Legende der Wächter - Kathryn Lasky - E-Book

Legende der Wächter E-Book

Kathryn Lasky

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Beschreibung

Der junge Eulerich Soren ist fasziniert von den Geschichten seines Vaters über die Wächter von Ga’Hoole. Die geflügelten Krieger zogen einst in eine gewaltige Schlacht, um ihr Volk vor einer Schreckensherrschaft der "reinen" Schleiereulen zu bewahren. Als Soren und sein Bruder Kludd aus dem Nest direkt in die Klauen der Reinsten fallen, wagt Soren die tollkühne Flucht - der Beginn eines wahrhaft fantastischen Abenteuers.

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Seitenzahl: 635

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2017 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 Ravensburger Verlag GmbH Copyright © 2003 by Kathryn Lasky. All rights reserved. Published by Arrangement with SCHOLASTIC INC., 557 Broadway, New York, NY 10012 USA Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen Die Originalausgaben zu Band 1 und Band 2 erschienen 2003 unter den Titeln "Guardians of Ga‘Hoole. The Capture" und "Guardians of Ga’Hoole. The Journey" bei Scholastic Inc. Die Originalausgabe zu Band 3 erschien 2004 unter dem Titel "Guardians of Ga‘Hoole. The Rescue" ebenfalls bei Scholastic Inc. Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Katharina Orgaß Innenillustrationen: Wahed Khakdan Lektorat: Iris Praël Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbHISBN 978-3-473-47858-3www.ravensburger.de

Kathryn Lasky

Die Legende der Wächter

Band 1-3:

Die Entführung

Die Wanderschaft

Die Rettung

Für Ann Reit, weise Eule und großartige Fluglehrerin

Prolog

Die Welt geriet ins Trudeln, die Nadeln der alten Tanne verschmolzen mit dem Nachthimmel, und ihm wurde flau im Magen, als er den Waldboden auf sich zurasen sah. Wie besessen schlug Soren mit den Stummelflügeln. Vergebens!

Gleich bin ich tot, dachte er, ein totes Eulenküken. Erst drei Wochen aus dem Ei und schon ist mein Leben zu Ende!

Da bremste auf einmal etwas seinen Sturz. Eine Lufttasche? Ein daunenweiches Lüftchen, das sich in seinem schütteren Federflaum verfing? Was war das bloß? Die Zeit schien stillzustehen. Sein kurzes Leben zog an ihm vorüber– jeder einzelne Augenblick, beginnend mit seiner frühesten Erinnerung…

Damals im Nest

„Kannst du noch ein paar Flaumfedern erübrigen, Noctus, mein Schatz? Ich glaube, unser drittes Küken ist gleich da. Die Eierschale bekommt schon Risse.“

„Nicht schon wieder!“, murrte Kludd.

„Was soll das heißen, Kludd: ‚Nicht schon wieder‘? Möchtest du denn nicht noch ein Brüderchen haben?“, fragte sein Vater ein wenig gereizt.

„Oder ein Schwesterchen?“ Kludds Mutter seufzte mit dem leisen Pfeifen, das typisch für Schleiereulen ist.

„Also ich hätte gern ein Schwesterchen!“, piepste Soren dazwischen.

Kludd drehte sich nach seinem kleinen Bruder um. „Du bist doch selber erst vor zwei Wochen geschlüpft. Was verstehst du schon von Schwestern?“

Vielleicht, dachte Soren bei sich, sind sie ja netter als Brüder. Schon seit er geschlüpft war, schien Kludd etwas gegen ihn zu haben.

„Wenn du bald Ästling würdest, dann würde es dir auch nicht passen, ausgerechnet jetzt ein Schwesterchen zu kriegen“, fuhr Kludd mürrisch fort.

Die Bruthöhle zu verlassen und sich auf einen benachbarten Ast hinauszuwagen, war der erste Schritt in Richtung Fliegen. Als Ästlinge hüpften die Jungvögel von Ast zu Ast und übten sich im Flügelschlagen.

„Na, na, Kludd!“, mahnte sein Vater. „Nun sei mal nicht so ungeduldig. Schließlich wachsen dir frühestens in einem Monat die ersten Flugfedern. Mit den Ästlingsabenteuern hat es noch Zeit.“

Soren wollte eben fragen, wie lange ein Monat dauerte, da machte es Knack. Die ganze Eulenfamilie fuhr zusammen. Ein anderer Waldbewohner hätte das feine Geräusch gar nicht wahrgenommen, aber Schleiereulen waren mit einem außergewöhnlich guten Gehör ausgestattet.

Sorens Mutter rief: „Es kommt! Bin ich aufgeregt!“ Abermals stieß sie einen Seufzer aus und beobachtete gespannt das makellos weiße Ei, das nun hin und her rollte. In der Schale entstand ein winziges Loch, ein kleiner Hornzapfen kam zum Vorschein.

„Beim Glaux, da ist ja schon die Eischwiele!“, rief Sorens Vater aus.

„Meine war größer, stimmt’s, Papa?“ Um besser sehen zu können, schubste Kludd Soren beiseite, aber Soren verzog sich einfach unter den Flügel seines Vaters.

„Das weiß ich nicht mehr, mein Sohn, aber ist das hier nicht eine wunderhübsche Eischwiele? Bei diesem Anblick bin ich jedes Mal ganz aufgeregt. So ein kleines Dingelchen, und pickt sich so tapfer den Weg in die große weite Welt frei… Bei meinem Muskelmagen, es ist doch immer wieder ein Wunder!“

Auch Soren kam es wie ein Wunder vor. Gebannt beobachtete er, wie sich jetzt von der kleinen Öffnung in der Schale ausgehend zwei, drei Risse bildeten. Das Ei schaukelte sacht, die Risse wurden länger und breiter. Nicht anders hatte Soren selbst es vor nur zwei Wochen gemacht. War das spannend!

„Wo ist denn meine Eischwiele geblieben, Mama?“

„Die ist abgefallen, Dummkopf“, sagte Kludd.

Sorens Eltern waren vom Schlüpfen ihres dritten Kükens so in Anspruch genommen, dass sie vergaßen, Kludd für seine Grobheit zu rügen.

„Wo ist MrsP.? MrsP.?“, fragte seine Mutter ungeduldig.

„Bin schon da, gnädige Frau.“ MrsPlithiver, die alte Blindschlange, die schon viele, viele Jahre im Dienst der Eulenfamilie stand, kam in die Bruthöhle gekrochen. Blindschlangen, die augenlos zur Welt kamen, verdingten sich bei vielen Eulenfamilien als Nesthälterinnen. Sie hielten das Nest sauber und Raupen und andere Insekten daraus fern.

„MrsP., bitte sorgen Sie dafür, dass der Winkel, den Noctus mit neuen Flaumfedern ausgepolstert hat, frei von Raupen und Ungeziefer bleibt.“

„Selbstverständlich, gnädige Frau. Ich kann die Gelege, die ich mit Ihnen zusammen betreut habe, schon nicht mehr zählen.“

„So war das nicht gemeint, MrsP. Ich wollte Sie nicht kritisieren. Ich werde nur immer so nervös, wenn wieder eines schlüpft, als wäre es das erste Mal. Ich werde mich wohl nie daran gewöhnen.“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, gnädige Frau. Sie glauben doch nicht, dass andere Vögel einen Gedanken darauf verschwenden, ob ihre Unterkunft sauber ist? Was ich über die Möwen gehört habe… Meine Güte! Bei denen würde ich nicht mal den Kopf ins Nest stecken!“

Blindschlangen waren sehr stolz darauf, für Eulenfamilien zu arbeiten, denn sie hielten Eulen für die vornehmsten Vögel überhaupt. Blindschlangen waren von Natur aus peinlich auf Sauberkeit bedacht. Sie verachteten andere Vogelarten als unsauber, denn diese besaßen eine Verdauung, die glitschig feuchten Kot hervorbrachte statt der reinlichen Ballen, die Eulen auswürgten. Zwar verdauten auch Eulen die weicheren Bestandteile ihrer Nahrung auf ähnliche Weise wie andere Vögel und schieden sie in flüssiger Form aus, trotzdem genossen sie den Ruf, über derlei niedere Verrichtungen erhaben zu sein. Die unverdaulichen Bestandteile ihrer Beute– Fell, Knöchelchen oder Zähne– wurden zu hübschen Bällchen gepresst, die ebenso groß und genauso länglich geformt waren wie der Muskelmagen der jeweiligen Eule. Ein paar Stunden nach der Mahlzeit würgte die Eule das sogenannte Gewölle aus. „Schleimpupser“ schimpften viele als Nesthälterinnen beschäftigte Schlangen die übrigen Vögel. MrsPlithiver benutzte natürlich niemals solche unfeinen Ausdrücke.

„Guck mal, Mama!“, rief Soren.

Auf einmal schien die ganze Bruthöhle von einem schallenden Knacken widerzuhallen– allerdings nur für das empfindliche Gehör der Schleiereulen. Dann brach das Ei auseinander und ein blasser, feuchter Klumpen glitt heraus.

„Es ist ein Mädchen! Shrrriii!“, rief Sorens Mama voll überschäumender Freude aus. „Ist sie nicht einfach hinreißend?“, seufzte die beglückte Mutter.

„Bezaubernd!“, stimmte ihr der Vater zu.

Kludd gähnte gelangweilt und Soren begaffte das feuchte, nackte Geschöpf, dessen riesige Glupschaugen fest geschlossen waren.

„Warum sieht ihr Kopf so komisch aus, Mama? Ist sie krank?“, wollte er wissen.

„Mit ihr ist alles in Ordnung, Schatz. Alle frisch geschlüpften Küken haben so einen großen Kopf. Es dauert immer eine Weile, bis der Körper den Kopf eingeholt hat.“

„Vom Verstand ganz zu schweigen“, stichelte Kludd.

Die Mutter überhörte die freche Bemerkung. „Darum kann deine Schwester auch den Kopf erst einmal nicht heben“, fuhr sie fort. „Du sahst am Anfang genauso aus.“

„Wie wollen wir unsere süße Kleine denn nennen?“, fragte der Vater.

Die Mutter erwiderte ohne Zögern: „Eglantine! Ich habe mir immer eine kleine Eglantine gewünscht.“

„Das ist aber ein schöner Name, Mama!“ Soren wiederholte ihn leise: „Eglantine…“ Dann trippelte er zu dem zuckenden weißen Knäuel hinüber. „Eglantine!“, flüsterte er.

Er glaubte zu erkennen, wie sich ein Auge einen winzigen Spaltbreit öffnete, und hatte da nicht eben ein Stimmchen „Hallo!“ erwidert? Soren schloss sein Schwesterchen sogleich ins Herz.

War Eglantine eben noch ein feuchter Klumpen gewesen, so glich sie im Nu einer weißen Flauschkugel. Soren kam es vor, als würde sie ausgesprochen rasch kräftiger. Auch in dieser Hinsicht war er selbst nicht anders gewesen, versicherten ihm seine Eltern.

Schon am selben Abend konnte die Familie Eglantines Erstes Insekt feiern. Ihre Augen waren jetzt offen, sie schrie pausenlos vor Hunger. Sie hielt es kaum aus, bis ihr Vater die traditionelle Willkommensansprache beendet hatte.

„Willkommen im Walde von Tyto, kleine Eglantine, willkommen im Wald der Schleiereulen, der Tyto alba, wie unser offizieller Name lautet. Dieser Wald ist unser Königreich. Er gehört uns und unseren nahen Verwandten. Wir Schleiereulen sind selten und unser Königreich ist womöglich das kleinste von allen. Tatsächlich ist es schon sehr, sehr lange her, dass wir einen König hatten. Wenn du größer wirst, Eglantine, wenn du dein zweites Lebensjahr beginnst, wirst auch du dieses Nest auf eigenen Flügeln verlassen und dir eine Bruthöhle suchen, in der du mit deinem Gefährten wohnen kannst.“

Dieser Teil der Ansprache brachte Soren mächtig ins Grübeln. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, flügge zu werden und ein eigenes Nest zu bewohnen. Wie könnte er sich je von seinen Eltern trennen?

Und doch verspürte er jetzt schon den Drang zu fliegen, auch wenn er nur kleine Stummelflügel besaß, auf denen sich noch nicht einmal der Ansatz einer richtigen Feder zeigte.

„Nun“, sprach der Vater weiter, „nun wollen wir dein Erstes Insekt feiern.“ Er wandte sich nach Sorens Mutter um. „Marella, meine Liebe, holst du bitte die Grille?“

Sorens Mutter trat mit einer der letzten Sommergrillen im Schnabel vor ihre Jüngste hin. „Friss, meine Kleine! Den Kopf zuerst! Hinein damit in den Schnabel. Und immer den Kopf zuerst– so und nicht anders verspeist man seine Beute, sei es nun Grille, Maus oder Maulwurf.“

„Mmm!“, machte der Vater, als seine Tochter die Grille hinunterschluckte. „Da lacht der kleine Magen, was?“

Kludd blinzelte und gähnte wieder. Manchmal gingen ihm seine Eltern gehörig auf die Nerven, vor allem Papa mit seinen albernen Scherzen. „Der größte Witzbold im Wald!“, brummelte er, aber so leise, dass es sein Vater nicht hörte.

Als der Morgen dämmerte, war Soren immer noch so aufgeregt über die Ankunft seines Schwesterchens, dass er nicht einschlafen konnte. Seine Eltern saßen ein Stück höher auf ihrem Schlafast, aber Soren in der Bruthöhle hörte ihre gedämpften Stimmen. Das erste fahle Morgenlicht drang schon durch die Einflugöffnung.

„Das geht nicht mit rechten Dingen zu, Noctus– schon wieder ist ein Eulenküken verschwunden!“

„Ja, mein Schatz, leider haben wir einen weiteren Verlust zu beklagen.“

„Das wievielte Küken war das jetzt in den letzten paar Tagen?“

„Das fünfzehnte, glaube ich.“

„So viele… Die kann doch nicht alle der Waschbär geholt haben.“

„Wohl nicht.“ Voller Bitterkeit setzte Noctus hinzu: „Und das ist noch nicht alles.“

„Wieso?“, fragte seine Frau ängstlich.

„Eier.“

„Eier?“

„Es sind auch Eier verschwunden.“

„Aus dem Nest?“

„Ja.“

„Nein!“, rief Marella Alba fassungslos. „So etwas ist noch nie vorgekommen– das ist ja schrecklich!“

„Ich wollte es dir eigentlich gar nicht erzählen, aber ich fand doch, du müsstest Bescheid wissen. Für den Fall, dass wir ein neues Gelege bebrüten.“

„Großer Glaux!“ Marella war immer noch außer sich. Soren riss die Augen auf. Er hatte seine Mutter noch nie fluchen hören. „Dabei verlassen wir Schleiereulen das Nest in der Brutzeit doch nur ganz selten. Dann muss der Dieb die Nester vorher gründlich ausspähen– Tag und Nacht.“

„Um wen es sich auch handeln mag, er kann jedenfalls fliegen oder klettern“, sagte Noctus Alba finster.

Soren bekam Angst. Ein Glück, dass Eglantine nicht vor dem Schlüpfen gestohlen worden war. Insgeheim gelobte er, seine kleine Schwester nicht mehr aus den Augen zu lassen.

Es kam Soren vor, als könnte Eglantine, nachdem sie ihr erstes Insekt verzehrt hatte, gar nicht mehr mit dem Fressen aufhören. Er sei genauso gefräßig gewesen, beschwichtigten ihn seine Eltern. „Das bist du doch heute noch, Soren! Bald können wir dein Erstes Fell am Fleisch feiern.“

So ging es nämlich in den ersten Wochen nach dem Schlüpfen der Küken zu– ein feierlicher Anlass reihte sich an den andern. Und jede Feier war nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zum einschneidendsten und freudigsten Ereignis im Leben eines Eulenkindes: Das war natürlich der Erste Flug.

„Fell!“, wiederholte Soren ergriffen. Wie sich das wohl anfühlte, wenn es den Schlund hinunterglitt? Seine Mutter pflegte immer alles Fell von der frisch geschlagenen Beute zu entfernen und auch die Knochen herauszupicken, ehe sie ihren Kleinen die Fleischbrocken von der Maus oder vom Eichhörnchen anbot. Die Erste-Knochen-Feier von Sorens großem Bruder Kludd stand kurz bevor. Danach durfte er „aufs Ganze gehen“, wie sich der Vater ausdrückte. Kurz vor der Erste-Knochen-Feier wurde ein Eulenkind zum Ästling. Nur wenig später wagte es unter den wachsamen Augen seiner Eltern die ersten Flugversuche.

„Hüpf! Hüpf! So ist’s richtig, Kludd! Und jetzt nimm die Flügel hoch, wenn du auf den nächsten Ast springst! Aber denk dran– noch bist du nicht flügge! Auch wenn du bald deine ersten Unterrichtsstunden bekommst– geflogen wird nur dann, wenn Mama und ich es dir erlauben!“

„Jaaa, Papa!“ Kludd verdrehte die Augen und murrte leise: „Ich kann’s nicht mehr hören!“

Auch Soren hatte sich diese Ermahnung viele, viele Male anhören müssen, dabei war er noch längst kein Ästling. Vorzeitige Flugversuche zu unternehmen war das Dümmste, was ein Eulenkind tun konnte. Aber genau das machten die Jungvögel natürlich, sobald die Altvögel auf der Jagd waren. Es war einfach zu verlockend, die endlich befiederten Flügel auszuprobieren. Doch der Versuch konnte in einer verheerenden Bruchlandung enden. Das übermütige Eulenkind blieb schutzlos, womöglich verletzt auf der Erde hocken und war jedem Räuber wehrlos ausgeliefert.

Diesmal beschränkte sich der besorgte Eulenvater auf ein paar warnende Sätze und die Ästlingslehrstunde ging weiter.

„Weich landen, Junge! Mach nicht so einen Lärm. Wir Eulen fliegen lautlos.“

„Aber ich fliege doch noch gar nicht, Papa! Das reibst du mir doch andauernd unter den Schnabel. Solange ich noch Ästling bin, schadet es doch nichts, wenn ich ein bisschen Krach mache.“

„Das ist aber eine Unsitte. So gewöhnt man sich an, auch beim Fliegen Lärm zu machen. Was man sich als Ästling an schlechten Angewohnheiten zulegt, wird man später nicht mehr los.“

„Blablabla.“

„Ich geb dir gleich Blablabla!“, brauste Noctus auf und verpasste seinem Sohn eine Ohrfeige, dass Kludd beinahe vom Ast geplumpst wäre. Soren musste widerstrebend anerkennen, dass sein großer Bruder nicht in Wehgeschrei ausbrach, sondern sich wortlos wieder aufrichtete und seinen Vater böse anfunkelte. Dann hüpfte er auf den nächsten Ast– eine Spur leiser als zuvor.

MrsPlithiver zischelte missbilligend: „So ein ungezogener Kerl! Ein Glück, dass deine Mutter gerade ausgeflogen ist und das nicht miterleben muss… Eglantine!“ MrsPlithiver war zwar blind, aber sie war stets bestens darüber im Bilde, was die Eulenkinder gerade taten. Jetzt hatte sie es leise knacken gehört, als Eglantine einen Käfer mit dem Schnabel packte. „Lass den Käfer laufen, Eglantine! Das ist ein Nestkäfer. Eulen fressen keine Nestkäfer, nur Nesthälterinnen ernähren sich davon. Wenn du Nestkäfer futterst, wirst du bloß dick und wabbelig. Dann gibt es kein Erstes Fleisch zu feiern, weil du es nicht verträgst, und auch kein Erstes Fell, keinen Ersten Knochen und keinen… Du weißt schon. Deine Mama jagt gerade eine schöne dicke Wühlmaus mit weichem Pelz für Sorens Erstes-Fell-Feier. Wenn du brav bist, bringt sie dir vielleicht einen leckeren Tausendfüßer mit.“

„Ui, Tausendfüßer fressen macht Spaß!“, rief Soren. „Die vielen Beinchen trippeln so schön den Schlund runter.“

„Ach bitte, Soren, erzähl noch mal, wie du deinen ersten Tausendfüßer gefressen hast!“, bettelte Eglantine.

MrsPlithiver seufzte verstohlen. Es war wirklich zu niedlich, wie Eglantine Soren anhimmelte und jedes seiner Worte aufsog. Das war echte Schwesternliebe und Soren erwiderte ihre innige Zuneigung. Warum sich allerdings der große Bruder Kludd so anders entwickelt hatte, konnte sich MrsPlithiver nicht erklären. Gewiss, in jedem Gelege gab es ein schwieriges Küken, aber was Kludd anging, war „schwierig“ eine Untertreibung. Er hatte etwas an sich… etwas… ja, was eigentlich? Mit Kludd stimmte einfach etwas nicht, dachte die Nesthälterin. Er war irgendwie aus der Art geschlagen, hatte etwas Uneulenhaftes.

„Sing noch mal das Lied vom Tausendfüßer, Soren, bitte, bitte!“

Soren sperrte den Schnabel weit auf und hob an:

Was krabbelt mir im Hals,Was kitzelt mich im Rachen?Fast spuck ich’s wieder aus,So bringt es mich zum Lachen.So viele Hundert BeineMit kleinen Füßen dran– Wenn ich die nur seh,Fang ich zu jubeln an!Der Tausendfüßer ist’s,Den ich besinge,Mein Lieblingsleckerbissen,Dem ich Verehrung bringe.Knackige Käfer, saftige Spinnen,Die lass ich alle liegen, Kann ich nur einen leck’renTausendfüßer kriegen!

Soren hatte eben den letzten Vers gesungen, da kam seine Mutter in die Bruthöhle geflogen und ließ eine Wühlmaus aus dem Schnabel fallen. „Eine ganz dicke, mein Schatz. Die reicht für dein Erstes Fell und für Kludds Erste Knochen.“

„Ich will aber eine Maus für mich alleine!“, protestierte Kludd.

„Unsinn, Schatz, das schaffst du doch gar nicht.“

„Dann spuck ich die Maus aber gleich wieder aus!“

„Maus… aus– das reimt sich, Mama!“, piepste Eglantine. „Ich mag Reime!“

„Ich will eine Maus für mich alleine!“, wiederholte Kludd störrisch.

Marella heftete den Blick streng auf ihren Sohn. „Jetzt pass mal auf, Kludd: Bei uns wird keine Nahrung vergeudet. Das hier ist eine besonders große Wühlmaus mit genug Fleisch dran. Das reicht, für deine Erste-Knochen-Feier und für Sorens Erstes Fell. Es bleibt sogar noch genug für Eglantines Erstes Fleisch übrig.“

„Fleisch! Ich krieg Fleisch!“ Eglantine vollführte einen Freudenhüpfer. Die Vorzüge der Tausendfüßer schienen schlagartig vergessen.

„Und deshalb, mein Sohn, kannst du gern losziehen, wenn du unbedingt eine eigene Maus willst, und dir eine jagen! Ich habe fast die ganze Nacht damit zugebracht, die hier zu erbeuten. Um diese Jahreszeit gibt es in Tyto kaum noch Nahrung. Ich bin fix und fertig!“

Ein riesiger, orangefarbener Mond stieg am Herbsthimmel empor. Der Mond schien über der mächtigen Tanne zu verweilen, in der Soren und seine Familie wohnten, und sein milder Schein drang durch die Einflugöffnung der Bruthöhle. Es war eine ideale Nacht für die Feiern, von denen die Eulen gar nicht genug bekamen und an denen sie das Heranwachsen ihrer Nestlinge und das Verstreichen der Zeit maßen.

So kam es, dass die drei Eulenkinder in dieser Nacht, kurz vor dem Morgengrauen gemeinsam Erstes Fleisch, Erstes Fell und Erste Knochen feierten. Kludd würgte sein erstes richtiges Gewölle aus, einen kleinen Ballen aus Knöchelchen und Fell, geformt wie sein Muskelmagen.

„Das ist aber mal ein schönes Gewölle, mein Sohn!“, lobte ihn der Vater.

„Finde ich auch“, pflichtete die Mutter bei. „Wunderhübsch.“

Kludd schien ausnahmsweise einmal zufrieden mit der Welt. Und MrsPlithiver dachte bei sich, dass doch eigentlich kein Vogel mit einer solch vornehmen Verdauung durch und durch schlecht sein konnte.

In jener Nacht, da der große, orangefarbene Mond über den Himmel wanderte, bis zum ersten fahlen Lichtschein des anbrechenden Tages erzählte Noctus Alba seinen Kindern die alten Geschichten aus Glaux’ Zeiten, von denen keine Eule je genug bekommt. „Glaux“ nannte sich der uralte Ritterbund, von dem alle Eulen abstammen.

Der Vater begann: „Es war noch zu Glaux’ Zeiten, und das ist lange, lange her, da lebte in einem Königreich namens Ga’Hoole ein Bund edelmütiger Eulen, dessen Mitglieder Nacht für Nacht ausflogen und Gutes taten. Niemals sprachen sie ein unwahres Wort. Sie hatten sich das Ziel gesetzt, alles Unrecht auszurotten, die Schwachen zu stärken, die Verzweifelten wieder aufzurichten, die Stolzen in die Schranken zu weisen und jene zu entmachten, die Unterlegene ausnutzen. Von dieser erhabenen Gesinnung beseelt, breiteten sie ihre Schwingen aus…“

Kludd gähnte. „Ist die Geschichte wirklich so passiert, Papa?“

„Es ist eine Sage, eine Legende, Kludd.“

„Aber ist sie wahr? Ich mag nämlich nur wahre Geschichten.“

„Eine Legende, mein Sohn, ist eine Geschichte, die man anfangs nur im Magen spürt und die nach und nach im Herzen wahr wird. Und durch die man vielleicht eine bessere Eule wird.“

Keine zwei Gewölle

Im Herzen wahr wird… Diese Worte, gesprochen von der kehligen Stimme seines Vaters, waren womöglich das Letzte, woran sich Soren erinnerte, ehe er mit einem Plumps im weichen Moos landete. Noch ganz benommen, schüttelte er sich und rappelte sich hoch. Er schien sich nichts gebrochen zu haben. Aber was war passiert? Er hatte ganz gewiss keine heimlichen Flugversuche unternommen, während seine Eltern Jagen waren. Gütiger Glaux! Er war ja noch nicht einmal Ästling und damit längst noch nicht „flugtüchtig“, wie seine Mutter es nannte. Wie kam er dann hierher? Er konnte sich nur noch entsinnen, dass er aus der Einflugöffnung der Bruthöhle gespäht und nach seinen Eltern Ausschau gehalten hatte– und auf einmal war er durch die Luft gepurzelt.

Soren reckte den Hals. Die Tanne ragte schier bis in den Himmel und die Bruthöhle befand sich ganz weit oben, so viel wusste er. Was sagte sein Vater immer? Neunzig Spannen hoch? Hundert? Aber mit Zahlen wusste Soren nichts anzufangen. Er konnte nicht nur nicht fliegen, er konnte auch nicht zählen. Eins wusste er aber: Er war in Gefahr, ja, in Lebensgefahr. Die Ermahnungen seines Vaters, über die sich Kludd so oft beschwert hatte, kamen ihm in den Sinn, wie er da im Finstern auf dem Waldboden hockte. Die ganze schreckliche, beängstigende Wahrheit wurde ihm bewusst, die grausame Wahrheit jener Worte: „Ein Eulenkind, das von seinen Eltern getrennt wird, ehe es allein fliegen und jagen kann, muss sterben.“

Sorens Eltern waren weit, weit fort auf einem ausgedehnten Beuteflug. Seit Eglantine geschlüpft war, kam das zwar nur noch selten vor, aber der Winter war nicht mehr fern und die Nahrung wurde knapp. Darum war Soren jetzt ganz allein. Er schielte am Stamm der Tanne hoch. Ihr Wipfel schien mit den Wolken zu verschmelzen. Soren konnte sich kaum vorstellen, dass irgendjemand verlassener sein konnte als er. „Allein, allein…“, sagte er seufzend vor sich hin.

Und doch regte sich in ihm ein schwacher Hoffnungsfunke. Er glaubte, sich zu entsinnen, dass er im Fallen seine noch fast kahlen Flügelchen so bewegt hatte, dass sie „die Luft einfingen“, wie sein Vater es nannte. Er versuchte angestrengt, sich zu erinnern, wie sich das angefühlt hatte. Ja, einen flüchtigen Augenblick lang war das Fallen herrlich gewesen. Konnte er das vielleicht wiederholen? Er hob die Flügel und flatterte damit. Nichts. In der frischen Abendbrise wurden seine Flügel nur kalt und fühlten sich nackt an.

Abermals spähte er am Baumstamm empor. Und wenn er nun kletterte, Krallen und Schnabel zu Hilfe nahm? Jedenfalls musste er etwas unternehmen, sonst verspeiste ihn irgendein Räuber– eine Ratte oder ein Waschbär. Beim Gedanken an Waschbären wurde es Soren ganz mulmig. Er hatte schon welche vom Nest aus beobachtet. Sie hatten dichtes Fell, trugen schwarze Masken und besaßen ein Furcht einflößendes Gebiss.

Er musste die Ohren spitzen und lauschen. Er musste den Kopf hin und her drehen, wie es ihm seine Eltern beigebracht hatten.

Seine Eltern hatten so gute Ohren, dass sie noch hoch oben in der Bruthöhle das Herz einer Maus unten auf dem Waldboden klopfen hörten. Da sollte es ihm ja wohl gelingen zu hören, ob sich ein Waschbär näherte. Er legte den Kopf schief und fuhr zusammen. Was war das für ein Geräusch? Der leise, heisere, wohlbekannte Ruf kam aus der Tannenkrone.

„Soren! Soren!“, rief es aus der Bruthöhle, wo sich seine Geschwister in die weichen weißen Flaumfedern kuschelten, die sich die Eltern ausgerupft hatten. Aber der Rufer war nicht Kludd und auch nicht Eglantine.

„MrsPlithiver!“, jammerte Soren.

„Soren! Bist du… Lebst du noch? Unsinn, natürlich lebst du noch, wenn du rufen kannst. Hast du dir wehgetan? Hast du dir etwas gebrochen?“

„Glaub nicht, aber wie soll ich bloß wieder heraufkommen?“

„Oje, oje…“, jammerte MrsPlithiver. Sie schien mit der Situation überfordert. Rettungsaktionen gehörten wohl nicht zu den Aufgaben einer Nesthälterin.

„Wann kommen Mama und Papa denn wieder?“, rief Soren nach oben.

„Ach, Schätzchen, das kann dauern.“

Soren war inzwischen zu den Wurzeln der Tanne hinübergehüpft, die sich wie knotige Zehen über den Erdboden streckten. Von hier aus konnte er MrsPlithiver auch sehen. Ihr kleiner Kopf mit den rosafarben schillernden Schuppen lugte aus der Höhlenöffnung. Wo die Augen hingehörten, waren nur zwei kleine Vertiefungen zu erkennen.

„Was soll ich jetzt bloß machen?“Die Nesthälterin seufzte ratlos.

„Ist Kludd wach? Vielleicht fällt ihm ja etwas ein.“

MrsPlithiver klang unschlüssig. „Ja… vielleicht…“ Soren hörte, wie sie Kludd weckte. „Schimpf nicht, Kludd. Dein Bruder… Dein Bruder ist… Soren ist leider vom Baum gefallen.“

Soren hörte seinen großen Bruder gähnen.

„Auweia“, brummelte Kludd. Besonders betroffen klang er allerdings nicht, fand Soren. Da erschien auch schon Kludds großer Kopf in der Einflugöffnung. Aus dem herzförmigen weißen Gesicht blickten die schwarzen Augen zu Soren hinunter. „Tjaaa…“, sagte Kludd gedehnt, „da sitzt du wohl ganz schön in der Patsche.“

„Das weiß ich selbst. Kannst du mir nicht irgendwie helfen? Du kennst dich mit dem Fliegen besser aus als ich. Kannst du es mir nicht beibringen?“

„Ich? Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte! Bist du gaga?“ Kludd lachte. „Ich soll dir das Fliegen beibringen? Sonst noch was?“ Er lachte wieder. Es klang verächtlich.

„Ich bin überhaupt nicht gaga! Du gibst doch immer damit an, was du alles weißt und kannst, Kludd.“

Allerdings. Seit Soren geschlüpft war, hatte Kludd keine einzige Gelegenheit ausgelassen, seinem kleinen Bruder klarzumachen, dass er der Überlegene war. Ihm gebührte der schönste Platz im Nest, weil ihm schon der Flaum ausfiel und er deshalb fror. Ihm gebührten die größten Brocken Mäusefleisch, weil er demnächst flügge wurde.

„Du hast doch schon deinen Ersten Flug gefeiert, Kludd. Sag mir, wie man’s macht!“

„Das kann man nicht mit Worten sagen, das muss man im Gefühl haben. Außerdem sind dafür Mama und Papa zuständig. Ich werde mir doch nicht anmaßen, ihre Aufgaben zu übernehmen.“

Soren hatte keine Ahnung, was „anmaßen“ bedeutete. Kludd verwendete oft ausgefallene Wörter, um Eindruck zu schinden.

„Was heißt ‚anmaßen‘“?, fragte er zwar, aber das war im Grunde auch egal. Ihm lief die Zeit davon. Das letzte Tageslicht verlosch allmählich, der Abend warf seine Schatten voraus. Bald würden die Waschbären aus ihren Höhlen kommen.

„Jedenfalls kann ich es dir nicht beibringen, Soren“, erwiderte Kludd nachdrücklich und setzte in feierlichem Ton hinzu: „Es wäre äußerst unpassend für einen Jungvogel wie mich, in deinem Leben eine derart tragende Rolle zu übernehmen.“

„Mein Leben ist gleich keine zwei Gewölle mehr wert, wenn du nicht endlich etwas unternimmst! Wenn du mich hier unten einfach sterben lässt, ist das ja wohl genauso unpassend. Was würden Mama und Papa dazu sagen?“

„Sie hätten gewiss vollstes Verständnis für meine Entscheidung.“

Großer Glaux! Vollstes Verständnis! Wer war denn hier gaga, bitte schön? Soren war so verdattert, dass ihm keine Erwiderung mehr einfiel.

„Ich hole Hilfe, Soren. Ich frage Hilda um Rat“, ließ sich MrsP. wieder vernehmen. Hilda arbeitete als Nesthälterin für eine andere Eulenfamilie, deren Nistbaum in der Nähe des Flusses stand.

„Das lass lieber bleiben, P.!“, entgegnete Kludd darauf in so drohendem Ton, dass sich Sorens Muskelmagen zusammenzog.

„Nenn mich gefälligst nicht ‚P.‘, das ist sehr unhöflich.“

„Ob ich unhöflich bin, ist ja wohl deine geringste Sorge, P.“

Soren blinzelte verwirrt.

„Ich hole trotzdem Hilfe, Kludd, du kannst mich nicht daran hindern“, entgegnete MrsPlithiver entschlossen.

„Ach nein?“

Über Sorens Kopf raschelte es. Gütiger Glaux, was ging da oben vor?

„MrsPlithiver?“

Keine Antwort.

„MrsPlithiver?“

Vielleicht war sie ja schon zu Hilda unterwegs.

Soren blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen und abzuwarten.

Es war schon fast dunkel, ein kalter Wind kam auf. MrsPlithiver ließ sich nicht blicken. Erste Zähne– so nannte Papa doch diese ersten kalten Winterwinde. Die ersten Zähne des Winters. Der bloße Klang dieser Worte ließ den armen Soren erschauern. Als er den Ausdruck zum ersten Mal gehört hatte, hatte er nicht gewusst, was Zähne waren. Sein Vater hatte ihm erklärt, dass Eulen so etwas nicht besaßen. Die meisten anderen Tiere hatten aber Zähne. Damit zerrissen und zerkauten sie ihre Nahrung.

„Hat MrsPlithiver auch Zähne?“, hatte Soren gefragt. MrsPlithiver hatte nur empört nach Luft geschnappt.

Seine Mutter hatte rasch gesagt: „Natürlich nicht, Schatz.“

„Dann erklär mir, wie Zähne aussehen.“

Die Mutter überlegte einen Augenblick. „Hm… Stell dir einfach ein Maul voller Schnäbel vor– voller spitzer Schnäbel.“

„Das klingt aber gruselig.“

„Ist es auch. Darum sollst du ja aufpassen, dass du nicht aus der Höhle fällst oder zu fliegen versuchst, bevor du so weit bist. Waschbären haben nämlich sehr, sehr spitze Zähne.“

„Weißt du, mein Sohn“, hatte sich der Vater wieder eingemischt, „unsereiner hat keine Verwendung für so etwas wie Zähne. Unsere Muskelmägen nehmen uns das Kauen ab. Ich finde die Vorstellung, etwas zu zerkauen, offen gestanden ziemlich eklig.“

„Es heißt aber, das Futter schmeckt dann besser“, wagte die Mutter einzuwenden.

„Na danke! Mein Magen kann das bestens beurteilen. Wo kämen wohl sonst die guten alten Redensarten her: ‚Das sagt mir mein Magen.‘ Oder: ,Ich hab so ein Gefühl im Magen‘, hm, Marella?“

„Ich weiß ja nicht, ob sich diese Redensarten darauf beziehen, wie das Futter schmeckt, Noctus…“

„Die Maus, die wir zum Nachtmahl hatten… Also mein Magen sagt mir ganz genau, wo sie sich zuletzt aufgehalten hat. Sie hat Süßgras geknabbert und dazu Beerchen von dem jungen Ga’Hoole-Baum, der unten am Fluss wächst. Großer Glaux! Um etwas zu schmecken, brauche ich doch keine Zähne!“

Ach, dachte Soren verzagt, würde er nun nie mehr mit anhören, wie sich seine Eltern liebevoll zankten? Ein Tausendfüßer krabbelte vorbei, aber Soren schenkte ihm keine Beachtung. Es war inzwischen finster geworden. Soren konnte nicht einmal die Sterne sehen und das war womöglich das Schlimmste. Durch das Dickicht der Baumkronen war gar nichts zu erkennen. Soren sehnte sich verzweifelt nach der Baumhöhle seiner Familie. Von dort aus erblickte man immer ein Stückchen Himmel. Nachts war der Himmel mit Sternen gesprenkelt oder Wolken jagten vorüber. Tagsüber hatte der Himmel oftmals eine wunderschöne blaue Farbe, und manchmal, wenn der Abend anbrach, wurden die Wolken leuchtend orange oder rosa.

Hier unten auf dem Erdboden roch es ganz komisch, irgendwie feucht und modrig. Der Wind fuhr seufzend durch die Äste über Sorens Kopf, durch Blätter und Nadeln, aber hier unten… Der Wind schien gar nicht bis zum Waldboden vorzudringen. Es war unheimlich still. Soren hatte Angst. Ein derart stiller, windloser Ort war nicht gut für eine Eule. Hier unten war alles so anders…

Hätte er wenigstens schon ein paar richtige Federn gehabt, hätte er sich aufplustern können und der Dunenflaum unter dem Gefieder hätte ihn warm gehalten. Ob er nach Eglantine rufen sollte? Aber wie sollte ihm seine Schwester helfen? Sie war doch noch viel zu klein. Und wenn er jetzt noch einmal rief, wurden womöglich andere Waldbewohner auf ihn aufmerksam. Solche mit Zähnen!

Sein Leben war wohl wirklich keine zwei Gewölle mehr wert. Soren wünschte sich seine Eltern herbei. So inbrünstig sehnte er sich nach ihnen, dass er einen bohrenden Schmerz im Magen verspürte. Einen Schmerz wie von spitzen Zähnen.

Entführt!

Soren träumte von Zähnen und pochenden Mäuseherzen, als er im Halbschlaf ein leises Rauschen dicht über seinem Kopf vernahm. „Mama! Papa!“, entfuhr es ihm.

Sein Leben lang würde er diesen Ausruf bedauern, denn auf einmal zerriss ein schriller Schrei die Nacht. Soren spürte, wie sich große Krallen um ihn schlossen. Schon wurde er hochgehoben und in die Lüfte entführt. Sie flogen schnell, schneller, als man sich vorstellen konnte, schneller, als Soren je zu träumen gewagt hatte.

Seine Eltern flogen nie so schnell. Er hatte sie oft dabei beobachtet, wie sie von der Höhle losflogen oder dorthin zurückkehrten. Sie segelten erst ein Stück im Gleitflug, dann schraubten sie sich in wunderschönen, trägen Kreisen empor. Doch jetzt sauste die Erde nur so unter Soren vorbei. Der Wind fuhr ihm unter die Dunen und pikte ihn in die Haut. Der Mond wälzte sich hinter dicken Wolken hervor und tauchte die Welt in schaurig bleiches Licht. Soren hielt Ausschau nach der Bruthöhle, aber die Bäume verschwammen zu dunklen Flächen, dann wurde der ganze Wald von Tyto immer kleiner. Soren ertrug es nicht länger, nach unten zu schauen. Er wagte einen Blick nach oben.

Als Erstes sah er die ungewöhnlich dicht und struppig befiederten Beine des fremden Eulenmännchens. Er ließ den Blick höher wandern. Die Eule war riesengroß… War das überhaupt eine Eule? Über den Augen des Vogels sprossen zwei lange Federbüschel, die einem zusätzlichen Flügelpaar glichen. Soren dachte eben, dass er noch nie so einer seltsamen Eule begegnet war, da blinzelte das Eulenmännchen und senkte den Blick. Es hatte gelbe Augen! Solche Augen hatte Soren noch nie gesehen. Seine Eltern und seine Geschwister hatten dunkle, fast schwarze Augen. Die Freunde seiner Eltern, die gelegentlich auf einen Schwatz vorbeigeflogen kamen, besaßen braune Augen, teils mit goldenem Schimmer. Aber gelbe Augen? Hier stimmte doch etwas nicht… Nein, hier stimmte etwas ganz und gar nicht!

„Da staunst du, was?“ Das fremde Eulenmännchen blinzelte ihn an, aber Soren brachte kein Wort heraus. Darum fuhr sein Entführer fort: „Es ist immer dasselbe mit euch Bewohnern von Tyto. Ihr bekommt nur euresgleichen zu Gesicht– gewöhnliche Schleiereulen, eine so unbedeutend wie die andere und alle gleich.“

„Stimmt gar nicht“, sagte Soren.

„Widersprich mir gefälligst nicht!“

„Ich kenne Gras-Schleiereulen, Masken-Schleiereulen und Ruß-Schleiereulen. Die besten Freunde meiner Eltern sind Gras-Schleiereulen.“

„Schwachkopf! Das sind doch alles Tytos!“, entgegnete das fremde Eulenmännchen unwirsch.

Schwachkopf? So unfreundlich drückte sich doch kein Erwachsener aus, wenn er mit einem Jungvogel sprach. Das war sehr ungehörig. Soren beschloss, den Schnabel zu halten und nicht mehr nach oben zu schauen.

„Ich hätte hier einen Wildling“, hörte er das fremde Eulenmännchen nach einer Weile sagen. Soren wandte unauffällig den Kopf. Mit wem sprach sein Entführer da?

„Großer Glaux– ob sich der Aufwand lohnt?“ Das andere Eulenmännchen hatte eher bräunliche als gelbe Augen, sein Gefieder war weiß, grau und braun gesprenkelt.

„Ach, es lohnt sich doch eigentlich immer, Grimbel“, entgegnete Sorens Entführer. „Pass bloß auf, dass dich Spoorn nicht so reden hört. Dann kriegst du nämlich einen Tadel und wir müssen uns wieder eine ihrer endlosen Moralpredigten anhören.“

Auch das andere Eulenmännchen sah ungewöhnlich aus. Es war kleiner als Sorens Entführer und in seiner Stimme schwang ein eigenartiges Tingg-Tingg mit. Erst auf den zweiten Blick fiel Soren auf, dass diese Eule ebenfalls etwas in den Fängen trug. Das Geschöpf sah einigermaßen eulenhaft aus, war aber winzig klein, kaum größer als eine Maus. Jetzt blinzelte es. Mit gelben Augen! Soren unterdrückte ein Würgen.

„Sag nichts!“, raunte ihm die kleine Eule mit Piepsstimme zu. „Warte.“

Worauf soll ich warten?, dachte Soren. Da spürte er den kühlen Luftzug zahlreicher Schwingenschläge. Immer mehr Eulen landeten um sie herum und jede trug ein Eulenküken in den Fängen. Dann stimmte Sorens Entführer einen leisen Singsang an und die anderen Eulen fielen ein. Bald war die Luft von seltsamen Klängen erfüllt.

„Das ist ihre Hymne“, raunte die winzig kleine Eule Soren zu. „Gleich singen sie lauter, dann können wir miteinander reden.“

Soren lauschte den Worten der Hymne.

Wir grüßen dich, Sankt Ägolius,Unsere Alma Mater!Wir stimmen an unsren Lobgesang,Treu sind wir dir ein Leben lang,Woll’n dich ewig preisen.Deine goldnen Krallen rühmen wir.Wollen ihnen folgen.Du leitest uns ein Leben lang,Drum verstumme nie unser Lobgesang,Mit dem wir dir Ehre erweisen.

Der Gesang erscholl weit in die Nacht hinaus und die kleine Eule wandte sich Soren zu. „Mein erster Rat lautet: Halt lieber den Schnabel und hör zu. Du giltst hier schon als Wildling.“

„Was für eine Eule bist du? Warum hast du gelbe Augen? Wie heißt du?“

„Da haben wir’s schon! Zerbrich dir darüber jetzt nicht den Kopf.“ Die kleine Eule seufzte leise. „Ich sag’s dir aber trotzdem. Ich bin eine Elfenkäuzin und heiße Gylfie.“

„Eine Eule wie du ist mir in Tyto nie begegnet.“

„Ich komme aus dem Wüstenkönigreich Kuneer.“

„Wächst du noch?“

„Nein, ich bleibe so.“

„Aber du bist winzig und trotzdem hast du schon alle Federn– fast alle, jedenfalls.“

„Das ist ja das Schlimme. Nächste Woche wäre ich flügge geworden, aber da wurde ich entführt.“

„Ja, wie alt bist du denn?“

„Zwanzig Nächte.“

„Zwanzig Nächte!“, rief Soren ungläubig aus. „Und da wirst du schon flügge?“

„Wir Elfenkäuze werden mit siebenundzwanzig bis dreißig Nächten flügge.“

„Sind sechsundsechzig Nächte viel?“, fragte Soren.

„Ziemlich viel.“

„Ich bin eine Schleiereule, und da wird man erst mit sechsundsechzig Nächten flügge. Aber wie kam es, dass du entführt wurdest?“

Das Elfenkauzmädchen antwortete erst nach langem Zögern und auch dann nur widerstrebend: „Was schärfen einem die Eltern immer und immer wieder ein?“

„Dass man nicht fliegen soll, bevor man so weit ist?“

Gylfie nickte. „Ich hab’s trotzdem versucht und bin runtergefallen.“

„Du hast aber doch gesagt, dass du nächste Woche sowieso flügge geworden wärst.“ Soren wusste zwar nicht genau, wie viele Nächte eine Woche hatte oder wie lange siebenundzwanzig Nächte dauerten, aber es klang schon mal weniger als sechsundsechzig.

„Ich war zu ungeduldig. Mir sind zwar Federn gewachsen, aber meine Geduld ist nicht mitgewachsen.“ Gylfie machte eine Pause. „Und du? Du hast doch bestimmt auch versucht zu fliegen.“

„Nein. Ich weiß auch nicht, wie das kam, aber ich bin einfach so aus dem Nest gefallen.“ Kaum sprach Soren es aus, verspürte er ein sonderbar flaues Gefühl im Magen. Wusste er nicht doch, wie es passiert war? Er hatte eine unbestimmte Ahnung. Furcht und Scham stiegen in ihm auf. Ihm wurde übel.

Das Sankt-Ägolius-Internat für verwaiste Eulen

Die Eulen schraubten sich in steilen Schleifen in den Landeflug. Soren spähte blinzelnd nach unten. Er erkannte weder Baum noch Fluss noch Wiese, stattdessen ragte unter ihnen ein zerklüftetes Gebirge auf. Das kann nicht Tyto sein, war Sorens einziger Gedanke.

Abwärts, abwärts, abwärts flogen sie in immer engeren Kreisen, bis sie schließlich auf dem felsigen Boden einer tiefen, engen Schlucht landeten. Obwohl Soren über sich noch den Himmel sehen konnte, aus dem sie gekommen waren, schien er hier unten doch unerreichbar fern. Dafür hörte man den Wind durch die schroffen Gipfel der unwirtlichen Felslandschaft pfeifen. Und nun übertönte eine laute, barsche Stimme das Geheul des Windes.

„Willkommen, Eulenkinder! Willkommen in Sankt Ägolius, eurem neuen Zuhause. Hier werdet ihr sowohl die Wahrheit als auch eure eigentliche Bestimmung erfahren. Unser Motto lautet nämlich: ‚Die Wahrheit finden– die Bestimmung ergründen‘.“

Eine unglaublich große, struppige Uhudame musterte die Neuankömmlinge mit rötlich gelbem Blick. Über ihren Augen ragten dicke Federbüschel auf, im Gefieder ihres linken Flügels lag ein Stück Haut mit einer hässlichen, weiß gezackten Narbe frei. Die Uhudame thronte auf einem Felsvorsprung und fuhr fort: „Ich bin Skench, Ablah-Generalin von Sankt Ägolius. Meine Aufgabe ist es, euch die Wahrheit zu lehren. Fragen sind bei uns nicht erwünscht, denn sie lenken bekanntlich oftmals von der Wahrheit ab.“

Das wollte Soren nicht einleuchten. Seit er geschlüpft war, hatte er unablässig Fragen gestellt und auf diese Weise viel erfahren.

Doch Skenchs Ansprache war noch längst nicht zu Ende. „Ihr seid nun Waisen.“ Soren war empört. Er war keine Waise! Er hatte Mama und Papa. Seine Eltern waren bloß woanders. Wenn man eine Waise war, waren die Eltern gestorben. Wie kam diese Skench, diese Ablah-blabla oder wie sie sich nannte, dazu, ihn als Waise zu bezeichnen?

„Wir haben euch gerettet. Hier in unserer Lehranstalt können wir euch eine Ausbildung bieten, die euch eines Tages zu bescheidenen Dienern einer noblen Sache machen wird.“

Das war ja wohl die Höhe! Niemand hatte ihn gerettet, man hatte ihn entführt! Hätte ihn die fremde Eule retten wollen, hätte sie ihn wieder in sein Nest getragen. Und was, bitte schön, war mit der ‚noblen Sache‘ gemeint?

„Der noblen Sache kann man auf vielerlei Art dienen. Unsere Aufgabe ist es herauszufinden, welche Art einem jeden von euch am ehesten entspricht. Das erreichen wir, indem wir eure besonderen Begabungen feststellen.“ Skenchs Augen verengten sich, bis sie nur noch gelbliche Schlitze in ihrem gefiederten Gesicht waren. „Ich bin sicher, dass jeder Einzelne von euch auf seine Weise etwas Besonderes hat.“

Kaum hatte sie ihre Ansprache beendet, riefen die versammelten Eulen im Chor:

Ein jeder hat seine Besonderheit! Mit Gehorsam und ErgebenheitKann man sie erkennen,Kann man sie benennen.Dank sei Sankt Äggies Großherzigkeit!

Das Lied verklang und die Generalin Skench segelte von ihrem Felsvorsprung herab. Abermals musterte sie die eingeschüchterten Jungvögel mit durchbohrendem Blick.

„Euch steht ein spannendes Abenteuer bevor, kleine Waisen. Wenn ich euch gleich entlasse, werdet ihr auf unsere vier Glaucidien verteilt, wo zweierlei geschehen wird: Erstens verleihen wir euch eine Kennnummer. Zweitens nehmt ihr an eurer ersten Unterrichtsstunde zum Thema: ‚Wie schlafe ich richtig?‘ teil. Ihr werdet den sogenannten Schlafmarsch kennenlernen. Das sind nämlich die beiden ersten Voraussetzungen für eure Besonderheitsfeier.“

Wovon redet diese Eule eigentlich?, dachte Soren verwirrt. Was war eine Kennnummer? Was waren Glaucidien und seit wann mussten Eulenkinder lernen, wie man richtig schläft? Und dieser komische Marsch? Was in aller Welt sollte das denn sein? Es war doch noch Nacht. Welche Eule schlief bitte schön nachts?

Doch ehe er lange grübeln konnte, schob ihn jemand mit sanfter Gewalt in eine Reihe, allerdings nicht in die Reihe, in der sich die Elfenkäuzin Gylfie aufgestellt hatte. Soren musste den Kopf einmal fast ganz herumdrehen, bis er sie erspähte. Daraufhin winkte er ihr mit dem Stummelflügel, aber Gylfie sah ihn nicht. Sie marschierte schon los, den Blick stur geradeaus gerichtet.

Sorens Reihe schlängelte sich durch schroffe Felsspalten. Das Sankt-Ägolius-Internat für verwaiste Eulen schien aus einem verwirrenden Netz von Gängen und Schluchten zu bestehen. Soren dachte beklommen, dass er die kleine Elfenkäuzin womöglich nie wiedersehen würde, ja, schlimmer noch, dass er wohl nie mehr aus diesen Felsgängen herausfinden und in den heimischen Tyto-Wald mit seinen hohen Bäumen und funkelnden Bächen zurückkehren würde.

In einem runden Felsbecken machte der Zug der Eulenkinder Halt. Eine weiße Eule mit ungewöhnlich plustrigem Gefieder watschelte ihnen entgegen. Ihre blinzelnden Augen schimmerten mattgelb.

„Ich bin eure Gruppenbetreuerin Finny“, stellte sie sich vor und fügte leise kichernd hinzu: „Manche nennen mich auch ihren Schutzengel.“ Sie betrachtete die Ankömmlinge freundlich und setzte hinzu: „Am liebsten wär’s mir, ihr nennt mich einfach ‚Tante‘.“

Tante?, dachte Soren verwundert. Warum sollte ich diese fremde Eulenfrau ‚Tante‘ nennen? Aber ihm fiel gerade noch rechtzeitig ein, dass man ja keine Fragen stellen durfte.

„Ich meinerseits muss euch natürlich mit euren Nummern anreden, die ihr gleich im Rahmen einer kleinen Feier erfahren werdet.“

„Au fein!“ Ein Fleckenkauzmädchen neben Soren trippelte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen.

Diesmal vergaß Soren, dass Fragen nicht erwünscht waren. „Warum willst du denn lieber eine Nummer statt eines Namens haben?“

„Weil ich Hortense heiße!“, flüsterte das Fleckenkauzmädchen. „Den Namen würdest du an meiner Stelle auch gern loswerden. Und jetzt pst! Wir sollen doch keine Fragen stellen!“

Finny sprach weiter: „Wenn ihr aber brave Eulenkinder seid und in puncto Ergebenheit und Gehorsam fleißige Schüler, werdet ihr gemäß eurer Besonderheit eingestuft und wir verleihen euch euren richtigen Namen.“

Ich habe doch schon einen richtigen Namen: Soren, dachte der Jungeulerich. Meine Eltern haben mich so genannt. Die Worte hallten in seinem Schädel wider und sogar sein Muskelmagen schien sich abwehrend zusammenzuziehen.

„Dann wollen wir uns jetzt zur Nummernverleihung aufstellen– und zur Belohnung gibt’s ein leckeres Häppchen.“

Sorens Gruppe zählte an die zwanzig Eulenkinder, Soren selbst stand ungefähr in der Mitte. Von dort aus beobachtete er aufmerksam, was nun geschah. Tante Finny– eine Schnee-Eule, wie ihm Hortense zugeraunt hatte– legte vor das erste Eulenkind einen Brocken Mäusefleisch ohne Fell auf einen Stein und verkündete: „Du bist Nummer 12-6. Das ist aber eine hübsche Nummer, Liebchen!“

Jede Nummer war entweder „hübsch“, „allerliebst“ oder „reizend“. Finny beugte sich betulich vor und oft tätschelte sie das Eulenkind, das soeben seine Nummer erhalten hatte, liebevoll. Sie steckte voller Scherze und geistreicher Bemerkungen. Soren dachte schon, dass es schlimmer hätte kommen können, und wünschte Gylfie auch so eine nette Betreuerin, da landete die große, grimmige Eule mit den auffälligen Federohren, die ihn entführt und „Schwachkopf“ genannt hatte, neben Finny. Sorens Magen krampfte sich angstvoll zusammen, als sein Entführer zu ihm herüberstarrte. Dann wandte sich das Eulenmännchen ab und raunte Finny etwas zu. Finny nickte und betrachtete Soren. Bestimmt sprachen die beiden über ihn. Soren musste sich überwinden, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Gleich war er an der Reihe, vor Finny hinzutreten und seine Nummer in Empfang zu nehmen. Vor ihm waren nur noch vier andere Eulenkinder.

„Hallo, mein Süßer!“, säuselte Finny, als Soren vortrat, „für dich habe ich eine ganz besondere Nummer.“ Soren sagte nichts und Finny fuhr fort: „Ja, bist du denn gar nicht neugierig?“

Die will mich reinlegen. Hier darf man keine Fragen stellen, dachte Soren.

Und das war es auch, was er erwiderte. „Hier darf man keine Fragen stellen.“

Finnys Augen verströmten ein sanftgelbes Leuchten. Soren war einen Augenblick lang verunsichert. Dann beugte sich Finny vor und raunte ihm zu: „Weißt du, Schätzelchen, ich sehe das nicht so eng wie manch anderer. Wenn du also unbedingt eine Frage stellen musst– dann immer raus damit. Aber sprich bitte leise. Hier hast du auch dein Stück Maus, Liebchen. Und deine Nummer lautet…“ Sie seufzte und ihr weißes Gesicht schien gelblich aufzuleuchten. „Nein, so was– meine Lieblingsnummer! Die 12-1! Ist das nicht wunderbar? Das ist eine ganz besondere Nummer und auch du findest ganz sicher bald heraus, was deine besondere Bestimmung als Eule ist.“

„Danke“, sagte der einigermaßen verwirrte Soren. Er war sehr erleichtert, dass das grimmige Eulenmännchen Finny anscheinend nichts Nachteiliges über ihn berichtet hatte.

„Danke… Und weiter?“ Finny kicherte. „Siehst du? Auch ich muss manchmal Fragen stellen.“

„Danke… Finny?“

Abermals beugte sich die Schnee-Eule zu ihm herunter. In ihren gelben Augen funkelte leises Missfallen. „Noch mal!“, raunte sie. „Versuch’s noch mal– und sieh mir dabei in die Augen.“

Soren schaute in das gelbe Leuchten. „Danke, Tante Finny.“

„So ist’s recht, Herzchen. Ich bin halt eine alte Glucke. Ich hab’s einfach zu gern, wenn man mich ‚Tante‘ nennt.“

Soren wusste zwar nicht, was eine Glucke war, aber er pickte sein Stück Maus auf und folgte seinem Vordermann in das Glaucidium, das, wie sich herausstellte, eine angrenzende Schlucht war. Zwei große braune Eulen mit ungepflegtem Gefieder geleiteten die Eulenkinder dorthin.

Die Schlucht war nur von einer Seite aus zugänglich und bereits voller schlafender Eulenkinder. Der Mond warf seinen silbrigen Schein auf ihr Gefieder.

„Kommt rein!“, blaffte jemand von einem hoch gelegenen Felsvorsprung.

„Du da!“

Eine rundliche Eule trat auf Soren zu. Sorens Herz schlug höher, denn es war eine Schleiereule wie seine Eltern und Geschwister. Sie besaß genauso ein herzförmiges weißes Gesicht und dunkle Augen. Doch obwohl ihm dieser Anblick so vertraut war, jagten ihm die Augen der fremden Eule Angst ein.

„Stell dich in die hinterste Reihe und mach dich bereit, die Schlafhaltung einzunehmen.“ Der Befehl ertönte in der wohlbekannten heiseren Aussprache der Schleiereulen, aber Soren fand diesen Umstand keineswegs beruhigend.

Dann wandten sich die beiden Eulen, welche die neu eingetroffenen Waisen in das Glaucidium begleitet hatten, an die Jungvögel. Es waren beides Waldohreulen. Über den rötlichen Augen sprossen ihnen lange Federbüschel, die sich unablässig hin und her drehten, was Soren ganz nervös machte. Sie sprachen abwechselnd, untermalt von dumpfen, seltsam schnarrenden Lauten. Ihr Huuu! schüchterte Soren noch mehr ein als Skenchs barsche Sprechweise, denn die Laute schienen klirrend in seiner Brust widerzuhallen.

„Ich bin Jatt“, stellte sich die eine Waldohreule vor. „Ich war auch mal eine Nummer. Aber ich habe mir einen neuen Namen verdient.“

„Www…“ Soren unterbrach sich erschrocken.

„Nummer 12-1, deinem hässlichen Schnabel will offenbar eine Frage entschlüpfen!“ Diesmal ließ das Huuu! Sorens Brust derart erbeben, dass er schon glaubte, sein Herz müsste zerspringen.

„Damit– das– ein– fürrr– alle– Mal– klarrr ist!“ Soren konnte kaum hinhören. „Hier im Sankt Äggie vermeiden wir gewisse Wörter, die mit Www… anfangen! Solche Wörter bilden meist den Auftakt zu einer Frage, und Fragen sind ein Ausdruck geistiger Maßlosigkeit. Fragen mögen die Vorstellungskraft beflügeln, aber sie lähmen zugleich unsere besten Eigenschaften als Eulen, nämlich Zähigkeit, Geduld, Bescheidenheit und Selbstzucht. Wir können nicht dulden, dass ihr hemmungslos in W-Wörtern schwelgt. Solche Wörter sind unanständig, ja, sie sind derart verwerflich, dass wir gezwungen sind, ihre Verwendung auf das Schwerste zu bestrafen.“ Jatt blinzelte und ließ den Blick auf Sorens Flügeln ruhen. „Unsere Aufgabe ist es, aus euch richtige Eulen zu machen. Dafür werdet ihr uns eines Tages dankbar sein.“

Soren wurde ganz schwummerig vor Angst. Diese beiden Eulen waren so ganz anders als Finny… Tante Finny!, berichtigte er sich stumm.

Jatt schnarrte jetzt nicht mehr ganz so unerträglich. „Und nun hat euch mein Vetter etwas zu sagen.“

Die Sprechweise des Vetters war der seinen zum Verwechseln ähnlich. „Ich bin Jutt. Auch ich war einmal eine Nummer und musste mir meinen neuen Namen erst verdienen. Ihr nehmt jetzt Schlafhaltung ein: gerade stehen, Kopf hoch, Schnabel zum Mond! Wie ihr seht, sind in diesem Glaucidium bereits Hunderte von Eulenkindern versammelt. Sie haben alle auf diese Weise das Schlafen erlernt. Und ihr werdet es jetzt auch lernen.“

Soren sah sich verzweifelt um. Wo war Gylfie? Aber er konnte nur Hortense, beziehungsweise Nummer 12-8, entdecken. Sie stand in vorbildlicher Schlafhaltung da. Ihr Kopf bewegte sich nicht, woran Soren erkennen konnte, dass sie im grellen Schein des Vollmonds bereits fest eingeschlafen war. Ein Stück weiter weg erspähte Soren einen bogenförmigen Durchgang. Wahrscheinlich war dahinter das benachbarte Glaucidium. Die Eulen dort schienen zu marschieren. Dabei öffneten und schlossen sie die Schnäbel, allerdings war nicht zu verstehen, was sie sagten.

Jatt ergriff wieder das Wort. „Es ist streng verboten, beim Schlafen den Kopf unter den Flügel zu stecken oder ihn auf die Brust sinken zu lassen. Ebenso ist es untersagt, die Haltung einzunehmen, die sich viele von euch Jungvögeln angewöhnt haben, nämlich sich halb umzudrehen und den Kopf auf die Schulter zu legen.“ Soren unterdrückte mindestens sieben Wwws. „Eine falsche Schlafhaltung steht unter schwerster Strafe.“

Jutt übernahm: „Zur Überwachung drehen im Glaucidium Schlafaufseher ihre Runden.“

Jatt war wieder an der Reihe. Die beiden schienen bestens aufeinander eingespielt. Bestimmt hatten sie diese Ansprache schon oft gehalten. „Außerdem wird in regelmäßigen Abständen ein Signal ertönen, worauf sämtliche im Glaucidium befindlichen Eulenkinder den Schlafmarsch anzutreten haben.“

„Beim Marschieren wiederholt ihr euren alten Namen immer und immer wieder“, verkündete nun Jutt. „Ertönt das zweite Signal, bleibt ihr sofort stehen und nennt eure Nummer, aber nur ein Mal, wohl gemerkt, dann nehmt ihr die Schlafhaltung ein.“

Die Eulenvettern vereinten ihre Stimmen zu einem schaurig schnarrenden Kommando: „Und jetzt wirrrd geschlafen!“

Soren versuchte zu schlafen. Er gab sich redlich Mühe. Vielleicht würde ihm Finny– Tante Finny– das ja glauben. Trotzdem hinderte ihn ein sonderbares Zwicken im Magen am Einschlafen. Es kam ihm vor, als verdichtete sich der Schein des Vollmondes, der einen Teil des Glaucidiums in helles Licht tauchte, zu einer spitzen Silbernadel, die durch seinen Schädel hindurch geradewegs in seinen Magen stach. Ob er den empfindlichen Magen seines Vaters geerbt hatte? Wenn ja, schmeckte sein Magen aber nicht etwa das Süßgras, von dem sich die soeben verspeiste Maus zu ihren Lebzeiten ernährt hatte, Sorens Magen schmeckte etwas anderes: Angst. Panische Angst.

Zwar konnte Soren nicht abschätzen, wie lange es dauern würde, bis das Signal ertönte, aber schon bald war es so weit, dass er zum ersten Mal den Schlafmarsch antreten musste. Er stapfte hinter seinen Gefährten her und wiederholte dabei immer wieder seinen Namen. Dann gelangte die Prozession in den Schatten unter dem Felsbogen. „Aaah!“, seufzte Soren unwillkürlich. Das Stechen in seinem Schädel ließ nach, sein Magen beruhigte sich. Er wurde auch wacher, wie es sich für eine Eule, die schließlich ein Nachtgeschöpf ist, gehört. Er sah sich um. Neben ihm stand die kleine Fleckenkäuzin. „Hortense?“, sprach Soren sie an. Hortense heftete kurz den leeren Blick auf ihn und scharrte mit den Füßen, als wollte sie weitermarschieren.

Ein Schlafaufseher kam angesegelt. „Wieso trittst du auf der Stelle, 12-8, hä? Nimm sofort Schlafhaltung ein.“

Hortense legte sogleich den Kopf in den Nacken und reckte den Schnabel, aber der Felsbogen schirmte sie vom Mondlicht ab. Soren, der ebenfalls Schlafhaltung eingenommen hatte, linste durch die halb geschlossenen Lider zu ihr hinüber.

Komisch, dachte er. Sie reagierte eher auf ihre Nummer als auf ihren früheren Namen. Wenn man sie mit ihrem alten Namen ansprach, bewegte sie lediglich die Füße.

In der ungewohnten Haltung fand Soren auch jetzt keinen Schlaf, darum streckte er den Kopf ein wenig vor und lugte durch den Felsbogen. Auf der anderen Seite entdeckte er Gylfie, doch da ertönte auch schon wieder das Signal, ein ohrenbetäubend schrilles Kreischen. Als sich Tausende von Eulen in Bewegung setzten, wurde Soren ganz ohne sein Zutun weitergeschoben. Im Nu herrschte ein unbeschreibliches Gebrabbel, weil jedes Eulenkind seinen alten Namen unzählige Male wiederholte.

Soren begriff, dass der Marsch der Bahn des Mondes durch das Glaucidium folgte. Allerdings waren sie zu viele, als dass sie alle gleichzeitig vom Mond beschienen werden konnten, darum durfte sich immer ein Teil der Gruppe unter den Felsbogen zurückziehen. Vielleicht hatte er ja Glück und Gylfie musste irgendwann gleichzeitig mit ihm dort verweilen. Dann konnte es ihm gelingen, sie anzusprechen.

Drei Durchgänge musste er noch abwarten, musste drei Mal im Mondlicht marschieren und dabei seinen Namen vor sich hin plappern, spürte drei Mal das scheußliche Zwicken im Magen.

„12-1– Schnabel hoch!“, blaffte ihn ein Schlafaufseher an und verpasste ihm eine Ohrfeige.

Hortense marschierte neben ihm her und brabbelte: „12-8 ist ein wunderschöner Name. 12-8 passt prächtig zu mir. Ich liebe Zweien, Vieren und Achten, es sind die allerschönsten Zahlen!“

„Hortense!“, raunte Soren noch einmal und glaubte zu erkennen, wie sie unmerklich mit den Krallen scharrte, aber das war auch schon alles. Er unternahm noch einen Versuch: „He, Horti!“ Aber die Fleckenkäuzin blieb in ihrem traumlosen Schlaf gefangen.

Dann durfte Soren wieder unter dem Bogen eine Pause einlegen und schob sich unauffällig weiter, bis er am Rand des benachbarten Glaucidiums stand. Die Schlafaufseher hatten eben den Befehl: „Schlafen!“ ausgegeben.

Auf einmal stand Gylfie neben ihm. Das zierliche Elfenkauzmädchen wandte den Kopf und flüsterte ihm etwas zu. „Die wollen uns mondwirr machen!“, raunte es.

Mondwirr

„Was?“ Es war dermaßen erlösend, eine W-Frage zu stellen, dass Soren beinahe die Antwort überhört hätte.

„Haben dich deine Eltern nie davor gewarnt, im vollen Schein zu schlafen?“

„Was heißt ‚im vollen Schein‘?“

„Wann bist du geschlüpft?“

„Vor drei Wochen, glaube ich. Jedenfalls haben mir das meine Eltern erzählt.“ Wieder einmal konnte Soren nur raten, wie lang eine Woche dauern mochte.

„Das erklärt alles. Außerdem gibt es in Tyto sehr alte Bäume, nicht wahr?“

„Oh ja! Bei uns gibt es viele, viele Bäume mit hohen Stämmen und Kronen voller prächtiger Nadeln und Zapfen oder mit Blättern, die sich rot und golden färben.“ Das mit dem Färben behauptete Soren, obwohl er die Blätter immer nur rot und golden gekannt hatte. Seine Eltern hatten ihm aber erzählt, dass die Blätter im Sommer grün waren. Kludd war gegen Ende der grünen Zeit geschlüpft.

„Ich bin nämlich drei Wochen vor dir geschlüpft.“ Sie sprachen im Flüsterton und behielten die befohlene Schlafhaltung bei, aber beide waren hellwach. „Ich bin nach der Erneuerung geschlüpft.“

„Die Erneuerung? Wann ist das?“

„Also… Der Mond kommt und der Mond geht. Bei der Erneuerung ist der Mond so schmal wie eine Flaumfeder. Danach wird der Mond mit jedem Tag runder, bis wir vollen Schein haben, so wie jetzt. Der volle Schein hält ungefähr drei, vier Tage an, dann folgt das Schwinden. Statt weiter dicker und runder zu werden, schwindet der Mond dahin und wird immer dünner, bis er schließlich wieder flaumfederschmal ist. Danach ist er für eine Weile ganz weg.“

„Das habe ich noch nie erlebt…“

„Du hättest es erleben können, wenn du nicht in einem hohen Baum in einem dichten Wald gewohnt hättest. Wir Elfenkäuze leben in der Wüste, da gibt es kaum Bäume, und die wenigen haben nur spärliches Laub. Wir können fast immer den ganzen Himmel sehen.“

„Ui!“, entfuhr es Soren gedämpft.

„Darum warnen uns unsere Eltern auch vor dem vollen Schein. Zwar schlafen auch wir meistens tagsüber, aber nach einem anstrengenden Beuteflug kommt es schon einmal vor, dass eine Eule so müde ist, dass sie auch bei Nacht schläft. Das kann sehr gefährlich werden, wenn man sich dabei ungeschützt dem Licht des Vollmondes aussetzt. Man wird davon ganz wirr im Kopf.“

„Wieso?“

„Das kann ich dir auch nicht erklären. Meine Eltern haben nur erzählt, dass der alte Kauz Rocmore durch den vollen Schein den Verstand verloren hat.“ Gylfie musste sich sichtlich überwinden weiterzusprechen: „Sie meinten, er habe immer öfter nicht mehr gewusst, wo oben und wo unten ist. Zum Schluss hat er sich das Genick gebrochen, weil er überzeugt gewesen sei, von einem Kaktus aufzufliegen.“ Gylfie versagte beinahe die Stimme. „Er wollte zum Sternenhimmel hochfliegen, aber er ist runtergekracht. So ist das nämlich, wenn man mondwirr ist. Dann weiß man nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Man kann die Lüge nicht von der Wahrheit, die Wirklichkeit nicht von der Täuschung unterscheiden.“

„Das ist ja schlimm!“, rief Soren erschrocken aus. „Und das passiert uns jetzt auch?“

„Nicht unbedingt.“

„Was können wir denn dagegen tun?“

„Da muss ich erst mal nachdenken… Fürs Erste legst du am besten den Kopf ein bisschen schief, damit der Mond nicht direkt draufscheint. Bei vollem Schein zu fliegen, schadet übrigens nichts, nur schlafen darf man auf keinen Fall.“

„Ich kann noch gar nicht fliegen“, entgegnete Soren traurig.

„Pass einfach auf, dass du nicht einschläfst.“

Soren legte den Kopf schief und richtete dabei den Schnabel so aus, dass er die Elfenkäuzin betrachten konnte.

Wie kann ein derart winziges Geschöpf bloß so gewitzt sein?, dachte er. Hoffentlich, ach hoffentlich hatte Gylfie eine rettende Idee…

Ein barscher Befehl ließ ihn zusammenfahren. „12-1, Kopf gerade, Schnabel hoch!“ Ein Schlafaufseher. Soren fing sich die zweite Ohrfeige ein.

Immerhin schliefen weder Gylfie noch er selbst ein, und als der Schlafaufseher abgezogen war, unterhielten sie sich flüsternd weiter. Doch da ertönte auch schon das unvermeidliche Marschsignal. Es würde wieder drei Runden dauern, bis sie unter dem Bogen weitersprechen konnten.

„Denk immer dran– du darfst auf gar keinen Fall einschlafen!“

„Ich bin schrecklich müde… Was soll ich bloß dagegen machen?“

„Denk an irgendwas.“

„Woran denn?“

„Na ja, zum Beispiel…“ Gylfie überlegte noch, da schubste ein Schlafaufseher sie vorwärts. „Denk ans Fliegen!“

Ans Fliegen… Ja, der Gedanke ans Fliegen würde ihn wach halten, etwas Aufregenderes gab es schließlich nicht. Doch alle Träume vom Fliegen wurden von seiner eigenen Stimme übertönt, die leiernd seinen Namen wiederholte: „Soren… Soren… Soren… Soren… Soren…“

Obendrein hörte man die ganze Zeit Tausende marschierender Krallen über den Felsboden klacken. Soren ging zwischen Hortense und einem jungen Uhu, dessen Namen er bei dem ununterbrochenen Gebrabbel nicht verstehen konnte. Vor Soren marschierten drei Schnee-Eulen-Kinder.

Jede Gruppe bestand aus etwa zwanzig jungen Eulen und bildete lose Reihen. Alle Reihen marschierten im Gleichschritt, wobei jedes Eulenkind pausenlos seinen Namen aufsagte. Es war unmöglich, einzelne Namen herauszuhören, und schon in der vierten Runde kam Soren sein eigener Name reichlich sonderbar vor. Bald klang der Name gar nicht mehr wie ein Name, sondern wie eine belanglose Lautfolge. Und auch Soren selbst wurde belanglos, ein Wesen ohne vernünftigen Namen, ohne Eltern, ohne Geschwister, aber… vielleicht… mit einer Freundin?

Schließlich durften sie wieder anhalten. Als das Gebrabbel schlagartig verstummte, begriff Soren plötzlich, was hier vor sich ging. Mit einem Mal passte alles zusammen, vor allem, wenn man bedachte, was ihm Gylfie über die Mondwirrnis erzählt hatte. Dieser Geistesblitz genügte, um Soren so lange wach zu halten, bis er das nächste Mal unter dem Felsbogen mit der Elfenkäuzin zusammentraf.

„Die machen uns mit unseren Namen mondwirr, Gylfie!“, teilte er dem Eulenmädchen aufgeregt mit, als sie wieder nebeneinanderstanden. Hier unter dem Fels waren sie vor dem Mondschein geschützt, nur die Sterne funkelten über ihnen. Gylfie begriff sofort, was er meinte. Wenn man einen Namen unzählige Male wiederholte, verlor er irgendwann seine Bedeutung, seine Einzigartigkeit. Der Name löste sich einfach auf.