Der Choreograph - Håkan Nesser - E-Book

Der Choreograph E-Book

Håkan Nesser

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Beschreibung

Ein Mann und eine Frau. Er sieht sie eines Tages, als der Winter vorbei ist; etwas zögerlich sucht sie ein Kleid in einem Laden aus. Sie gefällt ihm. Sie erwidert seinen Blick. So werden sie - gelenkt von einer unüberwindlichen Choreographie - zu einem Liebespaar. Fahren schließlich gemeinsam zu einem abgelegenen Ferienhaus. Aber warum verschwindet sie immer wieder? Und warum hält er auf einmal ein Messer in der Hand?

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Buch

Ein Mann und eine Frau. Er sieht sie eines Tages, als der Winter vorbei ist; etwas zögerlich sucht sie ein Kleid in einem Laden aus. Sie gefällt ihm. Sie erwidert seinen Blick. So werden sie – gelenkt von einer unüberwindlichen Choreographie – zu einem Liebespaar. Fahren schließlich gemeinsam zu einem abgelegenen Ferienhaus. Aber warum verschwindet sie immer wieder? Und warum hält er auf einmal ein Messer in der Hand?

Autor

HÅKAN NESSER, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt abwechselnd in Stockholm und auf Gotland.

HÅKAN NESSER

Der Choreograph

Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeiftung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Das Vorwort von Eugen C. Brahms wurde von Paul Berf übersetzt.Paula Polanski, die das Nachwort verfasste, schreibt auf Deutsch.

Copyright © 2020 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile

Umschlagmotiv: Mauritius Images GmbH

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26208-2V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Vorwort

Der Choreograph erschien 1988. Damals war es Håkan Nessers Debütroman, eine Liebesgeschichte in Form eines Thrillers, dessen Fortsetzung allerdings auf sich warten ließ. Erst fünf Jahre später wurde der erste Band der Van-Veeteren-Reihe veröffentlicht. Danach folgten, wie wir wissen, etwa dreißig Romane und ein paar Bände mit Erzählungen. Nun, da Der Choreograph zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegt, lässt sich das Buch wie ein Vorwort zu dem großen, bereits übersetzten Werk lesen, in dem später regelmäßig wiederkehrende Muster erprobt werden: Ein schwarzrot gemusterter Teppich à la Henry James wird für Van Veeteren, Barbarotti und all die anderen ausgerollt, um darauf zu schreiten, oder es ist ein rotschwarzer Stoff, in den man sich hüllt – etwas, von dem man sich absetzt oder in dem man sich verbirgt; der rot gekleidete Jogger, der fortan frei durch die Bücher läuft, hat seinen ersten Auftritt, als eine Art stellvertretender Leser; und rund um die Kirchenspitze des Doms in der Initialstadt K. sammeln sich die Dohlen, die später in großen, sorgsam choreographierten Schwärmen an zukünftigen Romanhimmeln umhertaumeln werden, murmuring, um mit der suggestiven englischen Vokabel zu sprechen, signalisierend, dass hier der Unterschied zwischen Leben und Literatur, Autor und Leser aufhört, hier wird alles ineinander und auseinander gedreht und gewendet.

Das Buch Der Choreograph mit dem gelb und schwarz gefleckten, spielzeugähnlichen Umschlag der Originalausgabe wird später eine Rolle in Nessers Roman von 2013 spielen: Wie in einem »Roman eines ziemlich bekannten schwedischen Schriftstellers« erlebt der dem Tode geweihte Literaturhistoriker die buchenwaldbewachsene Küstenlandschaft, in die ihn seine auf Rache sinnende, betrogene Ehefrau geführt hat. »Hol mich der Teufel, das ist hier wirklich fast genauso wie in dem Buch …«, wird das Letzte sein, was er in seinem Leben sagt, ohne zu ahnen, wie recht er doch hat; es ist genauso wie in Der Choreograph, als wäre der Roman auch ein Wiedergänger unter den Lebenden und Toten in Winsford.

Die Tatsache, dass Ulrike Fremdli ihren Mann, Kommissar Van Veeteren, vor nicht einmal einem Jahr ausgerechnet in Port Hagen zu Hummer und einem alten Margaux einlud, ist eine weitere Erinnerung an die Gegenwart des Choreographen im späteren Werk. Und dass der Ort, an dem sich in Der Choreograph alles zuspitzt, so scheinbar unschuldig in Der Verein der Linkshänder wieder auftaucht, sollte Grund genug für beunruhigende Überlegungen, zumindest aber für déjà vu-Gefühle, um nicht zu sagen déjà lu (schon gelesen)-Gefühle sein.

Ein anderes Element in Der Choreograph, das mir im Rahmen dieses Vorworts interessant erscheint, sind die kleinen Geschichten am Rande. So wirft jene von diesem Elfjährigen, der sich in das Ferienlager zurücksehnt, in dem er so schlecht behandelt wurde, beim Erzähler die Frage auf, warum ihm ausgerechnet das in den Sinn gekommen ist, obwohl er selbst doch nie in einer Ferienfreizeit war. Nein, die komplizierte Handlung und das exotische Milieu in Der Choreograph mit Jorge Luis Borges und Italo Calvino, die über der Landschaft der sechziger Jahre kreisen, ist so weit von einer realistischen Kindheitsschilderung entfernt, wie es nur geht. Und trotzdem ist die Nessersche Kindheitsgeschichte – wie wir sie in Kim Novak badete nie im See von Genezareth kennenlernen werden – nicht weiter entfernt als der Unterschied zwischen einem großen und kleinen Buchstaben: »Die Militärtransporte setzten in der Nacht von Montag auf Dienstag ein. Sie wurden mehrere Tage lang fortgesetzt, aber nur zur Nachtzeit. Tagsüber war alles wie üblich. Ich lag häufig wach im Bett und hörte, wie die Fahrzeuge draußen durch das Schweigen vorbeizogen«, heißt es auf Seite 116 in Der Choreograph. Schreibt man stattdessen jedoch »Das Schweigen«, könnte es auch um Ingmar Bergmans Film Das Schweigen gehen, der mit den gleichen, stark erotischen Anklängen wie in Der Choreograph den Zustand in der fremden, militärisch belagerten Stadt vor dem Hotelfenster beschreibt, hinter dem sich Ingrid Thulin, Gunnel Lindblom und der kleine Junge in Das Schweigen und David in Der Choreograph aufhalten. Das Schweigen lief Mitte der sechziger Jahre in K. wie in Kumla im Kino, als Håkan Nesser alt genug war, um Filme ohne Jugendfreigabe zu sehen, und er beeindruckte den werdenden Schriftsteller-Choreographen ganz offensichtlich sehr.

Nichts hindert einen jedoch daran, Der Choreograph heute zu lesen wie damals, als einen nach wie vor trügerischen Roman mit vielen losen Enden und vorerst nur angedeuteten Mustern …

Eugen G. Brahms, im November 2019

»Es sind Muster, in denen wir uns wiederfinden. Im Guten wie im Schlechten.«

Paula Polanski

I

Der Regen setzte kurz nach sechs Uhr ein.

Anfangs nur ein paar Tropfen, bleischwer in Erwartung des richtigen Augenblicks, als der Zug den Bahnhof verließ. Anschließend ein kurzer, erlösender Schauer, und dann, als die Geschwindigkeit gestiegen und die Bebauung spärlicher geworden war, ein anhaltender, wenn auch nicht besonders kräftiger Regen.

Es war ein heißer Tag gewesen, die Frau mir gegenüber schloss die Augen und holte tief Luft. Als versuchte sie, die erfrischende Wirkung des Regens aufzunehmen, obwohl die Luft im Abteil nicht eine Spur davon aufwies.

Ich schaute aus dem Fenster. Es war so ein Regen, der stundenlang andauern konnte. Es schien keinen Grund für ihn zu geben; entstanden aus dem Nichts heraus, und von meinem Standpunkt aus konnte es sich genauso gut um ein geographisches wie ein meteorologisches Phänomen handeln. Etwas, in das man einfach hineinfuhr und das man später hinter sich ließ, wie einen Wald oder einen Tunnel. Natürlich war es schwer, durch die Fensterscheibe hindurch eine Beurteilung abzugeben, sie war zwar sauber, verwandelte aber dennoch die vorbeigleitende Dämmerungslandschaft in eine Anzahl facettenreicher Wasserspiegelungen von nur kurzer Dauer.

Ein paar Zeilen einer östlichen Weisheit tauchten in meinen Gedanken auf:

Ich hatte einen Krug, und ich hatte ihn nicht.

Was vor allem von einem erzählt: der Unbeständigkeit der Dinge.

So sind sie, die Bedingungen, unter denen der Mensch lebt.

Plötzlich lächelte die Frau.

Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dieses Lächeln, aber sicher hätte sie etwas über das Wetter oder die Reise gesagt, wenn sie nur gewusst hätte, in welcher Sprache sie mich ansprechen sollte. Dass ich zumindest Deutsch verstand, das konnte sie vermutlich erraten, aber das Buch, das ich gerade beiseite gelegt hatte, zeugte von einer vollkommen fremden Sprache, vielleicht nicht einmal einer europäischen.

Stattdessen schloss sie erneut die Augen und atmete durch leicht geblähte Nasenflügel. Ich betrachtete sie halb unbewusst. Sicher, sie war eine schöne Frau, deren Busen sich jetzt unter dem blassblauen Baumwollkleid hob. Ihre Gesichtszüge waren markant, geradezu kraftvoll; ihr Haar stramm in einem Knoten zusammengebunden in der Art, wie es Frauen in meinem Land nie tun würden. Ihre Haut verriet eine levantinische Herkunft, und ich nahm an, dass sie unverheiratet war, da sie allein und unverhüllt reiste. Doch das war eine Überlegung, die mein Gehirn tätigte, ohne dass ich darum gebeten hatte, etwas, das sich einfach so ergab, da es nun einmal arbeitete. Ehrlich gesagt weiß ich sehr wenig über die Situation der Frauen in diesem Teil der Welt.

Dagegen war ich ziemlich überzeugt davon, dass sie um die fünfundzwanzig Jahre alt sein musste.

Sie öffnete die Augen. Wieder trafen sich unsere Blicke, und allzu schnell versuchte ich meine Aufmerksamkeit auf einen fliehenden Punkt draußen im Regen zu richten. Sie errötete.

»Haben Sie etwas dagegen, dass ich für eine Weile das Fenster öffne?«

Ich fragte auf Deutsch und machte gleichzeitig eine erklärende Geste in Richtung der Zeitschrift, die sie gelesen hatte und die jetzt auf ihren Knien lag.

»Nein, nur zu.«

In dem Moment geht die Beleuchtung im Abteil an.

Die Beleuchtung geht an, und der Zug legt sich in eine Kurve. Ein Pappbecher fällt zu Boden. Der Soldat, der die letzte Stunde unter seinem Soldatenmantel geschlafen hat, wacht auf und kratzt sich am Hals.

All diese Dinge treffen mehr oder weniger gleichzeitig ein, und bevor ich das festgeklemmte Fenster auch nur einen Zentimeter habe öffnen können, ist alles in einen anderen Zustand übergegangen.

Ich weiß auf jeden Fall, wo ich anfangen soll.

Ja, sollte es mir jemals gelingen, über alles einen Bericht zu schreiben, was heute nicht besonders wahrscheinlich erscheint, dann weiß ich zumindest das.

Der Zug und der Regen und die Frau.

Nein, nicht Maria, sondern diese unbekannte Frau.

Und der kurze Moment, in dem sich unsere Blicke begegnen, unmittelbar bevor sie errötet. Diese späten Nachmittagsstunden in dem fremden Land. Der Eisenbahnwaggon, der sich so sehr zur Seite legt, dass ich mich am Gepäcknetz festhalten muss, um nicht umzufallen; aber da ist es ja bereits deutlich später. Ich bin aufgestanden, um das Fenster zu öffnen, das Licht geht plötzlich an, und der Soldat in der Ecke erwacht.

Ja, das ist also der Ausgangspunkt, den ich unter Hunderten von möglichen aussuchen würde. Ich weiß eigentlich nicht, warum, aber in den schlaflosen Stunden der letzten Nächte hat dieses Bild alle anderen Bilder verdrängt.

Also ein Eisenbahnabteil, eine unbekannte Landschaft im Regen und eine unbekannte Frau. Das ist natürlich eine Art Sinnbild, aber für was genau, das weiß ich nicht. Wenn nun die Lebenszeit tatsächlich linear verliefe, wenn ein Geschehnis nur auf das andere folgte, morgen auf heute auf gestern, dann wäre es ja eine einfache Sache, alles zusammenzufassen, was ich mir einmal vorgenommen habe, aber jetzt habe ich nun einmal das Gefühl, der Ablauf des Geschehens wäre gewissermaßen kollabiert und in sich unstrukturiert, nicht nur in meiner Erinnerung, sondern auch in der Wirklichkeit. An und für sich. Als würden Bewusstsein und Welt zwar miteinander korrespondieren, aber auf eine andere Art als erwartet. Ja, wie zwei Formen des Chaos, die sich ineinander spiegeln. Auf jeden Fall habe ich so langsam die Erwartung begraben, ich könnte Ordnung in die Angelegenheit bringen, und die alte Frage nach Ursache und Wirkung erscheint mir an bestimmten Tagen geradezu lächerlich.

Obwohl ich mich natürlich erinnere. Natürlich erinnere ich mich. Einiges ist deutlich wie Steine im Glas. Es tritt in der Flut des Vergangenen an die Oberfläche.

Aber anderes ist trüb.

Muss mit einem Haken angelockt werden. Herausgezogen werden. Um es ans Licht zu ziehen.

Ja, die Zeitpunkte blitzen nur kurz im Strom meiner Erinnerung auf, aber zumindest kann ich noch zurückschauen. Vielleicht ist es die Arbeit an sich, die ich fürchte, die Anstrengung. Oder möglicherweise ist es so, dass ich trotz allem keinerlei Bedeutung im Ganzen zu sehen vermag, nicht einmal im bestmöglichen denkbaren Fall. Ich bin kein Schriftsteller, kein Mensch, der schreibt. Ich kann es nicht prinzipiell leugnen, dass mir der Prozess an sich gefällt, Buchstaben, Worte, einen Sinn zu formen, auf weißem Papier; aber nach vielen Stunden mit Stift und Notizbuch bin ich meistens nicht besonders interessiert an dem Ergebnis. Ich lese es selten, meist überfliege ich nur, was ich geschrieben habe, aber es löst nichts in mir aus. Die Worte huschen an mir vorbei. Es scheint, als wäre etwas dadurch, dass ich es niedergeschrieben habe, zu Ende gegangen. Als hätte die Sprache nur dazu gedient, einen Kreis zu schließen, einen Kreislauf zu vollenden.

Übrigens bin ich kaum mehr die Person, die ich früher gewesen bin. Ich habe mich durch und durch verändert, und viele würden mich sicher als einen kranken Mann ansehen. Wenn ich nun wirklich etwas zu berichten habe, dann sollte man mir gegenüber zumindest unendliche Geduld erweisen.

Aber klar fällt es mir wieder ein. Sicher kann ich mich daran erinnern, was gewesen ist. Ich erinnere mich zum Beispiel deutlich an diesen Soldaten (der mir übrigens sehr jung zu sein schien; viel zu jung, wie ich fand, um bereits in die Lumpen des Wahnsinns gekleidet zu sein), sobald er aufgewacht war und sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, war sein Interesse an dieser Frau geweckt, die ich vorher verstohlen betrachtet und schließlich auf Deutsch angesprochen hatte.

Er versuchte sich ihr zu nähern, ganz einfach.

Anfangs war er zwar einigermaßen zurückhaltend, aber schnell wurde er dreister, und es gab keinen Zweifel, wonach er trachtete. Zu meiner Verwunderung erkannte ich bald, dass der junge Mann Erfolg mit seinen Bemühungen hatte. Als er aus der Brusttasche seiner Uniformjacke ein Etui herausholte und der Frau eine Zigarette anbot, nahm sie sie nicht nur entgegen, sondern machte sich auch noch die Mühe, den Platz zu wechseln, sodass sie ihm direkt gegenüber sitzen konnte.

Die beiden rauchten, und währenddessen umschloss sie mit ihren Schenkeln die Knie des Jungen, die er eifrig unter ihr weißes Kleid geschoben hatte. Ich registrierte all das ohne Erregung, aber trotz allem war natürlich meine Neugier geweckt worden. Um die Ereignisse durch meine Anwesenheit so wenig wie möglich zu stören, tat ich, als wäre ich in meiner Ecke in Schlaf gefallen. Es bereitete mir dabei keine Schwierigkeiten, dennoch aus den Augenwinkeln den Soldaten und die Frau zu beobachten. Tatsächlich sah es so aus, als hätten sie mich vollkommen vergessen.

Die Frau umklammerte nahezu die Knie des Jungen mit ihrem Schoß und begann mit kleinen, fast unmerklichen Hüftbewegungen. Die freie Hand, jene, die nicht damit beschäftigt war, die Zigarette zu halten, ließ sie langsam über Nacken und Schultern streifen, und gleichzeitig betrieben sie eine Konversation, der zu folgen ich nicht in der Lage war. Doch sie schien äußerst alltäglich zu sein, einzelne Ausdrücke schnappte ich auf wie: Freitag, Fahrplan und hohe Temperatur.

Auch wenn ich für die beiden Agierenden nicht zu existieren schien, so konnte ich mir doch vorstellen, dass ich ein notwendiges Teilchen ihres erotischen Spiels darstellte. Dass ich vielleicht eine Grenze markierte, wie weit die Dinge ihren Lauf nehmen durften, oder dass ich eine Art Garant dafür war, dass die Dinge, die hier vor sich gingen, eigentlich gar nicht stattfanden, da ja ein Mann und eine Frau nicht einfach einen regelrechten Beischlaf in einem öffentlichen Zugabteil beginnen können, auch wenn sie einander vollkommen unbekannt und nicht vertraut waren mit den Sitten und Gebräuchen des Landes.

Also konnten wir, wir alle drei, uns etwas erlauben, was sich letztendlich nur um eine gemeinsame Fantasie drehte.

Die Frau arbeitete mit ihren Hüften im Takt zum Rhythmus des Zuges; weich, langsam, zielbewusst, alles, während die beiden rauchten und sich unterhielten. Ihr Blick war die ganze Zeit klar und vollkommen ruhig, wobei der Junge im Gegensatz dazu die Zigarette in immer kürzeren Intervallen zum Mund führte. Eine andere Form der Steigerung des Tempos oder der Intensität konnte ich jedoch nicht bemerken, bis die Frau sich plötzlich vorbeugte und den Hosenschlitz des Jungen öffnete.

Ich schluckte, was ich vielleicht nicht hätte tun sollen, da mich so im selben Moment ein Hustenanfall ereilte.

Die Frau zog ihre Hand zurück, und plötzlich war der Zauber gebrochen. Sie richtete sich auf. Schaute an mir vorbei aus dem Fenster. Gähnte. Machte bestimmte Bewegungen, die andeuten sollten, dass sie es leid war, während der langen Fahrt still sitzen zu müssen, und dass sie überlegte, ob man nicht bald angekommen war.

Ich sah ein, dass es keinen Zweck hatte, noch einmal zu versuchen einzuschlafen. Als ich einen Blick auf den Jungen warf, schien er mir außerdem dankbar zu sein, dass ich ihm einen Grund gegeben hatte, sich aus dem Spiel zurückzuziehen.

Vielleicht war er, wenn man alles in Betracht zog, einfach zu jung.

Vielleicht war er in seinem tiefsten Inneren ein äußerst kluger und vorsichtiger Soldat.

Wie dem auch sei, jedenfalls näherten wir uns erneut einem Ort. Menschen tauchten auf dem Gang draußen auf, Taschen wurden in verschiedene Richtungen geschleppt, ein Kind wurde in der Nähe geweckt und jammerte, und dann kam der Schaffner und teilte uns mit, dass wir in wenigen Minuten die Stadt K. erreichen würden, mein Ziel, und der Ort, der in gewisser Weise den Rahmen für das bildet, was im Folgenden erzählt werden soll.

II

Hier wird wirklich heftig Dialekt gesprochen.

Ich konnte der Wortflut des Taxifahrers nicht folgen. Natürlich musste er mir unbedingt in blumigen Worten mitteilen, wie erfreut er darüber war, dass ich ihn in seiner Sprache angeredet hatte. Dieses isolierte Relikt, das offensichtlich in diesem Bereich des Landes eine ganz eigene Entwicklung durchgemacht hatte, deutlich unterschieden von der offiziellen Variante.

Oder besser gesagt: gar keine Entwicklung.

Der Verkehr war stark und lärmend in der Dämmerung. Auf den Bürgersteigen drängten sich Horden von Menschen, in alle Richtungen, in die Geschäfte und aus ihnen heraus. Der Asphalt dampfte nach dem Regen, überfüllte grüne und blaue Straßenbahnen schaukelten auf der Mitte der Fahrbahn, schwarz-blaue Verkehrspolizisten dirigierten auf den Kreuzungen, hier und da blinkten resignierte gelbe Ampellichter. Zwischen dunklen, tropfenden Pappeln konnte ich einen schmalen Streifen des violetten Himmels mit unruhig dahinziehenden Wolken erkennen.

Plötzlich überwältigte mich das alles. Die Menge an Sinneseindrücken wurde zu groß, und ein Schwindelgefühl bemächtigte sich meines Bewusstseins. Plötzlich schien es mir, als stünde die Zeit still. Als wäre es nicht möglich, weiter als genau bis zu diesem Moment zu kommen, an dem wir uns gerade befanden.

Dann merkte ich, wie die Übelkeit in mir aufstieg. Ich erkannte sie wieder, fast wie einen alten Bekannten. Die üblichen Zeichen; ein helles Flimmern am Rand des Gesichtsfelds und ein eigenartiger, kaum wahrnehmbarer Geschmack von Metall auf der Zunge. Ähnliche Symptome haben mich im letzten Halbjahr in regelmäßigen Abständen ereilt; ich wusste, dass sie mit der Zeit abklingen würden. Es ging nur darum, es ruhig angehen zu lassen, Aufregung zu vermeiden und stattdessen zu versuchen, die Aufmerksamkeit auf etwas Einfaches, leicht Handhabbares zu richten.

Ich konzentrierte mich auf den Unterarm des Fahrers.

Den rechten.

Der war sehr kräftig und mit dichtem, dunklem Haar bewachsen, er lag dort neben mir, im Anschein absoluter Ruhe, die Hand war um den Knauf des Schaltknüppels gekrümmt, und er schien ganz für sich zu existieren, unabhängig und außerhalb jeden Zusammenhangs, sowohl was seinen unbegreiflich daherschwatzenden Besitzer als auch jedes andere Objekt im Universum betraf.

Ein Arm, dachte ich. Ein Unterarm.

Ich sitze in einem Taxi in der Stadt K. Es hat aufgehört zu regnen, und neben mir liegt ein vollkommen ruhiger Unterarm.

Ich presste fest die Augenlider zu.

Langsam näherten wir uns einem mittelalterlichen Stadtkern.

Wir fuhren durch die zerfallene Ringmauer hindurch; eine gotische Kathedrale türmte sich vor uns auf. Hier drinnen dämpfte sich der Verkehrslärm. Plötzlich dominierten die Krähen das akustische Bild, hoch oben schwebten ihre schreienden Klagerufe um den gen Himmel strebenden Kirchenturm. Die Begleiter der Ewigkeit.

Die Straße verengte sich, und bald bewegten wir uns gar nicht mehr voran. Ich machte dem Fahrer ein Zeichen, dass ich aussteigen wollte, und wurde direkt vor der Kathedrale herausgelassen. Ich bezahlte, gab unnötig viel Trinkgeld, nicht vertraut mit dem Wert der fremden Scheine, und blieb erst einmal stehen, die Hände in den Taschen des Manchestermantels. Mit Hilfe meiner Reisetaschen gelang es mir, in dem Menschengewimmel eine Nische des Stillstands herzustellen, ich zündete mir eine Zigarette an und suchte aufs Geratewohl und noch nicht ernsthaft nach einem Hotelschild; bereitete mich still vor, indem ich für mich eine Frage formulierte, doch bevor ich einen vorbeieilenden Passanten hatte anhalten können, tauchte in meinen Gedanken ein Verdacht auf, die Befürchtung, dass es hier überhaupt keine Herberge geben könnte. Dass es sich herausstellen könnte, dass man diesen Begriff gar nicht kannte.

Denn wer kam schon auf die Idee, ausgerechnet diese Stadt zu besuchen?

Wer konnte den Plan aufstellen, überhaupt in dieses Land zu reisen? Und unbedingt hier übernachten zu wollen? Was hatte ein Fremder hier zu suchen?

Denn es war zweifellos etwas verwunderlich, dass alle Menschen so hastig an mir vorbeieilten. Ich begann mich zu fragen, woher sie kommen mochten und wohin sie mit dieser Entschlossenheit auf dem Weg waren. Hatten sie tatsächlich einen so viel triftigeren Grund, sich auf diesem Platz zu befinden, als ich?

Ich versuchte in dem Gewimmel einen Augenkontakt herzustellen. Versuchte ein Gesicht zum Anhalten zu bewegen. Doch vergeblich, mein Blick war nicht durchdringend genug.

Und die Dunkelheit setzte schnell ein.

Bevor das Gefühl der Resignation zu überwältigend wurde, ergriff ich meine beiden Taschen und begann mich mit dem Strom fortzubewegen; auf das zu, was ich dunkel als Zentrum der Stadt erkennen konnte. Eine Markthalle vielleicht. Ein alter Marktplatz, ein kommerzieller Kern … Ich bewegte mich unbeholfen voran und verursachte hier und da einen Stau, die Leute mussten auf die Straße zwischen die Autos treten, wollten sie um mich herumkommen. Ich begann zu schwitzen, die Taschengriffe schnitten mir in die Hände, und ich wünschte, ich hätte Verstand genug besessen, alle Bücher in den Koffer zu packen, ihn bei der Gepäckaufbewahrung zu lassen, um ihn erst in ein paar Tagen am Bahnhof abzuholen.

Genau gesagt am übernächsten Tag. An dem meine Ankunft vereinbart war. Es gehörte schon immer zu meiner Ästhetik, rechtzeitig zu erscheinen. Und sich kleine private Nischen in der Zeit zu erlauben, das war früher etwas fast Unvermeidliches in meinem Leben gewesen. Sich ein gewisses Maß an Zeit zu gönnen, das sozusagen frei von jeglicher anderen Zeit war. Während einer langen Reihe von Jahren habe ich diese Stunden als die wahren Schwerpunkte meines Daseins betrachtet. Als wären sie in sich das Ziel und der Sinn all meines Strebens gewesen.

Wobei es sich um ein paar Stunden handeln konnte oder nur um zehn Minuten. Oder um einen Tag, wie jetzt, oder um zwei.

Nicht berechnete Zeit, so bezeichnete ich sie immer. Da mir nichts wirklich zufriedenstellend garantieren konnte, dass ich tatsächlich meinen Ruhestand im Herbst des Lebens würde genießen können, was war da klüger und natürlicher, als zu versuchen, sich diese Belohnung bereits zu holen, solange noch Zeit dafür da war? Und ich gewöhnte es mir an, dass der einunddreißigste Tag im Monat mir gehörte, die vierundzwanzigste Stunde am Tag, ein paar Sekunden jeder Minute.

Zumindest früher habe ich in diesen Bahnen gedacht.

Vorher.

Ob das immer noch von Bedeutung sein mochte, davon hatte ich zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung. Indes gab es auch keinen Grund, diese Gewohnheiten zu ändern, die mir einst so gut begründet erschienen waren.

Ich blieb stehen. Stellte die Taschen ab und wischte mir mit dem Mantelärmel über die Stirn.

Eine Pension. Hotel Kraus.

Es handelte sich um ein ziemlich heruntergekommenes Haus von der Jahrhundertwende am V-Platz, dem kleineren von zwei Marktplätzen in der Altstadt. Ich bekam ein Zimmer im vierten Stock. Als ich das Fenster öffnete, um den Naphthalingeruch loszuwerden, konnte ich das Glockenspiel der Kathedrale ganz in der Nähe hören. Der Himmel war inzwischen blauschwarz geworden, aber hellere Wolken zogen immer noch eilig gen Norden, und die Krähen krächzten.

Ich machte mir nicht die Mühe, mehr auszupacken, als ich für die Nacht brauchte, aber das Schreibheft, mein dickes Schreibheft mit dem Lederumschlag, das holte ich heraus. Ich überprüfte, ob die Schreibtischlampe funktionierte, und dann legte ich das Buch dorthin, mitten auf den Tisch, auf der ersten leeren Seite aufgeschlagen. Anschließend setzte ich mich zur Probe auf den Stuhl, mit einem meiner drei Druckbleistifte in der rechten Hand, den Kopf leicht nach links geneigt. Einen Moment lang blieb ich so sitzen, während ich der Stadt lauschte, die da unten in warmem Dunkel lärmte.

Dann spürte ich plötzlich, dass ich hungrig war. Unerträglich hungrig.

Ab und zu, vielleicht besonders zu dieser Zeit, kam es vor, dass mich Hungerattacken überfielen, die ich kaum zügeln konnte, und ich erinnere mich, wie ich damals an dem wohlwollend exponierten Busen der Hotelbesitzerin hinter der kleinen Rezeption vorbeieilte, die mir einen sanften, in keiner Weise impulsiv erotischen Blick zuwarf. Nein, stattdessen kam mir ein Säugling in den Sinn, ein unschuldiges Kind, das sicher und geborgen an dieser mütterlich weichen Brust ruhen konnte, sich satt essen und seinen verdienten Schlummer schlummern durfte. Übrigens berührte ich sogar ganz kurz ihre Hand, als ich den Zimmerschlüssel abgab, und diese fühlte sich warm und überraschend vertraut an.

Das Restaurant lag im Souterrain, eine halbe Treppe führte von der Straße hinunter, und ich bekam einen Tisch gleich am Eingang. Ich bestellte ein Gericht, das, wie sich herausstellte, Fleisch und Zwiebeln enthielt, trank einen Schluck von dem roten Wein, den der Kellner mir auf den Tisch gestellt hatte, ohne dass ich darum gebeten hätte.

Ich schaute mich um. Es war ein sehr kleines Lokal, ich zählte ein Dutzend Tische, von denen die Hälfte besetzt war. Noch war es früh am Abend, sicher würden in ein paar Stunden alle Tische besetzt sein. Die Einrichtung erinnerte an einen Herrenclub, die Wände waren von dunklem Eichenfurnier bedeckt, unterbrochen von gerahmten Jagdmotiven und Regalen mit verschiedenen Krügen und Pokalen in Zinn und Kupfer. Das Inventar war einfach und rustikal, aber die Tischdecken makellos weiß.

Ich trank mehr von dem Wein, der einen kräftigen, fast rauchigen Geschmack hatte, und mir fiel auf, dass ich durch die schmalen Fenster hoch oben unter der Raumdecke die Füße der Leute sehen konnte, die auf der Straße vorbeigingen, draußen auf dem Bürgersteig. Während ich auf mein Essen wartete, nutzte ich die Gelegenheit, dieses Phänomen zu studieren, und es gelang mir, nicht weniger als fünf neue Gäste vorauszusagen, deren Füße ich zunächst vor dem Fenster hatte stehen sehen, zögernd, sicher die Speisekarte vor der Tür studierend, und kurz darauf auf dem Weg die Treppe herunter. Mit dazugehörigen Körpern, Köpfen und allem. Zusammen mit dem Alkohol, der seine Wärme in meinen Adern verbreitete, gab mir das, zumindest zeitweise, das Gefühl eines Wohlempfindens. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, mein Dasein unter Kontrolle zu haben.

Aufzeichnungen vom dritten September. Nein, zweiundvierzig Jahre sind kein Alter, das man so ohne Weiteres abtun kann. Das ist natürlich nicht möglich, genau genommen ist es schon seit langer Zeit nicht mehr möglich. Seit sehr, sehr langer Zeit. Ich kann nicht erwarten oder mir wünschen, dass der Teil des Weges, den ich noch zu wandern habe, so lang gestreckt sein wird und so viel frischen Proviant enthalten wird, dass es die Mühe wert ist, ihn nur um seiner selbst willen zu beschreiten. Nein, meine Zukunft ist kurz, viel zu kurz, um unabhängig von der Vergangenheit betrachtet zu werden.

Wenn die Tage und die Kräfte blass und zerbrechlich werden, dann muss das Neue, jede Erfahrung, jeder Eindruck, sich nicht nur in ihr spiegeln, sondern auch Nahrung aus ihr holen, wachsen und sich vollenden im Licht der Zeit, die verronnen ist. Ja, nur so ist es mir möglich, das Jetzt vor mir herzutreiben. Nur so bin ich in der Lage, die Bewegung fortzusetzen.

Und deshalb befinde ich mich hier. Ich werde eine Zeit lang in diesem Land verbringen, und ich werde darüber nachdenken und darüber schreiben, was gewesen ist. Über den Stein in meiner Brust.

Dass alles dort draußen verändert ist, das weiß ich nur zu gut, aber in meiner Wahrnehmung ist auch etwas kaputtgegangen. Vielleicht sind das auch nur zwei Seiten einer Medaille. Auf jeden Fall kommt mir die Welt nicht mehr so vor, wie sie mir früher erschienen ist, es scheint mir, als umgebe sie sich mit neuen, fremden Vorzeichen. Es ist vorgekommen, dass ich, wenn ich an eine bestimmte Sache denken will, nach einer Weile feststelle, dass ich dasitze und an das Wort denke, nicht an die Sache an sich.

Und kürzlich dachte ich in einem Restaurant plötzlich, dass das Paar am Tisch mir gegenüber kein Gesicht mehr hatte. Und das Streichquartett, das aus irgendwelchen Lautsprechern erklang, erreichte mich nicht mehr. Wenn ich stattdessen vor mir auf dem Tisch ein Papier liegen gehabt hätte, mit dem Wort Streichquartett darauf, wäre es ein und dasselbe gewesen.

Und als man mir endlich das Essen brachte, wurde mir klar, dass nicht einmal mein Hunger wirklich vorhanden war.

Aber vielleicht ist es ja so, dass ich erst jetzt das wahre Gesicht der Dinge sehe. Vielleicht rührt mein Gefühl der Undeutlichkeit und der Abwesenheit nur daher, dass ich es nicht gewohnt bin. Dass ich es noch nicht gelernt habe. Ich möchte vorläufig davon ausgehen, dass es sich wohl so verhält. Was mich zu einer Neugier zwingen würde, die mir gewiss sowohl bei meiner Arbeit als auch in meinem Leben von Nutzen sein wird.

Doch was ich jetzt in den Fokus stellen sollte, das ist dieser berauschende Frühlingsmorgen. Ein Frühlingsmorgen, so fern von dieser dunklen Nacht, als unbekannte Insekten um das Licht auf meinem Schreibtisch surrten, hier in dieser unbekannten Stadt. Es ist schon so spät, und der Wein hat mich betäubt; ja, ich habe tatsächlich darauf bestanden, noch eine Flasche zu kaufen, die ich mit auf mein Zimmer genommen habe. Darauf bestanden, obwohl das eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre. Der Kellner hatte bereits meiner ersten vorsichtigen Anfrage zugestimmt, aber der Dialekt hier ist einfach unverständlich.

Auf jeden Fall fließen die Sätze jetzt ohne jeden Widerstand aus dem Stift. Ich fülle eine Zeile nach der anderen in meinem großen Buch mit dem angenehm weichen Umschlag. Ich fahre mit der Hand über meine Bartstoppeln, die ich morgen früh abrasieren werde, bevor ich mich hinaus in die Stadt begebe. Ich sehe, dass es schon sehr spät ist.

Aber dennoch will ich eine Weile weiterschreiben. Noch will ich hier sitzen und die alten Bilder heraufbeschwören. Und am liebsten möchte ich mich dem fremdesten aller Tage nähern.

III

Der 16. April 19..

Heute ist es genau zehn Jahre her, dass Irene und ich geschieden wurden.

Ich wachte leichten Herzens auf und rief sofort an, um zu zeigen, dass ich niemand bin, der ein Ereignis vergisst.

Es läutete mehrere Male, und ich wollte schon auflegen, als ich eine Antwort bekam. Natürlich war es Klaus. Irene war bereits aus dem Haus, aber ich könne es gern abends noch einmal versuchen. Es war seiner Stimme anzuhören, dass sie am Vorabend Wein getrunken und sich gestritten hatten.

Dann nahm ich ein Bad. So ein richtiges Schaumbad mit Lavendelduft; ich ließ die Badezimmertür offen stehen, damit ich Mozarts 19. Klavierkonzert hören konnte, während ich versuchte, die Morgenzeitung in dem Schaum zu lesen. Die Musik wirbelte in der Wohnung herum, blies den Winterstaub aus allen weit geöffneten Fenstern, hinaus über die Stadt; wenn ich die Augen schloss und meinen Kopf an den Badewannenrand lehnte, hatte ich das Gefühl zu fliegen, als schwebte ich auf der Musik, hoch über dem Lärmen und Treiben der Straßen. Das war so einer dieser Tage.

Ich habe drei Zimmer und Küche. Hundert Quadratmeter genau, mitten in der Stadt, siebter Stock. Ich versuchte mich in die feuchte Zeitung zu hüllen, was mir nicht besonders gut gelang, also warf ich sie in eine Ecke. Stellte mich vollkommen nackt ans Fenster und schaute über die Welt. Überall war Himmel, hoher Himmel, eine verschwenderische Sonne und Vögel, die so hoch flogen wie noch nie zuvor. Es war Frühling, der Winter war vorüber.

Wir waren nur zwei Jahre lang verheiratet gewesen, Irene und ich. Zwar hatten wir einander bereits ziemlich lange gekannt, als wir zum Rathaus gingen, aber ein sogenanntes Paar waren wir erst ein paar Monate lang gewesen. Dennoch war ich der Meinung, dass es höchste Zeit für uns war, zu heiraten. Hätten wir länger gewartet, wäre sicher nie etwas daraus geworden. Ich glaube, das spürten wir beide. Wir passten ganz einfach nicht zueinander.

Bevor ich mit Irene zusammen war, hatte ich eigentlich nur eine Frau gekannt, mit der es ernsthafter verlief. Natürlich hatte es daneben die eine oder andere kürzere Affäre gegeben, aber man kann mich kaum als einen Mann ansehen, der sein Leben dem schönen Geschlecht gewidmet hat oder etwas in der Art. Auf jeden Fall nicht zu dem Zeitpunkt, von dem hier die Rede ist.

Wenn ich an diesem schönen Frühlingstag mein Leben ausgerechnet von diesem Aspekt aus summieren sollte, was ich tatsächlich tat, während ich mir mein Frühstücksbrot abschnitt, dann war ich achtundzwanzig Jahre lang Junggeselle gewesen, zwei Jahre verheiratet und zehn geschieden. Ich war kinderlos und mittleren Alters, physisch in ziemlich guter Form, mit einem nicht wirklich unvorteilhaften Äußeren sowie einem akzeptablen finanziellen Status, wie er sich aus einer Festanstellung an einer Universität ergibt.

Übrigens schnitt ich mir dabei in den Finger. Es dauerte seine Zeit, bis ich ein Pflaster gefunden hatte, und als ich es abends abzog, war ich bereits ein anderer Mensch.

Die Uhr des Doms schlug gerade halb, als ich auf die Straße trat. Zwei dumpfe Schläge, die es gerade so schafften, den grellen Sonnenschein zu durchdringen. Ich hatte noch viel Zeit bis zu meinem Termin. Ich achte darauf, möglichst viel Zeit zu haben.

Ich ging am Fluss entlang. Achtete darauf, nicht zu schnell zu gehen, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich wäre auf dem Weg zu etwas Besonderem, schon gar nicht auf dem Weg zu einem Arbeitsplatz. Die Menschen lächelten. Es war offensichtlich, dass dieses einer der Tage war, an dem niemand auf dem Weg zu einem bestimmten Ziel war. Man befindet sich einfach irgendwo auf der Welt mit dem gleichen Recht wie ein Tiger, der unter einem Baum am Rande der Savanne liegt und seine Beute verdaut.

Ja, so in der Richtung dachte ich, und dann blieb ich auf der Brücke stehen und betrachtete das Wasser; stellte einen Fuß auf die unterste Geländersprosse und blieb so stehen, leicht vorgebeugt, und schaute in die Strömung. Peitschende weiße Schaumwirbel in tiefschwarzem Wasser. Zweifellos eine Strömung in Moll, aber gegen diesen starken Tag konnte sie nichts ausrichten.

Ich hob meinen Blick, und erneut überfielen mich Frühlingsgefühle, jetzt mit so einer Kraft, dass ich für einen Augenblick wie benommen war. Ein Opfer dieser berauschenden, fast gekünstelten Gefühlsstimmungen, die wie eine Sturzwelle über einen kommen und die so sehr viel besser zu Frauen und Kindern passen. Oder Kälbern.

Natürlich hatte ich mich schnell wieder im Griff und setzte meinen Weg fort, aber mit pochenden Schläfen. Ich erinnere mich, dass ich dachte, man sollte an so einem Tag und mit so einem Lebensgefühl wirklich versuchen, etwas Prägnantes zu formulieren, und eine Weile überlegte ich, wie ich es ausdrücken würde.

Wenn der Mensch nun ein Geschöpf ist – zu diesem Gedanken kam ich schließlich –, das die Erde hervorgebracht hat, damit er sich selbst betrachten kann, dann bin ich heute der ideale Betrachter.