Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz - Kathryn Lasky - E-Book + Hörbuch

Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz Hörbuch

Kathryn Lasky

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Beschreibung

Der kleine Faolan wird mit einer leicht verdrehten Pranke geboren und von seinem Clan verstoßen. So verlangt es der Brauch der Wölfe: Welpen, die anders sind, werden ausgesetzt. Überleben sie, werden sie wieder in den Clan aufgenommen. Faolan hat Glück im Unglück, denn eine Grizzlybärenmutter nimmt sich seiner an. Doch dann verschwindet die Bärin nach einem Erdbeben spurlos und Faolan macht sich auf, sie in den Frostlanden zu suchen. Band 1 der abenteuerlichen Tierfantasy-Reihe von Bestseller-Autorin Kathryn Lasky!

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Zeit:3 Std. 47 min

Sprecher:Stefan Kaminski

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2014Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© Ravensburger Verlag GmbHAlle Rechte dieses E-Books vorbehaltendurch Ravensburger Verlag GmbHPostfach 2460, D-88194 RavensburgDie Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Wolves of the Beyond. Lone Wolf bei Scholastic Press.Copyright © 2010 by Kathryn Lasky. All rights reserved. Published by Arrangement with Scholastic Inc., 557 Broadway, New York, NY 10012 USA. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich.Verwendete Fotos von Straublund/Getty Images und Critterbiz/Shutterstock.Vorsatzkarte: Wahed KhakdanLektorat: Franziska JaekelDeutsch von Ilse RothfussISBN 978-3-473- 47520-9www.ravensburger.de

In unserer Wolfssprache bedeutet das Wort Hoole einfach „Eule“. Du siehst, mein Freund, ich bin dem Geist von Hoole gefolgt, als ich die Meinen aus dem eisbedeckten Land herausgeführt habe.Aus dem ersten Buch der Legenden von Hoole

Noch bevor sie das erste Ziehen in ihrem Bauch verspürte, brach die Wölfin auf, um eine abgelegene Wurfhöhle zu suchen. Sie wusste instinktiv, dass diese Geburt nicht wie die vorigen sein würde. Seit Tagen irrte sie nun schon umher und sie fühlte, dass ihre Zeit bald gekommen war. Bis jetzt hatte sie nichts gefunden, was ihr als Bau dienen konnte. Nur ein paar flache Gruben, die aber nicht geeignet waren, denn sie boten keinen Schutz. Obwohl es schon fast Frühling war, konnte das Wetter blitzartig umschlagen und die Welpen würden erfrieren. Das Geräusch ihrer jungen, wild schlagenden Herzen würde unter einer dünnen Eisschicht verebben, bis der Herzschlag schließlich ganz aussetzte und nur noch Stille herrschte. Die Wölfin hatte das schon einmal erlebt. Sie hatte ihre Jungen damals so lange geleckt, bis ihre Zunge ganz ausgetrocknet und blutig gewesen war, aber gegen das Eis hatte sie nichts tun können. Das hier war ihr dritter Wurf. Und diesmal, das wusste sie, musste sie ihre Jungen weit weg vom Rudel zur Welt bringen. Fern von ihrem Clan, ihrem Gefährten und vor allem von der Obea.

Dann endlich, in der Nacht des fünften aufgehenden Mondes, der jetzt wie eine Eissichel tief am Horizont hing, fand sie einen Spalt unter einem Felssims. Sie roch ihn, noch bevor sie ihn sah. Der Fuchsgeruch war durchdringend. Hoffentlich war es keine Wurfhöhle. Nur ein Fuchs, lieber Lupus!, flehte sie im Stillen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Bloß keine Jungen, mit denen sie sich anlegen musste.

Und sie hatte Glück – es war tatsächlich nur ein Fuchs. Eine Füchsin, die bald werfen würde. Die Wölfin verjagte sie, nahm den Bau in Besitz und richtete sich für die Geburt darin ein. Nur der Fuchsgeruch hing immer noch in der Luft. Gut, dachte sie. Durch den Tarnduft war die Höhle zusätzlich gesichert. Sie wälzte sich in dem Kot, den sie in der Nähe fand, und schnaubte bei dem Gedanken, was die Kleinen von ihr denken würden. Aber egal – Hauptsache, sie blieben am Leben. Notfalls auch ohne den Clan.

Und dann war es so weit. Drei Junge brachte sie zur Welt. Zwei lohfarbene wie ihr Vater, das dritte silbergrau. In den Augen der Wölfin waren alle drei vollkommen. Es dauerte eine Weile, bis sie den kleinen Makel an dem silbergrauen Jungen entdeckte – eine leichte Spreizung der Vorderpfote. Als sie die Pfote genauer untersuchte, entdeckte sie unten am Fußpolster eine schwache Spiralzeichnung, die wie ein wirbelnder Stern aussah. Das war seltsam, aber sicherlich keine Missbildung.

Es ist auch nur eine geringfügige Spreizung, tröstete sie sich. Das Kleine war also kein Malcadh, wie das alte Wolfswort für „ein Verfluchter“ lautete. Es war nur ein winziger Makel, der sich in den nächsten Tagen hoffentlich verwachsen würde. Die abstehenden Zehen würden sich vielleicht wieder anlegen und die Zeichnung am Fußpolster war so wenig ausgeprägt, dass sie keine Spur hinterlassen würde. Das silbergraue Junge war stark. Gierig saugte es an ihrer Zitze. Trotzdem war es gut, dass sie diese abgelegene Wurfhöhle gefunden hatte.

Behutsam schleifte sie ein Junges nach dem anderen tiefer in den Bau hinein, der zum Glück mehrere Gänge hatte, die in eine Nisthöhle mündeten. Hier konnte sie die nächsten Tage bleiben, sich mit ihren Jungen einrollen und sie im stillen Dunkel der Höhle säugen, solange es ging. Nur zu bald würden die Kleinen unruhig werden. Wenn ihre Augen endlich aufgingen, würden sie den blassen Lichtschein suchen, der von fern durch die Öffnung des Baus hereinsickerte. Das Licht würde sie genauso magisch anziehen wie die Milch in ihren Zitzen oder später der Geruch von Fleisch. Aber wenn sie sich versteckt hielten, würden sie überleben. Das silbergraue Junge würde immer stärker werden, bis die drohende Gefahr durch die Obea allmählich verblasste wie eine alte Duftspur, die von Wind, Regen und Schnee weggewaschen wurde.

Der Wölfin blieben nur wenige Stunden für ihre schönen Zukunftsträume.

In einer Welt, die jedem anderen Wolf unberührt erschienen wäre, hatte Shibaan, die Obea des Clans der MacDuncan, die Spur der Wölfin entdeckt. Als Obea war sie dafür zuständig, missgebildete Jungtiere aus der Wurfhöhle fortzutragen. Nur unfruchtbare Wölfinnen, die keine Mutterinstinkte entwickelten, wurden für diese Arbeit ausgewählt. Da eine Obea ohne eigene Nachkommen war, hatte sie einzig das Wohl des Clans im Blick, der nicht gesund und stark bleiben konnte, wenn missgebildete Junge in ihn hineingeboren wurden. Die Regeln waren genau festgelegt. Das missgebildete oder kranke Junge musste von der Obea an einem abgelegenen Ort ausgesetzt werden, wo es entweder verhungerte oder von anderen Tieren gefressen wurde. Wenn das Junge trotzdem überlebte, durfte es zum Rudel zurückkehren und als Knochennager, als rangniedrigstes Tier, sein Leben fristen. Die Mutter eines Malcadh durfte dagegen nicht zurückkommen. Sie wurde mit ihrem Gefährten vom Clan ausgestoßen, weil die Blutlinie durch sie verseucht war. Wenn die beiden überlebten, mussten sie sich trennen und in unterschiedlichen Clans ein neues Leben beginnen, denn ihr Schicksal war fortan mit einem Makel behaftet. Es konnte nur zum Guten gewendet werden, wenn sie sich mit einer neuen Blutlinie vermischten.

Shibaan hatte gelernt, misstrauisch zu werden, wenn ein trächtiges Weibchen kurz vor der Geburt „auf Abwege“ ging, was „heimlich fort“ bedeutete. Als erfahrene Obea fiel sie natürlich nicht auf die Tricks der Wölfin Morag herein, obwohl Morag ihre Spuren gründlicher verwischt hatte als die meisten anderen, das musste sie ihr lassen. Morag hatte nur in Bäche oder eisfreie Teile des Flusses uriniert und keine Duftspuren hinterlassen, um ihr Territorium zu markieren. Ein gewöhnlicher Wolf hätte die Hinweise auf den Fluchtweg der verzweifelten Mutter nicht bemerkt. Aber Shibaan war kein gewöhnlicher Wolf und auch keine gewöhnliche Obea. Selbst winzigste Spuren entgingen ihr nicht. Ein Büschel Silberhaar, das sich an einer Distel verfangen hatte. Kratzspuren an einem Felsen, der Morag als Fußhalt beim Überqueren eines Baches gedient hatte. Ein leichter Duftschwall – nicht von Morag, sondern von einem anderen Wolf, der vor Shibaans geistigem Auge wie ein Wegweiser aufflackerte. Die Botschaft war klar: Mein Territorium, Oberleutnant des Clans der MacDermott. Eine Warnung an einen Außenseiter, der dem MacDermott-Land zu nahe gekommen war. Sieh an, dachte Shibaan, Morag hat die MacDermott-Grenze überschritten. Wie tollkühn von ihr!

Dann fing sie Fuchsgeruch auf, allerdings keinen reinen Fuchsgeruch. Erschöpft schüttelte die Obea den Kopf. Ich finde sie immer, egal welche Tricks sie anwenden. Und Shibaan hatte Recht. Der Fuchskot vor dem Bau enthielt einen Fellfaden, der wie ein silbriger Wimpel im Wind zitterte. Er verriet ihr, dass sich im Inneren der Höhle eine Wölfin verbarg, die ganz klebrig vom Fuchskot sein musste, aber dennoch nach neugeborenen Jungen und warmer Milch duftete.

Ertappt. Ohne Wenn und Aber. Die Mütter von Malcadhs wehrten sich nie. Sie wussten, dass jeder Widerstand zwecklos war – und den sofortigen Tod aller Jungen zur Folge hatte.

Während Shibaan das Junge mit der gespreizten Pfote im Maul forttrug, starrte ihr Morag so lange nach, bis die Obea nur noch als dunkler Fleck am Horizont zu erkennen war. Wie gut Shibaan für diese Aufgabe geeignet war. Als ob die Jahre der Pflichterfüllung und des bedingungslosen Gehorsams jegliche Regung, jegliche Vorstellungskraft in ihr ausgelöscht hätten. Die grünen Augen der Obea waren vollkommen leer gewesen, ohne Licht oder Tiefe, ohne einen Funken von Gefühl. Wie trockene Kieselsteine, die in der Sonne ausgebleicht waren und nahezu alle Farbe verloren hatten.

Das silbergraue Junge hatte sich einfach am Nackenfell aufnehmen lassen und instinktiv in Tragehaltung eingerollt. Spürte es denn nicht, dass der Geruch der Obea anders war als der seiner Mutter? Machte es dem Kleinen gar nichts aus, ihren milchlosen, trockenen, sterilen Hauch einzuatmen? Das Junge hatte unablässig gesaugt – aber was war schon „unablässig“, wenn man erst einen Tag auf der Welt war? Nichts als ein winziges Zeitstäubchen. Die Augen und Ohren des Jungen waren noch geschlossen. Es würde Tage dauern, bis sie sich öffneten. Das kleine Wesen konnte seine Mutter und Milchgeberin also einzig an ihrem Geruch erkennen – vielleicht noch an der Art, wie sich ihr Fell anfühlte, oder am rhythmischen Schlagen ihres Herzens. Ob es sich daran erinnern würde? Und selbst wenn, was half das jetzt noch?

Ein Zwischen-Jahres-Sturm braute sich zusammen. Das waren die schlimmsten Stürme, die zu Beginn des Frühjahrs oder im Spätsommer kamen. Sie tobten mit unglaublicher Wut, brachten Wirbelwinde und Eishagel mit sich. Morag hatte ihn gespürt, hatte gesehen, wie der bleierne Himmel tiefer und tiefer herabsank und sich wie eine tödliche Falle für die Erdengeschöpfe über dem Land schloss. Das silbergraue Junge würde mitten in diesem Sturm ausgesetzt werden. Sie selbst musste mit den beiden anderen Jungen in der Höhle bleiben und auf die Obea warten, die bald wiederkommen würde, um Morag zum Clan zurückzuführen. Shibaan würde eines der Jungen tragen, Morag das andere, während sie den Pfad der Schande zurücklegten. Die Obea würde die Nachricht von dem Malcadh verkünden und Morag musste dann den Clan sofort als Ausgestoßene verlassen. Die beiden gesunden Jungen würden von einer anderen Wölfin gesäugt werden.

Die Obea hatte andere Sorgen: Wohin mit diesem Malcadh, damit es möglichst wenig Überlebenschancen hatte? Am Fußpolster der gespreizten Pfote hatte sie etwas entdeckt, das ihr zu schaffen machte. Warum, konnte sie nicht sagen. Sie wusste nur, dass ihr diese Zeichnung nicht gefallen hatte.

Shibaan erfüllte nur ihre Aufgabe. Es war ihre Pflicht, das Unheil abzuwenden, das dem Clan drohte. Vor langer Zeit war ihre Unfruchtbarkeit wie ein scharfkantiger Kiesel unter ihrem Fuß gewesen. Eine ständige Erinnerung daran, dass sie niemals Mutter werden konnte, sondern ihr Dasein als ranglose Wölfin fristen musste, die eine unangenehme Pflicht zu erfüllen hatte. Zum Glück war das jetzt ausgestanden. Shibaan machte ihre Sache gut und hatte sich mit den Jahren einen gewissen Respekt beim Clanführer erarbeitet. Der scharfkantige Stein, der sie anfangs gequält hatte, schliff sich rund und fügte sich in ihr Wesen ein wie ein blank polierter Bachkiesel, der sie nicht länger an einen Makel erinnerte. Er gehörte einfach zu ihrem Charakter, ihrer Aufgabe, ihrer Pflicht als Obea.

Während sie mit dem Jungen im Maul dahintrottete, fiel ihr erneut das seltsame Spiralmuster am Fußpolster der gespreizten Pfote ins Auge. Ihr Herz zog sich furchtsam zusammen. Natürlich hätte sie das Junge töten können, aber die Obea war sehr abergläubisch. Solche Abkürzungen waren gegen das Gesetz und sie wollte doch eines Tages den Sternenpfad zum Großen Wolf erklimmen – dem Großen Lupus – und in die himmlische Höhle der Seelen eintreten.

Vor ihr schimmerte der Fluss unter dem bleigrauen Himmel, der sich immer tiefer herabsenkte. Dort wollte sie das Junge aussetzen. Die Eisdecke begann gerade aufzubrechen, denn das Frühlingstauwetter hatte eingesetzt. Der Wasserpegel würde sintflutartig ansteigen und das Junge rettungslos ertrinken. Shibaan wollte es nah ans Ufer legen, damit es vom ansteigenden Wasser mitgerissen wurde.

Die Obea wählte eine Stelle, an der das Ufer vom Flusslauf unterspült war, und legte das Junge auf einen Eissims.

Sorgfältig schob sie es an den Rand – umsichtig, präzise. Das Neugeborene war weder ein „Er“ noch eine „Sie“, im Grunde nicht einmal ein richtiger Wolf. Nur ein „Es“, das kläglich zappelte, maunzte und winselte. Aber das ging schnell vorbei. Wenn der Sturm das Junge nicht holte, wurde es von einer Eule gefressen. Der Fluss lag an einer Hauptflugroute der Glutsammlereulen, die wegen der Vulkane in die Hinterlande flogen. Die Eulen waren immer hungrig und dieses Malcadh wäre nicht das Erste, das von einer Eule aus dem Königreich Hoole geraubt wurde. Auch Schmiedeeulen, die vorübergehend ihre Werkstätten in der Nähe der Vulkane errichteten, kamen hier durch. Das Schmiedehandwerk war harte Arbeit. Diese Eulen fraßen eine Menge. Trotz der engen Verwandtschaft zwischen Eulen und Wölfen war ein Malcadh eine willkommene Beute.

Ein leises Kratzen ertönte, als das Junge versuchte, sich mit seinen winzigen Pfoten an der kalten, glatten Oberfläche festzukrallen. Das Maunzen und Winseln steigerte sich zu einem Heulen, aber die Obea hörte es nicht. Ihre Ohren waren genauso fest versiegelt wie die des Neugeborenen. Nichts regte sich in den Tiefen ihres Herzens. Sie spürte nur das kalte, glatte Gewicht des Steins, der gleichbedeutend mit ihrer Pflicht geworden war, ihrer Aufgabe, ihrer Identität. Ich bin die Obea. Mehr brauche ich nicht zu wissen und nicht zu sein. Ich bin die Obea.

Er konnte weder sehen noch hören. Vergeblich streckte er die Zunge heraus, um zu lecken. Der Geruch nach Milch war fort und mit ihm die warme Zitze. Nur Kälte spürte er, sonst nichts. Eine Kälte, die ihn ganz ausfüllte, bis sein kleiner Körper hoffnungslos schlotterte. Wie kam es nur, dass sich alles so schnell verändert hatte? Wo waren der warme Milchstrom, das weiche Fell, das tröstliche Zappeln der anderen kleinen Geschöpfe um ihn herum? Er hatte nicht viel kennengelernt in seinem kurzen Leben, aber jetzt kannte er gar nichts mehr. Riechen, Schmecken, Fühlen, die einzigen Sinne, die er besaß, waren abgestorben, verhungert. Er spürte, wie er in eine Leere davontrieb, die weder Leben noch Tod war, nur ein grässliches Nichts. Und mit dieser Leere kam die Taubheit.

Dann regte sich etwas – ein Beben – und mit diesem Beben drang ein neues Element in sein kaum noch pulsierendes Leben ein. Das Krachen des aufbrechenden Flusseises war so laut und furchterregend, dass es selbst durch die versiegelten Ohren des kleinen Welpen drang. Und plötzlich schnitt ein Brüllen durch seinen Kopf. Das Eis unter ihm bäumte sich auf, sodass er fast von dem Eissims heruntergerutscht wäre, doch er bohrte seine scharfen kleinen Klauen ins Eis und klammerte sich mit aller Kraft daran fest.

Es war eine grausame Ironie des Schicksals, dass dem hilflosen Wolfsjungen zwei lebenswichtige Sinne vor der Zeit verliehen wurden – Sehen und Hören. Und das genau in dem Moment, als der winterstarre Fluss zu erwachen begann und sich aus seinem Eispanzer befreite. Vielleicht war es der Schock, der seine verschlossenen Augen und Ohren öffnete.

Der Fluss brach jetzt immer schneller auf und setzte wilde Wasserstrudel frei, die an den Ufern zerrten, Bäume entwurzelten und Felsbrocken mit sich rissen. Das Eis unter dem kleinen Welpen ächzte gefährlich und fing an zu kippen. Dann ertönte ein gewaltiges Krachen, das ihm fast die Ohren zerfetzte. Licht blitzte in seine Augen, als der Mond die Eisschollen streifte, die den Fluss hinunterdonnerten.

In seinem Gedächtnis regte sich dunkel eine andere, frühere Gewalt: die Geburt. Er war aus der Wärme der Gebärmutter hinausgeschleudert worden und in die Hände von Mächten geraten, die größer waren als er. Sein kleiner Körper kam nicht gegen die Kontraktionen an, die ihn hinausdrängten. Und jetzt geschah es wieder. Nur diesmal wurde er nicht aus der schützenden Wärme der Gebärmutter vertrieben, sondern rutschte in das eisige Wasser des tosenden Flusses. Verzweifelt krallte er sich mit der gespreizten Pfote fest, die mehr Halt fand als die anderen drei. Er kämpfte um sein Leben, klammerte sich mit aller Kraft an dem Eissims fest, das zum restlichen Treibeis in den Fluss gestürzt war.

Warum ließ er nicht los? Es wäre viel leichter, viel weniger qualvoll gewesen – einfach loslassen, ins Wasser rutschen und ertrinken. Aber der junge Wolf folgte blind seinem Instinkt und dieser Instinkt befahl ihm, sich festzuklammern, nicht aufzugeben. Nach einer Weile öffnete er die Augen ein wenig mehr und sah den Glanz des Vollmonds im Fluss.

Seine erste Lektion: Er konnte die Augen auf das Licht einstellen. Sein erster Gedanke: Was kann ich noch einstellen oder verändern? Konnte er vielleicht auch die Wärme zurückholen, die er einst gekannt hatte? Den Milchgeruch, den süßen Geschmack auf seiner Zunge? Die Weichheit der zappelnden Fellkugeln, die um ihn herumpurzelten, wenn sich alle gierig nach der Milch drängten? Das tröstliche, rhythmische Pochen unter dem Fell, tief drin in der Milchgeberin, das er spürte, wenn er sich zum Saugen anklammerte?

Eisiges Wasser schwappte über ihn hinweg und trotzdem klammerte er sich weiter fest. Hin und wieder spürte er, wie das Eis herumwirbelte. Dann wurde ihm schlecht und schwindlig. Er musste die Augen schließen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, um den Halt nicht zu verlieren. Plötzlich gab es einen Ruck, sein Eisfloß riss sich los und trieb weiter den tobenden Fluss hinunter. Die Hinterläufe des kleinen Wolfs hingen jetzt über den Rand des Eises hinunter und wurden taub im eisigen Wasser. Die Taubheit kroch immer weiter durch seinen Körper. Es war kein unangenehmes Gefühl, aber zugleich schien etwas anderes in ihm zu schwinden, aus seinem tiefsten Inneren zu sickern. Seine Klauen verloren allmählich den Halt.

Erneut ging ein gewaltiger Ruck durch ihn hin. Das Letzte, was er hörte, war das Scharren seiner Klauen, die hilflos über die kläglichen Überreste des Eisfloßes schlitterten.

In jener Sturmnacht erhob sich ein Brüllen, so gewaltig, dass es selbst den tosenden Fluss und den heulenden Wind übertönte. Die Schreie der Grizzlymutter ließen das Ufer erbeben, an dem sie saß. Ihr Schmerz war so groß, dass er die Luft aus der Erde zu saugen schien. Die langen eisverkrusteten Haare auf ihrem Rücken zitterten, sodass ihr verzweifeltes Toben von leisem Klimpern begleitet war.

Als der Fluss ihren Bau zu überfluten drohte, hatte sie ihm ein paar Sekunden lang den Rücken zugekehrt, um sich nach höher gelegenem Fels umzublicken. In diesem kurzen Moment waren Pumas wie aus dem Nichts hervorgeschossen und hatten ihr Junges geraubt. Ihr einziges Junges. Dieses Mal hatte sie nur eines aufgezogen. Den ganzen Sommer und Herbst lang hatte sie gefressen, sich fettgemästet. Und wozu das alles? Nur damit das wahrscheinlich letzte Junge, das sie geboren hatte, zerfleischt wurde? Ihre Zitzen trieften von der Milch, die für das Kleine bestimmt war, und sie wollte nur noch sterben. Der Fluss, dem sie eben noch zu entrinnen gehofft hatte, kam ihr jetzt gerade recht. So groß war ihr Schmerz noch nie gewesen, außer vielleicht in jener Paarungszeit vor fünf Sommern, als ein Grizzlymännchen eines ihrer Jungen getötet hatte, um an sie heranzukommen. Nichts und niemand würde sie von der Höhle wegbringen, in dem sie das Junge geboren und gesäugt hatte. Verzweifelt riss sie den wuchtigen Kopf zum Mond empor, der sie anblickte wie ein totes Auge, und flehte den Großen Bären an: Großer Ursus, nimm mich, nimm mich zu dir!

Die Bärin hatte jedes Zeitgefühl verloren. Der Mond glitt am westlichen Himmel hinab und die Nacht wurde dunkler. Kurz vor der Dämmerung hatte sich der Sturm ausgetobt und dunkle Wolken wie glimmende Asche am Horizont hinterlassen. Der Flusspegel hatte den höchsten Punkt erreicht, doch die Fluten hatten die Bärin nicht verschlungen.

Plötzlich spürte sie, dass sich etwas an ihrem Hinterbein verfangen hatte, ein dunkler, nasser Klumpen. Ungeduldig schüttelte sie den Fuß, um das lästige Kratzen loszuwerden. Aber je mehr sie schüttelte, desto fester klammerte sich der Klumpen an ihr Bein. Die Bärin wurde wütend und zog ihre Pfote ans Ufer.

Später fragte sie sich, was sie daran gehindert hatte, einfach hinunterzugreifen und den Klumpen abzureißen, der keinerlei Lebenszeichen gab. Das Kratzen hätte ebenso gut von einer Dornenranke kommen können, die sich im Treibeis des tobenden Flusses verfangen hatte. Treibgut. Nichts weiter. Und doch spürte sie etwas.

Ein Funke, dachte sie bei sich. Funken hatte sie schon öfter gesehen. Funken, die vom Himmel fielen oder aus den Felsen schlugen, wenn herabstürzende Trümmer ineinanderkrachten. Aber niemals hätte sie gedacht, dass der Fluss Funken schlagen könne. Ein Funke aus dem Fluss, ungestillt, unversehrt, unvermindert. Wie eine winzige Lichtsphäre flog er aus dem tosenden Wasser auf und barg die Verheißung von Leben in sich.

Die Bärin griff hinunter und löste behutsam mit den Vorderpfoten den nassen Klumpen von ihrem Hinterbein. Der Klumpen zappelte nicht, kein Atemzug war zu erkennen. Aber es war ein Junges, welcher Art auch immer, und als das winzige Wesen wie unter großen Schmerzen die Augen aufschlug, blitzte der Funke darin auf.

Die Sonne stieg gerade über dem Horizont auf und ihr Licht spiegelte sich in den Augen des kleinen Findlings. Plötzlich sah die Bärin ein Bild darin, das sie erschreckte. Ihr eigenes Spiegelbild blickte sie aus den Augen eines Jungen an, das weder von ihr geboren noch von ihrer Art war. Es ist ein Wolf, dachte sie. Ich suche den Tod und das Kleine hier sucht das Leben.

Dann schaute sie zum Himmel auf und suchte nach dem Sternbild des Großen Bären. Da bereits der Morgen graute, konnte sie es nicht sehen, aber im tiefsten Inneren wusste sie, dass dieses Wolfsjunge eine Botschaft von Ursus war, eine Zurechtweisung. Es stand ihr nicht zu, an den Tod zu denken. Ihre Zeit war noch nicht gekommen. Das hilflose kleine Geschöpf hatte sich nicht zufällig an ihrem Hinterbein verfangen. Es war ein Geschenk des Flusses.

Faolan, wisperte sie. Ich werde dich Faolan nennen.

„Fao“ bedeutete zugleich „Fluss“ und „Wolf“. Und „lan“ war das Wort für „Geschenk“.

„Du bist mein Geschenk des Flusses“, sagte sie und nahm das Wolfsjunge an ihre Brust.

Die Milchgeberin! Das Wolfsjunge roch die Milchspuren in dem dicken Pelz und sein Mäulchen drängte zur Quelle. Aber je näher Faolan den Zitzen kam, desto mehr verwirrten sich seine Gedanken. Das hier war nicht dasselbe. Der Geruch war anders und der Geschmack auch. Und erst dieses neue, furchterregende Geräusch! Das Tosen des Flusses war einem gewaltigen, rhythmischen Donnern gewichen, in das sich wildes Geblubber mischte. Als die Grizzlybärin den Wolfswelpen behutsam enger an ihre Zitzen drückte, wurde er von den Geräuschen regelrecht durchgerüttelt. Und trotzdem fühlte er sich wunderbar geborgen.

Das hier war eine andere Milchgeberin. Sie war riesig – viel, viel größer als die erste. Er lauschte dem Pumpen ihres Herzens und dem Grollen und Gurgeln ihres Magens. Nach und nach gewöhnte er sich an die fremden Laute, die mit dem Tosen des Flusses verschmolzen und sich in die leiseren Geräusche einfügten, die er beim Saugen machte.

Und wie Faolan saugte! Seine Welt versank in Milch. Dicker, nahrhafter Milch. Er schloss die Augen und schlief ein, ohne mit dem Saugen aufzuhören.

Die Grizzlybärin blickte auf Faolan hinunter und ein paar riesige Tränen kullerten ihr aus den Augenwinkeln. Der Flussgeist hat dich mir gebracht. Es muss einen Grund dafür geben. Ich werde dich säugen, den ganzen Morgen und den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch. Ein Funke kann zu einer Flamme entfacht und eine Flamme zu Feuer werden.

Sanft blies sie ihren Atem über den Kleinen. Faolans Augenlider flatterten und er sank noch tiefer in einen traumlosen Schlaf.

Auch wenn ihr Schützling von Ursus geschickt war und die Bärin die besten Absichten hegte, so fehlte ihr doch das Wissen, wie man ein Wolfsjunges aufzieht – abgesehen vom Säugen. Faolan war ein gieriges kleines Geschöpf, das hatte sie gleich gemerkt. Aber er war so anders als ein Bärenjunges. Er roch anders. Saugte anders. Und obwohl er ein wenig größer gewesen war als ein neugeborenes Bärenjunges, als sie ihn aufgelesen hatte, nahm er längst nicht so schnell zu. Ein Bärenjunges hätte in dieser Zeit sein Gewicht verdoppelt. Faolan war nur ein bisschen gewachsen, obwohl er unablässig saugte. Die Bärin machte sich Sorgen. Vielleicht war ihre Milch nicht gut für ihn? Oder sie hielt ihn nicht richtig? Falls der Kleine wirklich ein Geschenk des Großen Ursus war, hätte es noch weiterer Zeichen bedurft. Zeichen, die ihr verrieten, was sie zu tun hatte.

Jeden Tag hielt sich die Bärin vor Augen, dass der Welpe ein Geschenk war. Ob Faolan sie auch merkwürdig fand? Was weiß so ein Bärenjunges überhaupt? Die Bärin erschrak und kicherte beinahe, weil sie ihn versehentlich „Bärenjunges“ genannt hatte. Aber warum auch nicht? Letzten Endes waren vielleicht alle Neugeborenen mehr oder weniger gleich, egal ob Bärenjunges oder Wolfswelpe. Auf jeden Fall haben die Kleinen nur Milch im Kopf. Darin ist Faolan nicht anders.

Faolan hielt einen Augenblick im Saugen inne und die Bärin nutzte die Gelegenheit, um ihn mit ihren riesigen Tatzen hochzunehmen und dicht vor ihr Gesicht zu halten. Lange blickten sie einander in die Augen. Faolans Augen färbten sich allmählich grün, ein schönes Grün wie bei den Wölfen aus den Hinterlanden. Ihre waren von einem tiefen, schimmernden Braun, so glänzend, dass der winzige Wolf sein Spiegelbild darin sah.

„Du bist ein merkwürdiges kleines Geschöpf“, sagte die Bärin. Dann streckte sie die Zunge heraus und betupfte seine feuchte kleine Nase damit. Faolan stieß ein begeistertes Fiep-Fiep! aus.

„Oh, das gefällt dir!“ Die Bärin betupfte seine Nase noch einmal und wieder quiekte der Kleine vor Entzücken.