Der Corona-Kompass - Alexander Kekulé - E-Book

Der Corona-Kompass E-Book

Alexander Kekulé

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Beschreibung

Noch immer befindet sich die Welt im Würgegriff von Covid-19. Der Kampf gegen die Pandemie ist die wohl größte Herausforderung in der Geschichte der Medizin. Doch wir haben die Chance, das Virus in Schach zu halten. Alexander Kekulé zeigt, wie es uns gelingt, mit Corona zu leben. Er warnte als einer der Ersten nachdrücklich vor den dramatischen Auswirkungen der Corona-Pandemie. Nun hat sie sich zu einer globalen Katastrophe entwickelt - auch hierzulande besteht jederzeit die Gefahr einer neuen Infektionswelle und von unabsehbaren Mutationen. Aber Kekulé macht klar: Es gibt keinen Grund, in Schockstarre zu verfallen. Wenn wir aus dem, was wir bis jetzt richtig gemacht haben, und aus unseren Fehlern die logischen Schlüsse ziehen, können wir uns vor dem Virus schützen, ohne unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Anhand des Verlaufs der Corona-Krise und mit Blick auf das, was uns womöglich noch bevorsteht, ist sein Buch ein umfassender Wegweiser für einen klugen, aber gelassenen und zunehmend routinierten Umgang mit dieser Gefahr. Je mehr wir über das neuartige Virus wissen, desto leichter wird es uns fallen, es als Teil unseres Lebens zu betrachten.

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EPUB

Seitenzahl: 362

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Das Buch

Alexander Kekulé , ist einer der renommiertesten Experten zur Corona-Pandemie. Und er warnte als einer der Ersten vor ihren dramatischen Auswirkungen. Nun hat sie sich zu einer globalen Katastrophe entwickelt – und wir befinden uns mitten in einer neuen Infektionswelle. Aber Kekulé macht klar: Es gibt keinen Grund, darauf mit blanker Furcht und Aktionismus zu reagieren. Wenn wir aus dem, was wir bis jetzt richtig gemacht haben, und aus unseren Fehlern die logischen Schlüsse ziehen, können wir uns vor dem Virus schützen und lernen, mit ihm zu Rande zu kommen. Anhand des Verlaufs der Krise und mit Blick auf das, was uns womöglich noch bevorsteht, ist sein Buch ein umfassender Wegweiser für einen klugen, gelassenen und zunehmend routinierten Umgang mit dem Virus. Je mehr wir über Corona wissen, desto leichter wird es uns fallen, damit zu leben.

Der Autor

Alexander Kekulé, geboren 1958 in München, studierte Medizin, Biochemie und Philosophie an der Freien Universität Berlin und an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Medizinische Mikrobiologie und Virologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie des Universitätsklinikums Halle und Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie sowie für Laboratoriumsmedizin. Als Mitglied der Schutzkommission hat er die Bundesregierung elf Jahre zum biologischen Bevölkerungsschutz beraten. Seine Forschungsschwerpunkte sind Infektionskrankheiten, biologischer Bevölkerungsschutz und Bioethik sowie Influenza-Pandemieplanung. Er wurde als Wissenschaftler und als Journalist mehrfach ausgezeichnet und schreibt unter anderem für die Zeit, im Spiegel, in der Neuen Zürcher Zeitung und im Tagesspiegel.

Prof. Alexander Kekulé

DER CORONA-KOMPASS

Wie wir mit der Pandemie leben und was wir daraus lernen können

ULLSTEIN

Abbildungen im Innenteil:

Baggen Design und Nerd Communications: S. 205

Freedomhouse.org: S. 147

Anna Fuchs: S. 41, 43, 45, 63, 65, 91, 134 f., 166 f., 185, 251ff., 261, 263

Alexander Kekulé/Red Cape Production: 125, 196 f., 215, 226 ff., 258, 266, 274

Peter Palm: S. 130 f.

Shutterstock: S. 98

 

Editorischer Hinweis: Redaktionsschluss dieses Buches war der 7. 10. 2020.

 

Aktuelle Informationen auf:

Twitter: @AlexanderKekule

www.Corona-Kompass.de

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ISBN 978-3-8437-2465-4

© 2020 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Redaktionelle Mitarbeit: Wiebke Heiss, Franca Conradis-Jansen, Manuela Pecoraro

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
1. EINLEITUNG - SCHWARZER SCHWAN UND VOGEL STRAUSS
EIN UNGUTES GEFÜHL
ALARM MIT SCHLUMMERTASTE
DER GEIST IST AUS DER FLASCHE
MAHNER UND BREMSER
ALARMSTUFE ROT
DAS VIRUS ÜBERRASCHT EUROPA
EUROPA SCHWENKT UM – IN KLEINEN SCHRITTEN
VOM VIRUS ÜBERHOLT
VOM GEGNER LERNEN
2. AUS EINER ANDEREN DIMENSION - DIE PARALLELWELT DER VIREN
ZWISCHEN LEBEN UND TOD
DATENLEAK IN DER STUNDE NULL DES LEBENS
WOHER KOMMEN VIREN? UND WAS WOLLEN SIE VON UNS?
TROJANER, MÖRDER, TRITTBRETTFAHRER
KRANKHEIT UND TOD – AUS VERSEHEN
3. WIE SICH UNSER KÖRPER WEHRT - ANTIKÖRPER, KILLERZELLEN UND ANDERE WUNDERWAFFEN
SO KOMPLEX WIE DAS GEHIRN
IMMUNANTWORT ERSTER UND ZWEITER KLASSE
EIN FAST PERFEKTES FOSSIL
DIE ZWEITE STUFE WIRD GEZÜNDET
VON SCHAFEN UND MENSCHEN
4. ÜBERFALL AUS DEM TIERREICH - WIE PANDEMIEN ENTSTEHEN
SPILLOVER – VIREN AUS DEM TIERREICH
DAS VOGELSTERBEN VON HONGKONG
WOHER KOMMEN NEUE INFLUENZAVIREN?
DAS GEHEIMNIS DER SPANISCHEN GRIPPE
EIN VIROLOGISCHER DINOSAURIER
5. DER UNBEKANNTE DRITTE - WAS CORONAVIREN SO GEFÄHRLICH MACHT
GENERALPROBE FÜR DIE PANDEMIE
NACHRICHT AUS DSCHIDDA
DR. JEKYLL UND MR. HYDE
WIE SUPERSPREADING ENTSTEHT
VERMEHRUNG UM JEDEN PREIS?
DIE MÜLLABFUHR DREHT DURCH
ORKAN DER BOTENSTOFFE
SCHWEINE ALS BLAUPAUSE
6. VIRUSJÄGER - VON PLANERN UND PROPHETEN
EIN UNBEQUEMER VORSCHLAG
WECKRUF FÜR DIE WHO
EIN OLDTIMER WIRD AUFPOLIERT
EINE NEUE WISSENSCHAFTLICHE DISZIPLIN
SPIELE UND PLÄNE
DREI BOTSCHAFTEN UND EIN ZAUBERWORT
DIE HEIMLICHE GENERALPROBE
7. DER STURM BRICHT LOS - DER SIEGESZUG DES VIRUS BEGANN IN EUROPA
EIN ZIEMLICH TÖDLICHES VIRUS
AUS ITALIEN IN DIE WELT
DIE MAGISCHE ZAHL R
BLINDE PASSAGIERE
KEINE PANDEMIE OHNE SUPERSPREADER
ERFOLGLOSE AUSBRUCHSVERSUCHE
8. DIE DUNKLE QUELLE - WOHER KAM SARS-COV-2?
LÜGEN UND ANDERE UNWAHRHEITEN
PATIENT ZERO
EIN VIRUS IM ZEUGENSTAND
MISSING LINK
SCHAUERGESCHICHTEN
9. DIE WISSENSCHAFT SCHLÄGT ZURÜCK - TESTS, THERAPIEN UND DIE RETTENDE IMPFUNG
DIAGNOSTIK: DIE UNTOTEN ANS LICHT BRINGEN
THERAPIE: ZWISCHEN SKYLLA UND CHARYBDIS
IMPFSTOFFE: KOMMT DIE RETTUNG RECHTZEITIG?
EIN URALTES PRINZIP …
… UND SEINE MODERNE ANWENDUNG
CHAMPIONS FÜR DIE RETTUNG DER WELT
10. GEWINNER UND VERLIERER - WAS GEGEN COVID HALF – UND WAS NICHT
KAMPF DER AUGUREN
FORSCHER UND IHRE KRITIKER
ZWEI KULTUREN
IM BLAULICHTMODUS
DIE ZUTATEN DES ERFOLGES
LOCKDOWNS UND ANDERE IRRWEGE
TANZ UM DAS GOLDENE KALB
VIRUS BUSTERS
HOFFEN AUF ERLÖSUNG
11. MIT DEM VIRUS LEBEN - WIE WIR DEN GEGNER IN SCHACH HALTEN KÖNNEN
VERPASSTE CHANCEN
DEN TANZ BEENDEN
S M A R T
MODUS VIVENDI MIT EINEM VIRUS
WIE TÖDLICH IST CORONA?
GEFÄHRLICHE VORSICHT
WIE VIELE TOTE SIND ZU VIEL?
EIN PLÄDOYER
12. DIE PANDEMIE ALS CHANCE - DIE ZUKUNFT NACH CORONA
JENSEITS VON GUT UND BÖSE
LEHRER UND ZERSTÖRER
GEFÄHRLICHE ALLEINGÄNGE
FOLLOW THE FACTS
DIE SECHSTE PLAGE
DIE ROTE KÖNIGIN
GLOSSAR
ANMERKUNGEN
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Meiner wunderbaren Familie

1.

EINLEITUNG

SCHWARZER SCHWAN UND VOGEL STRAUSS

EIN UNGUTES GEFÜHL

Der Vorbote der Katastrophe lag vollkommen daneben. Ob wir in Deutschland denn wieder vom Schneechaos heimgesucht würden, wollte der Anrufer wissen. Mein Kollege war vorigen Winter in den bayerischen Bergen zu Besuch gewesen. Die klirrende Kälte, meterhohe Eiswände am Straßenrand, in den Seitengräben heulende Autos und von der Außenwelt abgeschnittene Dörfer hatten ihn enorm beeindruckt.

Doch leider musste ich ihn enttäuschen. In diesem Jahr war alles anders. Seit Wochen hatte es kein einziges Mal geschneit. Draußen regnete es bei zehn Grad plus. Es war ein früher Januartag des Jahres 2020.

Am anderen Ende der Leitung wehte ein angenehm warmes Lüftchen, wie meistens um diese Jahreszeit. Mein Gesprächspartner richtete seine Kamera auf das Fenster seines Büros. Zwischen den glitzernden Hochhausfassaden von Hongkong Island konnte ich ein Stück Himmel sehen, strahlend blau mit ein paar weißen Wölkchen.

»Schön ist das bei euch«, sagte ich. »In diesem Jahr komme ich auf jeden Fall vorbei und sehe mir das neue Sicherheitslabor an. Versprochen!«

Was ich von dem SARS-Ausbruch in Wuhan halte, wollte mein chinesischer Kollege wissen. Könnte das die nächste Pandemie werden, vor der wir immer gewarnt hätten?

»Nein, das würde mich wundern.« Ich hatte am 31. Dezember eine kurze Nachricht darüber gelesen. Die chinesischen Behörden untersuchten eine ungewöhnliche Häufung von Lungenentzündungen, insgesamt 27 Fälle. Es war angeblich noch nicht einmal klar, ob alle dasselbe hatten.

»Die Gerüchte hier in Hongkong klingen ernster«, sagte die Stimme im Hörer. Demnach seien mehrere Intensivstationen in Wuhan bereits voll mit Patienten, die typische Symptome der Lungenkrankheit SARS zeigten. Der Ausbruch sei, so hieß es, von einem Tier auf dem Huanan Seafood Market im Zentrum von Wuhan ausgegangen.

»Für mich sieht das so aus, als hätte China CDC gut gearbeitet und die Sache schnell aufgeklärt«, meinte ich. China CDC (CCDC), das ist die staatliche chinesische Gesundheitsbehörde.

»Ja, so sieht es aus. Und genau das ist es, was mir Sorgen macht. Der Winter war hier in Hongkong übrigens auch nicht normal. Es wird von Jahr zu Jahr wärmer. Irgendwann werden wir vor lauter Klimaerwärmung gar keine Jahreszeiten mehr haben.«

Das Gespräch hinterließ bei mir ein ungutes Gefühl. Wenn man die Klimaveränderung jetzt sogar in Hongkong spürt, wo auf der Wetterkarte sowieso nur »trockenwarm«, »schwülwarm« oder »lauwarm mit Regen« zur Auswahl steht, musste es wirklich schlecht stehen um unseren Planeten. Für das neue Jahr nahm ich mir vor, mich intensiver mit den Folgen des Klimawandels zu beschäftigen.

ALARM MIT SCHLUMMERTASTE

Unter anderen Umständen hätte ich die DON vom 5. Januar 2020 auf meinem Smartphone glatt überblättert: »Pneumonia of unknown cause – China« leuchtete mir auf dem Display entgegen.

In China war also wieder einmal eine ungeklärte Lungenentzündung aufgetreten. Seuchenausbrüche sind auf diesem Planeten keine Ausnahme, sondern die Regel. Die Weltgesundheitsorganisation WHO registriert etwa 200 ungewöhnliche Infektionsgeschehen pro Jahr, die Dunkelziffer ist wesentlich höher. Ob sich daraus kleinere oder größere Epidemien entwickeln, ist jeweils schwer vorherzusagen. Besonders gefürchtet sind neuartige, aus dem Tierreich stammende Grippeviren. Sie galten bisher als wahrscheinlichste Auslöser einer Pandemie, also der weltweiten Verbreitung einer lebensgefährlichen Infektionskrankheit.

Die Genfer Zentrale der WHO fasst Lageberichte nationaler Gesundheitsorganisationen und ihrer eigenen Regionalbüros zusammen. Zusätzlich analysieren die Seuchenwächter Informationen über mögliche Krankheitshäufungen aus dem Internet, sie werten weltweite Nachrichten und soziale Medien aus. Was hier zusammengetragen wird, erscheint im globalen Seuchen-Informationsdienst, den Disease Outbreak News. Diese DONs melden jeden noch so vagen Verdachtsfall, von jedem noch so abgelegenen Ort der Welt, 24 Stunden am Tag.

Daneben gibt es mehrere unabhängige Wachhunde, etwa den Newsletter ProMED-Mail. Sie gehen unter anderem Hinweisen aus Internetforen nach und organisieren Netzwerke von Wissenschaftlern, die Häufungen ungewöhnlicher Erkrankungen – sogenannter Emerging Diseases – melden.

Wer so einen Informationsdienst abonniert hat, kann das Treiben der Mikroben1 auf dem Erdball nahezu in Echtzeit miterleben: Pest in Madagaskar, Polio in Kamerun, Ebola im Kongo, Zika in Indien, Hantafieber in Panama … Seuche ist immer und überall. Epidemiologen haben dagegen eine dicke Hornhaut entwickelt, sonst lägen ihre Nerven ständig blank.

Pneumonia of unknown cause, eine Lungenentzündung unbekannter Ursache, könnte in China alles Mögliche sein. Oft steckt eine Pilzinfektion oder eine Legionelle aus der Dusche dahinter. Oder ein Mensch hat sich ausnahmsweise mit einer Tierkrankheit angesteckt. Von Tieren übertragene Krankheiten sind in ländlichen Regionen Asiens nicht selten. Oft leben die Menschen mit ihren Fleischvorräten unter einem Dach, getötet und zerlegt werden sie in der Küche. Wenn dann kothaltiger Staub in die Lunge oder Schlachtblut in kleine Wunden kommt, springen tierische Erreger schon einmal auf den falschen Wirt über. Eine weitere Übertragung von Mensch zu Mensch kommt in solchen Fällen allerdings fast nie vor.

Es gab also eigentlich keinen Grund, die Meldung auf dem DON-Ticker meines Smartphones zu öffnen – wenn da nicht zuvor das Gespräch mit meinem Kollegen aus Hongkong gewesen wäre. Ihm war es zwar nicht gelungen, mich mit seinem Misstrauen gegenüber den Pekinger Behörden anzustecken. Aber neugierig hatte er mich schon gemacht.

Was die WHO jetzt, an diesem 5. Januar 2020, meldete, war ziemlich beunruhigend. 44 Fälle mit unklarer Lungenentzündung sollte es mittlerweile in Wuhan geben, elf davon in lebensbedrohlichem Zustand.

Das passte ganz und gar nicht zu den Informationen vom Jahreswechsel. Wie konnten in wenigen Tagen 17 neue Fälle dazugekommen sein, wenn angeblich die Infektionsquelle bereits bekannt war und der Erreger nicht von Mensch zu Mensch übertragen wurde? Und warum fand sich in der WHO-Mitteilung kein Hinweis darauf, dass die chinesischen Behörden die gefürchtete Infektionskrankheit SARS in Verdacht hatten?

SARS steht für severe acute respiratory syndrome – eine durch das Coronavirus SARS-CoV2 ausgelöste Lungenentzündung. Die hoch ansteckende Krankheit war 2003 in China aufgetreten, hatte sich in kurzer Zeit in Südostasien verbreitet und mehrere Ausbrüche auf anderen Kontinenten verursacht. Die WHO stufte das Ereignis damals als Pandemie ein, obwohl das Virus bereits nach sechs Monaten unter Kontrolle war. Von den insgesamt 8422 registrierten Fällen starben knapp zehn Prozent.3 Es wird vermutet, dass der Erreger von einem wild gefangenen Larvenroller stammte, einem katzengroßen Raubtier, das in Asien als Delikatesse gilt.

Der Gedanke an SARS weckte unangenehme Erinnerungen. Den Ausbruch vor 17 Jahren hatte die chinesische Regierung lange verheimlicht und erst nach Monaten der WHO gemeldet.

Ich suchte mir die asiatischen Medienberichte vom 31. Dezember 2019 heraus. Demnach hatte die Nationale Gesundheitskommission Chinas bereits an diesem Tag Experten aus Peking entsandt, um den Ausbruch zu untersuchen. Da es in Wuhan ein eigenes Büro der CCDC gibt, war dieser Schritt sehr ungewöhnlich. Das städtische Gesundheitsamt hatte alle medizinischen Einrichtungen aufgefordert, die Patientenakten zu überprüfen und Fälle mit verdächtigen Symptomen bis zum 30. Dezember 2019, 16:00 Uhr, zu melden. Die Krankenhäuser in Wuhan sollten ihre Nothilfen und intensivmedizinischen Abteilungen verstärken, die Katastrophenpläne überprüfen und für Patienten mit unklarer Lungenentzündung den Green Channel öffnen. Über den Green Channel, ein privilegiertes Notfallmanagement ohne Wartezeiten, kommt in China nur ins Krankenhaus, wer dafür sehr viel Geld bezahlt – oder in höchster Lebensgefahr schwebt.

Am folgenden Dreikönigstag liefen dann die Leitungen heiß (sofern man das im Zeitalter des Internets noch so nennen darf). Von Bangkok bis San Francisco diskutierten Fachleute über die mysteriösen Ereignisse in Wuhan – und das Gerücht, die Kollegen vom Wuhan Institute of Virology hätten bei einem der Erkrankten ein neues, dem SARS-Erreger ähnliches Coronavirus nachgewiesen. In den chinesischen sozialen Medien kursierten Meldungen, wonach es weit mehr Infizierte geben sollte, als offiziell zugegeben wurde. Das Gesundheitsamt von Wuhan, das in der dortigen Amtssprache »Gesundheitskommission« heißt, hatte angeblich bereits am 31. Dezember angeordnet, dass in der Öffentlichkeit Gesichtsmasken getragen werden mussten und Versammlungen sowie geschlossene Bereiche zu meiden waren. Wenn diese Nachricht stimmte, mussten die lokalen Behörden Hinweise auf eine Übertragung von Mensch zu Mensch haben.

Doch kurz darauf gab die WHO Entwarnung. Am 12. Januar verschickte sie eine weitere Disease Outbreak News zur Situation in Wuhan, diesmal mit dem Titel: Novel Coronavirus – China.

Die chinesische nationale Gesundheitsbehörde und das Wuhan Institute of Virology hatten tatsächlich ein bisher unbekanntes Coronavirus identifiziert. Doch dieses sollte nach Angaben der chinesischen Behörden nur in Ausnahmen von Mensch zu Mensch übertragen werden. Dazu passte, dass angeblich bereits seit neun Tagen keine weiteren Erkrankten gefunden wurden. Im Gegenteil: Statt von 44 war jetzt nur noch von 41 Fällen die Rede. Es sei nur ein Todesfall aufgetreten, der zudem eine Vorerkrankung gehabt habe.

Die WHO sah keinen Grund, an diesen Angaben zu zweifeln. Sie bestätigte die chinesische Darstellung, wonach sich die Patienten in einem Markt in Wuhan infiziert hätten und es keine Hinweise auf Übertragungen von Mensch zu Mensch gäbe. Nach dieser Meldung sah es für einen Moment so aus, als sei das neue Virus vergleichsweise harmlos und die Lage in Wuhan unter Kontrolle. Offenbar war alles nur ein Fehlalarm gewesen.

Doch wie sich kurz darauf herausstellen sollte, hatten die Genfer Gesundheitswächter nur die Schlummertaste gedrückt.

DER GEIST IST AUS DER FLASCHE

Nur einen Tag später, am 13. Januar, läuteten die Alarmglocken erneut. In Thailand war zum ersten Mal ein Fall außerhalb Chinas bestätigt worden. Das Königreich hatte den offiziellen Angaben misstraut und bereits am 5. Januar mit Einreisekontrollen für Flüge aus Wuhan begonnen. Die Wärmebildkameras waren erst drei Tage in Betrieb, als sie am Flughafen von Bangkok eine 61-jährige Passagierin mit Fieber entdeckten. Mithilfe der Gensequenz des neuen Virus, die chinesische Wissenschaftler am 10. Januar veröffentlicht hatten, konnte die Infektion eindeutig nachgewiesen werden. Mit solchen Einreisekontrollen, die auch andere asiatische Länder frühzeitig einführten, wurden in den folgenden Wochen zahlreiche infizierte Passagiere abgefangen.

Die Nachricht aus Thailand war für Fachleute eine Hiobsbotschaft. Denn damit stand fest, dass Flugreisende den neuen Erreger bereits seit Anfang Januar in alle Welt verschleppten. Vom Wuhan Tianhe International Airport starteten jeden Tag rund 75 000 Passagiere, davon rund 9000 zu internationalen Destinationen. Doch das war nur ein Teil des Problems. Genauso besorgniserregend war, dass nach Ermittlungen der thailändischen Behörden weder die erkrankte Chinesin noch eines ihrer fünf mitgereisten Familienmitglieder den Markt in Wuhanbesucht hatten. Das Virus musste also von Mensch zu Mensch übertragen worden sein. Die chinesischen Behörden hatten, wie bereits beim SARS-Ausbruch von 2003, nur die halbe Wahrheit gesagt.

Später habe ich mit meinem Kollegen Klaus Stöhr über die Anfangstage der Pandemie und die Gegenmaßnahmen der verschiedenen Staaten gesprochen. Als Direktor des Influenza-Programms der WHO hatte er beim SARS-Ausbruch 2003 die internationalen Forschungsaktivitäten koordiniert, die damals in Rekordzeit zur Identifizierung des Erregers führten. Die Lage Mitte Januar 2020, als die ersten exportierten Fälle der neuen Lungenkrankheit bekannt geworden waren, brachte er schnörkellos auf den Punkt:»Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass der Geist aus der Flasche ist. Und nichts auf der Welt konnte ihn dorthin zurückbringen.«4

MAHNER UND BREMSER

Erst eine gute Woche später, am 22. Januar, berief die WHO das Emergency Committee ein. Dieser Schritt ist laut den einschlägigen Statuten erforderlich, wenn sich ein Seuchenausbruch zu einer internationalen Gefahr zu entwickeln droht. Das Notfallkomitee soll dann beurteilen, ob der Ausbruch einen Public Health Emergency of International Concern5 (PHEIC), also einen internationalen Gesundheitsnotfall, darstellt. Die Erklärung des PHEIC ist eine gewichtige Maßnahme, denn damit werden unter anderem Berichtspflichten des betroffenen Staates, internationale Befugnisse und Empfehlungen der WHO zu Beschränkungen des Reiseverkehrs in Gang gesetzt.

An diesem Mittwochmorgen war ich, wie viele meiner internationalen Kollegen, fest überzeugt, dass die WHO umgehend den Gesundheitsnotfall ausrufen würde. Denn dass die SARS-ähnliche Krankheit nach Europa eingeschleppt würde, war nur eine Frage der Zeit. Deshalb müssten dringend Grenzkontrollen und Tests auf das neue Coronavirus durchgeführt werden.6 Lauren Gardner und ihre Kollegen von der Johns Hopkins University in Baltimore stellten an diesem Tag das berühmte »Dashboard« online, das heute die weltweite Referenz für die Corona-Fallzahlen ist. Zu jenem Zeitpunkt hatte China bereits 571 Fälle gemeldet. In umliegenden Ländern Südostasiens gab es mittlerweile zehn importierte Infektionen.

Zwei Tage zuvor hatte die Pekinger Regierung endlich zugegeben, dass die neue Lungenkrankheit von Mensch zu Mensch weitergegeben wird. Aufgrund der genetischen Ähnlichkeit war zu vermuten, dass das neue Virus wie SARS-CoV vor allem beim Husten und Niesen übertragen wird. Ersten Schätzungen zufolge starben etwa zwei Prozent der Erkrankten. Damit war die mysteriöse Lungenkrankheit zwar weniger gefährlich als SARS, jedoch mindestens zehnmal tödlicher als die Grippe. Und im Gegensatz zur Grippe war vermutlich niemand auf der Welt gegen das neue Virus immun – die perfekten Zutaten für eine verheerende Pandemie.

Zur Überraschung der internationalen Fachwelt entschied WHO-Generalsekretär Tedros Ghebreyesus jedoch, den Ausbruch mit dem neuen Coronavirus nicht zum Gesundheitsnotfall zu erklären. Dafür wurde die WHO später heftig kritisiert – nicht nur von US-Präsident Donald Trump, sondern auch von zahlreichen Fachleuten.

Da es aus Genf keine konkreten Empfehlungen gab, setzten viele Regierungen auf den Rat ihrer einheimischen Virologen und Gesundheitsbehörden. Die waren sich jedoch nicht immer einig, weder innerhalb eines Landes noch international. Thailand, Singapur, Südkorea, Vietnam, Hongkong und Taiwan7 hatten – entgegen den Empfehlungen der WHO – längst strenge Einreisekontrollen eingeführt und untersuchten auch im jeweiligen Land Menschen mit verdächtigen Symptomen auf das neue Virus.

Dagegen machte man sich in Europa zunächst weniger Sorgen. Bei deutschen Regierungsberatern etwa fand die abwartende Haltung der WHO breite Unterstützung. Der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, hielt es für »unwahrscheinlich«, dass sich das neue Virus außerhalb Chinas nennenswert verbreiten werde; noch wochenlang erklärte er politischen Entscheidungsträgern und der deutschen Öffentlichkeit, die normale Grippe sei viel gefährlicher8. Ein Berater der Bundesregierung verglich das Problem mit einer »Erkältungskrankheit« und sagte, es sei »zu früh, Alarm zu schlagen.«9 Auch andere deutsche Virologen unterstützten die abwartende Haltung des RKI und sahen Empfehlungen für Grenzkontrollen und Tests als übertrieben an.

Die Gefahr wurde auch von den Regierungen anderer Staaten unterschätzt. Der britische Gesundheitsminister Matt Hancock berief am 24. Januar den Nationalen Krisenstab COBRA ein. Nach der Beratung verkündete er, die Gefährdung für die Bürger des Vereinigten Königreichs sei »gering«10. Am selben Tag beruhigte die französische Gesundheitsministerin Agnès Buzyn im Fernsehen: »Das Risiko einer Weiterverbreitung importierter Fälle ist sehr gering«.11

ALARMSTUFE ROT

Hätte ich eine Ampel für meinen inneren Corona-Alarmzustand, dann wäre diese am 8. Februar 2020 von Gelb auf Rot gesprungen. An jenem Tag bestätigten die Behörden einen Ausbruch in den französischen Alpen. Im idyllischen Skiort Les Contamines-Montjoie, am Fuße des Mont Blanc, waren vier Erwachsene und ein Kind positiv auf das neue Coronavirus getestet worden. Sie zeigten nur leichte Symptome. Die offizielle Zahl der in Frankreich Infizierten war damit auf elf angestiegen. Damals war diese Zunahme so eklatant, dass die Gesundheitsministerin Agnès Buzyn am Samstagmorgen eine Pressekonferenz einberufen hatte.

Mich beunruhigte jedoch nicht die Zahl der Fälle – in Deutschland gab es zu diesem Zeitpunkt ebenfalls elf Infizierte. Sorge bereitete mir vielmehr, auf welchem Weg sich die Leute in Frankreich infiziert hatten. Alarmierend war auch die Art und Weise, wie das bemerkt worden war.

Eine britische Familie, die ein Chalet in Les Contamines-Montjoie bewohnte, hatte bereits zwei Wochen zuvor Besuch gehabt. Ein Landsmann war nach einer Konferenz in Singapur vorbeigekommen und kurz darauf nach London weitergereist. Danach bemerkte er grippeähnliche Symptome und ließ sich auf das neue Coronavirus untersuchen, mit positivem Ergebnis.

Die britischen Behörden informierten über das Europäische Frühwarnsystem für Infektionskrankheiten (Early Warning and Response System, EWRS) ihre französischen Kollegen. Bei der sofort eingeleiteten Untersuchung aller Bewohner des Chalets wurden fünf positiv getestet. Vier der fünf Fälle, darunter ein neunjähriges Kind, hatten nur leichte Symptome und gingen sogar weiter Ski fahren. Der Fünfte konnte sich an keine Symptome erinnern.12 Dass der Ausbruch überhaupt entdeckt wurde, war also nur der Umsicht des britischen Besuchers zu verdanken. Er hatte lediglich leichte Erkältungssymptome und war nicht in China, geschweige denn in Wuhan gewesen. Laut den damaligen Empfehlungen der WHO, die auch in der EU und dem Vereinigten Königreich angewandt wurden, hätte es bei ihm eigentlich keinen Grund für einen Test gegeben.

In der Epidemiologie kommt ein Ausbruch selten allein. Wenn das Virus einmal unbemerkt und ohne Zusammenhang mit Wuhan – dem damals einzigen offiziellen Risikogebiet – nach Europa gereist war, dann musste es weitere, unbemerkte Herde geben. Aufgrund der Zahlen aus China war zu vermuten, dass einer von zehn bis 20 Infizierten mit schweren, grippeähnlichen Symptomen im Krankenhaus landet. In Wuhan hatte es zu diesem Zeitpunkt bereits Ausbrüche in Kliniken gegeben, auch tödliche Infektionen bei medizinischem Personal. Irgendwo in Europa würden in diesem Moment Pfleger und Ärzte solche Patienten behandeln und sich nichtsahnend einer hoch ansteckenden, potenziell tödlichen Seuche aussetzen.

Solange die europäischen Gesundheitsbehörden die Testung von Patienten mit grippeähnlichen Symptomen nur dann empfahlen, wenn ein bekannter Bezug zum »Risikogebiet« Wuhan bestand, konnte sich das Virus unbemerkt verbreiten. Allein nach Bayern kamen im Februar 2020 über 10 000 chinesische Gäste. Täglich landeten tausende von Passagieren aus chinesischen Destinationen auf europäischen Flughäfen. Die häufigsten Direktflüge gab es nach Deutschland, Chinas wichtigstem europäischem Wirtschaftspartner, gefolgt vom Vereinigten Königreich, Italien und Frankreich. In Großbritannien und Italien leben zusammengenommen rund 700 000 Auslandschinesen.

Im Gegensatz zu vielen asiatischen Ländern gab es bei der Einreise in die EU keine Wärmekameras, keine Fragen zum Gesundheitszustand, keine Empfehlungen zur Vorbeugung gegen Infektionen. Dem Virus waren Tür und Tor geöffnet.

Dass damals nicht noch mehr Fälle in kürzester Zeit importiert wurden, haben die Europäer der schnellen und konsequenten Reaktion ihrer Fluggesellschaften zu verdanken. Am 29. Januar setzten British Airways und Lufthansa alle Flüge nach China aus, die anderen europäischen Airlines zogen kurz darauf nach. Chinesische Maschinen flogen hingegen weiter, weil die EU den Empfehlungen der WHO folgte und Einschränkungen des Reiseverkehrs aus wirtschaftlichen Gründen ablehnte. Italien untersagte zwar am 31. Januar Direktflüge von und nach China, jedoch wurden Umsteigeflüge nicht kontrolliert.13 Flüge aus dem Iran, damals einer der gefährlichsten Corona-Hotspots der Welt, stoppte die Bundesregierung übrigens erst am 2. April, als Deutschland bereits fast zwei Wochen im Lockdown war.

Tatsächlich bestand zu diesem Zeitpunkt bereits ein erhebliches Risiko für eine Einschleppung nach Europa, die zu einer nicht mehr kontrollierbaren Epidemie führen konnte.

Damals gab es den Vorschlag, EU-weit alle schweren Fälle unklarer Atemwegsinfektionen auf das neue Coronavirus zu untersuchen.14 Länder wie Deutschland und Frankreich, die in Sachen Testmöglichkeiten gut ausgestattet sind, sollten die anderen Mitgliedsstaaten dabei unterstützen. Weil etwa jeder zwanzigste Fall im Krankenhaus behandelt werden muss, würde dadurch, statistisch gesehen, jeder Ausbruch nach spätestens 20 Infektionen entdeckt werden. Das ist in der Regel früh genug, um die Infektionskette durch Nachverfolgung und Quarantäne der Kontaktpersonen zu beenden. Das Robert Koch-Institut und die WHO sahen diesbezüglich jedoch keinen Handlungsbedarf.

Die wichtigsten Amtshandlungen der Genfer Gesundheitswächter waren dieser Tage zwei offizielle Namensgebungen. Das neue Virus sollte fortan »SARS-CoV-2« heißen und die zugehörige Krankheit »COVID-19«15. Eigentlich hätte man für die Krankheit keinen neuen Namen gebraucht, da sie von SARS aus dem Jahr 2003 klinisch nicht zu unterscheiden ist und die beiden Erreger zur selben Virusspezies gehören (die Influenza bekommt auch nicht jedes Jahr einen neuen Namen, obwohl sie durch wechselnde Virustypen verursacht wird). Doch möglicherweise war die blanke Wahrheit – »SARS ist zurück« – der WHO damals noch zu alarmistisch. Erst einen Monat später stufte sie den Ausbruch als Pandemie ein.

Ähnlich entspannt zeigten sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Auf Anregung Italiens trafen sich am 13. Februar die Gesundheitsminister in Brüssel, um über Maßnahmen zur Eindämmung von Covid zu beraten. Außer einer allgemeinen Formel kam nichts dabei heraus. Nach »ernsthafter Diskussion« habe man sich darauf geeinigt, so fasste der italienische Gesundheitsminister Roberto Speranza das magere Resultat zusammen, »die gemeinsame Reaktion auf europäischer Ebene zu stärken«.16

In Italien gab es zu diesem Zeitpunkt nur drei registrierte Fälle: Unter anderem hatte sich ein leicht erkranktes chinesisches Touristenpaar Ende Januar in einer römischen Klinik gemeldet. Weder Speranza noch einer seiner europäischen Amtskollegen empfahlen ihren Krankenhäusern, akute Atemwegserkrankungen ohne Verbindung zu China auf Covid zu testen.

DAS VIRUS ÜBERRASCHT EUROPA

Die Quittung kam genau eine Woche später. Am Donnerstag, den 20. Februar, diagnostizierte in einer lombardischen Kleinstadt namens Codogno die diensthabende Anästhesistin den ersten Covid-Fall, der sich nicht im Ausland angesteckt hatte. Wie sich herausstellen sollte, hatte es hier bereits seit Wochen einen unerkannten Ausbruch gegeben. Die Ärzte der Region hielten die lebensgefährlichen Erkrankungen für grippale Infekte, die um diese Jahreszeit gerade Saison hatten. So hatte man auch keine Veranlassung gesehen, das Spiel der Champions League abzusagen, das noch am 19. Februar in Mailand angepfiffen wurde. Aus den Provinzen Bergamo, Cremona und Lodi im Herzen der Lombardei waren rund 40 000 Fans gekommen, um ihren Heimatclub Atalanta Bergamo gegen die spanischen Kicker aus Valencia anzufeuern.

Das böse Erwachen kam für Europa in den frühen Morgenstunden des 23. Februar. Die italienischen Behörden ließen Codogno und neun umliegende Gemeinden abriegeln – mehr als 50 000 Menschen wurden von der Außenwelt isoliert. In nur vier Tagen hatte man in der Lombardei und dem Veneto 93 Fälle entdeckt, zwei von ihnen wurden die ersten Covid-Toten Europas. Ab diesem Tag sprachen Epidemiologen aus, was die WHO noch wochenlang nicht wahrhaben wollte: Die Pandemie hatte begonnen, und sie war nicht mehr aufzuhalten.

EUROPA SCHWENKT UM – IN KLEINEN SCHRITTEN

Die wenigen Wissenschaftler, die sich schon lange mit Pandemieszenarien und der Planung von Gegenmaßnahmen beschäftigt hatten, mussten in den folgenden Wochen mitansehen, wie die Regierungen der westlichen Staaten nahezu jeden Fehler machten, den sie im schlimmsten Fall für möglich gehalten hatten.

Sich auf seltene, aber gravierende Schadensereignisse vorzubereiten fällt der Politik insbesondere in demokratischen Systemen schwer. Risikoforscher bezeichnen solche Superkatastrophen als »schwarze Schwäne«17: Sie sind sehr selten, aber es gibt sie. Mit der Bevorratung von Medikamenten oder Schutzmasken für einen fiktiven Tag X lassen sich jedoch keine Wähler gewinnen. Den Teufel an die Wand zu malen, verdirbt die Stimmung. Nur wenige Regierungen wollen Geld für etwas ausgeben, dessen Nutzen, wenn überhaupt, erst lange nach dem Ende der eigenen Amtszeit offenbar werden könnte.

Zu Beginn der Corona-Pandemie war allen Fachleuten klar, dass man sich auf diesen schwarzen Schwan nicht ausreichend vorbereitet hatte. Dennoch erklärten die Staats- und Regierungschefs und ihre Gesundheitsminister gebetsmühlenartig, das jeweilige Gesundheitssystem sei für die drohende Pandemie hervorragend gerüstet. In Wirklichkeit fehlten überall in Europa Schutzausrüstungen, Desinfektionsmittel, Beatmungsgeräte und Medikamente. Eine ausreichende Bevorratung für den Krisenfall, wie von den Pandemieplanern angemahnt, hatte es nicht gegeben. Peer Rechenbach, der viele Jahre als Mitglied der Schutzkommission die Bundesregierung in Sachen Bevölkerungsschutz beraten hat, verwendet für diese Mischung aus Ignoranz und Fatalismus ein treffendes Bild: »Wenn die Sonne scheint, braucht niemand einen Regenschirm.«

Nun standen viele der angeblich so leistungsfähigen Industriestaaten Europas patschnass im Regen. Weder das medizinische Personal noch die Gesundheitsämter waren auf den bevorstehenden viralen Sturm ausreichend vorbereitet. Zudem ließen die meisten Nachbarländer ihre Grenzen zum Ausbruchsgebiet in Norditalien offen. Keines von ihnen suchte systematisch nach eingeschleppten Fällen.

In diesen Wochen hat sich das Coronavirus klammheimlich in Europa ausgebreitet. Geholfen hat dabei, dass Menschen mit verdächtigen Symptomen gemäß den einschlägigen Richtlinien nur getestet wurden, wenn sie aus sogenannten »Risikogebieten« zurückgekehrt waren oder mit einem Covid-Patienten Kontakt gehabt hatten. In Deutschland erklärte das zuständige Robert Koch-Institut jeweils nur die bereits dokumentierten Ausbruchsregionen zu exakt umrissenen Risikogebieten – als halte sich das Virus an Linien auf der Landkarte. Damals vergingen zwischen einer Infektion und deren Meldung an die Gesundheitsbehörde etwa zwei Wochen. In dieser Zeit konnte die Epidemie, die sich gerade explosionsartig ausbreitete, längst die Nachbarregionen der »Risikogebiete« erfassen.

Das zeitliche und geografische Muster der norditalienischen Epidemie ließ nach meiner Beurteilung jedoch keinen Zweifel daran, dass die Infektionen nicht mehr auf die vom RKI ausgewiesenen Risikogebiete beschränkt waren. Auch die hohe Zahl der Toten im Verhältnis zu den festgestellten Fällen in Norditalien belegte, dass es eine hohe Dunkelziffer nicht erkannter Infektionen geben musste. Die Covid-Epidemie stellte deshalb eine »unmittelbare, hohe Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung, der staatlichen Strukturen und der Wirtschaft dar«.18

Aus heutiger Sicht hätte man die explosionsartige Ausbreitung in Deutschland – und die späteren Lockdowns – zu dieser Zeit noch durch eine vergleichsweise kurzzeitige, geplante Kontaktreduktion verhindern können. Diese von mir damals vorgeschlagene »Sicherungsphase«19 hätte die Aussetzung aller Großveranstaltungen, die Schließung von Kitas und Schulen, Einreisekontrollen für Risikogebiete und einen Aufruf zum freiwilligen Social Distancing beinhaltet. Im Gegensatz zu den später unvermeidlichen Lockdowns wäre diese Maßnahme auf zwei Wochen begrenzt gewesen und hätte keine Kontaktverbote, Ausgangssperren, Reisebeschränkungen oder Geschäftsschließungen beinhaltet. Danach hätten die Infektionsketten durch Testung aller Verdachtsfälle sowie Nachverfolgung von Kontaktpersonen unterbrochen werden können, ohne die Gesundheitsämter zu überlasten. Später haben britische Forscher auch statistisch gezeigt, dass so eine Sicherungsphase (reset) die regionale Epidemie unterbrechen kann.20

In der Medizin gilt die Regel: »Je länger man die Therapie verschleppt, desto chirurgischer wird der Fall.« – wer zu spät zum Zahnarzt geht, bezahlt dies mit teuren Implantaten. Die politischen Entscheidungsträger waren jedoch nicht zu überzeugen, dass nur durch momentan unpopuläre Maßnahmen spätere, wesentlich schlimmere Einschnitte verhindert werden konnten. Der deutsche Bundesgesundheitsminister sprach sich noch gegen die allgemeine Absage von Großveranstaltungen aus, als im nordrhein-westfälischen Heinsberg bereits ein Ausbruch im Zusammenhang mit dem Karneval aufgetreten war. Dass sich auf einer Karnevalssitzung ein Infizierter aufgehalten habe, sei vorher »nicht abzusehen« gewesen.21 Auch der Krisenstab der Bundesregierung, der am 28. Februar seine Arbeit aufnahm, sprach sich gegen weitere Maßnahmen aus; die bestehenden Empfehlungen des RKI seien ausreichend und sollten befolgt werden. Von den ehemaligen Mitgliedern der Schutzkommission, die sich seit Jahrzehnten mit Abwehrmaßnahmen im Pandemiefall beschäftigt hatten, war zu diesem Termin niemand geladen.

Während in Norditalien der Notstand ausgerufen, die Schulen geschlossen und venezianische Karneval sowie alle Großveranstaltungen abgesagt wurden, wollte man in den Nachbarländern von der bevorstehenden Katastrophe nichts wissen. In Frankreich spielte noch am 28. Februar Nîmes gegen Marseille, in Deutschland trat Düsseldorf gegen Hertha an – vor 31 632 Zuschauern. In Ischgl und anderen österreichischen Skiorten wurde weitergefeiert, als gäbe es kein Morgen.

Nach dem Frühjahr nahmen Bayern und Baden-Württemberg den Schulbetrieb ohne Einschränkungen wieder auf.22 Zehntausende Urlauber waren aus den österreichischen und italienischen Skigebieten zurückgekommen – etwa aus Südtirol, Tirol und Vorarlberg. Erwachsene gingen danach zur Arbeit und steckten nichtsahnend ihre Kollegen an, die Kinder besuchten Schulen und Tagesstätten. Neben Nordrhein-Westfalen, wo man kurz zuvor noch ohne jede Einschränkung Karneval gefeiert hatte, wurden Bayern und Baden-Württemberg zu den ersten außeritalienischen Hotspots Europas. Am 8. März 2020 lag Deutschland mit 1040 Fällen nach Südkorea, Italien und dem Iran auf Platz 4 der am meisten betroffenen Staaten außerhalb Chinas.23

Die verspätete Reaktion der Europäer hatte auch globale Folgen. Da der Ausbruch in Norditalien durch eine vom asiatischen Typ unterscheidbare Virusvariante verursacht wurde, steht heute fest, dass sich die Pandemie von dort aus an die Ostküste der USA und nach Afrika ausbreitete. Ende Februar brachte ein brasilianischer Geschäftsmann dann das Virus von einer Italienreise nach São Paulo mit – die erste bestätigte Infektion in Südamerika.24

VOM VIRUS ÜBERHOLT

Zu dem Zeitpunkt, als dieses Buch in den Druck geht, wurden weltweit rund 45 Millionen Fälle registriert, mehr als 1,2 Million Menschen sind an Covid gestorben. Entgegen den Beteuerungen nahezu aller Regierungen zu Beginn der Pandemie war die Welt auf den Ausbruch eines neuen, hoch ansteckenden Krankheitserregers nicht vorbereitet. Spätestens seit den 1990er-Jahren hatten Fachleute gewarnt, dass gefährliche Krankheitserreger mit großer Regelmäßigkeit aus dem Tierreich auf den Menschen überspringen und jederzeit einen verheerenden Ausbruch verursachen könnten.25 Die Frage war nicht ob, sondern wann die nächste Pandemie kommen würde.

Auch Nikolaus von Bomhard, damals Vorstandsvorsitzender der Münchner Rückversicherung, warnte noch vor wenigen Jahren eindringlich davor, die Vorbereitung auf Pandemien und andere absehbare Schadensereignisse zu vernachlässigen:

Wird jedoch ein Risiko ignoriert, so wird die Option Handeln aufgegeben und durch die Bereitschaft zum Überraschtwerden ersetzt. Letztlich entspricht dies der Vogel-Strauß-Taktik: »Was ich nicht sehe, das gibt es auch nicht.« Mit dieser Taktik kann man Glück oder Pech haben. Von Personen, die in Politik und Wirtschaft Verantwortung tragen, muss man jedoch erwarten können, dass sie sich nicht in Unwissenheit und Schicksalsergebenheit flüchten, sondern auf der Basis des verfügbaren Wissens verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen.26

Gegen die Unkultur des Wegsehens konnte jedoch auch dieser Appell (dessen Titel ich für dieses Kapitel dankbar übernommen habe) nichts ausrichten. Viele Länder Europas, die USA, Brasilien und andere Staaten wären mit rechtzeitigen Gegenmaßnahmen weniger hart getroffen worden. Politiker und ihre Berater waren durch die neue Situation jedoch überfordert.

Deshalb ist ein genauerer und kritischer Blick auf die bisherigen Abläufe notwendig, um daraus Erkenntnisse für den weiteren Umgang mit der Pandemie zu gewinnen – denn diese wird uns noch lange begleiten. Während viele vermeintlich gut vorbereitete Industrieländer unerwartet hart getroffen wurden, ist es etwa Vietnam, Japan, Taiwan, Südkorea, Uruguay, Senegal und Neuseeland bislang erstaunlich gut gelungen, das Virus in Schach zu halten. Die Analyse der Gründe dafür kann bei der Beantwortung der Frage helfen, wie wir die Pandemie kontrollieren können, ohne dafür unser soziales und wirtschaftliches Leben zu opfern.

Im Ergebnis stehen die Länder der Erde jetzt vor unterschiedlichen Aufgaben. Wer, wie Neuseeland oder Taiwan, die Epidemie27 bislang ohne allgemeine Lockdowns im Zaum halten konnte, muss lediglich die erfolgreichen Abwehrmaßnahmen verstetigen.

Die meisten europäischen Staaten brauchen dagegen Strategien, mit denen erneute Freiheitsbeschränkungen vermieden werden können. Durch Einschleppungen aus dem Ausland und eine nachlassende Akzeptanz für die Corona-Auflagen sind die Fallzahlen nach den Sommermonaten wieder deutlich angestiegen. Europa hat bei den Neuinfektionen pro Kopf Mitte Oktober die USA überholt, die Gesamtzahl der bestätigten Fälle beträgt inzwischen mehr als sieben Millionen.28 Covid steht hier mittlerweile auf Platz 1 der häufigsten Todesursachen.29

In Spanien, Frankreich und dem Vereinigten Königreich geriet die Epidemie im Herbst 2020 außer Kontrolle. In Deutschland verhängten die Bundesländer für November erneut einen teilweisen Lockdown. Mit dem Beginn der kalten Jahreszeit könnte Europa im Herbst 2020 eine zweite Welle bevorstehen, deren Auswirkungen verheerender sind als die der ersten.

Für die USA, Brasilien und andere besonders schwer betroffene Länder wird es in erster Linie darum gehen, die Zahl der Todesopfer bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffes so weit wie möglich zu begrenzen. Indien und einige afrikanische Staaten südlich der Sahara schließlich werden vorläufig nur weiter zusehen können, wie die Pandemie über ihre Bevölkerungen hereinbricht. Für sie wird der Impfstoff möglicherweise zu spät kommen, weil das Virus selbst zuvor für eine weitgehende Herdenimmunität30 sorgt. Hier besteht zumindest die Hoffnung, dass das jüngere Durchschnittsalter eine niedrigere Sterblichkeit als in den reichen Ländern zur Folge hat.

VOM GEGNER LERNEN

In diesem Buch soll gezeigt werden, wie wir mit der Pandemie fertig werden und zugleich unser soziales und wirtschaftliches Leben zurückgewinnen können.

Dafür werden wir zunächst eine Reise in die bizarre Welt der Viren unternehmen. Wir werden gemeinsam erforschen, warum diese Kreaturen zwischen Leben und Tod so erfolgreich sind, was sie antreibt und wo ihre Schwächen liegen.

Danach möchte ich ein Organsystem vorstellen, das genauso weit entwickelt ist wie unser Gehirn und, so wie dieses, für die Evolution des Menschen entscheidend war. Unser Immunsystem führt einen ständigen Krieg im Mikrokosmos unseres Körpers, um unsere Art auf dem Planeten zu behaupten. Zugleich macht es Fehler und lässt sich von manchen Viren überlisten – was bei Covid ein wesentlicher Teil des Problems ist.

Im nächsten Kapitel werden wir untersuchen, wie Pandemien entstehen – warum neue Erreger aus dem Tierreich auf den Menschen überspringen und was sie dann so gefährlich macht. Von Ebola, Influenza und anderen Seuchen haben Wissenschaftler vieles gelernt, das uns bei der Bewältigung der aktuellen Krise helfen kann.

Wir werden uns auch die besonderen Eigenschaften der Coronaviren ansehen, zu denen das aktuelle Pandemievirus SARS-CoV-2 gehört. Dessen älteres Geschwister SARS-CoV hatte die Menschheit bereits 2003 heimgesucht. In den Erkenntnissen von damals ist der Schlüssel für die Bezwingung des neu aufgetretenen Erregers verborgen.

Wir erfahren außerdem etwas über eine wissenschaftliche Disziplin, von der bislang nur wenige Leser gehört haben dürften. Dabei haben Forscher schon Anfang des Jahrtausends begonnen, künftige Pandemien zu simulieren und Abwehrmaßnahmen zu entwickeln. Dabei zeigten sich Schwächen, aber auch Stärken unserer Zivilisation – und genau die müssen wir für den Kampf gegen das Coronavirus kennen.

Im siebten Kapitel möchte ich den bisherigen Verlauf der Pandemie aus virologischer Sicht beschreiben. Dabei werden wir herausfinden, welche Kräfte die Virusausbreitung antreiben und wie man sie berechnen kann. Mit diesem Wissen wird das Auf und Ab der täglichen Infektionszahlen in neuem Licht erscheinen. Dadurch können wir beurteilen, welche Gegenmaßnahmen geeignet und notwendig sind (und welche man lieber sein lassen sollte).

Danach begeben wir uns an den geheimnisvollen Ort, an dem die wahrscheinlich schwerste Pandemie der Neuzeit ihren Anfang nahm. In den Fledermaushöhlen der südchinesischen Provinz Yunnan lauern Tausende unbekannter Erreger, die das Zeug für globale Katastrophen haben. Wie das Coronavirus von hier nach Wuhan und weiter in die Welt gereist sein könnte, ist derzeit eine der spannendsten Fragen der Virologie – und von entscheidender Bedeutung für unsere Zukunft.

Kapitel neun wird von den Gegenmaßnahmen handeln, die sich der Homo sapiens selbst ausgedacht hat, also davon, wie man das neue Virus nachweist und therapiert. Und wie wir – hoffentlich – einen Impfstoff dagegen entwickeln werden.

Dann werden wir versuchen herauszufinden, warum viele reiche und medizinisch gut ausgestattete Länder in den ersten Monaten der Krise versagt haben, während andere überraschend erfolgreich waren. Von denen, die bisher mit der Pandemie am besten zurechtgekommen sind, können wir lernen, welche Strategien funktionieren und welche nicht.

Auf Basis dieser Erkenntnisse möchte ich dann im elften Kapitel einen Vorschlag machen, wie wir mit dem Virus zurechtkommen könnten, ohne unser soziales und wirtschaftliches Leben durch weitere Lockdowns zu strangulieren. Die Strategie mit dem Namen »SMART« könnte uns helfen, die schwierige Zeit bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffes zu überstehen – und auch auf künftige Pandemien angemessen zu reagieren.

Das letzte Kapitel wird von der Zukunft handeln: davon, was wir nach der Pandemie besser und anders machen sollten; welche weiteren Menschheitsaufgaben auf die Jüngeren unter uns warten; und was wir dafür von Corona lernen können.

2.

AUS EINER ANDEREN DIMENSION

DIE PARALLELWELT DER VIREN

Die mit Abstand größte Bedrohung für die weitere Vorherrschaft des Menschen auf dem Planeten ist das Virus.

— JOSHUA LEDERBERG (1994)

Für die meisten Menschen dürften Viren etwas Unheimliches an sich haben. Einen herannahenden Waldbrand, eine Lawine, eine Springflut oder ein Erdbeben kann man sehen, hören und manchmal auch riechen. Das Gleiche gilt in der Regel für menschengemachte Gefahren, etwa feindliche Soldaten im Krieg oder vorbeifahrende Autos in der Großstadt. Viren dagegen sind unsichtbare Geisterwesen, die sich heimtückisch anschleichen und lautlos töten. Nicht umsonst sind Viren (und andere Krankheitserreger) auch im Krieg und bei biologischen Anschlägen besonders gefürchtet.

Bemerkenswerterweise liegt das nicht an ihrer objektiven Gefährlichkeit – mit biologischer Kriegsführung wurde noch nie eine Schlacht gewonnen, konventionelle Anschläge sind weitaus effektiver. Doch im Verbreiten von Angst und Schrecken sind biologische Kampfstoffe, mysteriöse Krankheitserreger und tödliche Viren kaum zu übertreffen.

Allerdings habe ich noch nie einen Virologen getroffen, bei dem der Gruselfaktor seiner Forschungsobjekte Wirkung zeigt. Wer einem Patienten mit Ebola- oder Lassafieber Blut abnimmt, wird sich natürlich gewissenhaft schützen und darauf achten, keinen falschen Handgriff zu machen. Unter meinen Erinnerungen waren solche Erlebnisse in Westafrika jedoch wesentlich weniger beängstigend als mancher Notarzteinsatz in Deutschland, etwa bei einem Gebäudebrand oder einem Chemieunfall. Das Unbekannte macht dem Menschen Angst und versetzt ihn mitunter in Panik. Großstadtkinder ängstigen sich nicht vor Autos, weil sie gelernt haben, sich im Straßenverkehr richtig zu verhalten. Virologen ängstigen sich nicht vor Viren, weil sie die Gefahr1 einschätzen können und wissen, wie man sich davor schützt. Je mehr Menschen daher das Wesen der Viren verstehen und Schutzmaßnahmen selbst beurteilen können, desto weniger Panik kann eine Pandemie verbreiten. Folgen Sie mir also auf einer kleinen Erkundungsreise in die faszinierende Welt der Viren.

ZWISCHEN LEBEN UND TOD