex unwillkürlich errötete. Minerva beugte sich mit fragender Miene vor. »Meine Mutter zeigte mir im Magazin The Studio eine Fotografie, die, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, vor etwa vierzehn Jahren aufgenommen worden sein muss.«
»Ach du liebe Güte, das ist das Jahr, in dem wir das Haus eingerichtet haben«, sagte Minerva erstaunt.
»Soweit ich weiß, ging es in der gesamten Arts-and-Crafts-Bewegung darum, der Industrialisierung etwas entgegenzusetzen.«
Alex spürte sofort, dass Matthew der geborene Charmeur war; er spielte wunderbar mit den Vorlieben ihrer Mutter.
»Das ist richtig«, sagte Minerva, sichtlich beeindruckt von seinem Wissen. »Charles ist kein so großer Anhänger der Bewegung, und Sie hören ja, dass meine Tochter seine Ansichten teilt. Auch unsere Nachbarn haben höchstens ein paar Elemente dieser Stilrichtung übernommen und sie nicht so angewendet wie ich, aber das ist mir egal. Ich habe nämlich William Morris, der so großen Einfluss auf diese Bewegung gehabt hat, kennengelernt, und er hat mich sehr inspiriert. Ich liebe ehrlich gesagt seine Kreativität und die künstlerische Gestaltung seiner Stoffe.«
»Er wäre sicher stolz darauf«, versicherte Matthew ihr und wies auf das mit Marmor eingerahmte blumige Mosaik einer in Schleier gehüllten Nymphe, um die Tauben herumflatterten. Dann wechselte er das Thema. »Und hier sind Sie natürlich auch weit entfernt von den Problemen in Europa.« Matthew nahm seinen zweiten Sherry entgegen, den Lambton ihm aus der Kristallkaraffe einschenkte. Ihre Mutter lehnte ab, ihr Vater ließ sein Glas auffüllen, und Alex nahm ebenfalls ein kleines Glas mit dem Aperitif.
»Lassen Sie uns darauf trinken«, sagte ihr Vater. »Und auf alle tapferen Seelen dort.«
Sie hoben ihre Gläser auf die Soldaten, und Alex nutzte die leicht verlegene Stille, die wie üblich darauf folgte, um sich neben ihre Mutter zu setzen. »Und, Matthew, was führt Sie in den Norden?«
»Geschäfte«, sagte er sachlich und wandte sich an ihren Vater. »Meine Eltern haben bei verschiedenen Gelegenheiten erwähnt, dass Sie in Gesellschaft so ein angenehmes Paar seien, Lord und Lady Frobisher, und ich hielt es nur für höflich, Ihnen einen Besuch abzustatten.«
»Es freut uns sehr, junger Mann, dass Sie das getan haben, vielen Dank«, sagte Minerva, und Alex hörte an ihrem Tonfall, dass ihre Mutter formell interessiert an ihm war.
Schon wieder, dachte sie. Und wieder sollst du verkuppelt werden. Ihr cremiger Sherry verlor seine Süße und schmeckte auf einmal schal. Sie musterte Matthew; er sah nicht unangenehm aus, wenn sie mal von seinen schmalen Schultern und dem jungenhaften Ausdruck absah. Als sie sich das erste Mal verliebt hatte, war es ein Mann gewesen, der doppelt so alt war wie sie, und seitdem fand sie ältere Männer wesentlich interessanter als Gleichaltrige. Er hatte ein offenes, strahlendes Lächeln, mit dem er in regelmäßigen Abständen ihre Mutter bedachte, ohne jedoch Alex dabei aus den Augen zu lassen – eine richtige Meisterleistung. »Wie lange bleiben Sie hier?«, fuhr sie fort, aber nur, weil er sie beobachtete.
»Oh, das hängt von meinen Geschäften hier mit Rowntree ab.«
Sie nickte. »Es ist eine schöne Jahreszeit«, fügte sie ein wenig lahm hinzu.
»Ich habe Matthew eingeladen, bei uns zu wohnen«, sagte Minerva und lächelte gütig.
Alex’ Laune wurde immer schlechter.
»Ja, das ist wirklich sehr großzügig«, bemerkte Matthew. Er trug eine Spur zu dick auf, fand Alex. »Nochmals vielen Dank; ich hatte gar nicht damit gerechnet, aber ich konnte Ihrer Mutter nicht widerstehen. Sie hat mich förmlich überredet.«
Alex stellte ihr Sherryglas ab. Sie würde seinem Geschmack heute Abend nichts mehr abgewinnen können. »Ja, sie liebt es, ihren Willen zu bekommen«, sagte sie.
»Nach heute Nacht werde ich mir jedoch selbst eine Unterkunft suchen. Vielleicht im Club, Sir? Wie sind die Zimmer?«
»Exzellent. Sie werden nicht enttäuscht sein.«
Erleichtert vernahm Alex, dass er seinen Aufenthalt nicht unnötig verlängern wollte. »Und werden Sie sich auch zur Truppe melden, Matthew?«
Sie entschuldigte sich hastig, als er bei ihrer Frage niedergeschlagen das Gesicht verzog. »Verzeihen Sie, das ist kein Thema für …«
»Nein, nein … das ist es nicht, liebe Alexandra.«
Jetzt schon »liebe Alexandra«? Ich kenne dich doch kaum, dachte sie.
»Ich habe bereits versucht, mich freiwillig zu melden«, erklärte er.
»Sie sind sehr eifrig, junger Mann«, sagte Charles. Er trank sein Glas aus, und Alex sah, wie er Lambton zunickte, die vermutlich von der Tür her ein Zeichen gegeben hatte.
»Ach, tatsächlich?«, sagte Alex, die ihre Überraschung nicht verbergen konnte. Ein Schatten umgab Matthew, aber sie konnte ihn nicht recht greifen. Auf jeden Fall erschien es ihr unwahrscheinlich, dass er zu jenen Männern gehörte, die so früh wie möglich an die Front wollten.
»Ja.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin der dritte von fünf Söhnen. Diese schreckliche Position in der Mitte. Meine älteren Brüder werden zu Hause gebraucht. Sie arbeiten beide im Familienunternehmen, und mein Vater kann sie gerade jetzt nicht entbehren. Meine Mutter weigert sich, ihre Nesthäkchen, meine jüngeren Brüder, herzugeben. Außerdem sind sie doch eigentlich der Grund, warum wir in den Krieg ziehen, oder? Wir stehen alle in der Verantwortung, unsere Jugend zu beschützen und in Freiheit heranwachsen zu lassen.« Alex kam es vor wie der Beginn einer Rede, die er hielt, aber sie sah, wie der Busen ihrer Mutter bei seinen bewegenden Worten wogte. »Und Sie glaubten, Sie seien entbehrlich?«, beendete sie den Satz für ihn. Leises Mitgefühl stieg in ihr auf.
»Wir können nicht alle hinter den Kulissen warten. Ich hob meine Hand und war darauf vorbereitet, zu den Waffen gerufen zu werden.«
»Äußerst lobenswert, Matthew, obwohl ich fürchte, dass es eine Wehrpflicht geben wird, der sich Ihre älteren Brüder nicht entziehen können«, murmelte Charles.
Minerva legte ihre Hand aufs Herz. »Wahrhaft tapfer, dass Sie sich freiwillig gemeldet haben«, sagte sie zu ihrem Gast.
Sie waren beide so beeindruckt, warum also hatte Alex das Gefühl, dass seine Worte einstudiert klangen? Lag es daran, dass er genau an diesem Punkt so eine theatralische Pause machte, um das Lob ihrer Eltern entgegenzunehmen? Es kam ihr vor, als habe er seine Erzählung inszeniert wie ein Theaterstück.
»Aber man hat Sie vermutlich abgelehnt, oder?«, warf sie ein, um diesen Bühnenmoment aufzulösen und ihn zum Weiterreden zu bewegen.
Er zuckte nicht mit der Wimper über die Unterbrechung. Stattdessen nickte er traurig, als ob er ihr dankbar sei. »Ja. Sehr zu meiner Enttäuschung. Ich bin leider nicht tauglich.«
Alex erwiderte den ständig amüsierten Blick aus seinen blauen Augen. Verblüfft sagte sie: »Warum das denn nicht?«
»Es ist ziemlich lächerlich«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durch die blonden Haare, die im Schein des Kaminfeuers rötlich schimmerten. Alex stellte sich vor, wie ihre Mutter sie wegen einer Entscheidung bedrängte, und sie das jämmerliche Argument anführen würde, dass sie um alles in der Welt keinen Rothaarigen heiraten könnte. »Ich bin kurzsichtig«, gestand Matthew und wies auf das Monokel. »Und vielleicht bin ich auch zu klein«, fügte er verlegen hinzu.
»Nun, ich bin auch nicht besonders groß«, unterbrach Charles Alex’ Gedanken.
»Nein, aber Sie sind groß genug, Sir. Wenn Sie sechsundzwanzig wären, hätte man Sie sofort genommen. Leider jedoch achtet man bei der Armee mehr auf meine kleine Statur als auf mein großes Herz«, sagte er. Er klang dabei so resigniert, dass ihre Mutter leise seufzte.
Alex war entschlossen, sich ihre Verachtung nicht anmerken zu lassen. »Wie schade für Sie, Matthew. Äh, hat Lambton nicht angekündigt, es gebe Abendessen, Dad?«
»Ja, in der Tat. Gut gemacht, Liebling. Lambton hasst es, wenn wir zu spät kommen, weil sie immer die Teller vorwärmt«, erklärte Charles in die Runde. »Sollen wir?« Er bot Alex den Arm.
»Lady Frobisher, gestatten Sie?«
Alex lächelte schmallippig, als sie sah, wie entzückt ihre Mutter darüber war, am Arm eines gut aussehenden jungen Mannes zu Tisch geführt zu werden. Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie fieberhaft nach Ausreden suchte, um sich von Matthew Britten-Jones nicht den Hof machen lassen zu müssen.
»Ach übrigens, stören Sie sich bitte nicht daran, dass wir keine Lakaien haben«, sagte Minerva zu ihrer Begleitung. »Sie sind alle im Krieg, und wir versuchen, so gut wie möglich allein zurechtzukommen.«
»Sehen Sie, Lady Frobisher, selbst Sie leisten Ihren Beitrag zu den Kriegsmühen.«
Alex warf ihrem Vater einen Blick zu. Er zwinkerte ihr zu.
Matthew ließ seinen Charme spielen, mühelos machte er Komplimente. Er zeigte ein tiefes Interesse an der Führung des Besitzes und den täglichen Herausforderungen, denen ihr Vater sich im Vorstand der North Eastern Railway und seinen Beteiligungen an Diamanten- und Goldminen im Kongo und in Ghana stellen musste, und spendete gleichzeitig der Köchin, Mrs Morrison, großzügiges Lob für das Essen.
»Wir lieben die einfache Kost hier im Norden, Sir«, antwortete Lambton für das Küchenpersonal, obwohl Alex feststellte, dass sie den Tisch mit dem Silberbesteck gedeckt hatte; ein weiteres Warnsignal für die Absichten ihrer Mutter.
»Nun«, sagte Matthew und klopfte sich mit beiden Händen auf den Bauch. »Allein die Suppe war herzhaft und köstlich.«
»Blumenkohl und Stilton. Ein altes Familienrezept«, warf Minerva ein und warf ihrer Tochter einen Blick zu.
Alex lächelte süß über den Rand ihres Weinglases. »Und gibt es keine Möglichkeit für Sie, doch noch in die Armee eintreten und in den Krieg ziehen zu können?«, fragte sie. »Ich halte es für äußerst lobenswert, und Sie würden den anderen Männern mit so großartigem Beispiel vorangehen.«
Wieder zuckte Matthew nicht die Spur. »Ich habe alles versucht. Wenn ich nicht das Gesetz breche, steht mir kein Weg offen.«
»Noch nicht einmal, sich mit Einlagen in den Stiefeln ein bisschen größer zu machen?«, schlug sie vor.
Ihre Eltern und Matthew schmunzelten.
»Ich bezweifle, dass sie darauf hereinfallen würden«, erwiderte er.
»Zumindest nicht in diesem Stadium«, sagte sie so leichthin, wie sie es wagte.
Er richtete seinen Blick von der zunehmend schwärmerischen Miene ihrer Mutter auf sie. »Ja, ganz richtig. Wer weiß, was passieren wird oder welchen Anforderungen sich England einmal gegenübersieht. Wenn das Land mich braucht, werde ich da sein.«
»Gut gesprochen, Sir«, sagte Charles und hob sein Glas. Seine Frau folgte seinem Beispiel, während Alex ihr Glas nur zögernd erhob. Sie konnte nur hoffen, dass niemand es bemerkt hatte. Sie tranken einen Schluck Wein und gaben leise zustimmende Laute von sich, während sie tranken.
»Und was ist mit Ihnen, Alex? Wie wollen Sie zu den Kriegsbemühungen beitragen?«, fragte Matthew und setzte sein Glas ab. »Das ist ein guter Claret, Sir«, sagte er, aber sein Blick wanderte sofort wieder zu ihr zurück.
Das war ihre Chance. »Äh, nun, ich bin sehr froh, dass Sie es erwähnen, Matthew, weil ich beschlossen habe, mich als freiwillige Schwesternhilfe zu melden.« Sie hatte ihre Worte in der Badewanne geübt und jetzt das Gefühl, genau den richtigen Tonfall zu treffen.
Schweigen senkte sich über den Raum, während sich ihre Eltern verstohlen schockierte Blicke zuwarfen. Die Blicke schossen an ihr vorbei wie Gewehrkugeln, aber sie schaute weder ihre Mutter noch ihren Vater an. Es war eine vernünftige Idee, die gewiss keiner von beiden ablehnen konnte.
»Nun, das ist wunderbar.« Matthew strahlte. »Ich höre nur Heldenhaftes über die tapferen Krankenschwestern an der Front, die unermüdlich Männer zusammenflicken und völlig Fremde auf mütterliche Weise pflegen. Ich bin sicher, dass hier in der Heimat die gleiche Pflege benötigt wird.«
»Genau«, sagte Alex leise.
»Ja, in der Tat«, murmelte Charles, der sich langsam für die Vorstellung erwärmte. Er nickte Lambton zu, damit sie ihm Claret nachschenkte. »Ich habe gehört, dass immer mehr Soldaten hier zu Hause intensive Pflege brauchen.«
»Rowntree hat die brandneue Kantine zu einem Krankenhaus umbauen lassen«, warf Alex ein. »Dort können zweieinhalbtausend Arbeiter zur gleichen Zeit essen. Stellt euch das mal vor!«
Matthew wirkte angemessen beeindruckt.
»Ich kann mich dort als Freiwillige sehr nützlich machen.« Sie lächelte. Als Lambton auch ihr nachschenken wollte, schüttelte sie den Kopf.
»Ich bin tief beeindruckt von Rowntree und auch von Ihrem Vorhaben, Alex«, sagte ihr Gast.
»Tatsächlich, Matthew?«, sagte Minerva verwundert.
»Ja, mich beeindrucken alle Engländerinnen, die so selbstlos jede freie Stunde nutzen, um die Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Alex’ Dienst im Krankenhaus verdient nur Beifall.«
»Nun, es freut mich, dass meine Tochter Sie beeindruckt, Matthew«, erwiderte Minerva und ignorierte Alex’ Blick, der sie zum Schweigen bringen wollte.
Matthew hatte das Monokel herausgenommen. Seine Augen schimmerten im Kerzenschein, als ob eine geheime Flamme darin lodern würde, und sein Blick wirkte leicht amüsiert. »Wann wollten Sie Ihren Freiwilligendienst denn leisten?«
Alex tupfte sich den Mund ab. Sie konnte es kaum glauben, dass er das Thema verfolgte und ihr damit so offensichtlich half. »Ich dachte, ich gehe morgen mal zu Rowntree und frage nach. Sie mussten auf ihre Art den Krieg unterstützen, da sie als Quäker ja den Dienst an der Waffe verweigern.« Sie ignorierte den ächzenden Laut, den ihr Vater von sich gab.
»Wie wäre es denn mit dem Krankenhaus in Swinegate in der ehemaligen Methodistenkirche? Wäre das nicht geeigneter, Liebling?«, überlegte ihre Mutter. »Ich glaube, Jennifer Houghtons Tochter hat dort auch ihren Freiwilligendienst geleistet, und möglicherweise arbeitet Alice Trubshaw ebenfalls dort.«
Verdammt! Das Militärhospital hatte sie ganz vergessen.
Als sie mit der Antwort zögerte, sagte Matthew: »Äh, ich habe zufällig auf dem Weg hierher einen Freund besucht. Er hat gerade sein Examen als Arzt gemacht und arbeitet im Militärhospital.«
»Ach ja?«, sagte Alex. Jetzt wurde ihr Plan wohl zunichtegemacht. Matthew hatte zwar zweifellos die richtigen Beziehungen, allerdings zum falschen Hospital.
»Ja«, erwiderte er. »Leider, Lady Frobisher, erwähnte er, dass sie Freiwillige in Swinegate abweisen und jeden, der dazu bereit ist, zum Krankenhaus von Rowntree schicken, wo dringend Hilfe gebraucht wird.«
Alex, die gerade ein Stück Brot essen wollte, blieb vor Überraschung fast der Mund offen stehen.
»Das haben Sie sicher auch gehört, Alex, oder?«, fügte er hinzu. Sein Tonfall war unschuldig, aber sie hatte das Gefühl, er zwinkerte ihr zu.
»Äh, ja, das ist – deshalb bin ich auf Rowntree gekommen. Letztes Jahr wurde im Hochsommer ein Lazarett in der Schule von The Mount eingerichtet, aber aus irgendeinem seltsamen Grund verwandelte die Stadtverwaltung alle Krankenstationen, die eingerichtet worden waren, wieder in Klassenzimmer, bevor das neue Schuljahr begann. Daher übergab Rowntree seine riesige Kantine als Quäkerlazarett der Sanitätseinheit der Freunde. Sie brauchen wahrscheinlich deshalb möglichst viele Freiwillige, weil in so kurzer Zeit so viele Soldaten dort aufgenommen wurden.«
»Ich finde es bewundernswert, dass du ihnen deine Dienste anbieten möchtest, Liebling«, sagte ihr Vater. »Es macht mich stolz.«
Alex blickte zu ihrer Mutter, die mit den Schultern zuckte. »Natürlich, Liebes, alles ist besser als Kisten in einer Fabrik zu packen. Bist du sicher, dass ich nicht mit den Houghtons oder Trubshaws sprechen soll? Sie könnten sich bestimmt dafür einsetzen, dass du im Militärkrankenhaus unterkommst.«
»Das ist lieb von dir, aber wie Matthew bereits sagte, brauchen sie im Quäkerlazarett einfach mehr Leute. Ich kann mit dem Fahrrad oder mit der Tram dorthin fahren.«
»Die pazifistische Sache hat aber so einen Hauch von Feigheit, Liebling, oder?«, murmelte Minerva. Sie versuchte, nicht zu aufgeblasen zu klingen, wirkte aber gerade dadurch voller Vorurteile.
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