Der Vogelfreie. Mord im Jahr des Herrn 1434 - Margaret Frazer - E-Book
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Der Vogelfreie. Mord im Jahr des Herrn 1434 E-Book

Margaret Frazer

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Beschreibung

England im Jahr 1434. Schwester Frevisse wird von einer Bande Geächteter überfallen, deren Anführer ausgerechnet ihr verschollener Cousin ist. Mit ihrer Hilfe hofft er, wieder in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Frevisse setzt ein Schreiben auf, in dem sie um Vergebung für ihren Cousin bittet. Doch während sie auf eine Antwort wartet, geschieht ein Mord, den er begangen haben könnte ...

Schwester Frevisse, die Miss Marple des Mittelalters, ermittelt mit höchst ungewöhnlichen Methoden.

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Seitenzahl: 338

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Ähnliche


Über Margaret Frazer

Margaret Frazer lebt mit ihren vier Katzen und viel zu vielen Büchern in der Nähe von Minneapolis, Minnesota. In den USA hat sie sich mit ihrer Serie um Schwester Frevisse über viele Jahre ein Millionenpublikum erschrieben.

Anke Grube hat Anglistik, Literaturwissenschaft und Geschichte studiert und ist sie seit 1989 freiberuflich als Literaturübersetzerin tätig.

Informationen zum Buch

England im Jahr 1434. Schwester Frevisse wird von einer Bande Geächteter überfallen, deren Anführer ausgerechnet ihr verschollener Cousin ist. Mit ihrer Hilfe hofft er, wieder in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Frevisse setzt ein Schreiben auf, in dem sie um Vergebung für ihren Cousin bittet. Doch während sie auf eine Antwort wartet, geschieht ein Mord, den er begangen haben könnte.

Schwester Frevisse, die Miss Marple des Mittelalters, ermittelt mit höchst ungewöhnlichen Methoden.

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Margaret Frazer

Der Vogelfreie

Mord im Jahr des Herrn 1434

Historischer Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen von Anke Grube

Inhaltsübersicht

Über Margaret Frazer

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Impressum

O hateful harm, condicion of poverte!

With thurst, with coold, with hunger so confoundid!

To asken help thee shameth in thyn herte;

If thou noon aske, with nede artow so woundid

That verray nede unwrappeth al thy wounde hid!

Maugree thyn heed, thou most for indigence

Or stele, or begge, or bonve by despence!

»The Man of Law’s Prologue«

Canterbury Tales

Geoffrey Chaucer

O herbes Leid der Armut! Mit den Schmerzen von Hunger, Durst und Kälte stets verbunden! Betteln zu gehen beschämt dich tief im Herzen. Und tust du’s nicht, wird die verhüllten Wunden die Not entblößen und der Welt bekunden! Was du auch tust, du musst dein Brot mit Sorgen erbetteln, stehlen oder dir erborgen.

Kapitel 1

D er grüne Schatten des Waldes war gesprenkelt von stetig wechselndem goldenem Sonnenlicht. In den Mustern aus Licht und Schatten saßen, standen oder lagen die zwölf Männer bequem an die gewaltigen Baumstämme und ihre dicken Wurzelknorren gelehnt. Nur ihr Anführer stand aufrecht, die Arme vor der Brust verschränkt. Ein Lächeln schnitt tiefe Falten in sein wettergegerbtes, nicht unattraktives Gesicht. »Also«, sagte er, »wir sind uns einig, dass wir an diesem Tag nicht zu Abend essen wollen, ohne einen unerwarteten Gast an unseren Tisch zu laden?« Seine Männer beantworteten seinen Scherz mit einem Grinsen.

Ihr Anführer musterte alle nachdenklich und erklärte dann: »Will Scarlet, Little John – und äh, Hal, Evan, ihr holt unseren Gast von der Greenwood-Straße.«

Will erhob sich, zog seinen schmuddligen roten Hut und machte eine Verbeugung, die weitaus eleganter war als sein abgerissenes grünes Hemd und seine geflickte braune Hose. »Meister Robin, es soll geschehen, wie Ihr sagt.«

Aber unter den anderen Männern, die sich erhoben hatten, waren zwei, die sich gegenseitig schubsten und versuchten, den anderen aus dem Weg zu drängen. »Diesmal bin ich Little John«, erklärte der Kleinere der beiden. »Er hat mich angesehen.«

Der andere Mann, der kaum mittelgroß war, machte ein rüdes Geräusch. »Setz dich hin, Kleiner. John war der Große. Also war ich gemeint.«

Ein dritter Mann, breitschultrig, aber auch nicht größer als die beiden anderen, stieß sich von dem Baum ab, an dem er gelehnt hatte. »Da irrt ihr euch beide. Wenn irgendjemand hier Little John ist, dann ich. Und abgesehen von der Tatsache, dass ich eure Köpfe zusammenknallen lassen kann, wenn ich will – ich bin von uns allen am besten im Stockfechten.«

»Dafür wird es bei diesem ›Abenteuer‹ kaum Bedarf geben«, rief ein Mann, der immer noch an einem anderen Baum lehnte. »Komm schon, Nicholas. Bevor es zu einer Schlägerei kommt. Wer von ihnen ist Little John?«

Der Anführer deutete auf den mittelgroßen Mann. »Du.« Unter allgemeinem Gelächter und zahlreichen Kommentaren fügte er an den Breitschultrigen gewandt hinzu: »Du kannst zusammen mit Tom das Wildbret besorgen.«

Tom und der verschmähte Little John stöhnten auf, als sie das hörten, und von allen anderen kam Gejohle und Hohngelächter.

Der ausgewählte Little John gesellte sich zu Will und Hal, die am Rande der Lichtung warteten.

Der vierte Mann lag immer noch ausgestreckt auf dem Rücken, benutzte eine Baumwurzel als Kopfkissen und genoss mit geschlossenen Augen den Sonnenschein auf seinem Gesicht. »Vielleicht solltest du jemand anderen schicken, nicht mich. Ich könnte erkannt werden. Sie ist nicht dumm und der Verwalter auch nicht.«

Nicholas dachte darüber nach und nickte. »Stimmt. Ganz recht. Wenn die Sache fehlschlägt, brauchen wir dich für später. Cullum, geh du stattdessen.«

Mit einem erfreuten Lachen stand ein klein geratener, sommersprossiger, muskulöser Bursche auf und schloss sich Will, John und Hal an. In einem hohen Falsett, das schlecht zu seinem breiten Brustkorb passte, trällerte er die muntere Parodie des Feiertagsliedes einer Magd. »›Lang gewartet hat die Jule: fort mit Spindel, Garn und Spule! Dreh den Sorgen eine Nase; Spaß gibt’s auf des Königs Straße!‹«

Die vier bogen in einen schmalen Saumpfad und verschwanden im schattigen Wald, begleitet von weiterem Gelächter. Ruhig sagte Evan, der immer noch unter seinem Baum lag: »Weißt du, Nicholas, gelegentlich übertreibst du es mit diesem Scherz. Ich glaube, es gibt Tage, an denen du wirklich glaubst, dass du der kühne Robin bist und wir deine munteren Gefährten.«

Im Jahre des Heils 1434 war der Winter grausam gewesen, voller Frost und Schnee, und der Frühling rau und kalt. Die Leute hatten Angst gehabt, es würde noch ein weiteres Hungerjahr geben. Aber der Mai war gekommen und mit ihm schönes Wetter. Frevisse trug noch den Umhang, den sie umgelegt hatte, als sie in der Morgendämmerung aus dem Klosterhof geritten war, aber jetzt hatte sie ihn über die Schultern zurückgeworfen. Schwester Emma hatte ihren schon lange abgelegt. Sie hatte umständlich damit herumhantiert, ihn zusammengelegt und sich laut gefragt, was um alles in der Welt sie mit ihm anfangen solle, bis Meister Naylor ihn genommen und hinter seinem Sattel festgeschnallt hatte, wie auch seinen eigenen.

Die drei ritten ohne große Eile dahin, Seite an Seite, um nicht den Staub der anderen abzubekommen. Schon lange hatte Frevisse sich entspannt und genoss den Ritt und die Wärme des Tages, eingeschläfert durch den gemächlichen Trott ihres Pferdes und besänftigt durch die süß duftende Luft. Sie war sogar darüber hinaus, sich über Schwester Emmas Geplapper zu ärgern. Sommerblumen mit ihren satten Gelb-, Purpur- und Weißtönen schmückten das Gras am Wegrand und die Hecken, und manchmal waren rote oder himmelblaue Blüten zu sehen. Die Vögel sangen, als wollten sie den verlorenen Frühling wettmachen. Überall war Grün. Die Felder, die Weiden und die wildwuchernden Wegränder zeigten ihre frühsommerliche Pracht. Hier am Rande des Hochlandes, auf das die Straße hinaufgeklettert war, gab es Schafherden und hochbeinige, vergnügt dreinblickende Lämmer. Das hohe Geklapper ihrer hölzernen Glocken mischte sich in den Gesang der Vögel. Die nach Sommer duftende Luft lag warm auf Frevisses Gesicht, dort, wo es frei war von dem weißen Kinntuch und dem schwarzen Nonnenschleier. Sie hatte festgestellt, dass sie nach ihrem langen Eingesperrtsein hinter Klostermauern vergessen hatte, wie weit der Himmel sein konnte – heute war er tiefblau, und aufgetürmte, leuchtende Wolken zogen dahin. Und am Nachmittag würden sie durch einen großen Wald reiten. Wie lange war es wohl her, dass sie durch einen Wald geritten war?

Sie würden fünf Tage von St. Frideswide wegbleiben, dachte Frevisse. Oder mehr, wenn das Wetter umschlug und sie aufgehalten wurden. Die Freude, die dieser Gedanke in ihr auslöste, ließ sie sich ein wenig schuldig fühlen. Aber dann rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie nicht hier war, weil sie sich darum bemüht hatte, sondern weil Priorin Edith sie als Begleiterin Schwester Emmas ausgewählt hatte.

Aber, wenn sie ehrlich war, musste sie eingestehen, dass die Ehrwürdige Mutter wahrscheinlich sie dazu bestimmt hatte, Schwester Emma zur Taufe ihrer Nichte zu begleiten, weil Frevisses Winterrastlosigkeit noch gewachsen und nicht mehr zu verbergen gewesen war, als der Frühling kam.

Die Reise würde ihre Widrigkeiten haben. Schwester Emma war eine Plaudertasche, deren Zunge wie geölt lief, sobald sie vom Schweigegebot des Klosters befreit war.

Aber als die Priorin Frevisse den Befehl erteilt hatte, Schwester Emma zu begleiten, war ihre Wintersehnsucht aufgeflammt wie ein Feuer, das angeblasen wurde, und Schwester Emmas Geplapper war nichts gewesen gegen die Chance, aus St. Frideswide hinauszureiten in die Welt, die all die Zeit von der anderen Seite der Klostermauern nach ihr gerufen hatte.

Nun jedoch befand sie sich seit fünf langen Stunden in Schwester Emmas Gesellschaft, und die Freude des Reisens begann sich bereits zu trüben unter dem ständigen Dahinplätschern ihrer Stimme und dem Wissen, dass noch vier weitere solcher Tage vor ihr lagen. Sie würden das Haus von Schwester Emmas Cousine heute noch vor der Vesper erreichen und morgen gemeinsam mit der Familie zum Haus ihres Bruders in Burford weiterreiten. Am Tag danach würde die Taufe sein, und dann hatten sie zwei Tage, um nach St. Frideswide zurückzukehren. Frevisse schloss die Augen: fünf Tage unablässiges Geplapper von Schwester Emma.

»Und es ist so heiß. Ich hätte nie gedacht, dass es so heiß sein würde. Und dabei haben wir erst Mai. Aber immerhin ist es gut für das Heu, glaube ich, und das ist ja schon etwas. Stehen die Wiesen des Klosters so gut, wie sie sollten, Meister Naylor? Wir Nonnen kümmern uns mehr um solche Dinge, als Ihr annehmen würdet, wisst Ihr. Und wir bemerken, wenn es schlecht steht, und in der letzten Zeit standen die Dinge schlecht genug, nicht wahr? Aber jetzt hat sich doch alles zum Besseren gewendet, hoffe ich?«

Meister Roger Naylor, der Verwalter des Klosters, nickte. Er hatte sie begleitet, weil sie natürlich eine Eskorte brauchten, und wenn sie bei Schwester Emmas Cousine angekommen waren, würde er alleine weiterreiten, um in Oxford eine Klosterangelegenheit zu regeln. Nach der Taufe würde er zurückkommen und sie abholen. Selbst zu seinen besten Zeiten neigte er nicht zum Reden, und auf seinem langen, von Falten durchzogenen Gesicht zeigte sich selten mehr als Konzentration auf die vor ihm liegende Aufgabe. Frevisse argwöhnte, dass er schon seit einigen Meilen aufgehört hatte, Schwester Emmas Worten allzu große Beachtung zu schenken.

»Und der Staub! Wirklich, sollten die Straßen schon im Frühsommer so staubig sein? Hatten wir denn zu wenig Regen? Hat es in letzter Zeit nicht genug geregnet? Ich würde doch meinen, das hat es, aber wieso ist denn diese Straße so staubig? Und erst diese Hitze. Ich wünschte fast, es würde regnen. Es wäre angenehm, im Regen unterwegs zu sein. Findet Ihr nicht? Ein kühler, sanfter Regen.« Sie seufzte bei diesem wunderbaren Gedanken. »Und ich habe irgendwo gelesen, dass Regen gut für die Haut sein soll. Oder vielleicht hat meine Schwester mir das erzählt. Nicht meine Schwägerin, die jetzt das Baby bekommen hat – wieder ein Mädchen, aber sie haben schon zwei Jungen, also ist es nicht allzu schlimm –, sondern meine Schwester Bertille. Ja, ich bin sicher, dass sie mir erzählt hat, dass ein sanfter Regen gut für die Haut ist. Sie wäscht ihr Haar immer mit Regenwasser, und sie hat immer so schönes Haar gehabt. Ein Jammer, dass ihre Nase leuchtend rosa ist. Das liegt an den ganzen Erkältungen, die sie immer hat – nicht, dass ich mich nicht auch leicht erkälten würde, aber nicht so leicht wie sie. Ihr erinnert Euch doch an sie, Schwester Frevisse? Vorletzte Ostern hat sie uns besucht und mir neue Taschentücher mitgebracht. Ich brauche meine Taschentücher auf wie ein Verschwender, der sein Erbe durchbringt, und war so dankbar, neue zu bekommen. Aber zumindest besteht heute keine Gefahr, sich zu erkälten, es ist so heiß!«

»Im Wald wird es kühler sein«, bemerkte Frevisse.

»Ja, ja, das wird es. Ich liebe den Wald. Ich habe den Wald immer geliebt. Meine ganze Familie liebt den Wald. Oh, wie haben wir es geliebt, am ersten Mai in den Wald zu gehen, als ich noch ein Mädchen war. Alles war so wunderschön …«

Frevisse tat ihr Bestes, nicht mehr hinzuhören.

Die Straße wand sich in langen, gemächlichen Serpentinen vom Hochland herunter, auf dem die Schafe grasten. Unten gab es ein Dorf, und sie hielten an, um Bier zu kaufen und etwas von dem Proviant zu verzehren, den die Küchenmeisterin ihnen eingepackt hatte. Das vertraute Klosteressen, ungebuttertes Schwarzbrot und ein paar verschrumpelte Äpfel vom letzten Herbst, die hier umso besser schmeckten, wo sie auf dem Rand eines fremden Brunnens saß. Nur wenige Dorfbewohner waren zu sehen, da zu dieser Zeit des Jahres alle auf den Feldern beschäftigt waren. Lediglich drei kleine Bengel in weiten Hemden, ohne Schuhe und Kopfbedeckung, kamen, um sich in sicherer Entfernung zu raufen und sie anzustarren. Sie rannten kichernd davon, als Frevisse sich umdrehte und zurückstarrte.

Als sie das Mahl beendet hatten, stellte Frevisse fest, dass sie gut und gern noch eine Zeitlang im angenehmen Sonnenschein hätte sitzen mögen. Es war eine ganze Weile her, seit sie zuletzt geritten war, und sie spürte bereits das erste Zwicken der Steifheit, unter der sie morgen leiden würde. Außerdem war der Rastplatz erfreulich, der Tag war kaum halb vorbei, und sie hatten bereits mehr als die halbe Strecke des Weges zu Schwester Emmas Cousine zurückgelegt.

Aber Meister Naylor stand auf und sagte – entschieden und vernünftig: »Wir wollen uns auf den Weg machen.«

»Weder Sonnenschein noch der Tag dauern ewig«, stimmte Schwester Emma zu, »also wandert, solange es währt.«

Irgendwann in ihrer Kindheit hatte sie ein Buch mit Sprichwörtern gelesen, und sie zeigte gern, an wie viele davon sie sich noch erinnerte. Jetzt sprang sie auf die Füße und machte sich daran, ihr schwarzes Ordensgewand in Ordnung zu bringen. Sie wischte tatsächlich vorhandene und eingebildete Krümel weg und zupfte ihren Schleier zurecht. Frevisse, die wusste, was jetzt kam, erhob sich langsamer. Sie hatten bereits heute Morgen auf dem Hof des Klosters die Prozedur durchgestanden, Schwester Emma auf ihr Pferd zu helfen. Jetzt würde die Quälerei von neuem beginnen.

Schwester Emma beharrte aufgeregt darauf, dass Meister Naylor zunächst sämtliche Sattelgurte und das Zaumzeug ihres Pferdes überprüfte, um sicherzugehen, dass nichts lose war. Dann sollte er prüfen, ob das Pferd auch gut angebunden war und nicht ausbrechen konnte. Sie hatte sich für einen Damensattel entschieden, auf dem sie seitlich und damenhaft sitzen konnte, aber da sie etwas klein geraten und rundlich war, konnte sie ohne einen besonders hohen Aufsteigeblock nicht aufsitzen. In St. Frideswide hatte es einen gegeben, im Dorf nicht, und so würde Meister Naylor sie um die Taille fassen und in den Sattel heben müssen.

Frevisse erwartete, dass Schwester Emma sich längere Zeit mit missglückten Anläufen, Instruktionen und Kicheranfällen wegen der Unschicklichkeit des Ganzen aufhalten würde, bevor sie Meister Naylor seine einfache Aufgabe ausführen ließ. Aber der umfasste sie fest mit beiden Händen, hob sie schnell hoch und ließ sie wenig anmutig auf ihren Sattel sinken, noch bevor sie anfangen konnte, herumzuzappeln. Überrascht und leicht erschüttert starrte Schwester Emma ihn an. Für kurze Zeit fehlten ihr die Worte.

Meister Naylor wandte sich Frevisse zu, die neben ihrem Pferd stand und mit unpassender Heiterkeit zugesehen hatte. Sie schüttelte den Kopf. Ein Stalljunge hatte ihr die Zügel gehalten, als sie heute Morgen aufgestiegen war, aber jetzt fühlte sie sich sicherer: Alte Fertigkeiten waren zurückgekehrt. Sie hatte um einen gewöhnlichen Sattel gebeten, einen, der ihr erlaubte, im Herrensitz zu reiten, wie sie in ihrer Kindheit geritten war und auch später, als sie in die Obhut ihres Onkels Thomas Chaucer gekommen war. Thomas Chaucer wusste mehr als die meisten anderen über die Manieren der höchstgeborenen Personen Englands und fand ebenfalls, dass Sicherheit und ein guter Sitz auf dem Pferd wichtiger waren als die Mode. Frevisse nahm die Zügel in die Hand und schwang sich in den Sattel. Sie ignorierte Schwester Emmas Missfallensäußerungen ebenso vollständig, wie sie es heute Morgen getan hatte. Sie lächelte Meister Naylor an und entdeckte ein winziges Lächeln um seine Mundwinkel, als er ihr zunickte und zu seinem Pferd ging.

Der Wald war nicht mehr weit entfernt. Sie näherten sich ihm erfreut und waren dankbar für den Schatten, als sie hineinritten. Schwester Emma rief aus: »Was für ein Segen, aus dieser schrecklichen Sonne herauszukommen. Oh, es ist so schön hier, so grün und kühl. Reiten wir kurz oder lange durch den Wald, Meister Naylor? Was für ein schrecklicher Gedanke, dass wir es gerade angenehm haben und dann wieder hinausmüssen. Wie ist es, Meister Naylor?«

Mit Mühe raffte sich der Verwalter zu einer Antwort auf. »Wie ist was, Mylady?«

»Ist der Weg durch den Wald lang oder kurz? Ich möchte wirklich nicht mehr hinaus in die Sonne.«

»Wir werden bis fast zum Schluss durch Wald reiten.«

»Wirklich ein Segen«, fuhr Schwester Emma fort. »Dennoch, Mai, kühl und nass, füllt dem Bauern Scheuer und Fass. Jedenfalls habe ich es so in Erinnerung …«

Frevisse hörte nicht mehr zu. Da war der neue Reiz des Waldes zu genießen, und das tat sie. Wie das Gesetz es verlangte, war das Unterholz auf beiden Seiten der Straße entfernt worden, damit niemand, der eventuell Ärger machen wollte, sich dort verstecken konnte. Aber die großen Bäume hatte man stehen lassen, damit die Straße zum Wohle der Reisenden schattig blieb. Das Sonnenlicht war sanfter unter den grünen Zweigen, und der Hufschlag der Pferde und das Knarren des Zaumzeugs klangen gedämpft. Geißblatt rankte in dem langen Gras am Rand des Weges, und obwohl jetzt am frühen Nachmittag keine Vögel mehr sangen, flog dann und wann einer lautlos über den Weg, und es raschelte im Laub.

Sie waren einige Meilen in den Wald hineingeritten und hatten gerade einen Bach überquert, als Meister Naylor plötzlich aufmerksam den Kopf hob und nach seinem Schwert griff. »Da kommen Leute.«

»Oh, wie wundervoll!«, rief Schwester Emma aus. »Bis jetzt sind wir so gut wie niemandem begegnet. Wird es nicht nett sein, andere Leute zu treffen und ihnen einen guten Tag und Gottes Segen zu wünschen? Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, so heißt es.«

Frevisse seufzte über dieses unpassende Zitat und dachte, dass es auch hieß, ein kluger Mann verberge seine Weisheit, während ein Narr seine Dummheit laut herausrufe.

Eine Wegbiegung und Bäume hatten die anderen Reisenden vor ihrem Blick verborgen, bis sie fast vor ihnen standen, aber jetzt waren sie deutlich zu erkennen. Es waren vier Männer mit Bündeln auf dem Rücken, alle zu Fuß, Bauern, ihrem Aussehen nach zu urteilen. Sie stapften mühsam dahin, als wären sie bereits Meilen gelaufen und hätten noch viele Meilen vor sich. Wahrscheinlich hatte ihr Lehnsherr sie losgeschickt, um einen Auftrag zu erfüllen, der keine besseren Leute rechtfertigte, dachte Frevisse. Sie nahm Meister Naylors misstrauischen Blick auf die Männer wahr, während er und Frevisse ihre Pferde an den Wegesrand lenkten, um ihnen nicht die Straße zu versperren. Die Männer wichen ebenfalls aus und gingen hintereinander im Gänsemarsch, die Köpfe immer noch gesenkt.

Schwester Emma, ohnehin eine schlechte Reiterin, was durch den unpraktischen Damensattel noch verschlimmert wurde, war zurückgefallen, als Frevisse ihr Pferd zur Seite lenkte, schaffte es aber nicht, den Männern den Weg freizumachen. Frevisse drehte sich im Sattel um und sah Schwester Emma stirnrunzelnd an, während der erste der Männer ihr Pferd passierte. Um an Schwester Emmas Tier vorbeizukommen, würde er an den äußersten Rand der Straße ausweichen müssen.

Aber plötzlich, zu schnell für jede Warnung, ließ er sein Bündel fallen, richtete sich auf und griff nach den Zügeln von Schwester Emmas Pferd. Fast im selben Augenblick warfen die drei anderen Männer ihre Bündel in den Staub und setzten sich abrupt in Bewegung; einer packte die Zügel von Frevisses Pferd, die anderen beiden machten einen Satz auf Meister Naylor zu. Frevisse riss den Kopf ihres Pferdes zur Seite und versuchte, es anzutreiben, um den Mann niederzureiten. Aber das Pferd war für das Nonnenkloster gezüchtet und übertrieben sanftmütig. Es scheute, bäumte sich auf, und der Mann hatte es am Zügel. Frevisse versuchte, nach ihm zu treten, aber ihre Röcke behinderten sie. Er wich aus, ohne seinen Griff zu lockern, und grinste zu ihr auf.

Meister Naylor, der mit zwei Gegnern zu kämpfen hatte, saß nicht mehr im Sattel. Einer der Männer hatte sein Bein gepackt, ihn mit einer einzigen Bewegung aus dem Sattel gewuchtet und ihn auf der anderen Seite des Pferdes zu Boden geschleudert, während der vierte Mann sich unter dem hochgeworfenen Kopf des Pferdes hindurchduckte und sich auf ihn warf. Schwester Emma, die die Augen geschlossen hatte und die Hände gegen die Wangen gepresst hielt, begann mit schriller Stimme »Hilfe, o Jesus, Hilfe, Hilfe, süße Jungfrau, Hilfe, Hilfe!« zu kreischen.

Der Mann, der Frevisses Zügel gepackt hielt, griff nach ihrem zutretenden Fuß und rief: »Ruhig, Schwester, ruhig! Wir wollen Euch nichts Böses! Ruhig, um der Gnade Gottes willen!«

Er war schlecht gekleidet und schmutzig, und sein roter Hut war speckig, aber seine Stimme verriet, dass er kein Bauer war. Deswegen und weil er sie nicht mit einer Waffe bedrohte, zögerte Frevisse und hörte auf, sich zu wehren. Im selben Augenblick hörte Schwester Emmas Geschrei abrupt auf. Frevisse fuhr heftig herum und sah, wie sie schlaff aus dem Sattel rutschte. Der Mann neben ihr blickte voller Panik erst sie an und dann das Pferd, unsicher, ob er das Pferd loslassen sollte, um die Nonne aufzufangen. Etwas verspätet versuchte er beides zu tun, aber es war zu spät. Schwester Emma entglitt seinem Griff, fiel mit einem hässlichen, dumpfen Geräusch zu Boden und lag still.

Der Mann neben Frevisse nutzte ihre Schrecksekunde aus, ließ ihr Pferd los, packte sie bei den Röcken und zog sie aus dem Sattel. Das befreite Pferd bekam endlich Angst, scheute und warf den Kopf hoch, um die Hufe von den Zügeln zu befreien. Frevisse klammerte sich an dem Mann fest, um nicht kopfüber vom Pferd zu fallen, kam auf die Füße, versetzte ihm einen Stoß und versuchte, ihn zu schlagen. Er packte ihre Handgelenke. »Steht still!«, befahl er. »Wir haben den Verwalter und die andere Nonne. Wohin könntet Ihr laufen? Steht still!«

Frevisse blieb stehen und wappnete sich gegen seinen Griff. Schwester Emma lag regungslos mitten auf der Straße, Meister Naylor mit dem Gesicht nach unten am Wegrand. Ein muskulöser Mann saß rittlings auf ihm und verdrehte ihm den Arm. Der vierte Angreifer stand über ihm, Meister Naylors Schwert in der Hand.

»Gebt auf«, befahl der Mann, der Naylor festhielt. »Wir wollen Euch oder den Schwestern nichts Böses. Ergebt Euch. Ihr habt keine andere Wahl.«

Naylor, das Gesicht weiß und schmerzverzerrt, nickte. Der Mann lockerte seinen Griff, stand auf und stellte sich neben ihn. Naylor verzog das Gesicht, rollte sich zur Seite und setzte sich auf. Er betastete kurz seinen Arm, bevor er auf die Füße kam. Der bewaffnete Mann, der ihn gefangen genommen hatte, war einen halben Kopf größer als er, war mit etlichen Pfund mehr Muskeln ausgestattet und hatte zudem sein Schwert. Aber Naylor trat ihm mutig entgegen und fragte scharf: »Was wollt ihr? Das sind Nonnen, um Himmels willen. Ihr seid verdammt, wenn ihr ihnen ein Leid zufügt. Wir haben wenig, was sich zu rauben lohnt, und das Lösegeld, das ihr für uns bekommen werdet, ist kaum der Mühe wert.«

»Wir wissen, wer Ihr seid, und wir wollen weder Lösegeld noch Euch berauben.« Der Mann sah rauer aus und hatte ein gröberes Auftreten als jener, der immer noch Frevisse festhielt, aber es war nichts Bedrohliches in seinem Ton. Er grinste. »Alles, was wir wollen, ist, dass Ihr uns bei unserem Festmahl im grünen Wald Gesellschaft leistet. Unser Hauptmann hat uns gesandt, um Euch zu holen.«

Meister Naylors Miene spiegelte seinen Unglauben wider. »Und der Name eures Hauptmanns ist vermutlich Robin Hood?«

Das Grinsen des Mannes wurde breiter. »Wenn es ihm passt. Und das dort ist Little John, jener, der über der gefallenen Dame steht und nicht weiß, was er mit ihr machen soll. Und Will Scarlet hält die andere.« Er verneigte sich kurz und durchaus respektvoll vor Frevisse und wandte sich dann an den Mann neben ihm. »Hal, nimm ihm auch den Dolch ab, und dann lass uns von hier verschwinden.«

»Will nicht mal jemand kommen und nach der hier sehen?«

Die ziemlich klägliche Bitte des Geächteten, der immer noch Schwester Emmas Pferd hielt, bewog Frevisse, sich gegen den Griff des Mannes zu sträuben, der sie ergriffen hatte. »Lasst mich zu ihr gehen.«

Der Mann ließ sie prompt und mit einer angedeuteten Verbeugung los. Frevisse kniete neben Schwester Emma nieder und stellte fest, dass deren Atem verdächtig gleichmäßig ging und ihre Gesichtsfarbe normal war. Frevisse gab ihr einen Klaps auf die Wange, der etwas heftiger ausfiel, als notwendig, und sagte forsch: »Aufwachen, Schwester. Wacht auf, oder es bleibt mir nichts anderes übrig, als Euch Wasser ins Gesicht zu schütten und Euren Schleier zu ruinieren. Ihr könnt nicht hierbleiben. Aufwachen.«

Unter leisem Stöhnen und viel Geklimper mit den Wimpern reagierte Schwester Emma, sah erst Frevisse an, die sich über sie beugte, und dann den Mann, der hinter ihr stand. Mit einem mitleiderregenden Stöhnen wandte sie das Gesicht ab und schloss wieder die Augen. »Oh, es ist kein Alptraum. Wir sind ruiniert, Schwester Frevisse. Ruiniert!«

Kurz und schroff sagte Frevisse: »Das bezweifle ich.« Was immer diese Männer vorhaben mochten, Vergewaltigung schien es jedenfalls nicht zu sein, nicht einmal Raub. Aber Hal hatte jetzt Meister Naylors Dolch, und das Schwert war immer noch auf die Brust des Verwalters gerichtet, und keiner der Männer sah sonderlich geduldig aus. Der große Mann sagte: »Wir können nicht den ganzen Nachmittag hier auf der Straße zubringen. Helft ihr auf, und dann gehen wir.«

Frevisse nickte, erhob sich und zog Schwester Emma am Arm hoch. Little John – und Frevisse bezweifelte stark, dass das sein richtiger Name war – nahm Schwester Emmas anderen Arm. Sie schrak vor ihm zurück und gab kleine Laute der Verzweiflung und der Furcht von sich, wehrte sich aber nicht.

»Also kommt, Schwester«, sagte der Mann nicht unfreundlich. »Lasst uns gehen.« Er grinste und fügte hinzu: »Willkommen im Sherwood Forest!«

Kapitel 2

Der Mann namens Hal entschied, sich Meister Naylors anzunehmen. Er nahm dem Verwalter den Schwertgurt ab, schnallte ihn um seine eigenen Hüften und schob das Schwert mit befriedigter Miene in die Scheide. Aber den Dolch hielt er weiter auf Naylors Rücken gerichtet, während zwei andere Geächtete die Bündel, die sie fallen gelassen hatten, am Sattel eines der Pferde festzurrten und Little John die Frauen bewachte.

Da sie ohnehin nichts dagegen unternehmen konnte, stand Frevisse schweigend da, während Schwester Emma erst flehentlich darum bat, freigelassen zu werden, dann die Rache ihres Bruders auf jeden herabbeschwor, der sie anrührte, und die volle Härte des Gesetzes androhte, wenn man sie nicht augenblicklich weiterreiten ließ. Schließlich – als niemand ihren Worten Beachtung schenkte – begann sie laut zu weinen und klammerte sich trostsuchend an Frevisse.

Über Schwester Emmas Kopf hinweg sah Meister Naylor Frevisse fragend an. Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf, eine winzige ablehnende Geste. In Begleitung von Schwester Emma gab es keine Hoffnung auf ein Entkommen: Sie würde sie belasten wie ein Korb nasser Wäsche. Und ebenso nützlich sein. Frevisse achtete darauf, dass keiner der Geächteten in ihre Richtung sah, und bewegte lautlos die Lippen: »Geht Ihr.« Wenn es überhaupt eine Aussicht auf Entkommen gab, hatte Naylor die besten Chancen.

Mit grimmigem Gesicht schüttelte Meister Naylor den Kopf. Seine Pflicht verlangte von ihm, sie zu beschützen. Er würde sie nicht im Stich lassen, egal, wie wenig Hilfe er ihnen geben konnte. Und dann holte der Mann, der Frevisse gefangen genommen hatte, ein Seil aus einem der Bündel und fesselte Meister Naylor die Hände auf den Rücken, während Hal weiterhin den Dolch auf den Verwalter gerichtet hielt.

»Fertig, Cullum«, sagte der Geächtete.

Sie folgten der Straße nur ein kleines Stück und bogen dann in einen breiten grasbewachsenen Weg ein, der wahrscheinlich von Holzfällern benutzt wurde. Aber in dieser Jahreszeit fällte niemand Holz, und die Geächteten bewegten sich mit einer Sicherheit, die zeigte, dass sie nicht erwarteten, auf jemanden zu treffen. Als sie ein gutes Stück von der Straße weg waren, verschwand Will mit den zusammengebundenen Pferden im Unterholz.

»Bringt sie zurück«, jammerte Schwester Emma. »Er stiehlt unsere Pferde!«

»Sie bleiben in einem Versteck, bis Ihr sie wieder braucht«, erklärte Cullum kurz. »Ihr bekommt sie zurück. Jetzt lasst uns von hier verschwinden. Will wird uns später einholen.«

»Wir sollen zu Fuß gehen? Im Wald? Weißt du nicht, wie es im Wald aussieht? Wie kannst du von mir erwarten –«

Schwester Emmas Stimme war mit jedem Satz lauter geworden. Frevisse, die den Ausdruck auf Cullums Gesicht gesehen hatte, sagte hastig: »Still, Schwester. Seid still! Ihr werdet sie wütend machen. Ihr wollt doch nicht, dass sie wütend werden, oder?«

»Meine Brüder werden –«, begann Schwester Emma lautstark, und dann begriff sie, was Frevisse sagen wollte. Sie hielt inne, stand einen Augenblick mit weit offenem Mund da und schloss ihn dann mit einem hörbaren Schnappen. Sie zog den Kopf ein und begann zu beten, die Hände fest unter dem Kinn gefaltet. Aber lautlos.

»Gut«, sagte Cullum. Neben ihnen verband Hal Meister Naylor die Augen. Will kam zurück und bedeutete Cullum mit einer Geste, dass alles in Ordnung war. Cullum nickte. »Dann wollen wir aufbrechen. Du gehst hinter mir, Verwalter, und Hal wird dich führen. Dann kommen die Frauen. Will und John werden sich um sie kümmern. Nicht mehr Lärm als notwendig, sonst werden wir dich knebeln müssen, an eine Stange hängen und tragen wie den Kadaver eines Rehs, verstehst du?«

»Vollkommen«, antwortete Meister Naylor mit ruhiger Stimme.

Frevisse verwechselte seinen Ton nicht mit Unterwerfung, aber Cullum war zufrieden. »Gut.« Er ging voran, und sie verließen den breiten Weg und kamen auf einen schmaleren Pfad, der tiefer in den Wald führte. Frevisse, die mit ihren Röcken und dem langen Schleier in den Zweigen und dem Unterholz kaum vorwärts kam, war dankbar, dass zumindest ihre Augen nicht verbunden und ihre Hände nicht gefesselt waren. So wie sie angezogen waren, konnten sie und Schwester Emma nicht durch das Unterholz zu beiden Seiten des Weges fliehen, und die Geächteten wussten das.

Und ganz gewiss dachte Schwester Emma auch nicht an Flucht. Sie war zu beschäftigt damit, über alles zu stolpern, was ihr im Weg lag, ihren verhedderten Schleier von fast jedem Zweig zu lösen, an dem sie vorüberkam, und leise jedes Gebet herauszuschluchzen, an das sie sich erinnern konnte, ob es zu ihrer gegenwärtigen Notlage passte oder nicht.

Vor ihr schnellte ein Zweig an Cullums Schulter vorbei und peitschte Meister Naylor ins Gesicht. Er zuckte zusammen, gab aber keinen Laut von sich. Schwester Emma stolperte schon wieder. John griff nach ihrem Ellbogen, um sie zu stützen, aber sie riss sich indigniert los, strauchelte erneut und fiel mit einem jämmerlichen Aufschrei auf die Knie. Meister Naylor wollte sich umdrehen und begann scharf: »Was …«, aber Frevisse sagte schnell: »Es ist alles in Ordnung. Sie ist nur gestolpert«, bevor Hal ihm etwas antun konnte. Meister Naylor drehte sich wieder nach vorn, aber Schwester Emma jammerte vom Boden her: »Es ist nicht alles in Ordnung! Ich kann das nicht!«

Bevor einer der Männer einschreiten konnte, zischte Frevisse: »Still! Sie werden Euch knebeln, wenn Ihr so weitermacht. Seid still!«

Schwester Emma schluckte, warf einen schaudernden Blick auf John, der neben ihr aufragte, und ließ zu, dass Frevisse ihr auf die Füße half.

Sie gingen weiter. Frevisse tat so, als wäre sie völlig davon in Anspruch genommen, sich und Schwester Emma auf dem schmalen Saumpfad voranzubringen. Aber sie versuchte auch, sich den Weg zu merken, den sie nahmen – links an einem ausgetrockneten Bachbett entlang, rechts an einem gestürzten Baum vorbei, der sich in der Gabel eines anderen Baumes verfangen hatte, wieder links an einem großen, verwitterten Baumstumpf vorbei. Sie machen Umwege, dachte sie, und sie hatte Zweifel daran, dass sie es schaffen würde, den Weg zurück zu finden, selbst wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen sollte. Aber zumindest würde sie es versuchen.

Endlich erreichten sie eine große Lichtung. Sie war von hohen, alten Bäumen umgeben, das Sonnenlicht spielte in dem langen Gras, Blumen wuchsen, und der Duft brutzelnden Wildbrets durchzog die Luft. Ein halbes Dutzend grobgekleideter Männer war auf dem schattigen Grund verteilt. Einer saß auf einem großen Wurzelknorren auf der anderen Seite der Lichtung, klimperte leichthin auf einer Laute, offenbar so entspannt, dass er bei ihrer Ankunft nicht einmal aufsah. Die Übrigen sprangen auf die Füße, unsicher, wie sie auf die Anwesenheit zweier Nonnen in ihrer Mitte reagieren sollten. Außer einem, der mit einer Selbstsicherheit auf sie zukam, die deutlich zeigte, dass er der Anführer war.

Er war vielleicht um die vierzig. Er trug den einfachen grünen Rock eines Wildhüters, aber der Gürtel, sein Beutel und die Scheide des Jagdmessers, das an seiner Seite hing, waren aus feingegerbtem Leder. Er lächelte, und es war Charme in seinem Lächeln und in der Art, wie er zu Cullum sagte: »Nimm ihm die Binde ab. Das ist jetzt nicht mehr notwendig. Lass ihn selbst sehen, dass wir weder ihm noch diesen liebreizenden Damen etwas Böses antun wollen.«

Während er sprach, warf er einen schnellen, abschätzenden Blick auf Schwester Emmas ziemlich benommenes, feuchtes, von Tränen gerötetes Gesicht und dann auf Frevisse, die mit kalten Augen und gelassen neben ihr stand. Sein Lächeln vertiefte sich, und er ignorierte sowohl Meister Naylor als auch Schwester Emma und beugte das Knie vor Frevisse. »Liebe Cousine, ich bitte um Vergebung für die ungebührliche Art, auf der wir uns begegnen. Mir fiel keine bessere Alternative ein.«

Frevisse war auf eine Vielzahl von Möglichkeiten vorbereitet gewesen, aber auf diese nicht. Sie starrte ihn an.

Der Mann hob den Kopf. Ein wenig flehentlich sagte er: »Ihr erinnert Euch also überhaupt nicht an mich, Cousine?«

Frevisse begann den Kopf zu schütteln. Aber etwas an ihm – vielleicht der Übermut in seinen Augen, der nicht einmal während seines Bittens verschwand – weckte eine Erinnerung, und plötzlich war er ihr vertraut, sosehr er sich auch verändert hatte. »Nicholas!«, rief sie aus.

Der älteste Sohn des älteren Bruders ihres Vaters und tatsächlich ihr Cousin, auch wenn sie sich fast zwanzig Jahre nicht gesehen hatten.

Er sprang auf die Füße und streckte ihr die Hände entgegen. »Du hattest immer mehr Verstand, als drei andere Frauen zusammengenommen. Ich wusste, du würdest dich erinnern!«

In der Überraschung des Augenblicks streckte Frevisse ihm ebenfalls die Hände entgegen. »Natürlich erinnere ich mich! Es war bei Onkel Thomas. Du hast eine ganze Zeit in seinem Haushalt gelebt, von Michaelis bis nach Weihnachten.« Und er war in Ungnade fortgeschickt worden, erinnerte sie sich, wegen zu vieler Scherze und Frechheiten und des Versuchs, eine Dienstmagd zu verführen.

Ganz offensichtlich war dieser Skandal Nicholas nicht im Gedächtnis geblieben. Er grinste sie breit an und hielt ihre Finger in seinen harten, starken Händen. »Du warst damals ein so ernsthaftes Geschöpf, hast dich ständig in Onkel Thomas’ Bibliothek versteckt, auch wenn Tante Matilda sich noch so große Mühe gegeben hat, dich da rauszuholen. Bist du immer noch so ernsthaft?«

»Bist du immer noch ein Schurke mit einer losen Zunge?«, gab Frevisse zurück.

Nicholas warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Ja! Ja, das bin ich in der Tat!«

»Und Ihr konntet keinen anderen Weg finden, ein Familientreffen zu organisieren?«, fragte Meister Naylor trocken und mit harter Stimme.

Nicholas sah ihn erstaunt an, als hätte er vergessen, dass außer ihm und Frevisse noch jemand da war. Sein Verhalten änderte sich schnell und wurde entschuldigend. »Es war falsch von mir, Euch so zu vernachlässigen, Sir. Und Euch, gute Dame.« Er richtete sein Lächeln auf Schwester Emma, die, überwältigt von den Überraschungen des Augenblicks, in wortlosem und tränenlosem Staunen erst ihn angestarrt hatte, dann Frevisse und wieder ihn. Aber als er sich elegant vor ihr verneigte, erholte sie sich und wandte sich naserümpfend und mit zitterndem Kinn ab.

Nicholas’ Lächeln wurde reumütig. »Ihr seid in der Tat schändlich behandelt worden, edle Dame. Lasst es mich wiedergutmachen, ich bitte Euch.« Er trat zurück, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und verneigte sich schwungvoll vor den dreien. »Mit Eurer gnädigen Erlaubnis, werter Herr, meine liebreizenden Damen, möchte ich Euch jetzt zu unserem Festmahl einladen. Wir dinieren nicht sehr elegant, aber das Essen ist gut, und ich schwöre Euch, Ihr könntet auch im hochgestelltesten Haus des Landes nicht respektvoller empfangen werden.«

Frevisse blickte betont auf Meister Naylors gefesselte Hände. Nicholas verstand und winkte Cullum herbei. »Binde ihn los! Er weiß jetzt, dass wir nichts Böses im Sinn haben. Ich habe meinen Eid darauf gegeben, und zudem bin ich Schwester Frevisses Cousin. Er wird uns keine Schwierigkeiten machen. Nicht wahr, Mann?«

»Fügt den Damen kein Leid zu, dann mache ich Euch auch keine Schwierigkeiten.«

Nicholas hob bereitwillig die Hand und schwor: »So wahr ich um Gottes Gnade bete, wird ihnen kein Leid geschehen, vor dem ich sie bewahren könnte.«

Meister Naylor rieb sich die Handgelenke, auf denen die roten Spuren der Fesseln zu sehen waren, und betrachtete ihn kalt. Nicholas wandte sich an Frevisse. »Das Festmahl wird bald bereitet sein. Wirst du dich mit mir unterhalten, bis es so weit ist?«

Anstatt zu antworten, blickte Frevisse an ihm vorbei auf den Lautenspieler, der immer noch auf der anderen Seite der Lichtung vor sich hin klimperte. Er saß über seine Laute gebeugt da, das Gesicht halb verborgen. Aber er machte den Eindruck, als würde er ebenso angespannt wie seine Kameraden alles verfolgen, was gesagt wurde.

»Ich kenne ihn von irgendwo«, murmelte Frevisse.

Nicholas drehte sich um, um festzustellen, wen sie ansah, und zuckte die Achseln. »Das bezweifle ich, es sei denn, Eure Priorin lässt gelegentlich fahrende Minnesänger für ihre Nonnen aufspielen.«

Das tat Priorin Edith nun ganz gewiss nicht. Aber Frevisse war die Schwester Hospitalaria des Klosters und für die Unterbringung der Gäste zuständig, die, wie es die benediktinische Klosterregel verlangte, in jedem Kloster aufgenommen wurden. Der Lautenspieler konnte gut irgendwann einmal die Nacht in St. Frideswide verbracht haben.

Das Gefühl war so stark, dass sie hingegangen wäre, um mit ihm zu sprechen, wenn Nicholas sie nicht zu einer Decke geführt hätte, die am Fuße des größten Baumes ausgebreitet worden war. Schwester Emma machte Anstalten, ihnen zu folgen, aber einer der Geächteten vertrat ihr den Weg. Einen Augenblick lang drohten Tränen, doch dann nahm Meister Naylor ihren Arm und sprach ihr schnell ins Ohr, während er dem Geächteten zu einem anderen Baum und einer anderen Decke folgte. Nachdem Frevisse sich überzeugt hatte, dass mit den beiden alles in Ordnung war, wandte sie ihre Aufmerksamkeit Nicholas zu.

Er machte eine einladende Geste. »Bitte setz dich doch.«

Dankbar sank Frevisse auf die Decke nieder. Es war einmal eine schöne Decke gewesen, dick und dicht gewebt, aber durch die starke Beanspruchung war sie schmuddelig geworden. Nicholas setzte sich neben Frevisse auf eine Baumwurzel, die Hände zwischen den Knien gefaltet. Einen Augenblick lang sahen sie einander an.

Frevisse erinnerte sich, wie er gewesen war, als sie jung waren. Er war groß gewesen und war es immer noch, obwohl er mittlerweile etwas gebeugt ging. Er war schlank gewesen, jetzt war er hager. Sein braunes Haar war immer noch dicht, aber sie konnte die Anfänge einer Stirnglatze sehen, und seine Locken waren von ein paar grauen Strähnen durchzogen. Immer war ein Lachen in seinen Augen verborgen gewesen, selbst in den Momenten, die seine ernstesten hätten sein sollen, und das Lachen war immer noch da. Aber da war auch Müdigkeit, und tiefe Falten um den Mund und die Augen. Er war älter geworden, und mit Ausnahme des heimlichen Übermuts in seinen Augen hatte er sich sehr verändert.

»Du siehst ernster drein, als du müsstest, Cousine.«

Früher hatte er genauso auf sie heruntergegrinst, wenn er sie neckte, damit sie nicht mehr wütend auf ihn war. Im Moment war sie nicht wütend auf ihn, und sie war auch nicht in der Stimmung, sich necken zu lassen. »Die Erinnerung an früher und daran, wie ein Vogelfreier aus dir geworden ist, reicht aus, um einen ernst werden zu lassen.«

»Ah.« Nicholas blickte zur Seite. »Ich habe Fehler gemacht, und dann noch mehr Fehler. Manche Leute – besonders mein Vater – haben immer gesagt, ich würde eines Tages zu weit gehen. Das habe ich getan. Ich bezahle seit langer Zeit dafür.«

»Fast sechzehn Jahre.«

»So lange?« Er sah ein wenig erschrocken aus, als er darüber nachdachte, und dann stimmte er ihr zu. »Ja. Das stimmt, nehme ich an. Du hast immer dazu geneigt, recht zu haben. Daran erinnere ich mich.«