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Die tyrannische Art ihrer neuen Priorin macht es Schwester Frevisse leicht die Mauern von St. Frideswide hinter sich zu lassen, um auf eine Pilgerfahrt zu gehen. Nichts wünscht sie sich mehr als eine stille und selige Reise. Doch die Ruhe währt nicht lange, denn bald trifft sie auf eine seltsame Gruppe Reisender rund um den Reichen Lionel. Der ist davon überzeugt, von einem Dämon besessen zu sein. Um endlich von seinem Leiden erlöst zu werden, befindet er sich mit seinem gesamten Haushalt auf einer nicht enden wollenden Pilgerreise quer durch England. Als dann auch noch ein Mord geschieht, scheint der Fall klar. Der Dämon hat zugeschlagen. Doch Schwester Frevisse ist sich da nicht so sicher ...
Eine unvergleichliche Detektivin - Schwester Frevisse, die Miss Marple des Mittelalters.
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Seitenzahl: 347
Veröffentlichungsjahr: 2018
Margaret Frazer lebt mit ihren vier Katzen und viel zu vielen Büchern in der Nähe von Minneapolis, Minnesota. In den USA hat sie sich mit ihrer Serie um Schwester Frevisse über viele Jahre ein Millionenpublikum erschrieben.
Anke Grube hat Anglistik, Literaturwissenschaft und Geschichte studiert und ist sie seit 1989 freiberuflich als Literaturübersetzerin tätig
Die tyrannische Art ihrer neuen Priorin macht es Schwester Frevisse leicht die Mauern von St. Frideswide hinter sich zu lassen, um auf eine Pilgerfahrt zu gehen. Nichts wünscht sie sich mehr als eine stille und selige Reise. Doch die Ruhe währt nicht lange, denn bald trifft sie auf eine seltsame Gruppe Reisender rund um den Reichen Lionel. Der ist davon überzeugt, von einem Dämon besessen zu sein. Um endlich von seinem Leiden erlöst zu werden, befindet er sich mit seinem gesamten Haushalt auf einer nicht enden wollenden Pilgerreise quer durch England. Als dann auch noch ein Mord geschieht, scheint der Fall klar. Der Dämon hat zugeschlagen. Doch Schwester Frevisse ist sich da nicht so sicher …
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Margaret Frazer
Der Dämon
Ein Kriminalromanaus dem Mittelalter
Aus dem Amerikanischen von Anke Grube
Inhaltsübersicht
Über Margaret Frazer
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Impressum
For this was outrely his fulle entente,
To sleen hem bothe, and nevere to repente
Denn das stand fest, er wollte das Leben nehmen
Gleich beiden und darüber nie sich grämen
Geoffrey Chaucer, die Erzählung des Ablasskrämers
Hinter den hohen Schlitzfenstern des Saals begann die Nacht dem kommenden Tag zu weichen. Bequem auf die Ellbogen gestützt, die Beine lang ausgestreckt, saß Giles am hinteren Ende der Stufen, die zu der erhöhten Plattform hinaufführten, und sah zu, wie die Dachbalken oben im grauen Licht des Morgens Gestalt annahmen. Er wusste, bald würden die Diener ihn sehen können, die am anderen Ende des großen Saals zwischen der erleuchteten Treppe und dem durch Fackeln erhellten Hof hin und her eilten, wo schon die Pferde gesattelt wurden. Aber noch verbarg ihn die Dunkelheit, und er konnte ihr Kommen und Gehen unbemerkt beobachten.
Der größte Teil des Gepäcks war gestern schon hinausgetragen worden und wahrscheinlich längst auf den Karren festgeschnallt, die ächzend aus dem Hof fahren würden, sobald es hell genug war, um die Straße erkennen zu können. Normalerweise wären die Karren sowie der größte Teil der Dienerschaft einen vollen Tag vorher aufgebrochen, um das Herrenhaus von Langling auf die Ankunft der Herrschaft vorzubereiten, aber diesmal war das nicht notwendig. Die Herrschaft würde Tage nach ihnen ankommen, verdammt seien Lionel und seine Wallfahrten. Als ob es nicht für jedermann lästig genug wäre, dass sie Jahr für Jahr im Frühling von Knyvet, wo sie sich seit Martini aufhielten, nach Langling umzogen und im Spätherbst wieder zurück. Aber nicht für Lionel. Der musste seine Gebete, sein Geld und jedermanns Zeit mit dieser idiotischen Pilgerreise durch ein halbes Dutzend Grafschaften verschwenden, um an Schreinen zu beten, von denen außer ihm noch nie jemand gehört hatte.
In den großen Pilgerorten hatte es zumindest Zerstreuungen gegeben. Aber da die Jungfrau Maria, Sankt Thomas Becket, das heilige Blut von Hailes und wie sie alle hießen ihn im Stich gelassen hatten, hatte Lionel sich den unbedeutenden Schreinen unbedeutender Heiliger zugewandt, wo es nichts gab außer Gebet und Langeweile. Und alles ohne Erfolg.
Aber Lionel gab nicht auf. Immer noch klammerte er sich an die wahnwitzige Hoffnung, eines Tages geheilt zu werden. Er begriff nicht, dass diese Heiligen, wenn sie zu etwas nutze wären, wohl mehr vorzuweisen hätten als topfgroße Kapellen an kleinen Nebenstraßen.
Giles setzte sich auf, streckte die Arme und lockerte die Schultern. Zumindest würden sie dieses Jahr einige Tage bei Lord Lovell haltmachen. Etwas verspätet interessierte sich Lionels Lehnsherr nach drei Jahren wieder für das Wohlergehen seines Gefolgsmannes oder vielmehr dafür, wie schlecht es ihm ging. Und Lord Lovell führte eine gute Küche und hatte seinen Herrensitz Minster Lovell in den letzten Jahren ausgebaut, so dass Giles zumindest mit gutem Essen und einigem Komfort rechnen konnte.
Unglücklicherweise war die Kirche von Minster Lovell einem gewissen Sankt Kenelm geweiht, und so war Lionel auf die fixe Idee verfallen, sich auf eine Pilgerfahrt zu Sankt Kenelms Grab in Winchcombe Abbey zu begeben und danach, Gott möge es verhindern, zu den sechs kleineren, dem Heiligen geweihten Kirchen, die in dieser Ecke Englands verstreut lagen. Dem einzigen Teil des Landes, das sich mit diesem Niemand von Heiligen überhaupt abgab.
Typisch Lionel, dachte Giles, die Reliquienschreine eines Knabenkönigs abzuklappern, der vor Hunderten von Jahren ermordet worden war. Und zwar weil seine Schwester ehrgeizig war und ihr Geliebter willfährig. Ein nicht gerade bedeutender Grund, ihn heilig zu sprechen. Giles hatte noch nie gehört, dass Kenelm jemanden von der Fallsucht geheilt hatte, und sollte das nicht Sinn und Zweck des Ganzen sein?
Aber Lionel war keinen Vernunftsgründen zugänglich. Komme was da wolle, er würde sie zu allen sieben Schreinen schleppen, egal, wie miserabel es ihnen erging.
Einer der Diener stolperte auf der untersten Treppenstufe, wahrscheinlich über seine tolpatschigen Füße, und ließ ein Ende der Truhe los, die er trug. Die schwere Truhe schlug dumpf auf dem Boden auf. Der Mann fluchte über sein Missgeschick und über das Gelächter eines seiner Kumpane, der ihm mit einer in ein Tuch gewickelten Rolle im Arm folgte. Gemeinsam beugten sie sich hinunter, um zu sehen, ob ein Schaden entstanden war. Dann packte der Diener die Truhe wieder, und lachend gingen die beiden weiter.
Giles nickte nachdenklich. Es war mittlerweile hell genug, und er hatte Dickon erkannt. Irgendwann würde Giles seinen Stock, der aus Stechpalmen gemacht war, parat haben, wenn Dickon gerade in der Nähe war, und dann würde Dickon bezahlen für seine Achtlosigkeit und das Lachen über seine Pflichtvergessenheit. Und zwar mit Zinsen. Besser spät als nie, obwohl Dickon das wahrscheinlich anders sehen würde. Das steigerte das Vergnügen.
Giles stand auf. Hinter den Fenstern war es hell geworden, und es war an der Zeit, nachzusehen, wie es oben voranging.
Er stellte fest, dass alles wie erwartet vor sich ging. Alles war so gut wie fertig. Diener trugen die letzten Gepäckstücke aus dem Salon, und Lionel und der verdammte Martyn standen bei dem Frühstückstisch, der in der Nähe der Fenster aufgebaut war. Die Läden waren geschlossen, schließlich wollten sie bald aufbrechen. Sicher gab es wieder nur die harten Krusten der Brotlaibe von gestern, die ungewürzten Reste des Fleisches vom Nachtmahl, und in der Kanne war sehr wahrscheinlich lauwarmes Bier statt heißen, gewürzten Weins. Ein kühler Aprilmorgen, und nichts, worauf man sich freuen konnte, nur ein langer Tagesritt. Gewürzter Wein hätte seine Laune wenigstens etwas gebessert und das Mahl, wenn schon nicht angenehm, so doch zumindest genießbar gemacht. Wenn er hier der Herr war – und Gott möge machen, dass Lord Lovell bald einsah, wie notwendig das war –, würde alles weitaus besser geregelt werden.
Aber bis dahin gehörte alles Lionel, und Giles bekam nur das, was Lionel ihm bewilligte. Das heißt alles, bis auf Edeyn. Sie war das einzige Besitztum seines lieben Cousins Lionel, das Giles sich genommen hatte. Der Gedanke ließ ihn lächeln, als er sich zu Lionel und Martyn gesellte, obwohl er beide verabscheute. Seinem Cousin schien es einfach nicht in den Kopf zu wollen, dass Martyn sein Diener war, nicht sein Freund. Die beiden klebten zusammen wie Pech und Schwefel, stets war Martyn irgendwo in der Nähe. Und Giles hatte keine Möglichkeit, die Dinge so zu ändern, wie er sie haben wollte.
So ging es, seit Lionel vor fünfzehn Jahren seinen ersten Anfall bekommen hatte. Damals war er vierzehn gewesen und Giles achtzehn, und er hatte seinem kleinen Cousin mit Vergnügen gezeigt, wie die Dinge laufen sollten. Sie standen gerade im Hof vor dem Stall und unterhielten sich mit Martyn, der erst zwanzig war, aber bereits so tat, als wüsste er mehr als alle anderen zusammen, nur weil sein Vater der Verwalter von Lionels Vater war. Ein paar Stallburschen waren auch anwesend. Es hatte keine Vorwarnung gegeben. Lionel stand da, redete und lachte, und im nächsten Augenblick stürzte er zu Boden, bewusstlos wie ein geschlachteter Ochse. Alle starrten ihn an, zu verblüfft, um sich zu rühren. Und dann, bevor jemand einen klaren Gedanken fassen konnte, begann Lionel zu zucken: erst krampfartig, dann wand er sich wie wild, grunzend und mit Schaum vor dem Mund.
Sie zogen sich schnell verängstigt von ihm zurück, wobei sie in ihrer Hast gegeneinanderprallten, denn sie glaubten, dass ein Dämon in ihn gefahren war. Sie bekreuzigten sich verzweifelt, um sich vor den Dämonen zu schützen, die darum kämpften, seinen Körper in Besitz zu nehmen.
Alle bis auf Martyn. Zwar war er, genau wie die anderen, schnell zurückgesprungen, als Lionel anfing, sich zu winden und unverständliches Zeug zu lallen, aber selbst damals war er schon ein Schurke gewesen. Er war bereits als Nachfolger seines Vaters ausersehen. Es war klar, dass er der nächste Verwalter der Ländereien der Knyvets werden würde, und er verstand es, sich seinen Vorteil daraus zu verschaffen. Entgegen jedem gesunden Menschenverstand hatte er sich zusammengerissen, und während alle anderen noch weiter zurückwichen, trat er vor, kniete neben Lionel nieder und versuchte, ihn festzuhalten, damit er nicht mit dem Kopf gegen das Pflaster schlug, und schrie, jemand solle den Priester holen.
Einer der Männer hatte sich soweit gefangen, dass er losrennen konnte, aber die anderen blieben stehen, wie von Entsetzen festgefroren. Giles ebenfalls. Er hatte Martyns Versuche beobachtet, Lionel festzuhalten, und zugehört, wie er laut betete, bis der Anfall vorüber war und Lionel schlaff und bewusstlos dalag, während Martyn seinen blutigen Kopf festhielt.
Endlich kam der Priester und zudem jede Menge anderer Leute. Es war unmöglich gewesen, die Sache geheimzuhalten. Ein Dämon war vor den Augen eines halben Dutzend Männer in den Erben des Herrn gefahren, und so viele Zeugen ließen sich nicht mundtot machen. Niemand hatte Lionel anrühren wollen, nicht einmal, als der Anfall vorüber war. Erst Martyns zorniger Befehl hatte einige Männer veranlasst, ihn hochzuheben und ins Haus zu tragen. Giles hatte sich natürlich nicht gerührt.
Das Schlimmste war vorbeigewesen, Horror und Schrecken hatten etwas nachgelassen. Martyn half, Lionel zu waschen, seine Verletzungen zu behandeln und ihn ins Bett zu packen. Lionel hatte ausgesehen, als schliefe er, aber es war ein Schlaf, der so tief war, dass nichts ihn aufwecken konnte. Der Priester hatte weiter für ihn gebetet. Endlich war Lionel wieder zu Bewusstsein gekommen, benommen und erschöpft. Er wusste nur, dass er vor den Ställen gestanden hatte und dann in seinem Bett aufgewacht war.
Lionel erinnerte sich nie an das, was während seiner Anfälle geschah, weder bei diesem ersten Mal noch bei den vielen anderen, die gefolgt waren. Giles hatte weitaus mehr dieser Anfälle gesehen, als ihm lieb war, und wenn es irgend möglich war, vermied er den Anblick. Das zumindest war leichter geworden, seit Lionel die Anzeichen kannte. Er zog sich dann irgendwohin zurück, wo er allein war, nur begleitet von Martyn. Manchmal ließ der Dämon ihn monatelang in Ruhe, aber wenn er dann wiederkam, war er tückisch. Martyn war der einzige Mensch, den Lionel während eines Anfalls in seiner Nähe duldete. Er war allerdings auch der einzige, der den Wunsch dazu verspürte. Alle anderen waren mehr als gewillt, sich möglichst weit entfernt aufzuhalten, denn ein von Dämonen besessener Mann war schließlich nicht nur ein hässlicher Anblick. Er war gefährlich, wenn Dämonen versuchten, seinen Leib und seine Seele auseinanderzureißen, denn wer wusste schon, in wen der Dämon als nächstes fahren würde? Jeder in Lionels Nähe könnte Freiwild für den Dämon sein.
Aber so gut wie immer war der gute alte Martyn da und versuchte so gut es ging, den verdammten Lionel davor zu bewahren, sich zu verletzen. Und nachher, wenn er erschöpft, benommen und manchmal verwundet war, kümmerte er sich um ihn. Und so war der gute alte Martyn eher Herr als Diener auf Knyvet, obwohl doch eigentlich alles hätte an Giles fallen sollen.
Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als würde Lionel wegen seiner Anfälle sein Erbrecht verlieren, und Giles hatte sich Hoffnungen gemacht. Als Sohn des jüngeren Bruders von Meister Knyvet war er der nächste männliche Erbe, und alles würde ihm zufallen, wenn Lionel das Erbrecht aberkannt wurde. Aber Giles’ Onkel hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt und keine Kosten gescheut, um Lionel zu schützen und sicherzustellen, dass er ihm nachfolgen konnte. Die Geldverschwendung und die unnötige Einforderung von Gefallen, die andere Meister Knyvet schuldeten, hatte Giles ganz kribbelig gemacht. Und schlimmer noch: Jetzt, wo sein Onkel tot war, musste Giles zusehen, wie Lionel alles genoss, was mittlerweile in seinem Besitz hätte sein können. Oh, eines Tages würde alles ihm zufallen, da Lionel aus eigenem Entschluss heraus nicht heiraten wollte. Es wäre wohl auch keine Frau bereit, ihn zu heiraten, nicht einmal Edeyn. Und da Lionel deshalb keine Erben zeugen konnte, würde schließlich alles Giles zufallen.
Dieses »schließlich« ärgerte ihn.
Und die Tatsache, dass er selbst nichts besaß, außer einem einzigen heruntergekommenen Herrensitz mit armseligen Ländereien. Es war weitaus bequemer und angenehmer, von Lionels Großzügigkeit zu leben. Selbst wenn er zusehen musste, wie sein Cousin besaß und ausgab, was längst hätte ihm gehören sollen. Doch das würde möglicherweise noch sehr lange so bleiben, denn die Anfälle brachten Lionel bedauerlicherweise nicht um, sie quälten ihn nur.
Und Martyn war Verwalter der Ländereien geworden, nachdem sein Vater ein Jahr nach Meister Knyvet gestorben war. Das machte die Sache noch schlimmer. Giles hatte gehofft, nach dem Tod seines Onkels und dessen Verwalter mehr Entscheidungsgewalt zu bekommen und seinen Einfluss auf Lionel zu vergrößern, um so irgendwie einen Vorteil aus dem Fluch seines Cousins herauszuschlagen. Aber immer war der gute alte Martyn da und stand ihm im Weg.
Als Giles eintrat, lachten Martyn und Lionel, die ihr Frühstück schon beendet hatten, gerade über etwas, das Giles nicht gehört hatte. Jetzt wandten sie sich ihm zu und begrüßten ihn.
»Giles! Niemand wusste, wo du abgeblieben warst«, sagte Lionel. »Wir dachten schon, du wärst ohne uns losgeritten. Hast du schon was gegessen?«
»Noch nicht. Ich war draußen und habe ein Auge auf alles gehabt.« Das stimmte nicht, aber die beiden würden sich nicht die Mühe machen, jemanden zu fragen. Er warf einen bedeutungsvollen Blick auf Martyn, als denke er, Martyn hätte statt seiner draußen sein und sich um alles kümmern sollen. Aber Lionel bemerkte den Blick gar nicht, wie er das meiste verpasste, das Giles ihn sehen lassen wollte. Martyn hingegen fing den Blick sehr wohl auf und zog amüsiert einen Mundwinkel hoch, ohne sich jedoch auf einen Streit einzulassen.
Klug war er. So klug wie Lionel dumm war. Und unverschämt, denn er wusste, wie groß sein Einfluss auf Lionel war und brauchte nicht zu befürchten, dass seine Macht über ihn je gebrochen werden könnte. Eines Tages würde Giles ihn für diese Unverschämtheit büßen lassen. Er würde ihm diesen zufriedenen Ausdruck aus dem Gesicht wischen, und zwar für immer.
Aber noch war der Augenblick nicht gekommen, und er trat lächelnd zu ihnen, suchte nach einem nicht zu trockenen Brotkanten und fand ein würziges Stück Braten mit Kräuterkruste. Aber wie er befürchtet hatte, enthielt der Krug lediglich einfaches Bier.
Um die Zeit gewinnbringend zu nutzen, bemerkte er: »Dickon hat gerade am Fuß der Treppe eine der Truhen fallen lassen. Es wäre vielleicht gut, nachzusehen, ob etwas beschädigt ist.«
Lionel spießte müßig ein Stück Braten mit seinem Dolch auf. »Jeder weiß, dass Dickon ein tolpatschiger Einfaltspinsel ist.«
»Darum geben wir ihm auch nur Sachen zu tragen, die er nicht kaputtmachen kann«, fügte Martyn hinzu.
Giles wechselte das Thema. »Was war denn vorhin so komisch?«
Lionel grinste. »Ein Rätsel. Martyn weiß ein neues.«
Giles’ Magen verkrampfte sich. Martyn und Lionel und ihre gottverdammten Rätsel. Gott wusste, Lionels längliches Gesicht mit der entstellenden Narbe über Stirn und Nasenrücken, die er hatte, seit er vor vier Jahren bei einem plötzlichen Anfall gegen eine brennende Lampe geprallt war, sah besser aus, wenn er lachte, aber diese verfluchten Rätsel ...
Er sah Martyn an, der ebenfalls breit grinste, und es gelang ihm, in gelassenem Ton zu sagen: »Wirklich? Ich hätte nicht gedacht, dass es noch ein Rätsel gibt, das ihr nicht bereits kennt. Wie, bitte, lautet es?«
Lionel und Martyn wechselten voller Belustigung einen Blick. »Gib du es ihm auf«, meinte Lionel. »Es ist dein Rätsel.«
Der Verwalter, unverschämt selbstsicher wie immer, wenn er zeigen wollte, wie schlau er doch war, setzte ein ernstes Gesicht auf. Feierlich wie ein Bischof, der den Papst befragt, stellte er seine Frage. »Welches Tier hat seinen Schwanz zwischen den Augen?«
Giles blickte von Lionel zu Martyn und hasste beide, weil sie die Antwort kannten und sicher waren, dass er nicht darauf kommen würde. Ein Tier mit seinem Schwanz zwischen den Augen? Wie immer die Lösung lautete, sie war zweifellos zu dämlich, um Zeit darauf zu verschwenden. »Keine Ahnung. Was für ein Tier hat denn nun den Schwanz zwischen den Augen?«
Martyn grinste. »Eine Katze, die sich am Steiß leckt.«
Giles brachte ein glaubhaftes Lachen zustande und räumte ein: »Ein gutes Rätsel. Darauf wäre ich nie gekommen.« Ein blöder Zeitvertreib.
»Erzähl es Edeyn nicht«, sagte Lionel. »Ich möchte ihr Gesicht sehen, wenn sie es hört.«
»Werde ich nicht«, versicherte Giles. Er stellte die Reste seines Frühstücks auf den Tisch, nahm schnell einen Schluck Bier und neigte kurz den Kopf vor Lionel. »Da wir gerade von Edeyn sprechen, ich sehe besser mal nach ihr. Du entschuldigst mich.«
Lionel entschuldigte ihn mit beleidigender Bereitwilligkeit.
Giles’ Räumlichkeiten grenzten an den Salon an. Sein Wohngemach wirkte heute kahl und leer, denn Wandbehänge und Kissen waren bereits eingepackt und die untere Hälfte der Fenster durch Läden geschlossen und verrammelt. Die kostbaren Fensterscheiben waren herausgenommen und auf die Karren geladen worden, um in Langling wieder eingesetzt zu werden. Durch die obere Hälfte der Fenster sickerte graues Morgenlicht, und auch der letzte Stern war verschwunden. Die Karren würden in Kürze aufbrechen, und der Rest des Haushalts würde ihrem Beispiel folgen.
Als Giles auf sein Schlafzimmer zuging, kam gerade einer seiner Diener heraus, machte ihm hastig Platz und verbeugte sich tief, obwohl er eine kleine, lederbeschlagene Truhe schleppte.
Giles wies mit dem Kopf auf die Truhe. »Muss sonst noch etwas hinausgeschafft werden?«
»Nur das, was Mistress Knyvets Kammerfrauen tragen werden, Herr.«
»Dann beeil dich. Wir sind sowieso schon spät dran und Meister Lionel drängt auf den Aufbruch.«
Der Mann verbeugte sich erneut, stolperte noch einen Schritt zurück und ging hastig weiter.
Im Schlafzimmer stand Edeyn neben dem kahlen Bettgestell, ihren Umhang über dem Arm. Bettwäsche und Matratzen waren längst eingepackt. Sie sah zu, wie zwei Kammerfrauen ein dickes Tuch um ihr Schmuckkästchen wickelten, das aus Sicherheitsgründen in einer Satteltasche transportiert werden würde. Die Kammerfrauen blickten nicht auf, als er hereinkam. Sie hatten gehört, was er draußen gesagt hatte, und beeilten sich mit ihrem Tun. Aber Edeyn lächelte ihn an, als er zu ihr trat. Er packte sie am Kinn, hob ihr Gesicht zu ihm auf und küsste sie ausgiebig. Eigentlich zog er Frauen mit großen Brüsten und breiten Hüften vor, die im Bett etwas hermachten. Die zarte, zierliche Edeyn war das genaue Gegenteil und reichte ihm nur knapp bis an die Schulter, aber er hatte ihr das Küssen beigebracht und andere Dinge, die ihm Vergnügen bereiteten, und alles in allem kamen sie recht gut miteinander zurecht.
So gut, dass sie im vierten Monat mit einem Kind schwanger ging. Es würde sein Erbe sein, wenn es ein Junge war. Den Erben, den sie mit Freuden Lionel geschenkt hätte, wenn eine Eheschließung nicht unmöglich gewesen wäre.
Giles fragte sich manchmal, ob sie wusste, dass er bemerkt hatte, dass sie Lionel geliebt hatte, bevor sie ihn liebte. Es machte ihm nichts aus, im Gegenteil, es freute ihn. Es machte es um so ergötzlicher, sie zu besitzen. Und weil er vermutete, dass Lionel sie ebenfalls geliebt hatte und vielleicht immer noch liebte, legte er Wert darauf, ihm gelegentlich deutlich zu zeigen, dass sie jetzt sein war. Ein Wort, eine Geste, die beiläufige Erwähnung einer besonders gelungenen Nacht, nie mehr. Wenigstens ein bisschen wollte er ihm heimzahlen, dass alles andere ihm gehörte, was von Rechts wegen Giles gehören sollte.
Als er sie losließ, lächelte Edeyn zu ihm auf. »Wir sind fertig.«
»Gut. Lass uns aufbrechen. Lionel wartet schon.«
Sie nickte gehorsam und wandte sich zur Tür, während ihre Kammerfrauen die letzten Gepäckstücke aufhoben. Bevor sie bei der Tür angekommen war, sagte Giles: »Edeyn. Noch eins.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Ja?«
»Lionel hat ein neues Rätsel.« Edeyn versuchte ständig, sich an Lionels und Martyns Rätselspielen zu beteiligen, aber ihr mangelte es an Pfiffigkeit und die von ihr angebotenen Lösungen waren gewöhnlich derartig verkehrt, dass sie mehr Gelächter hervorriefen als die richtige. »Wenn er dir das Rätsel aufgibt, sag, es ist eine Katze, die sich am Arsch leckt.«
Wieder hatte er es Lionel ein wenig heimgezahlt.
Nach dem Regen des späten Nachmittags duftete der Garten süß. Unter der Wolkenbank im Westen zeigte sich ein Streifen safranfarbenen Sonnenuntergangs, und die letzten Sonnenstrahlen fielen lang und golden auf die Gartenmauer. Kristalltropfen prasselten von den Blättern, losgefegt von den langen Röcken der Nonnen, die während der Zeit der Erholung im Garten wandelten. Zwei der Nonnen gingen nebeneinander, die gefalteten Hände in die Ärmel geschoben. Die dritte ging allein, den Rosenkranz in der Hand. Über ihnen, auf dem hohen Bogen eines Birnbaumzweiges hinter der Mauer, sang eine Amsel. Ihre Umrisse zeichneten sich klar vor dem gelben Himmel ab. In dem stillen Garten waren nur die leisen Schritte der Nonnen, das Prasseln der Regentropfen und das Abendlied der Amsel zu vernehmen.
Lautes Gelächter aus dem Klausurbereich jenseits der Gartenmauer zerriss die Stille. Frevisse und Schwester Claire hielten inne und wandten den Kopf, als könnten sie die anderen Nonnen der Priorei sehen, die die Zeit ihrer Erholung im heizbaren Gemeinschaftsraum mit Plaudereien und gewürztem, heißem Wein verbrachten, den ihnen die Priorin zum Schutz gegen die Feuchtigkeit und angebliche Kühle des Apriltages gewährt hatte. Frevisse, Schwester Claire und Schwester Thomasine waren, begleitet von den missbilligenden Blicken der Priorin Alys, statt dessen in den Garten gegangen, was ihnen laut der Ordensregel zustand. Zugunsten der Stille des Aprilabends hatten sie auf den Wein und das beengte Miteinander verzichtet.
Aber ein wahres Entkommen war nicht möglich. Die lautstarke Fröhlichkeit ihrer Mitschwestern verfolgte sie, und wenn die Stunde der Erholung zu Ende war, mussten sie sich ihnen zwangsläufig wieder anschließen, zum Abendgebet und dann zur Nachtruhe im langgestreckten Dormitorium. Auch dort wurde öfter und öfter das Schweigegebot missachtet, das laut der Regel des Heiligen Benedikt den ganzen Tag gelten sollte, außer in Notfällen und in den Stunden der Muße. Statt dessen drang Gekicher und Geflüster durch die Wände der Zellen, das alle wachhielt und es ihnen schwer machte, zu den Nachtgottesdiensten Matutin und Laudes aus dem Bett zu finden.
Frevisse wandte sich ab und beneidete einen Augenblick lang Schwester Thomasine um ihr heiter-gelassenes Losgelöstsein von allem Weltlichen. Unberührt von dem Gelächter stand die jüngste Nonne von St. Frideswide vor der Gartenmauer und blickte verzückt zu der Amsel auf, die immer noch ihr Lied sang. In diesem Frühjahr im Jahre 1437 des Heils jährte sich Schwester Thomasines Ankunft im Kloster zum siebten Mal. Seit über fünf Jahren war sie Nonne, und in ihrem Herzen hegte sie keinen Wunsch außer dem, sich in tiefe Anbetung von Gott, ihrem Herrn, zu versenken. Die täglich größer werdenden Spannungen in der Priorei schien sie gar nicht wahrzunehmen.
Frevisse hatte das Kind früher äußerst nervtötend gefunden, aber im Laufe der Jahre war Schwester Thomasine zu einer erwachsenen Frau geworden und hatte eine unweltliche, geistige Reife gewonnen. Obwohl ihr Geist stets auf Gott und das Gebet gerichtet war, erledigte sie ihre Pflichten in der Priorei mit ruhiger Tüchtigkeit. Wahrscheinlich gelang ihr das gerade wegen ihrer inneren Distanziertheit, räumte Frevisse ein. Zwar betrachtete Frevisse Schwester Thomasine nicht mit Zuneigung, dafür ging sie ihr allzu oft mit ihrer Ernsthaftigkeit auf die Nerven, aber ganz gegen ihren Willen hatte sie doch eine tiefe Wertschätzung für sie entwickelt. Und in letzter Zeit beneidete Frevisse sie um ihre Fähigkeit, sich nicht von den Veränderungen berühren zu lassen, die Priorin Alys in den sieben Monaten ihrer Amtszeit in St. Frideswide vorgenommen hatte.
Schwester Claire seufzte und ging weiter. Frevisse folgte ihr, wobei sie mit der Mühelosigkeit langjähriger Vertrautheit ihre langen Schritte denen der kürzeren von Schwester Claire anpasste.
»Du weißt, was sie davon hält, dass wir hier draußen sind«, sagte Schwester Claire.
Es war keine Frage, wen sie meinte. Priorin Alys dominierte ihre Gedanken, wie sie auch ihr Leben dominierte. »Sie denkt, dass wir über sie reden«, entgegnete Frevisse. »Was wir auch tun.«
»Mehr als das. Schlimmer. Sie denkt, dass wir finstere Pläne gegen sie schmieden. Schwester –« Schwester Claire hielt inne, und ihr Zögern verriet eine Menge über die Vorsicht, die mittlerweile in der Priorei gang und gäbe war. »Jedenfalls, ich habe es gehört. Sie denkt, dass, wenn wir in den Garten gehen, während die anderen im Gemeinschaftsraum bleiben, wir Pläne gegen sie schmieden.«
»Was für Pläne denn? Sie ist die Priorin, Gott möge uns beistehen. Was könnten wir schon tun?«
Frevisse versuchte nicht, ihre Gereiztheit zu verbergen. Geduld und Nachsicht gehörten zu den Tugenden, die sie in ihrem Leben noch nicht ausreichend entwickelt hatte. Und Priorin Alys’ herrische Art bedeutete eine unaufhörliche Prüfung und Heimsuchung für sie, einfach weil das Gelübde, das sie vor fast zwanzig Jahren abgelegt hatte, als sie Nonne wurde, sie verpflichtete, ohne Säumen oder Widerwillen denen zu gehorchen, die Gott über sie gesetzt hatte. Bis zum letzten Sommer hatte sie dieses Gelübde problemlos halten können, denn Priorin Edith war die Ehrwürdige Mutter gewesen. Priorin Edith, die mit den Jahren freundlich und weise geworden war und klug eine festigende Disziplin auf die Schwestern ausgeübt hatte, die in ihre Obhut gegeben waren. Frauen, die so unterschiedlich waren wie jede andere zusammengewürfelte Gruppe von Frauen, trotz der gemeinsamen Bande, trotz des abgelegten Gelübdes, den sieben gemeinsamen Stundengebeten des Tages, ihrem Eingeschlossensein innerhalb der Mauern von St. Frideswide und des Ordenskleides aus schwarzem Habit, schwarzem Schleier und weißem Kinn- und Kopftuch, das sie von außen so gleich wirken ließ. Als Priorin Edith die Ehrwürdige Mutter war, hatte es keine offenen Günstlinge gegeben und keine der Schwestern war bevorzugt worden. Pflichten und Vergünstigungen waren streng nach Verdienst verteilt worden, und alle hatten sich strikt an die Ordensregel des Heiligen Benedikt gehalten.
Aber Priorin Edith war letzten Sommer still entschlafen, an Altersschwäche und der Müdigkeit ihres Leibes, und nun war alles anders. Schwester Alys – Priorin Alys – stand der Priorei auf gänzlich andere Weise vor. Frevisse gab gern zu, dass der Titel ihr immer noch im Halse steckenblieb, selbst noch sieben Monate nach der Wahl. Eine Wahl, deren Ausgang ein Fehler gewesen war, davon war sie immer noch überzeugt. Falls Gott es zuließ, dass bei solchen Anlässen Fehler unterliefen, fügte sie innerlich pflichtbewusst hinzu. Ihrer Ansicht nach tat er es, und zwar damit menschlichem Stolz und menschlicher Gewissheit eine Lektion in Fehlbarkeit erteilt wurde.
Als Priorin Edith starb und die Nonnen eine Nachfolgerin aus ihrer Mitte wählen sollten, war allen klargewesen, dass es der damaligen Schwester Alys von ganzem Herzen nach dieser Ehre und der damit verbundenen Macht gelüstete. Priorin Edith selbst hätte sich als Nachfolgerin Schwester Claire gewünscht, die bekannt war für ihre Zuverlässigkeit, Gerechtigkeit und tiefe Sorge um das Wohl der ihr Anvertrauten zuerst im Spital und später als Cellerarin. Wenn alles vernünftig abgelaufen wäre, hätte Schwester Claire die Wahl gewinnen müssen, aber Schwester Alys geriet leicht in Wut und war sehr nachtragend, und die meisten der neun Nonnen standen Schwester Alys’ Temperament und langem Gedächtnis vorsichtig, wenn auch nicht direkt furchtsam, gegenüber. Keine wollte sie als Priorin haben, aber offenbar hatten einige Angst vor dem gehabt, was sie zu erdulden haben würden, wenn Schwester Alys beim ersten Wahlgang nicht mal eine einzige Stimme erhielt. Frevisse hatte das nicht geschert, sie hatte mit Freuden Schwester Claire gewählt. Schwester Thomasine ebenfalls, wie sie vermutete. Thomasine ließ sich durch solch weltliche Befürchtungen wie Angst vor dem Zorn von Schwester Alys nicht beeinflussen. Frevisse selbst hatte eine Stimme erhalten – von Schwester Claire, soweit sie wusste. Sie war froh gewesen, nicht mehr Stimmen erhalten zu haben. Aber die restlichen sechs Stimmen waren auf Schwester Alys gefallen, denn Alys hatte natürlich sich selbst gewählt. Die übrigen fünf Nonnen hatten ihr jeweils nur eine Stimme beim ersten Wahlgang zukommen lassen wollen, um ihren zu erwartenden Zorn etwas zu besänftigen. Statt dessen hatte die Feigheit der Nonnen Schwester Alys zur Priorin von St. Frideswide gemacht, und das würde sie bleiben, solange sie lebte.
Eine neue Lachsalve unterbrach die Abendstille. Die meisten Schwestern hatten eine Art Frieden mit dem geschlossen, was sie angerichtet hatten, das musste Frevisse zugeben. Es war nicht zu leugnen, dass Priorin Alys, solange sie ihren Willen bekam, freundlich zu den ihr unterstellten Nonnen sein konnte. Aber ihr Wille ging oft in Richtung Laschheit und ein wenig Luxus, entgegen der Klosterregel. Morgens ließ sie die Nonnen ein wenig länger schlafen, und an kalten Wintermorgen fingen die Stundengebete später an. Kleine, unnötige Leckereien an normalen Werktagen. Heißer, mit teuren Gewürzen versehener Wein, nur weil ihr danach zumute war.
Kleinigkeiten. Immer nur Kleinigkeiten, aber die Beispiele häuften sich, und langsam wurde es immer mehr. Heute hatte Schwester Amicia in der morgendlichen Kapitelversammlung gefragt, ob sie nicht alle am Nachmittag einen Spaziergang außerhalb des Klosterbereichs machen könnten. »Nur ein kleines Stückchen. Es ist Frühling«, hatte sie wehmütig gesagt.
Schwester Amicia war bekannt für ihre weltlichen Neigungen, die sie eher zur Ehefrau eines Kaufmanns bestimmt hätten als zu einer frommen Nonne. Sie brauchte eine sanfte, aber feste Hand, um nicht in die Irre zu gehen. Kleine Spaziergänge, um die Welt zu sehen, würden letztlich mehr Schaden anrichten als nützen. Zudem widersprach ihre Bitte eindeutig der Ordensregel. Aber Priorin Alys hätte fast zugestimmt, ermutigt vom eifrigen Nicken der meisten Schwestern. Frevisse war aufgestanden und hatte darauf hingewiesen, wie unziemlich und falsch es wäre, aus Gründen der Zerstreuung das Kloster zu verlassen. Später wurde ihr klar, dass ihre Worte nicht sehr diplomatisch gewesen waren. Sehr wahrscheinlich hätte Priorin Alys den Einwand in ihrer üblichen anmaßenden Art einfach übergangen, wenn Schwester Thomasine sich nicht ebenfalls erhoben hätte, was sonst gar nicht ihre Art war. Mit leiser, aber zumindest bei dieser Gelegenheit fester Stimme hatte sie erklärt, ihre Mitschwestern könnten ja tun, was sie wollten, aber sie zumindest würde niemals, weder heute noch zu irgendeiner anderen Zeit, Gott möge sie schützen, eine derartige Sünde begehen. Sie griff niemanden an, sie sagte nur, was sie empfand. Dann setzte sie sich wieder, senkte die Augen und faltete die Hände im Schoß, bescheiden und in sich gekehrt wie immer. Was die anderen taten, war jetzt ihre Angelegenheit. Aber wenn Thomasine auch so blass, zart und weltabgewandt war, dass man sie sich kaum außerhalb des Klosters vorstellen konnte, ihre Mitschwestern hielten sie für eine werdende Heilige. Es waren ihre Worte, nicht Frevisses Protest, die Priorin Alys bewogen, schließlich widerwillig zu entscheiden, dass zumindest heute kein unziemlicher Spaziergang stattfinden würde.
Aber was die Priorin bei Schwester Thomasine vergeben oder zumindest ignorieren konnte, war eine unverzeihliche Kränkung, wenn es von Frevisse kam. Den ganzen Tag hatte sie das Missvergnügen der Priorin zu spüren bekommen, und Frevisse wusste aus Erfahrung, wenn Priorin Alys Zeit gehabt hatte, sich eine ausreichende Strafe auszudenken, würde sie ihr die Frechheit ihres offenen Eingreifens doppelt und dreifach heimzahlen.
Aber hätte sie zulassen sollen, dass solch ein Übel begangen wurde? Gereizt vor Hilflosigkeit wiederholte sie: »Was können wir denn tun?«
»Den Mund halten?« schlug Schwester Claire vor.
»Wie kann ich das? Wie kannst du das?«
»Ich weiß es nicht. Aber hast du schon mal darüber nachgedacht, ob vielleicht nicht sie allein die Schuld an der Lage trifft?«
»Nein, kann ich nicht behaupten.«
»Sie findet, dass wir für Unruhe sorgen, indem wir sie anzweifeln.«
»Ihre Amtsführung ist zweifelhaft.«
»Wie du weißt, hat sie einiges für die Priorei erreicht.«
Frevisse konnte es absolut nicht leiden, wenn Schwester Claire darauf bestand, auch die andere Seite einer Angelegenheit zu sehen, die für Frevisse ein eindeutiger Stein des Anstoßes war. Aber Schwester Claire hatte recht. Schwester Alys hatte ihren Einfluss bei ihrer weitverzweigten Familie geltend gemacht, und jetzt hatte St. Frideswide zwei Novizinnen, zwei mehr als in den letzten fünf Jahren. Außerdem hatte ihre Familie, erfreut über ihr neues Amt, der Priorei an Mariä Verkündigung eine größere Geldsumme gestiftet. Es wurde jetzt lebhaft über den Verwendungszweck diskutiert, und wenn es auch verschiedene Meinungen gab, war doch die Freude groß, dass überhaupt überschüssige Mittel vorhanden waren, die verteilt werden konnten.
Ja, Priorin Alys hatte durchaus Gutes bewirkt.
»Aber –«
»Und sie hat recht, wenn sie denkt, dass wir – du und ich – sie in ihrer Amtsausübung behindern.«
»Wir tun doch nichts weiter, als manchmal ihre Entscheidungen in Frage zu stellen«, protestierte Frevisse. »Du kannst kaum behaupten, dass ich heute morgen unrecht hatte.«
»Nein. Und auch gestern nicht, als du fragtest, weshalb sie das Anwesen in Northampton ihrem Cousin für eine geringere Pachtsumme geben wolle, als wir zuvor bekamen.«
»Die Frage musste gestellt werden.«
»Zweifellos. Aber du hast sie gestellt.«
»Weil sich sonst niemand getraut hätte.«
»Eben.«
Schwester Claire sah Frevisse von der Seite an, um festzustellen, ob sie verstanden hatte. Nach einer Weile lächelte Frevisse schief zurück. »Und es ist keine große Hilfe, dass ich meine Einwände nicht immer so diplomatisch wie möglich vorbringe.«
»Oder dass du ihre Entscheidungen so oft in Frage stellst.«
Frevisse machte eine kleine, hilflose Geste, und Schwester Claire fuhr fort: »Ich weiß. Du siehst meist klarer als die anderen, du denkst gründlich über alles nach und hast dann noch den Mut, offen deine Meinung zu sagen, wenn du es notwendig findest. Einen Mut, der mir fehlt.«
»Den Mut oder die Dummheit.«
»Das gelegentlich auch«, gab Schwester Claire unparteiisch zu. »Aber ob du nun den Mund aufmachst oder nicht, sie geht davon aus, dass du alles missbilligst, was sie tut. Und manchmal zeigt dein Gesichtsausdruck nur zu deutlich, dass sie mit dieser Einschätzung nicht falsch liegt. Ich hingegen bringe sie durch meine bloße Anwesenheit gegen sich auf.«
Auch das stimmte. Allein die Gegenwart von Schwester Claire erinnerte stets daran, welche Nachfolgerin Priorin Edith sich gewünscht hätte. Für die jähzornige Priorin Alys war Schwester Claire ein ständiger Tadel.
»Und dass wir uns während der Stunde der Erholung gegenseitig Gesellschaft leisten, verbessert die Situation auch nicht gerade«, sagte Frevisse.
»Es macht uns beide in ihren Augen nur verdächtiger«, stimmte Schwester Claire zu.
»Ich werde versuchen, meine Zunge im Zaum zu halten. Vielleicht wird das eines Tages helfen.«
Schwester Claire antwortete nicht. Ihr Rundgang hatte sie zurück zum hinteren Teil des Gartens geführt, wo Schwester Thomasine stand, den Kopf noch immer zu der Amsel erhoben, die im Birnbaum sang. In stillschweigendem Übereinkommen blieben sie stehen, um ebenfalls zu lauschen, obwohl Frevisses Gedanken mehr bei ihrem Gespräch als bei der Schönheit des Abends waren. Die von Schwester Claire offensichtlich auch, denn kurz darauf sagte sie tapfer: »Ich habe eine Idee.«
Ohne den Blick von der Amsel über ihnen abzuwenden, gab Frevisse mit einer kleinen Bewegung des Kopfes zu verstehen, dass sie zuhörte. Schwester Claire fuhr fort: »Ich werde in der Kapitelversammlung beichten, dass ich mich stolzer und sündiger Gedanken schuldig gemacht und ein Gelübde nicht gehalten habe.« Sie hob leicht die Hand, um Frevisses verblüffte, ungläubige Antwort verstummen zu lassen. »Letztes Jahr hatte ich solche Angst, dass Priorin Edith unter großen Schmerzen sterben würde, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, so dass ich Sankt Frideswide gelobt habe, zu Fuß zu ihrem Schrein nach Oxford zu pilgern, wenn sie Priorin Edith einen ruhigen, schmerzlosen Tod gewährt.«
»Schwester Claire!« sagte Frevisse gequält. Eine Nonne durfte keine Gelübde ablegen, die sie ohne die Erlaubnis ihrer Priorin nicht einhalten konnte, denn der erste Grad der Demut war der unverzügliche Gehorsam gegenüber den Oberen.
»Ich weiß. Aber damals dachte ich, Gott vergebe mir« – sie bekreuzigte sich – »ich würde nach ihr Priorin werden, so dass das kein Problem wäre. Ich wollte nur, dass sie einen friedlichen Tod bekam. Nie hätte ich mir ausgemalt, dass ich Schwester Alys’ Erlaubnis brauchen würde, um mein Gelübde zu halten. Und so habe ich meine Sünde noch vergrößert, indem ich zu lange gewartet habe.«
»Und das willst du alles in der Kapitelversammlung beichten? Wo alle es hören können?« Sie fügte nicht hinzu, »das willst du Priorin Alys ins Gesicht sagen«, obwohl der Gedanke ihr sofort durch den Kopf schoss.
»Es ist die einzige Möglichkeit. Es wird mein Gewissen erleichtern. Meine Demütigung wird sie vielleicht dazu bringen, mich nicht mehr als Bedrohung anzusehen.«
»Und du denkst, sie wird dich tatsächlich auf Pilgerfahrt gehen lassen? Sie könnte dich einfach von dem Gelübde entbinden und dir schwere Bußen auferlegen.«
»Ich denke, sie wird die Gelegenheit ergreifen, mich für eine Weile loszuwerden und gleichzeitig zu zeigen, wie großzügig sie ist. Dessen bin ich mir so gut wie sicher. Aber ich möchte, dass du diejenige bist, die mich begleitet.«
Eine Nonne konnte sich unmöglich allein außerhalb der Klostermauern bewegen. Zumindest müsste eine zweite Nonne sie begleiten, und Frevisse begriff sofort, was Schwester Claire von ihr wollte.
»Du meinst, ich soll ebenfalls in der Kapitelversammlung eine Beichte ablegen? Wegen meiner hoffärtigen Gedanken wider meine Priorin? Und darum bitten, zur Buße mit dir nach Oxford geschickt zu werden?«
»Ja.«
Frevisse starrte auf den Boden zu ihren Füßen, ohne ihn wahrzunehmen. »Es wird so nicht gehen. Das wird sie nie erlauben.«
»Doch, das wird sie«, sagte Schwester Thomasine. Obwohl sie mit leiser Stimme sprach, schreckten die beiden zusammen. Sie hatten ihre Anwesenheit vergessen. Schwester Thomasine drehte sich um und sah sie an. »Sie wird Euch mit Freuden gehen lassen, wenn Ihr ihr die Möglichkeit dazu gebt.«
»Woher wollt Ihr das wissen?« fragte Schwester Claire sanft. Während Frevisse oft nur mit Mühe Geduld für Schwester Thomasine aufbrachte, war Schwester Claire stets bereit, ihr zuzuhören.
Schwester Thomasine neigte den Kopf etwas zur Seite, als finde sie die Frage verwirrend. »Sie wird es tun. Das ist alles.«
Die Sonne war bereits untergegangen, und in der hereinbrechenden Dämmerung war Schwester Thomasines Gesicht nur ein bleicher Fleck, umrahmt von dem weißen Schleier. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war nicht zu erkennen, aber ihre Stimme klang trotz aller Sanftmut absolut sicher, ohne jedes »Vielleicht« oder »Möglicherweise«. Frevisse schauderte zusammen und sagte sich, das käme sicher von der Kälte, die hereinkroch, nachdem das letzte Tageslicht verschwunden war. Sie wandte sich Schwester Claire zu und sagte mit mehr Entschiedenheit, als sie empfand: »Ich werde es tun. Möge Gott Erbarmen mit uns haben.« Sie war froh, als das Läuten der Klosterglocke, das zur Komplet rief, dem Gespräch ein Ende setzte.
Giles lag ausgestreckt auf dem sonnenwarmen Gras des Hangs, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Völlig entspannt beobachtete er die leicht vom Wind bewegten Eichenblätter hoch oben zwischen sich und dem klaren Himmel. Um ihn herum ging das ruhige Geplauder von Menschen weiter, die sich zufällig auf dem Weg begegnet waren, und es war darum kaum nötig, dass er diesem sinnlosen Geschwätz seine Aufmerksamkeit schenkte. Da sie Minster Lovell leicht vor Einbruch der Nacht erreichen würden, konnten sie in aller Ruhe am Wegesrand im Schatten der großen Eiche ihr Mittagsmahl einnehmen. Das Wetter war in den letzten Tagen warm und trocken gewesen, so dass sie sich dieses müßige Tempo erlauben konnten. Wahrscheinlich sollte er dafür dankbar sein, obwohl es sonst wenig genug gab, dass zur Dankbarkeit Anlass gab.
Winchcombe Abbey und drei weitere Sankt Kenelm geweihte Kirchen hatten sie bereits abgeklappert. Und zumindest Winchcombe war annehmbar gewesen. Gerade eben noch. So fromm es in der Abtei zugehen mochte – obwohl die Mönche trotz ihres Armutsgelöbnisses einen ganz netten Gewinn aus dem Heiligen herausholten –, die Stadt, die vor den Klostertoren aufgeblüht war, bot den Besuchern, die wie Giles nicht zum Beten hergekommen waren, weltlichere Freuden. Aber die übrigen Kenelm geweihten Schreine erwiesen sich als schäbige Hütten irgendwo in der Landschaft, in der Nähe von Dörfern, die aus einer einzigen Straße bestanden, meilenweit von jedem anständigen Ort entfernt. Die Gasthäuser verdienten diesen Namen kaum, und das Essen war ungenießbar. Und jetzt hatte Lionel auch noch diese Leute aufgegabelt.
Als sie von Knyvet aufgebrochen waren, waren sie zu elft gewesen: er, Edeyn und Lionel und sieben Diener, die sich um sie, die Pferde und das Gepäck kümmerten. Und natürlich Martyn, verflucht sollte er sein. Eine überschaubare Gruppe, aber Lionel hatte, typisch für ihn, auf der Straße eine Handvoll von Zufallsbekanntschaften aufgegabelt, von denen keiner auch nur die Mühe des Anspuckens wert war. Allein den Gutsbesitzer mit seinem dröhnenden Lachen würde er Lionel noch am Tag des Jüngsten Gerichts übelnehmen, dabei mussten sie seine Gesellschaft erst seit dem späten Vormittag ertragen. Der Mann behauptete, in Geschäften unterwegs zu sein, schien aber keine große Eile zu haben, ihnen nachzugehen. Er war durchaus gewillt, gemächlich den Tag in ihrer Gesellschaft zu vergeuden, und jetzt hockte er wie die übrigen lange bei Tisch. Er hatte geprahlt – bei Gott, konnte der Mann prahlen –, schon in Exeter im Süden, Worcester im Westen und Oxford im Osten gewesen zu sein. Er schien zu denken,