Die Legende der Wächter 14: Die Verbannung - Kathryn Lasky - E-Book

Die Legende der Wächter 14: Die Verbannung E-Book

Kathryn Lasky

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Beschreibung

Unheimliches geht vor im Großen Baum: Der junge Eulenkönig Coryn verbietet alle fröhlichen Feste und verbannt seine alten Getreuen. Sein einziger Vertrauter ist nun der hinterlistige Dracheneulerich Striga.

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2014Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© Ravensburger Verlag GmbHAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.Deutsche Erstausgabe © 2014 Ravensburger Verlag GmbH Copyright © 2008 by Kathryn Lasky, All rights reservedPublished by Arrangement with SCHOLASTICINC., 557 Broadway, New York, NY 10012 USADieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel „Guardians of Ga’Hoole. Exile”.Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie, Zürich © Illustration: F. Regös Innenillustrationen: Wahed Khakdan Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Katharina Orgaß Redaktion: Britta KeilISBN978-3-473-47555-1www.ravensburger.de

„Mein Entwurf für den Leitartikel ist fertig. Darf ich ihn dir mal vorlesen, Otulissa?“

Die fleißige junge Sperlingskäuzin Fritzi, eine von Otulissas begabtesten Schülerinnen, war Mitherausgeberin von Der Abendruf. Otulissa und Fritzi hatten die Zeitung kurz nach Coryns Ankunft im Baum gegründet.

Otulissa blickte von ihrer Lektüre auf. „Lass hören.“

„‚Das Erntefest gehört eigentlich zu den ausgelassensten Feiern im Großen Baum. In diesem Jahr jedoch wird es mit Rücksicht auf den blauen Eulerich Striga weniger pompös ausfallen. Der Striga stammt aus den Mittellanden, dem erst kürzlich entdeckten sechsten Eulenkönigreich, und bevorzugt eine bescheidene, einfache Lebensweise. Rauschende Feste gehören für ihn nicht dazu. Da die Wächter von Ga’Hoole ihm viel zu verdanken haben, wird das Erntefest in diesem Jahr nach seinen Vorstellungen ausgerichtet. Es wird weder gesungen noch getanzt werden. Auch wird diesmal kein Milchbeerenmet ausgeschenkt.‘“ Fritzi sah von ihrem Artikel auf. „Und? Wie findest du das?“

„Deprimierend“, sagte Otulissa.

„Ich verstehe das einfach nicht, Bell!“, beschwerte sich Bells Schwester Blüte. „Ich habe den ganzen Sommer über Gesangsstunden bei Madame Plonk genommen. Und jetzt erzählst du mir, dass ich auf dem Fest nicht auftreten soll? Madame Plonk wird sauer sein. Ich bin auch sauer.“

„Das musst du nicht.“

„Aber ich habe so viel geübt!“

„Singen ist … na ja … ein Ausdruck von Hochmut“, erwiderte Bell ein bisschen verlegen.

„Von Hochmut?“ Blüte riss erstaunt die großen schwarzen Augen auf.

„Ja, und von Eitelkeit.“

Seit der blaue Eulerich Striga im Großen Baum lebte, war das Wort „Eitelkeit“ immer öfter zu hören.

Die Wächter von Ga’Hoole waren dem Blauen zu großem Dank verpflichtet. Das galt vor allem für Soren und Pelli. Striga – beziehungsweise „der Striga“, wie er sich mit Vorliebe nennen ließ – hatte ihrer Tochter, der kleinen Bell, das Leben gerettet.

Bell war auf einem Übungsflug für die Nachwuchsbrigaden von einem Sturm mitgerissen worden. Dabei hatte sie sich verletzt. Hätte der Striga, der aus seiner Heimat, den Mittellanden, geflohen war, sie nicht gefunden und gepflegt, wäre sie womöglich gestorben. Doch Bell hatte noch weit Schlimmeres durchgemacht. Sie und der Striga waren von den Reinen in die Wüste Kuneer verschleppt worden.

Seit vielen Monden hatte man nichts mehr von den Reinen und ihrer machtgierigen Oberbefehlshaberin Nyra gehört. Man hatte gehofft, das Heer der Reinen wäre bis auf wenige Überlebende aufgerieben worden und Nyra selbst wäre im Kampf gefallen. Das war leider ein Irrtum gewesen. Die Reinen hatten heimlich neue Kämpfer angeworben und sich in ein unterirdisches Heereslager in der Wüste zurückgezogen.

Letztlich war dem Striga und Bell die Flucht gelungen, doch während ihrer Gefangenschaft hatten sie herausgefunden, dass die Reinen einen Mordanschlag auf Coryn und die Viererbande planten. Zum Glück konnte der Striga den Plan der Reinen durchkreuzen.

Somit war es nicht nur Bell, die tief in seiner Schuld stand, sondern die gesamte Gemeinschaft der Wächter. Darum hatten Coryn und die Bande den Striga auch in den Großen Baum eingeladen.

Der Striga wiederum war froh gewesen, die Mittellande und den Drachenhof der Kaiserinwitwe endgültig verlassen zu können, denn das träge, verschwenderische Leben, das er dort geführt hatte, war ihm zutiefst verhasst.

„Wenn du deinen Auftritt auf dem Erntefest absagst, schenke ich dir eine blaue Feder vom Striga“, versuchte Bell ihre Schwester zu überreden.

„Was soll ich denn mit einer ollen Feder?“, sagte Blüte mürrisch.

„Du könntest in unseren Club eintreten, den Club der Blauen Feder. Ein Clubmitglied zu sein, ist einfach toll!“

Blüte wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Was war bitte schön toll daran, einem Club anzugehören? Singen – das war etwas Tolles! Bell hat sich sehr verändert, dachte sie.

„Ich kapier das nicht“, sagte Morgengrau schlecht gelaunt.

„Was kapierst du nicht?“, fragte Gylfie.

Der stattliche Bartkauz drehte sich zu der zierlichen Elfenkäuzin um. „Jetzt mal ehrlich, Gylfie. Wie sollen wir morgen Nacht ein richtiges Erntefest feiern? Wir haben ja noch nicht mal Rankengirlanden aufgehängt!“

„Und was ist mit dem Milchbeerenmet?“ Digger flatterte auf die Hauptempore der Großen Höhle. „Es wird gar keiner gebraut, sonst hätten wir schon etwas gerochen. Die Harfengilde hat auch nicht geübt. Und das soll das fröhlichste Fest des Jahres werden? Mir kommt es eher wie eine Bestattungsfeier vor!“

„Mir auch“, pflichtete Soren ihm bei. „Allerdings muss ich zugeben, dass wir es letztes Jahr vielleicht ein bisschen übertrieben haben. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass ich Otulissa mal betrunken erleben würde. Sie hätte den armen Martin beinahe zerquetscht.“

„Sie tanzt einfach gern“, entgegnete Digger. „Ich weiß noch gut, wie sie dich in unserem ersten Jahr hier im Großen Baum zum Glauc-Glauc aufgefordert hat.“

„Ich war nicht betrunken!“ Otulissa segelte von einer höher gelegenen Empore. „Ihr könnt Martin fragen. Er war derjenige, der mitten im Flug zu torkeln angefangen hat. Ich werde nicht so schnell beschwipst. Ich kann was vertragen!“

„Ich habe ja den Verdacht, dass letztes Jahr jemand Bingelsaft in den Met gekippt hat“, sagte Gylfie. „Das ist eine ganz üble Mischung. Die Herbstmäuse, meine Leibspeise, sind mir noch drei Nächte nach dem Fest immer wieder aufgestoßen. Wenn ich nur daran denke, muss ich rülpsen.“

„Das kommt davon, dass du so winzig bist“, sagte Morgengrau. „Du verträgst einfach keinen Bingelsaft, mit Met gemischt oder nicht.“

„Hack nicht schon wieder auf meiner Körpergröße herum!“, erwiderte Gylfie ärgerlich. Sie war das kleinste Mitglied der Bande und in diesem Punkt sehr empfindlich. Sie hatte sogar die GKE wieder ins Leben gerufen, die „Gesellschaft kleiner Eulen“. Ihre Großmutter hatte diese Vereinigung seinerzeit gegründet. Die GKE hatte sich zum Ziel gesetzt, geschmacklose und beleidigende Äußerungen über geringe Körpergröße zu bekämpfen.

„Komm schon, Gylfie“, sagte Otulissa, „das geht doch nicht gegen dich persönlich. Es ist nun mal wissenschaftlich erwiesen, dass kleinere Eulenarten nicht für den Genuss berauschender Getränke geschaffen sind. Das kann man sogar mit einer Formel berechnen. Du multiplizierst dein Gewicht mit der Quadratwurzel aus deiner Flügelspannweite, teilst das Ergebnis durch deine Gesamtlänge vom Kopf bis zur Schwanzspitze und erhältst die Anzahl der Schlucke, die du verträgst. Es ist kinderleicht. Und bei dir kommt vermutlich ein Zehntelschluck heraus.“

„Mich nervt diese Unterhaltung!“, schimpfte Gylfie. „Du bist doch diejenige, die beim Tanzen durch die Gegend torkelt, Otulissa! Und Madame Plonk, die fast so groß ist wie Morgengrau, hat es bisher jedes Jahr geschafft, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken. Ich muss bloß mal aufstoßen und schon werde ich als Säuferin hingestellt.“

„Das habe ich nicht gesagt“, widersprach Otulissa. „Ich habe dir lediglich erklärt, mithilfe welcher Formel du deine Trinkfestigkeit berechnen kannst.“

„Streitet euch nicht“, versuchte Digger die Wogen zu glätten. „Dieses Jahr brauchen wir sowieso keine Formel, weil ja gar kein Milchbeerenmet gebraut wird.“

„Nicht nur das“, gab Otulissa zurück. „Ich habe den Eindruck, dass auch sonst nichts für das Erntefest vorbereitet wird. Überhaupt nichts, bei meinem Bürzel!“ Otulissa fluchte nur äußerst selten. Gylfie, Digger und Morgengrau schauten sie erstaunt an, dann drehten sich alle vier zu Soren um.

Der Schleiereulerich sagte verlegen: „Ich weiß ja, was ihr meint. Der Striga ist eben ein bisschen eigen. Wir müssen Geduld mit ihm haben. Coryn wird schon noch einen Weg finden, wie wir am besten mit ihm umgehen.“ Soren mochte nicht schon wieder darauf hinweisen, wie sehr sie alle dem Blauen zu Dank verpflichtet waren.

„Mich würde mal interessieren, wie Coryn das eigentlich alles findet“, sagte Gylfie. „Seit unserer Rückkehr benimmt er sich, als gingen ihn der Große Baum und das Fest nichts an. Dabei hätte er doch allen Grund, sich zu freuen! Wir sind dem Mordanschlag entronnen. Das Königreich blüht und gedeiht. Obendrein sind die Eulen der Mittellande jetzt unsere Verbündeten. Trotzdem hockt er die ganze Zeit in seiner Höhle und lässt sich kaum noch blicken.“

„Ich vermute, ihn hat ein Gollimopp erwischt“, warf Digger ein. „Er brütet die ganze Zeit vor sich hin – und damit meine ich nicht, dass er ein Gelege ausbrütet.“

Gylfies gelbe Augen leuchteten plötzlich auf. „Du bringst mich auf eine Idee, Digger!“

„Nämlich?“

„Wie wär’s, wenn wir Coryn eine Gefährtin suchen? Sein Leben könnte ein bisschen Romantik vertragen.“

„Ich finde die Idee nicht schlecht“, sagte Morgengrau nachdenklich. „Wenn Coryn eine Familie gründet, ist er in seiner Höhle nicht mehr so allein.“

„Und das aus deinem Schnabel, Morgengrau!“ Soren, der bis jetzt als Einziger der Viererbande eine Familie gegründet hatte, tschurrte belustigt.

„Du kennst mich doch“, erwiderte der Bartkauz. „Ich brauche meine Freiheit. Ich bin kein Familientyp.“ Die anderen Eulen wechselten vielsagende Blicke. Sie wussten, was jetzt kam. „Ich bin durch die harte Schule einer Waise gegangen. Ich tauge nicht dazu, Küken großzuziehen.“

„Ich glaube, du wärst ein guter Vater“, widersprach ihm Soren freundlich.

„Was in Glaux’ Namen treiben diese Grünschnäbel da drüben?“, rief Otulissa. Sie hatte sechs Eulenkinder erspäht, die mit blauen Büscheln in den Zehen im Kreis flogen.

„Ach, das ist bloß der Club der Blauen Feder“, antwortete Soren. „Eine neue Mode bei den Jungvögeln. Bell will Bascha und Blüte schon die ganze Zeit dazu überreden, mitzumachen.“

„Singt Blüte denn nun auf dem Erntefest?“, fragte Gylfie.

„Ich hoffe doch. Madame Plonk meint, sie ist ein Naturtalent, auch wenn sie keine Schnee-Eule ist. Sie übt die ganze Zeit für ihren Auftritt, aber …“

Sorens bekümmerter Unterton entging Gylfie nicht. „Aber was?“, hakte sie nach.

„Ach, nichts“, wehrte Soren ab.

Doch die Elfenkäuzin kannte ihren Freund besser als irgendjemand sonst. Sie spürte genau, dass ihn etwas bedrückte.

Blüte durfte nicht auftreten. Es würde keine Musik geben, keinen Tanz und keinen Bingelsaft. Und was beinahe das Schlimmste war: Coryn hatte das alles persönlich angeordnet.

„Nur dieses eine Mal. Ihr wisst doch, was der Striga für uns getan hat. Auf diese Weise können wir uns erkenntlich zeigen.“ Coryn schaute verunsichert in die Runde. „Das versteht ihr doch, oder?“

„Nö“, gab Morgengrau grob zurück.

„Jetzt sei doch nicht so stur.“

„Ich bin nicht stur. Ich versteh’s bloß nicht.“

„Ich verstehe auch nicht, warum der Striga das Recht haben sollte, über unser Fest zu bestimmen“, schloss Gylfie sich ihm an.

Coryn reckte sich und plusterte das Brustgefieder auf. „Es geht nicht nur um den Striga. Es wird uns allen guttun, auf eine ausschweifende Feier zu verzichten. Oder wisst ihr nicht mehr, wie es während der Goldenen Zeit bei uns zuging? Habt ihr den abscheulichen Kult um die Glut vergessen? Die Eulen hier im Baum waren geradezu davon besessen! Der ganze Prunk und Protz hatte nichts Eulenhaftes mehr. Es herrschten Zustände wie bei den Anderen. Das hast du damals selbst gesagt, Soren.“

Soren blinzelte. Coryn hatte nicht ganz Unrecht. Feiern und Rituale konnten auch gefährlich sein, vor allem wenn sie zum Selbstzweck wurden so wie am Drachenhof, wo der Striga gelebt hatte. Feste und verschwenderischer Luxus waren für die Eulen dort zum Lebensinhalt geworden. Ihre eulenhafte Natur hingegen hatten sie nach und nach aufgegeben. Die meisten von ihnen konnten nicht einmal mehr fliegen, weil sie viel zu dick und schwerfällig geworden waren. Der Blaue hatte dieses Leben derart verabscheut, dass er sich eines Tages sogar die unnatürlich lang gewachsenen Federn ausgerissen hatte.

Soren fand es sehr geschickt von Coryn, die Goldene Zeit ins Spiel zu bringen. Nach solchen Zuständen sehnte sich nun wirklich niemand zurück.

Die anderen sahen Soren erwartungsvoll an. In ihren Augen war es seine Aufgabe, das Wort an Coryn zu richten, denn der junge König war sein Neffe.

„Du hast da einige bedenkenswerte Punkte angesprochen, Coryn“, sagte Soren. „Fürs Erste werden wir deine Wünsche respektieren.“

Morgengraus Augen funkelten immer noch aufgebracht. „Und was ist mit der Närrischen Nacht?“

„Die findet natürlich statt“, beruhigte Coryn ihn.

Die Närrische Nacht wurde am ersten Neumond nach dem Erntefest gefeiert und war besonders bei den Jungvögeln beliebt. Doch die Älteren ließen sich gern vom Übermut der Jüngeren anstecken. Man kostümierte sich und spielte einander Streiche. Die Eulenkinder setzten Masken auf und schlossen sich zu Grüppchen zusammen, um im Austausch gegen Süßigkeiten zu singen oder Flugkunststücke vorzuführen.

Morgengrau war dafür eigentlich schon viel zu alt, doch das hielt ihn keineswegs vom Mitmachen ab. Im Gegenteil: Der Bartkauz gehörte sogar zu den wildesten Narren im Baum. Im letzten Jahr hatte er sich, mit einer Sperlingskauz-Maske ausstaffiert, unter den Nachwuchs gemischt und ihn zu immer derberen Späßen angestachelt.

„Dann bin ich ja beruhigt“, sagte er jetzt. „Ich dachte schon, in unserem Baum wäre von nun an jeder Spaß verboten.“

Die vier Freunde verabschiedeten sich.

Soren war der Letzte, der hinaus auf den Ast vor der Höhle hüpfte. Er drehte sich noch einmal nach seinem Neffen um und fragte: „Weißt du auch wirklich, was du da tust?“

„Ja. Festlichkeiten und Rituale bergen Gefahren und …“

Soren hörte nur mit halbem Ohrschlitz zu, denn er hatte etwas entdeckt: Aus der Wandnische, in der Coryn seine liebsten Besitztümer aufbewahrte, lugte die Spitze einer blauen Feder hervor. Sie war Soren in Coryns Höhle noch nie aufgefallen.

Wozu in Glaux’ Namen hebt Coryn eine blaue Feder auf? Er ist doch kein Jungvogel mehr, der in einen Club eintreten möchte, oder?

Während die Bande mit Coryn über das Erntefest sprach, kümmerte sich Otulissa um die Bibliothek. Zusätzlich zu ihren vielen anderen Aufgaben im Großen Baum hatte sie auch die Vertretung der Oberbibliothekarin Winifred übernommen, die an einem Gichtanfall litt.

Otulissa mochte diese Arbeit, denn für gewöhnlich hatte sie in der Bibliothek ihre Ruhe und konnte, umgeben von zahlreichen Nachschlagewerken, ihr Wetterkunde-Projekt fortsetzen. Seit ihrer Rückkehr aus den Mittellanden beschäftigte sie sich mit Windzwillingen und dem sogenannten Windfluss, der zwischen der Welt von Ga’Hoole und den Mittellanden verlief.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie nichts anderes um sich herum wahrnahm – weder das Grüppchen Eulenkinder, das sich leise kichernd um ein Witzebuch drängte, noch den Eulerich, der sich ihrem Schreibtisch näherte.

Der Tisch hatte dem verstorbenen Ezylryb gehört, dem berühmten Gelehrten, Dichter, Historiker und in seiner Jugend gefürchteten Krieger.

„Ähem“, räusperte sich der Eulerich.

Otulissa hob den Kopf. Vor ihr saß der Striga.

„Entschuldige bitte. Ich habe dich gar nicht kommen hören. Ich war so in mein Buch vertieft.“

„Darf ich fragen, was du da liest?“

„Ein Buch über Windarten und Luftströmungen. Ich bin Mitglied der Wetterkundebrigade.“

„Aha“, sagte der Striga. „Sehr löblich!“

Otulissa blinzelte verdutzt. Was ist daran löblich, beim Glaux? Und wie kommt ausgerechnet er dazu, mich zu loben? Aber sie behielt ihre Gedanken für sich.

„Wetterkunde gehört zu den praktischen Wissenschaften. So etwas befürworte ich sehr“, fuhr der Striga fort. Er ließ den Blick durch die Bibliothek schweifen. „Im Gegensatz zu gewissen … Machwerken, die … wie soll ich es ausdrücken … die einfach nur ketzerisch sind.“

„Ketzerisch?“

„Ich meine glauxlästerliche Bücher wie jenes, über das sich die Jungvögel dort drüben amüsieren.“

„Das ist eine Witzesammlung. Was ist daran verkehrt?“ Otulissa war so verärgert über den hochmütigen Ton, den der Striga anschlug, dass sie sich sogar zu einer Lüge hinreißen ließ. „Ich habe das Buch selbst auch gelesen, als ich jung war.“

Die Fleckenkäuzin hatte in ihrem ganzen Leben noch kein einziges Witzebuch gelesen. Trotzdem wäre sie nie auf die Idee gekommen, solche Bücher zu verurteilen.

„Aber diese Art Bücher sind ein Ausdruck von Eitelkeit!“

Wovon redet der Bursche?, dachte Otulissa. Überhaupt scheint Eitelkeit sein Lieblingswort zu sein.

„Ich verstehe nicht ganz, was Literatur mit Eitelkeit zu tun hat“, sagte sie.

„Literatur?“ Der Blaue schwieg kurz. „Sei froh, dass du dich nicht mit Literatur zu beschäftigen brauchst“, erwiderte er schließlich. „Dir geht es ja glücklicherweise um praktische Dinge wie zum Beispiel das Wetter … Wie heißt denn das Buch, das du liest?“

Sein Tonfall gefiel Otulissa nicht. Er klang aufdringlich und neugierig. Weshalb interessierte es ihn überhaupt so brennend, was sie las oder woran sie forschte? Nicht, dass sie etwas zu verbergen gehabt hätte. Das Buch, das vor ihr lag, hatte immerhin eine ihrer Vorfahrinnen, die bekannteste Wetterkundlerin des vergangenen Jahrhunderts, geschrieben: Strix Emerilla. Es trug den Titel Atmosphärischer Druck und Luftverwirbelungen – ein Leitfaden. Otulissa hielt es hoch. „Das hat meine Großtante dritten Grades mütterlicherseits verfasst.“

„Dann bist du bestimmt sehr stolz darauf.“

„Allerdings“, erwiderte Otulissa knapp.

„Hüte dich vor Hochmut!“

„Damit ich nicht eitel werde?“ Otulissa musterte den Striga genauer. Seit seiner Ankunft im Baum hatte sich der Blaue sehr verändert. Sein Gefieder war schütter geworden. Sein Gesicht war sogar fast kahl. Nur noch ein bläulicher Flaum bedeckte die graue, runzlige Haut.

„Du hast es erfasst!“, rief er aus.

Otulissa legte den Kopf schief, erst nach rechts, dann nach links, als wollte sie ihr Gegenüber aus jedem erdenklichen Blickwinkel betrachten.

„Bitte erklär mir doch, was für dich Eitelkeit bedeutet und was sie mit dem Witzebuch der Kleinen zu tun hat“, bat sie dann.

„Mit dem größten Vergnügen.“

Das glaube ich!, dachte Otulissa.

„Wie du ja weißt, habe ich früher am Drachenhof ein höchst unpraktisches Dasein gefristet.“ Der Blaue spuckte das Wort „unpraktisch“ aus, als wäre es ein Gewölle, das ihm quer im Magen gelegen hatte. „Die Eulen am Drachenhof waren faul und dumm, weil sie sich verwöhnen und verhätscheln ließen. Und welche Triebkraft liegt all dem zugrunde? Die Eitelkeit!“

„Aber was verstehst du denn nun unter Eitelkeit?“

„Sie ist der ganze falsche Glanz und Glitzer, der uns von Glaux und unserem wahren Eulentum ablenkt.“

„Was soll das heißen: ‚wahres Eulentum‘?“

„Dass wir von Natur aus bescheidene Geschöpfe sind.“

„Aha.“ Otulissa musste an Morgengrau, den alten Großschnabel, denken. Bescheiden, bei meiner Zehe!

„Wir müssen uns in Demut üben“, sprach der Striga weiter. „Alles andere ist Eitelkeit.“

„Ich hätte da noch eine Frage“, sagte Otulissa.

„Aber gern.“

Sie heftete den Blick auf ihn. „Leidest du an Gefiederräude? Mir ist aufgefallen, dass deine Gesichtsfedern schon ziemlich dünn sind.“

„Keineswegs“, antwortete der Striga beinahe freudig. „Weißt du, ich habe lange unter übermäßigem Federwuchs gelitten. Stell dir vor, wir hatten sogar Diener, deren einzige Aufgabe darin bestand, unsere Federn zu putzen, bis sie glänzten. Abscheulich!“ Der Striga schüttelte sich. „Wenn ich heute daran denke, dreht sich mir der Magen um. Diese Federn waren der Inbegriff von Eitelkeit.“

„Früher warst du aber auch stolz auf deine langen blauen Federn.“

„Ich wusste es nicht besser. Ich war verblendet.“

Otulissa schüttelte den Kopf. Das Leben am Drachenhof war und blieb ihr ein Rätsel. Dann fiel ihr wieder Theo ein, der edelmütige Uhu, über den in den Legenden berichtet wurde. Angeblich hatte er das Luxusleben am Drachenhof eingeführt, um gewisse Eulen mit schlechtem Charakter von ihren Machtgelüsten abzulenken. Ein genialer Trick, wie Otulissa fand, denn solange sich jene gefährlichen Geschöpfe ausschließlich mit sich selbst beschäftigten, konnten sie kein Unheil anrichten. Doch wenn sie dem Striga glauben durfte, so hatte Theos Idee nicht nur Gutes bewirkt.

„Aber inzwischen hast du noch weniger Federn als wir anderen“, stellte Otulissa fest. „Vor allem im Gesicht.“

„Weil ich sie mir ausreiße. Das ist meine Art, für die Fehler Buße zu tun, die ich in der Vergangenheit begangen habe. Ich will auf alles verzichten, was mich von meiner wahren Bestimmung ablenken könnte.“

„Federn sind doch keine Ablenkung! Sie sind ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Körpers.“ Otulissa machte eine Kunstpause. „Federn gehören zu unserem wahren Eulentum, oder nicht?“

„Aber sie belasten Geist und Seele! Wie soll sich die Seele zum ewigen Leben emporschwingen, wenn die Eitelkeiten von Fleisch und Federn sie beschweren?“ Der Striga sah die Fleckenkäuzin eindringlich an. Seine hellgelben Augen funkelten.

Ewiges Leben? Unser Leben findet hier und jetzt statt. Was hätte es für einen Sinn, wenn wir nicht fliegen könnten? Ist es nicht viel ketzerischer, sich die Federn auszureißen, die Glaux uns geschenkt hat?

Doch so gern sich Otulissa sonst auf Wortgefechte einließ – sie hatte plötzlich keine Lust mehr, sich mit dem Striga herumzustreiten. Zu diesem sonderbaren Gespräch fiel ihr einfach nichts mehr ein.

Von allen Bewohnern des Großen Baumes hatte Coryn bislang die meiste Zeit mit dem Striga verbracht. Obwohl sie beide ein grundverschiedenes Leben geführt hatten, sprach das, was der Blaue erzählte, ihn an.

Coryn war in einer unwirtlichen Schluchtenlandschaft aufgewachsen, die nicht mit dem Drachenhof zu vergleichen war. Niemand hatte ihn je verwöhnt. Im Gegenteil. Seine Mutter hatte ihn stets für ihre eigenen Zwecke missbraucht und ihn dazu erziehen wollen, eines Tages Anführer der Reinen zu werden.

Die „Reinen“ – das Wort hatte einen üblen Beigeschmack. Nyra und ihre Anhänger waren davon überzeugt, dass die Schleiereulen, die Tyto alba, allen übrigen Arten überlegen waren und dass es darum ihr Recht war, andere Eulen zu unterwerfen – auch mit brutaler Gewalt.

In der Schlacht gegen die Reinen hatte der Striga tapfer auf der Seite der Wächter gekämpft. Allerdings hatte er unter den Gegnern ein blutiges Gemetzel angerichtet, was den Regeln der Krieger aus den Mittellanden widersprach. Diese folgten dem „Weg der Sanftmut“, der es verbot, andere Eulen gezielt zu töten.

Coryn dachte noch darüber nach, als der Striga hereingeflogen kam.

„Na, wie war’s?“, fragte der Blaue.

„Ich weiß nicht recht.“

„Waren sie einverstanden?“

„Doch, schon.“

„Sehr gut.“

Coryn nickte so nachdrücklich, als müsste er sich selbst überzeugen. „Ganz bestimmt. Aber …“