Die Legende der Wächter 16: Der Held - Kathryn Lasky - E-Book

Die Legende der Wächter 16: Der Held E-Book

Kathryn Lasky

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Beschreibung

Der Kreischeulerich Ezylryb wird in den Wirren des Krieges der Eiszehen geboren. Genau wie seine Eltern soll er ein tapferer Kämpfer werden. Dabei interessiert er sich eigentlich viel mehr für Wetterkunde. Außerdem verlaufen die Fronten des Krieges fernab seiner Heimat, einem kleinen Kiefernwäldchen. Doch dann dringt eine Horde Eiszehen-Krieger, mit Feuerkrallen bewaffnet, in den Wald ein und brennt alles nieder. Ezylryb weiß: Seine Zeit als Krieger ist gekommen. Band 16 der Fantasy-Reihe

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2015Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHDeutsche Erstausgabe © 2015 Ravensburger Verlag GmbHCopyright © 2013 by Kathryn Lasky. All rights reserved.Published by Arrangement with SCHOLASTIC INC., 557 Broadway, New York, NY 10012 USA.Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel „Guardians of Ga’Hoole. The Rise of a Legend“.Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie, Zürich© Illustration: F. RegösInnenillustrationen: Wahed KhakdanÜbersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Katharina OrgaßRedaktion: Britta KeilAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47657-2www.ravensburger.de

Für Evan Weaver, der mich zu diesem Buch inspiriert hat.K. L.

Heute Nacht ist etwas Seltsames geschehen. Ein junger Schleiereulerich ist zusammen mit drei Gefährten hier eingetroffen. Ein Schneesturm der Stärke acht hat sie hierher verschlagen. Ein wahrer Wüterich von Schneesturm, in dem man keine Federlänge weit sehen konnte. Die vier sind schon eine ganze Weile gemeinsam unterwegs. Sie bezeichnen sich als Bande, beziehungsweise als die Bande – als wären sie etwas Besonderes. Was sie vielleicht auch sind. Der Schleiereulerich, Soren heißt er, macht mich irgendwie neugierig. Er hat etwas an sich, das mich an meine eigene Jugend erinnert. Das hat mich tief bewegt.

Darum habe ich beschlossen, das Buch, an dem ich gerade schreibe, eine Weile beiseitezulegen: den dritten Band von Wettersysteme und ihr Aufbau: Analysen, Flugtechniken und Überlebenstipps. Ich möchte mich stattdessen einem etwas weniger wissenschaftlichen, weniger trockenen Thema zuwenden. Einer Geschichte, die mit dem Blut endloser Kriege getränkt ist – und mit Tränen. Tränen des Glücks und des Leids. Es ist eine Geschichte über Liebe, Verrat und Hoffnung.

Der Schleiereulerich ist noch ein Grünschnabel, er kennt seine Bestimmung noch nicht. Mir ging es in seinem Alter ganz genauso. Ich war ein echtes Unschuldsküken – falls man einen jungen Krieger „unschuldig“ nennen kann. Und was ist aus mir geworden? Ein zurückgezogener Gelehrter, ein Wissenschaftler in einer Welt, die immer noch vor Gewalt nur so brodelt. Ich habe mich für einen anderen Weg entschieden. Aber früher – ja, früher war ich eine andere Eule. Eine ganz andere Eule.

Ich möchte meine eigene Geschichte erzählen. Ich werde sie schlicht und einfach Das Buch von Ezylryb nennen.

Das Buch von Ezylryb

Kurz vor Mitternacht bekam die Schale, die mich umgab, den ersten Riss. Meine Eltern waren nicht dabei – wie auch? Der jahrhundertelange Krieg der Eisklauen tobte erbitterter denn je, und sie waren beide an der Front. Sie hatten eine Berufsglucke eingestellt, wie es in den vom Krieg gebeutelten Nordlanden durchaus üblich war. Als sich der erste Riss in der Eierschale zeigte, schickte die Glucke, Gundesfyrr hieß sie, unsere Nesthälterin Mrs Grinkel zu den Nachbarn, damit sie ihnen Bescheid sagte. Ein schlüpfendes Küken war ein wichtiges und freudiges Ereignis, vor allem in Zeiten wie diesen. Jedes Eulenkind wurde als künftiger Krieger betrachtet. Wahrscheinlich haben mich alle, die sich über mein Ei beugten, angefeuert, meine erste Schlacht zu gewinnen – mich aus der Schale zu befreien, die mich fast zwei Monde lang beherbergt hatte.

„Na los, Kleiner! Dein Papa ist General! Folge seinen Flugspuren!“

„Vergiss seine Mama nicht! Sie befehligt die Eisdolche!“

Die Eierschale dämpfte die Zurufe und ich verstand nicht viel. Doch bald würde ich erfahren, dass meine Mutter eine berühmte Spezialeinheit anführte und mein Vater der Oberbefehlshaber der vereinigten Truppen des Kjellbündnisses war, zu denen sowohl die legendären Frostschnäbel als auch die Hitzklingen und andere Einheiten gehörten. Kurz gesagt: Die beiden würden nicht so bald wieder heimkehren.

Doch dergleichen war damals auf der Sturminsel im westlichen Wintermeer nichts Ungewöhnliches. Ein Eulenkind, das mit beiden Eltern aufwuchs, wäre eher eine große Ausnahme gewesen. Ja, so etwas hätte geradezu als Schande gegolten.

Ich kämpfte weiter mit der Eierschale und schlug mir beim Versuch, sie zu sprengen, fast den Schädel ein, auch wenn meine Eischwiele den größten Teil der Arbeit erledigte. Pick, pick, rums! Kleine Pause, neue Kraft sammeln und weiterpicken. Schon bald tat sich ein zweiter Riss in der Schale auf. Es gab ein großes Hurra, dann hörte ich die Versammelten einhellig nach Luft schnappen. Ein weiterer Besucher war eingetroffen.

„Was will die denn hier?“, fragte jemand ungläubig.

Der Ankömmling war, wie man mir später erzählte, meine Tantja Hanja. Sogleich verflog die allgemeine Hochstimmung. Tantja Hanja war Mamas Schwester. Die beiden waren so verschieden, wie zwei Schwestern nur sein können. Tantja Hanja war keine Kriegerin. Mitnichten, beim Glaux! In einer Schlacht wäre sie verloren gewesen. Sie war ein stilles kleines Ding, und ihr Kreischeulenbart war fast länger als ihre Flügel. Sie hatte einen merkwürdigen Flugstil, mit einer Schlagseite nach Backbord, wodurch sie für den Militärdienst untauglich war. Um die Schlagseite auszugleichen, war ihr Steuerbordflügel übermäßig gewachsen und viel größer als sein Gegenstück. Aber sie kam einigermaßen zurecht.

Alle nannten sie nur „prinka Hanja“. „Prinka“ heißt „arm“ auf Krakisch, der Sprache der Nordlande. Man bedauerte sie, weil sie keine so gute Jägerin war wie alle anderen. Darum führte sie auch ein Wanderleben und zog von einem Verwandten zum nächsten.

Ihre Besuche waren in unserer Familie gefürchtet. Sie hatte das Talent, immer dann aufzutauchen, wenn ein Unglück bevorstand. Als sie in der Nacht meines Schlüpfens erschien, begann meine Glucke Gundesfyrr krampfhaft zu zittern und duckte sich schützend über mein Ei.

„Gütiger Glaux!“ Gundesfyrr wurde beinahe ohnmächtig, als Tantja Hanja auf das Nest mit mir darin zuhüpfte.

„Ich wollte nur mal kurz vorbeischauen“, sagte Tantja Hanja. „Der Flug hierher war das reinste Hägsmir. Ich hatte die ganze Zeit Gegenwind. Ah – wie ich sehe, komme ich gerade recht. Die Schale hat schon den ersten Riss!“

„Eigentlich schon den zweiten“, berichtigte Gundesfyrr sie mit matter Stimme.

„Darf ich hier ein bisschen Ordnung machen, damit das neue Küken es schön hat? Ich könnte auch ein paar Büschel Moos sammeln. So ein Frischgeschlüpftes ist ja noch fast kahl, da freut es sich über ein weiches Nest. Hier hast du schon mal ein paar Dunen, Gundesfyrr.“ Hanja steckte den Schnabel in ihr dichtes Gefieder und zupfte sich den Dunenflaum darunter aus.

„Das wäre doch nicht nötig gewesen!“, protestierte Gundesfyrr schrill.

„Nun schrei doch nicht so, meine Liebe! Die Eierschale hat erst den zweiten Riss. Wir wollen doch nicht, dass das Küken erschrickt und nicht die richtige Stelle für den dritten und letzten findet, oder?“

Gundesfyrr wechselte einen entsetzten Blick mit dem Schnee-Eulerich Elfstrom, einem Nachbarn, der eben hereingeflogen kam. Bei Hanjas Anblick klappte ihm vor Schreck der Schnabel auf. Elfstrom war ein erfahrener Krieger, der in mehr Schlachten mitgekämpft hatte als meine beiden Eltern zusammen. Zurzeit war er auf Heimaturlaub, nachdem er bei einer Schlacht in der Eisklamm ein Sturmkommando geleitet hatte. Den alten Veteranen konnte kaum noch etwas erschüttern – Tantja Hanjas Anblick aber schon.

„So!“ Hanja verteilte ihre Dunen sorgsam in meinem Brutnest. „In zwei Flügelschlägen bin ich wieder da und bringe dem Kleinen ein bisschen Moos. Bestimmt ist er genauso hübsch wie sein großer Bruder. Edvard ist ja so ein gut aussehender Kreischeulerich!“ Doch bevor sie davonflog, drehte sie sich noch einmal um und setzte hinzu: „Ehe ich’s vergesse … ich kann auch noch ein paar Bartfedern entbehren. Um diese Jahreszeit wachsen sie dermaßen lang, dass sich meine Zehen darin verheddern.“

Gundesfyrrs Sorge war unbegründet. Ich hatte mich nicht erschrocken und platzierte den dritten und endgültigen Riss an der richtigen Stelle. Ich schlüpfte problemlos.

Natürlich waren meine Augen noch geschlossen. Ich konnte nichts sehen, hörte die Erwachsenen aber miteinander tuscheln. Doch ich verstand wieder nur Bruchstücke, mit denen ich nicht viel anfangen konnte.

„Warum musste ausgerechnet die jetzt hier auftauchen!“

„Das ist immer ein schlechtes Vorzeichen.“

„Aber seht doch – ihm geht’s gut.“

Wer war „sie“? Wer war „ihmgehtsgut“? War das ein besonders langer Name? Dann verstummte das Getuschel auf einmal, und ich vernahm lautes Weinen. Keine Worte, nur verzweifelte, lang gezogene Klagelaute, unterbrochen von abgerissenem Aufschluchzen.

„Edvard ist tot!“, rief jemand. Was war ein „Edvard“? Was war „tot“? Später würde ich erfahren, dass Edvard mein Bruder gewesen war. Die Hitzklingen-Einheit hatte einen Boten geschickt. Er berichtete, dass Edvard in einem Gefecht am Reißzahnfjord gefallen war.

Als ich aus meiner Eierschale purzelte, war ich von weinenden Erwachsenen umringt: Gundesfyrr, Elfstrom, einem Streifenkauzpaar aus der Nachbarschaft und drei, vier Kjellschlangen, die als Nesthälterinnen1 arbeiteten.

„Oh nein“, schluchzte Mrs Grinkel, die Älteste unter den versammelten Nesthälterinnen. „Dann bist du wohl jetzt das Männchen im Nest!“ Auf ihre Bemerkung hin brachen sämtliche Anwesenden abermals in Tränen aus. Ich hatte keine Ahnung, wovon die Rede war. Mir klebte noch der Eidotter am federlosen Leib und ich pickte in dem Glibber herum, der in den Schalenhälften zurückgeblieben war. Dieser Glibber ist die erste Mahlzeit eines Eulenkükens und Anlass für seine allererste Feier, die Erster-Glibber-Feier. Doch in der allgemeinen Trauer und Bestürzung schien niemand mehr daran zu denken – außer Tantja Hanja, die soeben mit dem Schnabel voll weichem Moos für mein Nest zurückkehrte. Sie fing seelenruhig zu singen an:

Wenn der Erste GlibberDurch die Kehle flutscht,Ohne anzuhalten,In den Magen rutscht,Schenkt er dir Gesundheit,Kleines Eulenkind – Du wirst groß und stark,Fliegst bald schnell wie der Wind!

Dann verkündete sie: „Jetzt müssen wir uns aber alle wieder zusammenreißen, denn schließlich hat soeben ein prächtiges kleines Küken das Mondlicht erblickt. Ich habe so eine Ahnung, dass dieser junge Eulerich einmal zu Großem bestimmt ist.“

„Oje“, raunte Mrs Grinkel ihren Kolleginnen zu. „‚Zu Großem bestimmt‘ kann genauso gut bedeuten, dass dem Kleinen ein großes Unglück bevorsteht – eine Tragödie, wie der Heldentod unseres geliebten Edvard!“

Zwei Tage darauf flog Tantja Hanja weiter, und alle atmeten auf. Und ehe ich wusste, wie mir geschah, war auch schon der Zeitpunkt meiner Erstes-Insekt-Feier gekommen. Lebhafter erinnere ich mich allerdings an mein Erstes Fleisch, denn zu dieser Feier kehrten meine Eltern zurück.

Die ersten Lebensjahre eines Eulenkindes lassen sich in drei Phasen einteilen. Die erste wird als „Flaumkugelphase“ bezeichnet, die beiden folgenden heißen „Flügglings-“ und „Flugphase“. Alle drei zusammen nennt man auch kurz „die drei Fs“. Die Bezeichnung „Flaumkugelphase“ bezieht sich darauf, dass wir ganz jungen Eulenkinder noch keine richtigen Federn haben. Stattdessen sprießen uns schüttere Dunenbüschel, was eigentlich ziemlich hässlich aussieht. Trotzdem finden uns die Erwachsenen unglaublich süß. Wie schnell sie vergessen! Wenn man noch klein ist, ist es einem entsetzlich peinlich, dass man halb nackt ist, und weil man halb nackt ist, friert man dauernd. Man ist auf Erwachsene angewiesen, an die man sich kuscheln kann und die einen wärmen. Aber das Schlimmste ist, dass man noch nicht fliegen kann! Alle fünf Sekunden betrachtet man sich von oben bis unten und hofft, vielleicht doch irgendwo schon einen ersten Federkiel zu entdecken, der die Haut durchstößt.

In der Flügglingsphase lernt ein Küken das sogenannte „Ästeln“. Es hüpft von Ast zu Ast, als Vorstufe zum Fliegenlernen. In den Nordlanden gibt es allerdings kaum Bäume, was das Ästeln sehr erschwert. Unsereiner hüpft stattdessen von einem (oftmals eisbedeckten) Felsvorsprung zum nächsten. Ich hatte Glück, denn das Nest meiner Familie lag in einer der wenigen Baumgruppen auf der Sturminsel. Ich bin in der Höhle einer hohen Kiefer geschlüpft.

Doch ich schweife ab. Ich beherrschte das Ästeln noch lange nicht, als meine Erstes-Fleisch-Feier stattfand.

„Sie kommen! Sie kommen!“, jubelte Gundesfyrr.

„Wer denn?“, piepste ich.

„Deine Mama und dein Papa! Sie kommen aus der letzten Schlacht mit den Eiszehen-Eulen und gerade rechtzeitig zu deiner Erstes-Fleisch-Feier.“

„Ich darf endlich Fleisch fressen!“ Ich hüpfte vor Freude auf und ab. Diese Aussicht fand ich entschieden spannender als meine Eltern. Schließlich kannte ich so etwas wie eine „Mama“ oder einen „Papa“ nicht – was Fleisch war, wusste ich dagegen sehr gut! Gundesfyrr und ihre Freunde ernährten sich von Lemmingen, Wühlmäusen und Felshörnchen. Letzteres war eine Eichhörnchenart, die in den Felsklippen der Insel lebte. Manchmal fraßen sie sogar Fisch. Den brachten ihnen die Fischuhus, die ihr Revier an der Küste der Insel hatten. Ich dagegen bekam während meiner Flaumkugelphase, abgesehen von dem Glibber in meiner Eierschale, ausschließlich Insekten zu fressen. Insekten haben kein Fleisch, und vor allem haben sie kein Blut. Der Geruch, der von Gundesfyrrs frisch geschlagener Beute aufstieg, machte mich ganz gagga!2 Daher war ich außer mir vor Freude, als ich hörte, dass mir meine Eltern eine schöne dicke Wühlmaus mitbringen würden!

Doch als sie in die Höhle geflogen kamen, musste ich mich beherrschen, um nicht zu würgen. Das lag nicht an der Wühlmaus, deren noch dampfende Eingeweide aus der klaffenden Wunde hingen, die ihr die scharfen Krallen meiner Mutter geschlagen hatten. Nein, es war meine Mutter selbst, die mir einen Riesenschreck einjagte. Sie hatte nur ein Auge! Wo das andere Auge hätte sein sollen, war nur eine Vertiefung mit einer groben Naht, aus der noch Blut sickerte.

Ob wohl alle Mamas nur ein Auge haben?, überlegte ich. Als sie sich über mich beugte, schrie ich unwillkürlich auf. Das war das Gesicht des Krieges, begriff ich plötzlich.

„Huch! Ich glaube, meine Klappe ist verrutscht“, sagte meine Mutter. Sie griff sich rasch mit dem Backbordfuß an den Kopf und zog ein Stückchen Lemmingfell über die leere Augenhöhle. „Ich wollte dir keine Angst machen, Lyze. Auf keinen Fall! Du bist so ein süßes Kerlchen.“

Gundesfyrr stupste mich an und zischelte: „Begrüß deine Mama.“

„Lass ihn nur. Er muss sich erst an mich gewöhnen. Das ist sicher nicht ganz leicht. Ich bin bloß froh, dass ich noch ein gesundes Auge habe und ihn sehen kann.“

„Hallo, Mama. Tut mir leid. Ich … ich … ich …“ Ich zitterte und brachte es nicht über mich, sie anzuschauen.

„Macht nichts, mein Liebling. Bald hast du dich daran gewöhnt.“ Ach ja? Und wenn nicht?

Alle um mich herum waren Kämpfer und Krieger. Alle kannten nur ein Thema: den Krieg. Der Krieg war unser Leben und zugleich der Grund, weshalb vielen Eulenkindern ihre Berufsglucken und Nesthälterinnen vertrauter waren als die eigenen Eltern. Mir war klar, dass ich mich zusammenreißen musste. Ich wagte einen zweiten Blick auf die schaurige Wunde, die von dem Fellfetzen nur halb verdeckt wurde und sich wie ein gezackter Blitz über das Gesicht meiner Mutter zog. Ob mir schon damals Zweifel am Sinn des Krieges kamen? Ich weiß es nicht mehr. Schließlich war ich noch ein Küken. Aber es ist gut möglich, dass ich an mir selbst zweifelte und daran, ob ich jemals ein würdiges Mitglied des Kjellbündnisses werden würde.

Mein Vater hieß Rask. Das war ein alter Kriegername, der „rasch“ oder „schnell“ bedeutete. Aber er war offensichtlich nicht immer schnell genug, denn eine Hälfte seines Gesichts war verbrannt, und er hatte auf dieser Seite keinen Bart mehr. Auch kein schöner Anblick. Aber längst nicht so Furcht einflößend wie die blutige Augenhöhle meiner Mutter.

„Was für ein strammes Bürschchen unser Sohn ist! Ein echter Kühnkreischer!“, sagte mein Vater wohlwollend. „Kühnkreischer“ war ein lobender Ausdruck, wenn ein junger Kreischeulerich besonders mutig und tapfer zu werden versprach. Ich fühlte mich eher wie das Gegenteil, und ich fühlte mich offen gestanden auch ein bisschen betrogen. Auf der Sturminsel waren meine Eltern lebende Legenden, aber Helden hin oder her – die eine hatte nur noch ein Auge und der andere nur noch einen halben Bart. Doch für den Sohn zweier Helden gehörte es sich nicht, so etwas auch nur zu denken.

„Lass dich davon nicht stören, Kleiner.“ Mein Vater tippte mit der Zehe auf seine bartlose Gesichtshälfte.

„Wächst der Bart wieder nach?“, fragte ich.

„Leider ist das genauso unwahrscheinlich, wie dass deiner Mutter ein neues Auge wächst. Aber wir haben’s ihnen gezeigt, was, Ulfa?“

Er drehte sich zu meiner Mutter um und fuhr ihr zärtlich mit dem Schnabel durchs Gefieder.

„Wo hat die Schlacht denn stattgefunden, Herr?“, erkundigte sich Gundesfyrr höflich. Nein, nicht höflich, sondern ehrfürchtig. Sie betrachtete die entstellten Gesichter der beiden, als huldigte sie ihren Verwundungen. Ich muss mich zusammennehmen und es genauso machen, dachte ich.

„An der ersten Eiszehen-Landzunge zwischen hier und der Eisklamm. Aber es war nur ein kleines Scharmützel. Ulfas Auge und mein Bart mussten dran glauben, aber dafür haben wir’s ihnen so richtig gegeben! Unsere Einheit hatte nur zwei Verwundete – uns beide. Wir hatten ein Riesenglück. Ja, ein Riesenglück.“

Glück?, dachte ich. Das soll Glück sein? Ich musste die ganze Zeit an das Auge meiner Mutter denken. Trotzdem spitzte ich die Federohren, als meine Eltern nun von der Gefechtsstrategie und den Waffen erzählten, die zum Einsatz gekommen waren. Der Krieg kam mir wie ein großes, brutales Rätsel vor.

„Wir haben uns wacker geschlagen, stimmt’s, Liebes?“ Mein Vater glättete meiner Mutter zärtlich das Brustgefieder.

„Das kannst du laut sagen! Dein Papa hat dem einen Uhu den halben Schnabel abgerissen, und ich habe dem anderen Burschen nicht nur eine Kralle abgezwackt, sondern gleich zwei.“

„Gütiger Glaux!“, entfuhr es Gundesfyrr. „Wenn man Ihnen so zuhört, kann man sich kaum vorstellen, dass Sie eben erst ein Auge verloren haben!“

„Tja … keine Ahnung, wie das passieren konnte. In so einer Schlacht überlegt man eben nicht mehr lange, sondern stürzt sich einfach ins Getümmel. Mich hatte es gepackt wie ein Orkan. Es hat mich einfach mitgerissen. Alle Schmerzen waren plötzlich weg und auch alle Wut. Ich hatte nur noch eins im Sinn: meine Gegner zu töten.“

„So ist das, wenn man ein Krieger ist“, wandte sich mein Vater an mich. „Eines Tages wirst du es selbst erleben. Eines Tages, mein Kleiner!“ Er sagte es fast freudig, als wüsste er jetzt schon, was für mutige Taten ich dereinst vollbringen würde. Ich selbst hatte da immer noch meine Zweifel.

„Wann bekomme ich endlich mein Fleisch?“, wechselte ich das Thema. „Ich hab Hunger.“

„So ist’s recht!“ Mein Vater strahlte. „Du musst viel Fleisch fressen, damit du groß und stark wirst!“

„Ja, lasst uns mit der Feier beginnen“, stimmte ihm meine Mutter zu. Auch ihre Stimme klang freudig.

Im Nu war die Höhle voller Nachbarn und Freunde. Meine Mutter zog der Wühlmaus das Fell über die Ohren, mein Vater löste das Fleisch von den Knochen. Auf diese Weise können junge Küken ihre ersten Fleischmahlzeiten besser verdauen. Unsereiner verschlingt seine Beute noch nicht im Ganzen, so wie es die Erwachsenen machen. Das würde unsere Mägen überfordern.

Mama und Papa blieben diesmal eine ganze Weile daheim, weil man ihnen einen ausgiebigen Fronturlaub gewährt hatte. Es dauerte nicht lange, da hatte ich auch meine Erstes-Fell-Feier hinter mich gebracht, bei der ich zum ersten Mal eine Wühlmaus samt Fell, aber noch ohne Knochen, hinunterschlingen durfte. Das Fell kitzelte mich angenehm im Schlund. Bald darauf folgte auch schon die ersehnte Erste-Knochen-Feier. Zu diesem Anlass setzen einem die Eltern ein sehr kleines Nagetier vor, entweder eine Maus oder eine der Zwergratten, die an den Küsten der Sturminsel leben. Trotzdem ist es aufregend, zum ersten Mal ein Beutetier im Ganzen zu fressen!

„Nein, mein Liebling – mit dem Kopf zuerst. Dann rutscht es besser“, riet mir meine Mutter. Ich drehte die Beute um (ich glaube, es war eine Maus), dann verschlang ich sie mit einem Happs und rülpste schallend.

„Du hörst dich ja schon wie dein alter Vater an, mein Kleiner“, sagte Papa lachend und rülpste seinerseits lautstark.

„Also wirklich, Rask!“, seufzte Mama.

Anschließend musste natürlich das Rülps-Lied angestimmt werden. Darin wird besungen, dass ein Eulenkind zum ersten Mal ein ganzes Beutetier verschlungen hat. Das Lied heißt: Der Uuul-Glatsch, ein Wort, das niedergeschrieben sehr merkwürdig aussieht und das den Klang des kehligen Rülpsers nachahmt, den nur Geschöpfe hervorbringen können, die einen Muskelmagen besitzen. Wir Eulen haben nämlich zwei Mägen. Der eine ist so beschaffen wie der Magen der meisten anderen Tiere. Der andere ist der sogenannte Muskelmagen, ein dickwandiges, sehr muskulöses Organ. Der Muskelmagen zermalmt die festen Bestandteile der Nahrung, wie Zähne, Knöchelchen und Fell, und presst sie zu länglichen kleinen Ballen zusammen, den Gewöllen. „Uuul-Glatsch“ bezeichnet das einzigartige Geräusch, das entsteht, wenn etwas vom ersten Magen in den Muskelmagen rutscht.

Gundesfyrr fing an zu singen:

Uuul-Glatsch! Uuul-Glatsch!Für diese MausIst es nun aus.Zermalmt und zermahlenWird der leckere Schmaus,Und schon will das ersteGewölle hinaus!

Es ließ tatsächlich nicht lange auf sich warten. Meine Eltern führten mich zum Eingang unserer Höhle und ich würgte mein erstes richtiges Gewölle aus. Wahrhaftig – ich wuchs rasch heran!

Es war ein sehr gelungenes Gewölle.

„Fabelhaft“, sagte Mama.

„Echt männlich“, lobte mich mein Vater.

Dann zankten sie sich ein bisschen, weil Mama meinte, es gebe ebenso wenig „männliche“ Gewölle wie „weibliche“. Ich hörte nicht richtig hin, so begeistert war ich, dass ich zum ersten Mal nach draußen schauen konnte. Ich spürte die kalte Luft und die weichen Schneeflocken im Gesicht. Ich sah die schlanken Äste unserer Kiefer und die wunderschönen grünen Nadeln, die aus den Schneepolstern auf den Ästen lugten. Und auf einem Baum gegenüber sah ich ein Eulenkind, das schwankend auf einem Ast hockte.

„Was macht der Eulenjunge da drüben, Papa?“

„Er lernt Ästeln.“

„Das will ich auch!“

„Nur Geduld. Bald bist du so weit.“

„Nein, nicht bald – jetzt! Sofort!“

„Du hast noch keine Federn, Dummerchen“, sagte meine Mutter. „Zum Ästeln braucht man mindestens ein paar richtige Federn. Und jetzt komm wieder rein. Du bibberst ja schon.“

„Nein!“

„Du frierst, Schätzchen“, mahnte Gundesfyrr.

„GARNICHT!“, gab ich zurück. In Wahrheit wurde die Haut zwischen meinen hässlichen Dunenbüscheln schon blau. Ja, ich war eine echte Schönheit!

Von da an untersuchte ich mich noch gründlicher auf die ersten Federansätze. Jede Nacht, wenn meine Eltern anderweitig beschäftigt waren, hüpfte ich zum Eingang unserer Höhle und beobachtete den Eulenjungen gegenüber. Er hieß Moss, und ich war furchtbar neidisch auf ihn. Er war ein Schnee-Eulerich und in derselben Nacht geschlüpft wie ich. Vielleicht ein, zwei Stunden früher, aber mehr auf keinen Fall. Ich fand ihn sehr groß, dabei war er für eine junge Schnee-Eule eigentlich ganz normal gewachsen, denn Schnee-Eulen sind von Natur aus größer als Kreischeulen. Diese ein, zwei Stunden hatten ihm offenbar einen entscheidenden Vorsprung verschafft. So schnell, wie er flügge wurde, konnte man gar nicht gucken.

Als ich die Erwachsenen fragte, warum das so ist, antworteten sie einhellig: „Das ist bei Schnee-Eulen nun mal so.“ Es war eine dieser blöden Antworten, die man von Erwachsenen so oft bekommt und die wir Jungvögel ihnen einfach so glauben sollen. Aber nicht mit mir! Es kommt selten vor, dass ich etwas einfach so glaube. Das war damals schon so.

In meinen missgünstigen kleinen Augen war Moss mit seinem prächtigen flauschigen Gefieder, das in all dem Weiß nur ein paar dunkle Sprenkel aufwies, geradezu ein Riese. Und er beherrschte das Ästeln immer besser. Federn bekommen, Ästeln, Fliegen – das sind die sogenannten „Flugziele“ einer Jungeule auf dem Weg zur Beherrschung ihrer Schwingen.

Mir war klar, dass es nur noch eine Frage von wenigen Nächten war, bis Moss zum ersten Mal richtig fliegen würde. FLIEGEN! Und ich saß in dieser verschtuckenen Höhle fest! Unseligerweise rutschte mir das Wort „verschtucken“ eines Abends heraus, als ich mich wieder mal bitter darüber beklagte, dass ich nicht schon flügge war. Meine Mutter verpasste mir einen derben Flügelklaps auf den flaumigen Bürzel. „Verschtucken“ ist ein Schimpfwort, aber das wusste ich damals nicht. Ich hatte nur von anderen beurlaubten Kriegern eine Menge Ausdrücke aufgeschnappt, wenn ich von unserem Höhleneingang aus die Außenwelt beobachtete. Sogar mein Vater hatte einmal „verschtucken“ gesagt, als er mit einem alten Mitstreiter über das Frontgeschehen diskutierte.

Dann war da noch die gruselige Geschichte, die ich eines Abends mit anhörte, als meine Eltern dachten, ich schliefe noch. Sie sprachen sehr leise, mit gedämpften Stimmen, und vielleicht war es gerade das, was mich aufhorchen ließ.

„Weißt du schon das Neueste?“, fragte meine Mutter.

„Was denn, Ulfa?“ Papas Stimme klang angespannt.

„Das, was in der Reißzahnbucht passiert ist … mit der Schnee-Eulen-Familie.“ Sie wartete Papas Erwiderung nicht ab, als müsste sie die Geschichte unbedingt loswerden. „Es soll sich in einem Kiefernwäldchen abgespielt haben. In einer ruhigen Gegend.“ Sie sprach noch leiser, und ich musste mich anstrengen, um überhaupt noch etwas zu verstehen. „Er hatte zwei seiner Offiziere dabei …“ Ich glaubte, sie schlucken zu hören. „Das Küken der Schnee-Eulen war erst kürzlich geschlüpft, vielleicht sogar erst in der Vornacht, und er wollte die Eltern für sein Heer anwerben. Wahrscheinlich haben sie sich geweigert, und da hat er die Beherrschung verloren, ist richtig gagga geworden, hat getobt wie ein Rasender. Er hat sich das Kleine geschnappt, es in einen Tragbeutel gestopft und gekreischt: ‚Wenn ihr so verstockt seid, dann mache ich eben aus eurem Kind einen Krieger!‘ Dann hat er die Eltern vor den Augen des Kleinen umgebracht. Ja, das hat er getan, und das ist nicht nur ein Gerücht, Rask. Es ist die Wahrheit!“

Als ich das hörte, erstarrte mein Muskelmagen zu Eis. Er! Auch wenn ich noch klein war, wusste ich nur allzu gut, wer damit gemeint war: Bylyric, der Oberbefehlshaber des Eiszehen-Heeres. Er sei nicht nur brutal, erzählte man sich, sondern richtiggehend wahnsinnig. Er hatte zahlreiche Beinamen: „der Eiszehen-Tyrann“ zum Beispiel oder „der Waisenmacher“. Ich schlang meine Flügel eng um mich und versuchte weiterzuschlafen.

Inzwischen wollte ich wie meine Eltern zum Militär, doch das Gehörte hatte mich tief erschüttert. Bylyric war die Verkörperung des Bösen, das wusste jedes Eulenkind von der Nacht seines Schlüpfens an. Man gab ihm die Schuld daran, dass in unserem Land Krieg herrschte. Dabei war Bylyric noch gar nicht so alt, und der Krieg war schon vor über hundert Jahren ausgebrochen. An den ursprünglichen Anlass schienen sich meine Eltern kaum noch erinnern zu können. Wenn Bylyric fiel, würde dann endlich Frieden einkehren? Oder war vor langer, langer Zeit etwas in Gang gekommen, von dem niemand wusste, wie man es aufhalten konnte? Doch ehe ich aus meinen Überlegungen irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen konnte, juckte es mich plötzlich heftig am Steuerbordflügel. Ich fuhr mit der Zunge – ja, auch wir Eulen haben Zungen – über die juckende Stelle, und, beim Glaux, da war ein kleiner Hubbel. Das kann nicht sein!, dachte ich. Das kann nicht sein! Aber es war tatsächlich so.

„Ich bekomme Federn!“, schrie ich.

Mama kam herbeigeeilt. „Du hast Recht!“, rief sie entzückt. „Lass mich noch mal sehen, Lyzie.“

„Nenn mich nicht immer Lyzie! Ich bin bald flügge! Wann darf ich zur Schwarzhuhninsel fliegen? Wann? Wann? Wann?“

Der Flug zur Schwarzhuhninsel bedeutete das Ende der Kükenmonde. Die junge Eule erprobte bei dieser Gelegenheit noch einmal ihre neu erworbenen Flugfähigkeiten und konnte anschließend mit der militärischen Ausbildung beginnen. Die Schwarzhuhninsel lag südöstlich von uns im Wintermeer und war auf der Sturminsel das Hauptgesprächsthema. Auch, weil dort die hochwertigsten Waffen in den ganzen Nordlanden hergestellt wurden. Der Freie Schmied Orf leitete eine Werkstatt, die er von seinen Vorfahren übernommen hatte. Er stammte von einer langen Ahnenreihe von Bartkauz-Schmieden ab, die nicht nur ein untrügliches Gespür für Metalle besaßen, sondern auch für Eis. Obwohl Orf selbst kein Krieger war, galt auch er als Held.

Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Moss diesen Flug womöglich früher antreten würde als ich. Er hatte inzwischen jede Menge richtiger Federn und ästelte wie ein Weltmeister. Ein Weltmeister im Angeben war er übrigens auch! Jedes Mal, wenn ich den Kopf aus unserer Höhle streckte, ließ er sich lautstark darüber aus, wie er sich beim nächsten Schwinden des Mondes, wenn nur noch eine dünne weiße Dunenfeder am Himmel leuchtete, in die Lüfte schwingen und auf den Weg zur Schwarzhuhninsel machen würde. Ich ertrug es kaum noch, seine Fortschritte zu verfolgen, und doch konnte ich mich nicht von meinem Beobachtungsposten losreißen.

Als ich das nächste Mal nach draußen spähte, warf Moss’ Vater gerade eine tote Maus vom Baum. Moss ging sofort in den Sturzflug, in die sogenannte „Beutespirale“. Die beiden spielten das „Hol und Friss“-Spiel. Es galt als die beste Vorbereitung eines Ästlings auf das spätere Jagen. Sobald ein Eulenkind fliegen gelernt hatte, musste es sich nämlich selbst versorgen. Ich hatte „Hol und Friss“ bis jetzt nur in unserer Höhle mit meinen Eltern gespielt, manchmal auch mit unserer neuen Nesthälterin Gilda. Sie warfen mir eine tote Maus zu, und ich flatterte auf, so gut es in der niedrigen Höhle eben ging, und stürzte mich von oben auf die Beute. Der richtige Griff ist entscheidend. Man muss das Beutetier beim ersten Versuch packen, mit festem „Krallenschluss“, und dann Lunge oder Herz durchbohren.

„Guck mal, was ich Tolles kann, Papa!“, pflegte Moss zu rufen. Aber er sah dabei niemals seinen Vater an, sondern schielte immer zu mir herüber. Dann vollführte er irgendein Kunststück, das für einen Ästling aufsehenerregend war, und sein Vater schlug anerkennend mit den mächtigen schneeweißen Flügeln. Moss’ eigene Flügel waren nicht rein weiß. Noch nicht. Junge Schnee-Eulen haben zwischen den weißen Federn auch ein paar schwarze. Trotzdem sieht ihr Gefieder beeindruckend aus, vor allem verglichen mit dem Gefieder junger Kreischeulen, wie ich eine war.

Mein Gefieder hatte einen ziemlich tristen Farbton: gräulich-bräunlich. Es war also noch nicht einmal richtig grau oder richtig braun. Man könnte sogar sagen, dass wir Kreischeulen schmuddelig aussehen. Das einzig Schöne an uns ist unsere Stimme, was erstaunen dürfte, denn der Name „Kreischeule“ legt nicht eben wohlklingende Laute nahe. Doch unsere Rufe können so lieblich klingen wie die keines anderen Vogels. Es heißt sogar, sie klängen wie Sternenlicht oder wie der Gesang der Sterne. Die tieferen Töne werden manchmal mit dem Klang von Holzflöten verglichen, wie sie in den verfallenen Burgen und Schlössern der Anderen zu finden sind. Schnee-Eulen dagegen stoßen heisere, abgehackte, unmelodische Rufe aus – wie ich sie von gegenüber wahrhaftig schon zur Genüge vernommen hatte!

Doch schließlich kam jene schicksalhafte Nacht, in der eine außergewöhnliche Freundschaft ihren Anfang nahm. Es war die Nacht, in der Moss seinen ersten richtigen Flug absolvierte und ich zum ersten Mal von dem Ast vor unserer Höhle auf den benachbarten Ast hüpfte.

Auch wenn ich zwischen den beiden Ästen nur eine kleine Entfernung zu überwinden hatte, war es für mich ein großer Triumph. Doch die anschließenden Jubelrufe galten nicht mir, sondern Moss! Er hatte zum ersten Mal die Hock-Spitze am anderen Ende der Insel vollständig umrundet. Ich kochte vor Wut, dass mein Rivale mich ausgestochen hatte. Zur Hock-Spitze zu fliegen, sich kurz auszuruhen und dann zurückzufliegen, war das eine, aber die Landzunge ohne Zwischenhalt zu umrunden und zurückzukehren, war für einen so jungen Eulerich eine überragende Leistung. Genauso gut hätte Moss zum Mond fliegen können!

„Bravo, mein Sohn! Jetzt bist du bereit für den Flug zur Schwarzhuhninsel!“, freute sich sein Vater.

„Hat man so etwas schon gesehen?“ Ein Onkel kam dazu und schlug Moss mit dem Backbordflügel anerkennend auf die Schulter. Ich blinzelte. Hätte mir jemand so einen Schlag verpasst, wäre ich vom Ast gekippt. Meine Mutter landete neben mir.

„Du hast deine Sache sehr gut gemacht, Lyze. Sehr elegant.“ Bei ihren Worten fühlte ich mich nur noch mehr als Versager. Sie war so offensichtlich bemüht, mir im Schatten von Moss’ spektakulärem Erfolg Mut zuzusprechen.

„Warum legst du denn das Gefieder an, mein Liebling? Du hast gerade zum ersten Mal geästelt, beim Glaux!“ Sie nickte so nachdrücklich, als müsste sie sich selbst davon überzeugen, dass das etwas Großartiges war. Dabei verrutschte ihr Kopftuch ein bisschen und die leere, runzlige Augenhöhle kam zum Vorschein.

„Dein Tuch!“, raunte ich ihr zu. Sie warf mir mit dem gesunden Auge einen ärgerlichen Blick zu und zog das Tuch zurecht. Ich bekam sofort Gewissensbisse, dass ich etwas gesagt hatte.

Gegenüber suhlte sich Moss derweil in den überschwänglichen Lobeshymnen, mit denen ihn seine Verwandten überschütteten. Es wurde wieder und wieder bekundet, wie schade es doch sei, dass seine Mutter noch nicht wieder da war, um seinen Erfolg mit ihm zu feiern. Zwischendurch flatterte er immer wieder von seinem Ast auf und führte das Flugkunststück vor, mit welchem er seine Mutter bei ihrer Ankunft beeindrucken wollte. Er hatte es sich ausgedacht, als die kitibitischen Winde3 um die Hock-Spitze gewirbelt waren. Diese Winde führen oftmals Treibgut und Tang mit sich, manchmal sogar kleinere Fische – Elritzen oder die eigentümlichen Fliegenden Fische. Moss schwenkte ein Büschel Knotentang, in dem sich eine Elritze verfangen hatte.

„Guckt mal, was ich hier habe!“, rief er. „Sogar mit Fischeinlage!“

„Fressen! Fressen!“, krächzte seine große Schwester so heiser, dass mir die Ohrschlitze wehtaten. „Das bringt Glück.“

„Altgluckenmärchen!“, blaffte jemand.

„Apropos alte Glucken …“ Moss’ Vater riss ungläubig die Augen auf. „Ist das nicht meine Hrenna, beim Glaux? Ja, sie ist es! Meine geliebte Hrenna!“

Im selben Augenblick landete ein Schnee-Eulen-Weibchen auf dem Baum und rief: „Moss! Moss! Mein geliebter Sohn!“

Ich weiß nur noch, dass Moss inmitten des allgemeinen Aufruhrs plötzlich die Federn anlegte und sich klein machte. Alle Angeberei war auf einmal vergessen, und seltsamerweise schielte er verstohlen zu mir herüber. Sein Blick hatte beinahe etwas Furchtsames. Dann verschwand er mit seinen Eltern und seiner Schwester in der Höhle, doch draußen wurde munter weitergefeiert. Mehrere Nächte sollten vergehen, ehe ich ihn wiedersah.

Nach der Rückkehr von Moss’ Mutter luden seine Eltern uns in ihre Höhle ein. Mein Vater war dafür, die Einladung anzunehmen. Alle heimgekehrten Krieger tauschten gern Neuigkeiten über das Frontgeschehen aus. Mama fragte mich, ob ich mitkommen wolle.

„Wird Moss auch dabei sein?“ Ich war nicht scharf darauf, mir wieder seine Prahlereien anhören zu müssen.

„Natürlich wird er dabei sein.“

„Muss er denn nicht langsam mal zur Schwarzhuhninsel aufbrechen? Er kann doch längst gut genug fliegen.“ Mein Tonfall war verächtlich, mein Neid nicht zu überhören. Meine Mutter legte den Kopf schief und musterte mich forschend. Sie machte keine Anstalten, das Tuch, das dabei wieder verrutschte, zurechtzuziehen.

„Ich weiß nicht, was du damit für ein Problem hast, Lyze, aber es gefällt mir nicht, wie du über Moss sprichst. Flügglingseifersucht ist ein unschöner Charakterzug.“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. „Es heißt, so etwas kann sogar dazu führen, dass deine Federstrahlen kreuz und quer wachsen.“ Das war nun wirklich ein Altgluckenmärchen. Jede Flugfeder besitzt winzige, nahezu unsichtbare Häkchen, die ineinandergreifen, damit die Oberfläche der Federn schön glatt ist und beim Fliegen dem Wind möglichst wenig Widerstand bietet. Ungezogenen Eulenkindern drohte man oft: „Lass das, oder deine Federstrahlen wachsen schief und krumm.“