Die Knaben. Mord im Jahr des Herrn 1436 - Margaret Frazer - E-Book

Die Knaben. Mord im Jahr des Herrn 1436 E-Book

Margaret Frazer

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Beschreibung

In höchster Not sucht eine dunkle Dame Zuflucht im Kloster St. Frideswide. Bei sich hat sie zwei kleine Jungs, an denen der Hauch von Tod und Skandalen zu haften scheint. Sind es wirklich ihre Söhne, so wie sie es behauptet? Schwester Frevisse hat da ihre Zweifel. Bald schon wird deutlich, dass die Mächtigsten des Landes ein Interesse an den Knaben haben. Je mehr Schwester Frevisse die Fäden um die seltsame Reisegesellschaft entwirrt, desto klarer wird ihr, dass manche Geheimnisse besser ungelüftet bleiben. Und diese könnten das ganze Kloster ins Verderben stürzen ...

Eine unvergleichliche Detektivin - Schwester Frevisse, die Miss Marple des Mittelalters.

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Seitenzahl: 345

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Über Margaret Frazer

Margaret Frazer lebt mit ihren vier Katzen und viel zu vielen Büchern in der Nähe von Minneapolis, Minnesota. In den USA hat sie sich mit ihrer Serie um Schwester Frevisse über viele Jahre ein Millionenpublikum erschrieben.

Olaf M. Roth, geb. 1965, studierte Romanistik und Germanistik. Er übersetzt aus dem Französischen, Italienischen und Englischen, außerdem arbeitet er als Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Theater Kiel. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören u.a. Bernard-Henri Lévy, Tiziano Scarpa, Jim Dodge, Samuel Benchetrit, Michel Bussi.

Informationen zum Buch

In höchster Not sucht eine dunkle Dame Zuflucht im Kloster St. Frideswide. Bei sich hat sie zwei kleine Jungs, an denen der Hauch von Tod und Skandalen zu haften scheint. Sind es wirklich ihre Söhne, so wie sie es behauptet? Schwester Frevisse hat da ihre Zweifel. Bald schon wird deutlich, dass die Mächtigsten des Landes ein Interesse an den Knaben haben. Je mehr Schwester Frevisse die Fäden um die seltsame Reisegesellschaft entwirrt, desto klarer wird ihr, dass manche Geheimnisse besser ungelüftet bleiben. Und diese könnten das ganze Kloster ins Verderben stürzen …

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Margaret Frazer

Die Knaben

Ein Kriminalromanaus dem Mittelalter

Aus dem Amerikanischen vonOlaf Matthias Roth

Inhaltsübersicht

Über Margaret Frazer

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Impressum

Is this to yow a thyng that is honest,

That swich a boy shal walken as hym lest

In youre despit …?

Scheint Euch dies redlich denn zu sein,

Dass – wie es ihm beliebt – ein Knäbelein

Euch zum Hohne wandle auf und ab …?

THE PRIORESS’S TALE

Geoffrey Chaucer

Der warme Sommernachmittag neigte sich seinem Ende zu. Sie waren fast ohne Pause geritten, seit es hell genug war, um den Weg zu erkennen. Die Pferde waren müde und Jasper auch, doch es bestand wenig Hoffnung, dass Sir Gawyn sie bald rasten ließ. In diesen Junitagen ging die Sonne frühzeitig auf und erst spät unter, und wenn sich heute wiederholte, was gestern und vorgestern geschehen war, würde Sir Gawyn sie weiterreiten lassen, bis es beinahe zu finster war, um den Weg auszumachen. Und dann würde er sie vielleicht wieder unter einer Hecke schlafen lassen, so wie letzte Nacht, anstatt nach einer Herberge oder einem vernünftigen Platz zum Übernachten zu suchen.

Es hatte ein großartiges Abenteuer zu werden versprochen, als alles vor zwei Tagen ganz unerwartet begann. Edmund und er waren beim Nachmittagsunterricht gewesen. Master John hatte wie gewöhnlich endlos lateinische Deklinationen heruntergeleiert, während Jenet mit ihrer Näharbeit auf der anderen Seite des Raumes saß. Noch eine Stunde, und sie waren erlöst, hatte Jasper gedacht und einen bewegungslosen Schatten auf dem Fensterbrett betrachtet.

Dann war Mistress Maryon plötzlich hereingekommen, gefolgt von zwei Bediensteten. Ihr oblag die tägliche Aufsicht der Dienerschaft, und niemand hatte ihr widersprochen, als sie auf die Kleiderschränke der Knaben an der Wand deutete und »Alles da einpacken, beeilt euch!« sagte, sich dann zu Jenet umwandte und ihr befahl: »Pack auch du dir Kleidung zum Wechseln ein, sowie alles, was Ihre Gnaden für eine Reise von ein paar Tagen brauchen werden. Du hast eine Viertelstunde Zeit, nicht länger.« Und dann zu Master John gewandt: »Ihr seid entlassen. Ihr Unterricht ist zu Ende.«

Mistress Maryon hatte immer einen etwas herrischen Ton an sich. Jedermann war daran gewöhnt, vor allem Jasper und Edmund, da sie ständig in ihrer Obhut waren. Mutter und Vater waren meistens sehr beschäftigt und konnten sich nicht immer um sie kümmern. An manchen Tagen wurden sie und ihr kleiner Bruder Owen, der eigentlich noch ein Baby war und seine eigene Mistress, Gertrude, hatte, quer durch das ganze Schloss in einen ganz anderen Flügel gebracht und mussten dort bleiben, ohne die Mutter, den Vater oder sonst irgend jemanden zu Gesicht zu bekommen. Das waren Tage, an denen sie auch nicht nach draußen durften, nicht einmal, um im Garten zu spielen, weil ihre Eltern wichtige Dinge zu erledigen hatten und keinesfalls auch nur durch einen kurzen Blick auf ihre Kinder abgelenkt werden durften! Die Kinder fanden es aber gar nicht so schlimm, denn wenn es vorüber war und sie wieder in ihre alten Zimmer durften, waren Mutter und Vater immer so wunderbar fröhlich, man spielte zusammen, es gab besondere Speisen, Gelächter – Mutter konnte so herrlich lachen – und Gesang – Vater sang besser als jeder andere. Dadurch wurde die vorübergehende Trennung schnell wieder wettgemacht.

Doch diesmal starrte Master John Mistress Maryon mit einem Blick an, als sei er verrückt geworden, und sagte dann: »Das kann doch nicht wahr sein.«

»Es ist wahr, und ich weiß nicht, warum wir deshalb überrascht sein sollten. Ich weiß auch nicht, wieviel Zeit uns bleibt, aber wir tun gut daran, uns zu beeilen.« Master John bekreuzigte sich und murmelte: »Gott sei mit uns.«

Aber Mistress Maryon drehte sich schon zu Jenet um, die ebenso einfältig und ungläubig dreinsah, und herrschte sie an: »Beweg dich! Und heul nicht. Und Ihr zwei auch nicht«, fügte sie, an Jasper und Edmund gewandt, hinzu. »Wir haben keine Zeit für Tränen, niemand von uns.«

Es waren keine Tränen geflossen. Edmund und er hatten auch keinen Grund dafür gesehen. Tatsache war, dass ihnen der Unterricht erspart blieb. Offensichtlich sollten sie verreisen. Abgesehen von der näheren Umgebung des Schlosses waren sie noch nirgendwo gewesen, nur ein paarmal bei den Wiesen am Fluss, um ihren Eltern bei der Beizjagd zuzusehen, und einmal im Mai dieses Jahres am Waldrand, um den Sommerbeginn zu feiern. Doch der Art und Weise nach zu schließen, wie die Bediensteten Kleider in die Taschen stopften und Mistress Maryon im Raum umherblickte, als sei sie unschlüssig, was mitzunehmen und was hierzulassen sei, handelte es sich diesmal um etwas anderes als nur einen kurzen Ausritt jenseits des Burgtors, der mit Einbruch der Nacht beendet wäre.

Edmund und er hatten sich angesehen, hatten gegrinst und ihre Umhänge samt einiger notwendiger Kostbarkeiten aus der kleinen Truhe unter ihrem Bett hervorgeholt. Edmund hatte die Fesseln eingesteckt, die er vom Falkner als Symbol für den Wanderfalken, den er eines Tages sein eigen nennen sollte, bekommen hatte. Jasper nahm das verzierte Ortband mit, das bei der Reparatur von Vaters Schwertscheide abgebrochen war. Es war mit verschlungenen Weinreben und Blättern verziert, und er hatte es auf Hochglanz poliert, denn es war zwar alt und verbeult, doch aus echtem Silber – und es hatte Vater gehört. Schließlich hatte Edmund, ohne lange zu fragen, das Schwert umgeschnallt, das Vater ihm letzten Winter zum Geburtstag geschenkt hatte. Jasper hatte ihn zweifelnd angesehen, doch Edmund hatte die Hand fest auf den Griff gelegt und gesagt: »Wenn das eine richtige Reise ist, werden wir es vielleicht brauchen.«

Jasper stritt selten mit Edmund und tat es auch jetzt nicht, er bedauerte nur, nicht selbst ein Schwert zu besitzen. Sie waren einander in Größe und Aussehen so ähnlich – mit den grauen Augen, der hellen Haut und den rotbraunen Haaren, die säuberlich auf Höhe der Ohren abgeschnitten waren –, dass man sie leicht verwechseln konnte, wenn man nur einen von ihnen sah. Wenn man allerdings beide vor sich hatte, war es offensichtlich, dass Edmund einen halben Kopf größer und von schlankerem Wuchs war als Jasper. Er machte zudem einen aufgeweckteren Eindruck als sein Bruder, und obwohl es für ihn – wie auch für Jasper – außer Frage stand, dass sie einander in allem beistehen würden, behielt er doch stets den Vorsprung im Auge, den ihm seine sechs Jahre vor Jasper sicherten, der erst fünf war. Doch manchmal waren die elf Monate, die sie trennten, entscheidend, so wie jetzt zum Beispiel, denn er hatte ein Schwert und Jasper keines. Falls Mistress Maryon das Schwert bemerkt hatte, so sagte sie nichts. Sie befahl statt dessen Jenet und den beiden Dienern, nach unten zu gehen, wo die Pferde im Hof warteten. »Ihr müsst Euch jetzt noch von Eurer Mutter verabschieden. Schnell. Was für ein Jammer, dass Euer Vater fort ist«, sagte sie dann zu Jasper und Edmund.

Als sie die beiden aus dem Zimmer führte, Edmund eifrig an ihren Fersen, Jasper dicht an Edmunds, hatte sich Jasper noch einmal zu Master John umgedreht, der noch immer neben dem Pult stand. Er war ein strenger Lehrer, doch nie strenger als nötig, und zeigte sich oft verständnisvoll, wenn Jasper oder Edmund ein ernsthaftes Problem hatten. Jasper tat der Lehrer leid, weil er mit seinen Büchern zurückbleiben musste, während sie ein Abenteuer erwartete. Deshalb hob er die Hand zum Abschied. Bestimmt verhieß dieser plötzliche Aufbruch ein Abenteuer! Doch der Anblick der Tränen, die Master John über die Wangen liefen, ließ Jaspers Hand erstarren. Master John hatte noch nie zum Abschied geweint! Jasper führte seine Handbewegung nicht zu Ende, drehte sich um und lief davon, beunruhigt von dem Anblick.

Und als sie dann die Mutter im Schlafzimmer aufsuchten, war sie allein, ohne eine Hofdame, was auch seltsam war. Eine so hochstehende Dame wie sie war niemals ohne Begleitung. Und doch war es diesmal so, sie stand allein in der Mitte des Raumes, und als Edmund und er näher traten und sich wie immer tief verbeugen wollten, wartete sie nicht ab, sondern warf sich auf die Knie und zog ihre Söhne an sich. Edmund, der sich der Anstandsregeln stets bewusst war, auch wenn er sie nicht immer befolgte, wich einen Moment lang zurück. Jasper hingegen, der eine Zuneigung immer erwiderte, kuschelte sich, ohne zu zögern, an sie. Er liebte ihre süße Wärme. »Meine Lieblinge!« Sie hatte erst den einen und dann den anderen geküsst und dies daraufhin der Gerechtigkeit halber in umgekehrter Reihenfolge wiederholt. »Und noch ein Kuss! Ihr geht jetzt weit fort mit Mistress Maryon und Sir Gawyn, und ihr müsst alles tun, was sie euch sagen, und tapfere Ritter sein.«

Jasper wollte fragen, warum sie fortgingen, doch Edmund war wie üblich der Anführer und fragte: »Wohin gehen wir denn?«

»Weit weg, dorthin, wo euer Vater geboren wurde. Erinnert ihr euch an die Geschichten, die er euch erzählt hat? Dorthin werdet ihr reisen.«

»Nach Wales?« fragte Jasper ungläubig. Wales mit seinen Bergen, seinen Drachen und seinem Zauber? Vaters Erzählungen hatten in ihm schon lange den Wunsch geweckt, dorthin zu reisen, doch man hatte ihm gesagt, er müsse warten, bis er erwachsen sei.

»Nach Wales«, bestätigte die Mutter. »Aber ihr dürft nicht darüber sprechen, nicht einmal miteinander, bis ihr sicher dort angelangt seid. Gebt ihr mir das Ehrenwort tapferer Ritter?«

Dies war ein gewöhnlicherer Eid als diejenigen, die sie aus Geschichten kannten. Sie nickten eifrig, und die Mutter küsste sie wieder, stand dann auf und sagte über ihre Köpfe hinweg zu Mistress Maryon: »Owen ist schon fort.«

»Wohin denn?« fragte Edmund eifersüchtig. Wie konnte Owen auf Abenteuerreise gehen wie er und Jasper, wo er doch noch eine Amme hatte?

»Er ist in der Kirche«, sagte Mistress Maryon, bevor ihre Mutter antworten konnte. »Um für Euch zu beten, geradeso, wie Ihr für ihn beten müsst.«

»Müssen wir auch beten, bevor wir losreiten?« Das war ein ritterlicher Brauch, doch Edmund wurde bei dem Gedanken daran ungeduldig.

»Nein, aber später müsst ihr beten«, sagte ihre Mutter. »Für euren Bruder, für mich und für euren Vater.« Jasper hatte mit Staunen bemerkt, dass Tränen in ihren Augen schimmerten, während sie sprach. Seine Mutter, die so schön und fröhlich war und immer nach Sommerblumen duftete, konnte doch nicht weinen! Tränen passten nicht zu ihr. Um es nicht mit ansehen oder gar selbst weinen zu müssen und womöglich mit dem Baby in die Kirche geschickt zu werden, hatte Jasper seinen Kopf an ihren Hals gedrückt, und sie hatte ihn und Edmund umarmt, so heftig, dass es beinahe weh tat. Und als sie ihn wieder losließ und aufstand, waren ihre Augen trocken, und ihre Stimme klang gefasst, als sie sagte: »Noch eines. Du sollst dies hier haben, Jasper.« Sie nahm ein Knabenschwert mit lederner Scheide von einem Tisch. Es hing an einem Tragegurt. »Es war für deinen Geburtstag bestimmt, aber am besten nimmst du es schon jetzt in Empfang.«

»Mylady, wir haben keine Zeit mehr«, warnte Mistress Maryon.

Mit einem Lächeln blickte die Mutter auf Jasper, der vor Eifer glühte, bückte sich und schnallte den Gurt um seine Taille. Sie sagte: »Gott wird mir wohl hierfür noch Zeit geben. Sei du ein echter, tapferer Ritter, mein Sohn.«

Das Schwert lag auf seiner Hüfte, als ob es schon immer dort gehangen hätte. Die Hand am Griff, lächelte er sie an und antwortete mit dem gebotenen Ernst: »Das werde ich, Madame.« Sie küsste ihn rasch auf die Wangen, danach auch Edmund, und sagte: »Ihr seid meine tapferen, großartigen Söhne. Möge Gott euch immer gewogen sein. Und vergesst nie, dass ich euch immer lieben werde. Denkt daran.«

»Mylady«, drang Mistress Maryon erneut auf sie ein. Die Mutter hatte sie daraufhin mit einer raschen Geste zum Gehen aufgefordert.

Auf dem Hof warteten – bereits zu Pferde – Jenet und einer der zur Burg gehörenden Ritter ihrer Mutter, Sir Gawyn. Dazu vier weitere Männer und drei gesattelte Pferde für Mistress Maryon und sie beide. Richtige Pferde, nicht die Ponys, auf denen sie sonst ritten, hatte Jasper voll Freude bemerkt. Aber dann fiel ihm ein, dass er nicht genau wusste, wie man selbständig auf so einem großen Tier aufsaß.

Sir Gawyns Knappe Will kam ihm zu Hilfe und hob erst ihn, dann Edmund in den Sattel. Er kontrollierte trotz Mistress Maryons Ungeduld die Bauchgurte und die Steigbügel. »Es ist besser, jetzt darauf zu achten, dass sie fest im Sattel sitzen, als nachher, wenn es zu spät ist.« Auf Sir Gawyns Geheiß ritten sie schließlich durchs Burgtor, um jenseits der Zugbrücke in einen leichten Galopp zu fallen.

Sie trabten etwas gemächlicher dahin, nachdem sie die Gegend, die Jasper vertraut war, hinter sich gelassen hatten, und ritten den Rest des Nachmittags durch die liebliche, sommerliche Landschaft. Es war aufregend, unter dem Geklapper der Geschirre in einer Gruppe von Männern zu reiten, die offensichtlich so viele Meilen wie möglich hinter sich zu bringen gedachten. Sie folgten heckenumsäumten Pfaden, an deren Rändern und Gräben Gras und Blumen wuchsen. Hier das Blau des geduckten Beifußes, dort ein kühner Tupfer von Ackergauchheil, ab und zu die roten und blauen Spitzen des Lungenkrauts und Hundsrosen, die sich an den Hecken der Sonne entgegenrankten. Ein kurzer Blick auf grüne Kornfelder durch ein Tor in den Hecken, manchmal ein langer Ausblick über eine Schneise hinweg auf Gemeindeland, wo die Hecken fehlten. Sir Gawyn hielt sie auf offenem Gelände immer zum Galopp an und wurde nur langsamer, wenn sie wieder einen Hohlweg entlangritten.

Nach einer Weile war Jasper klargeworden, dass es Sir Gawyn ernst damit war, nicht gesehen zu werden, und dass sie Städte und Dörfer oder Menschen mieden, wann immer es möglich war. Einmal hatte Jasper gesehen, dass ihr Weg direkt auf eine Stadt zuführte, und er hatte voller Freude an die Jahrmärkte gedacht, von denen Jenet oft erzählt hatte, wo es Zauberkünstler, Musik, Spiele und Süßigkeiten gab. Doch sie waren abgebogen und auf einen Waldstreifen zugeritten, der zu Jaspers großer Enttäuschung von der Stadt wegführte.

An diesem ersten Tag waren sie länger geritten, als Jasper je unterwegs gewesen war, bis weit über die Essenszeit hinaus, als es schon dunkel wurde. Er nickte bereits ein, als ein Maikäfer in seine Nase krabbelte. Jasper zuckte derart zusammen, dass sein Pferd scheute und plötzlich zur Seite wich. Er wäre beinahe heruntergefallen, wenn Will ihm nicht mit ruhiger Hand beigestanden hätte. Er war sehr froh gewesen, als sie endlich unter einem Torbogen in ein kleines Landkloster einritten und der Tag vorüber war. Es hatte eine Mahlzeit gegeben, viel bescheidener als gewöhnlich, und die Betten waren viel härter, die Laken viel rauher als die, in denen Jasper sonst schlief. Kurz bevor er in einen tiefen Schlaf sank, hörte er noch zu seiner Verwunderung, wie Mistress Maryon zu einem Bediensteten von »ihren Söhnen« sprach, und begriff, dass sie ihn und Edmund meinte, obwohl es ja gar nicht stimmte.

Im ersten Morgengrauen ließ Sir Gawyn sie schon wieder weiterreiten. Die Landschaft war hügelig, und es gab jetzt weniger Möglichkeiten, Dörfer zu umgehen. Sir Gawyn gewährte ihnen nur die allernötigsten Pausen. Sie hatten sogar beim Reiten gegessen – nur Käse und Brot. Und die letzte Nacht hatten sie nicht unter einem Dach verbracht, sondern auf einer trockenen Böschung unter einer Hecke in einem Feld abseits des Weges. Sie hatten nur ihre Umhänge als Unterlage, und er und Edmund kuschelten sich zwischen Mistress Maryon und die dicke Jenet, um sich zu wärmen, denn Sir Gawyn wollte kein Feuer anzünden. Es hatte nochmals Brot und Käse zum Abendessen gegeben, und nur Wasser aus einem Bach, um es hinunterzuspülen. Im vom Tau feuchten Morgengrauen gab es abermals Brot und Käse zum Frühstück.

Um die Mittagszeit hatte Sir Gawyn Will in eine nahegelegene Stadt gesandt, und er war mit einigen Fleischpasteten zurückgekommen. Sie durften nur wenig davon essen, aber man versprach Edmund und ihm den Rest fürs Abendessen. Es sah so aus, als müssten die anderen sich mit dem übriggebliebenen harten Käse und dem Brot begnügen.

Und es bestand keine Aussicht auf ein bequemeres Bett als das Gras der letzten Nacht. Jasper taten die Knochen vom Reiten weh. Es machte keinen Spaß mehr, und wenn dies ein Abenteuer sein sollte, so war es ein sehr langweiliges.

Sie hatten die hügelige Landschaft verlassen und ritten nun über offenes Land mit Feldern und Wiesen. Jasper wusste, dass es in Wales Berge gab, doch die waren noch nicht einmal am Horizont zu sehen, als sie eine Anhöhe passierten, von der man einen weiten Ausblick hatte. Er hatte nicht gedacht, dass es bis Wales so weit sein würde, und fragte Mistress Maryon, die neben ihm ritt: »Ist es noch weit? Sind wir bald da?«

»Wir haben noch nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter uns«, sagte Mistress Maryon brüsk. »Ihr müsst Euch darauf einstellen, Mylord. Wir haben noch viele, viele Meilen vor uns.«

»Ich möchte mal etwas anderes machen«, verkündete Edmund, der auf der anderen Seite von Jasper ritt. »Ich hab’ das Reiten satt.«

»Das ist leider nicht möglich, Mylord«, antwortete Mistress Maryon. »Eure Frau Mutter hat uns zu reisen befohlen, und daran müssen wir uns halten.«

»Warum denn eigentlich?« fragte Edmund und sprach damit die Frage aus, die er und Jasper einander in dem kurzen Augenblick vorm Schlafengehen letzte Nacht zugeflüstert hatten.

»Das darf ich nicht sagen.«

»Warum nicht?« beharrte Edmund.

»Es steht mir nicht an.«

»Wem denn?« fragte Edmund. Er war noch nie schlecht behandelt oder Unannehmlichkeiten ausgesetzt worden, und das hier gefiel ihm nicht. Er hatte es als Beginn des Abenteuers hingenommen, aber dies war gar kein Abenteuer, nur ewiges Reiten, und am Abend gab es nichts Gutes zu essen und keinen anständigen Platz zum Schlafen.

Sir Gawyn lenkte sein Pferd an Jaspers Seite. Von all den Rittern ihrer Mutter mochten sie ihn mit am liebsten, er war stets elegant gekleidet, hatte gute Manieren, wusste immer eine Geschichte oder ein Spiel oder zeigte ihnen auf ihre Bitte hin, wie man mit dem Schwert umging. Es war seltsam, ihn jetzt in einem Lederwams, einem groben Hemd und rauhen Kniehosen zu sehen, mit ungekämmtem lockigem Haar und Bartstoppeln. Jasper stellte erstaunt fest, dass sein Bart ebenso grau wie braun war. Er hatte keine bestimmte Altersvorstellung von Sir Gawyn. War er alt? Jedenfalls war er anders als zu Hause, es gab keine Geschichten oder sonst etwas, nur Befehle.

Jetzt sagte er über Jaspers Kopf hinweg zu Mistress Maryon: »Ich schlage vor, wir reiten wieder so lange, bis es dunkel wird. Dann haben wir Banbury weit hinter uns und könnten vielleicht morgen die Severn überquert haben.«

Mit einem zweifelnden Seitenblick auf Edmund und Jasper sagte Mistress Maryon: »Es wäre vielleicht besser, wenn wir eine Herberge fänden, anstatt wieder im Freien zu übernachten. Nicht weit von dieser Straße gibt es ein kleines Nonnenkloster nur mit einem Dorf in der Nähe. Ich denke, es dürfte unverfänglich sein, wenn –«

»Wenn bekannt geworden ist, dass wir geflohen sind, werden etwaige Verfolger viel schneller geritten sein, als es uns möglich war. Man könnte sogar Warnungen vorausgeschickt haben.«

»Es ist ein völlig unbekannter Ort«, beharrte sie. »Und die Knaben brauchen –«

»Wir sollten lieber so weit wie möglich reiten. Das ist unsere einzige Chance, Verfolger abzuschütteln. Wir müssen unseren Vorsprung halten. Das sind tapfere Jungen.« Er wandte sich an Edmund und Jasper mit jenem Lächeln, mit dem er sie sonst zu einem Wettstreit aufforderte. »Nicht wahr, Mylords? Ihr könnt so lange reiten, wie es notwendig ist, Eurer Frau Mutter zuliebe?«

Edmund und Jasper nickten, nicht so eilig, wie sie es noch vor zwei Tagen getan hätten, doch ihrer Mutter zuliebe und um nicht in Sir Gawyns Augen als Feiglinge dazustehen. Edmund versicherte sogar: »Die ganze Nacht, wenn’s sein muss!«

Mistress Maryon wollte etwas einwenden, doch Sir Gawyns Knappe Will, der mit Hery Simon voranritt, rief über seine Schulter hinweg: »Reiter voraus, Sir! Auf der anderen Seite der Furt.«

Die Straße führte in ein breites Wiesental und folgte einem weidenbestandenen Fluss zwischen Feldern, auf denen das hohe, helle Gras von Butterblumen durchsetzt war und schon beinahe reif für die Heuernte stand. In der Lücke zwischen den Bäumen, die zu einer Furt wies, glitzerte der Fluss im sommerlichen Licht des Spätnachmittags. Es war ein einsames, verschlafenes Tal gewesen, doch jetzt konnte Jasper durch die Weiden und Erlen hindurch andere Reiter erkennen, fünf oder sechs vielleicht, die am Rand der Straße auf der anderen Seite des Flusses warteten.

Sir Gawyn zog die Zügel an und hob seine Hand, um die beiden Männer hinter ihm anzuhalten. Will und Hery waren schon stehengeblieben und blickten zwischen den unbekannten Reitern und Sir Gawyn hin und her, in Erwartung von Befehlen. Mistress Maryon gab Jasper ein Zeichen, neben Jenet zu reiten. Sie hielt ihr eigenes Pferd in Reichweite von Edmunds Zügeln. Jasper, dem plötzlich bewusst wurde, dass etwas nicht stimmte, gehorchte. Auch Edward, normalerweise stolz auf seine Unabhängigkeit, wich nicht von Mistress Maryons Seite.

Sir Gawyn sagte mit ruhiger Entschlossenheit: »Wir werden wieder zur Anhöhe zurückreiten, um dann die Straße zum Fluss zu kreuzen. Wir können uns hinter den Bäumen verbergen. Vielleicht haben sie uns noch nicht gesehen und ziehen vorbei, ohne uns zu entdecken.«

Sie hatten aber kaum die Pferde umgewandt, als Will rief: »Sie kommen!« Jasper sah über die Schulter hinweg, dass die anderen Reiter auf die Straße geritten waren und herangaloppierten, wobei sie sich in zwei Gruppen teilten, einige folgten dem Fluss, um ihnen den Weg abschneiden zu können, die anderen überquerten den Fluss. Das Wasser spritzte an ihren Pferden empor.

Sir Gawyn trieb sein Pferd zwischen Jasper und Jenet, hievte Jasper aus dem Sattel, hob ihn über sein eigenes Pferd hinweg und zwängte ihn auf Jenets Pferd grob zwischen sie und den hohen Sattelknauf. »Halt ihn fest! Edmund, könnt Ihr Euch auf dem Pferd halten?«

Edmund nickte heftig, die Hand am Griff seines Schwerts. Jasper versuchte sich aus Jenets Armen zu befreien, um an seine Waffe zu gelangen. Er war wütend darüber, dass man ihn ihrer Obhut übergeben hatte. Er konnte sich ebensogut im Sattel halten wie Edmund!

»Maryon, findet Ihr das Nonnenkloster von hier aus?«

»Ja.« Sie hielt Edmunds Pferd beim Zügel.

»Dann folgt mir. Ich glaube, wir können den Männern am Fluss zuvorkommen. Wenn es uns gelingt und wir den Fluss überquert haben, reitet Ihr mit Jenet zum Kloster, während wir sie aufhalten. Verstanden?«

»Ja.«

»Dann los!« rief Sir Gawyn und trieb sein Pferd den Hügel hinab. In einem Winkel, der sie von ihren Verfolgern abschnitt, ritt er auf den Fluss zu und drückte die Sporen in die Flanken seines Braunen, der in vollem Galopp dahinsprengte, gefolgt von den anderen Pferden. Sein Knappe Will ritt an Edmunds anderer Seite, Hery Simon neben Jenet, die beiden anderen Männer hinter ihnen. Jasper schnappte nach Luft, Schwert und Entrüstung waren vergessen.

Es blieb keine Zeit, eine geeignete Stelle zur Durchquerung des baumbestandenen Flusses zu suchen. Gawyn ritt einfach geradewegs darauf zu. Jasper sah sich um und bemerkte, dass die fremden Reiter versuchten, ihnen den Weg abzuschneiden, wofür es jedoch zu spät war. Sir Gawyns Richtungswechsel hatte sie überrascht. Und dann waren sie zwischen den Bäumen. Weidenzweige schlugen Jasper ins Gesicht. Er wich ihnen aus, indem er sich über die Mähne von Jenets Pferd beugte, die er mit den Händen umklammerte. Sein Magen revoltierte, als das Pferd zum Sprung ansetzte. Sie sprengten in den Fluss, Wasser spritzte an ihm hoch. Jenet schrie auf. Er sah, dass Hery Simon die Zügel ihres Pferdes dicht bei der Kandare hielt und das Tier durch die Gischt trieb, die wie Silber und Diamanten im Sonnenlicht glitzerte.

Sir Gawyn hatte das andere Ufer beinahe erreicht, als ihn die Reiter, die den Fluss nicht überquert hatten, einholten. Sie brachen durch die Bäume, die Böschung hinab. Auf beiden Seiten waren die Schwerter gezogen, die im Sonnenlicht gleißten. Sir Gawyn stieß einen rauhen, wilden Schrei aus, wie Jasper ihn auf dem Turnierplatz noch nie gehört hatte, und stürmte los.

Klingen schlugen aufeinander, Stahl splitterte. Hinter Jasper erklangen die Rufe der anderen Reiter, die von hinten nahten. Hamon und Colwin wandten sich ihnen entgegen. Er sah, wie Hery Simon einen unbekannten Reiter aus dem Sattel hob, sah einen aufgerissenen Mund, wild rudernde Arme, eine klaffende Wunde, bis der Mann schließlich unter den Tritten der Pferdehufe im Wasser versank. Und dann zog Hery Jenets Pferd zur Seite und sprengte mit seinem eigenen Pferd wild den grauen Hinterläufen von Mistress Maryons Tier nach, das zwischen den Weiden am anderen Flussufer verschwand, das Kampfgeschehen im Rücken.

Jasper duckte sich wieder, hob jedoch den Kopf, um nach Luft zu schnappen, als sie auf der anderen Seite der Baumreihe auf ein offenes Feld galoppierten. Edmund war es irgendwie gelungen, vor ihnen zu reiten. Er klammerte sich an sein Pferd, das er nicht mehr unter Kontrolle hatte. Mistress Maryon hielt sich dicht an seiner Seite. Hery Simon ritt neben Jenet. Er hielt noch immer ihre Zügel. Sie waren dem Kampf entkommen.

Doch hinter ihnen ertönte plötzlich der Hufschlag eines anderen Pferdes. Hery blickte sich um und fluchte. Er hatte sein Schwert verloren und griff deshalb nach Jaspers. »Reitet davon, Mistress!« schrie er Jenet zu und wandte sein Pferd um.

»Nein, Hery! Nicht allein!« schrie Jenet. Doch er war auf und davon, und niemand sah ihm nach.

Der Kreuzgang war vom Sonnenlicht des Spätnachmittags erwärmt. Frevisse, die aus der Kirche gekommen war, wo sie sichergestellt hatte, dass alles für die Vesper bereit war, wandelte langsam hindurch, den Kopf wie zum Gebet gesenkt. Aber sie beobachtete nur, wie der Saum ihres Gewandes bei jedem Schritt den Boden berührte, und dachte an nichts Besonderes. Sie genoss die Wärme und die Ruhe dieses kurzen Augenblicks, bevor die Glocken zum vorletzten Gottesdienst des Tages läuteten und alle Nonnen von St. Frideswide von ihren nachmittäglichen Arbeiten zum gemeinsamen Gebet in der Kirche zusammenkamen.

Nicht alle Nonnen, berichtigte sie sich selbst, und etwas von der Befriedigung über den ruhigen Tag und die Arbeiten, die sie verrichtet hatte, wich bei diesem Gedanken von ihr. Priorin Edith war seit der Osterwoche bettlägerig. Von den Nonnen konnte sich nur Schwester Lucy an die Zeit erinnern, als sie noch nicht Priorin gewesen war, und nun lag sie im Sterben. Nicht etwa, weil sie krank war oder Schmerzen litt. Die vielen Jahre lasteten einfach auf ihr, und ihr Tod war vorauszusehen und würde dennoch eine schmerzliche Lücke im Herzen des Priorats hinterlassen.

Doch auf der anderen Seite der niedrigen Innenmauer des Kreuzgangs, im Sonnenschein der Grünfläche, in deren Mitte sich die vier Pfade trafen und die kleine Glocke von St. Frideswide hing, blühten die Sommerblumen im Jahre des Herrn 1436, ohne sich um ihre eigene Sterblichkeit oder die der Welt zu kümmern. Die Gänseblümchen prangten weiß in dem grünen Gras, dazu Akelei, Flachs und Heidenelken in kleinen Beeten. Bald würden auch Fingerhut, Baldrian und Wiesenfrauenmantel blühen.

Frevisse musste über sich selbst lächeln. Wann hatte sie deren Namen so gut gelernt? Was Blumen anging, konnte sie sie auch bewundern, ohne ihre Namen zu kennen. Sie waren die besonderen Lieblinge von Schwester Juliana. Dass Frevisse – ob sie wollte oder nicht – soviel über Blumen wusste, musste daher kommen, dass Schwester Juliana in der kurzen Stunde, die täglich dem Gespräch und der Erholung gewidmet war, oft über sie sprach.

Wie es nur kommt, dass wir noch immer ein Gesprächsthema während unserer Mußestunde finden, wunderte sich Frevisse. Gibt es noch etwas, das noch nie gesagt worden ist? Hören wir einander eigentlich noch zu? St. Frideswide war klein. Es gab nur zehn Nonnen, und die letzte Novizin hatte ihre Gelübde vor fünf Jahren abgelegt ohne Aussicht darauf, dass eine andere an ihre Stelle treten würde. Es sei denn, der Vater der kleinen Lady Adela Warenne bestimmte, dass seine Tochter Nonne wurde. Was gut möglich war. Das Kind war hübsch, hatte eine helle Haut und große blaue Augen unter dunklen ebenmäßigen Brauen. Aufgrund einer missgestalteten Hüfte jedoch hinkte sie sehr, was sich auch nicht mehr ändern würde. Da sie jedoch ältere Brüder und Schwestern hatte, die als Erben eingesetzt und Nachkommen zeugen würden, war eine Heirat für Adela vermutlich schwierig zu arrangieren und auch wenig zwingend.

Lord Warenne hatte dies wohl in Betracht gezogen, als er sie in die Obhut von St. Frideswide gab. Und sollte er sich dazu entschließen, Adela um seines Seelenheils willen für immer ins Kloster zu geben, so würde St. Frideswide von ihrer Mitgift profitieren, was zwar illegal, aber durchaus üblich war. Nicht, dass Lady Adela eine besondere Neigung zum Klosterleben gezeigt hätte. Sie war jedoch erst sieben und ein stilles, fügsames Kind. Schwester Perpetua, die sie in Literatur, Mathematik und den Anfängen des Französischen unterrichtete, war zufrieden mit ihr und meinte, sie würde sich eignen.

Wie gerufen von Frevisses Gedanken, hinkte Lady Adela von der anderen Seite des schattigen Kreuzgangs her ins Sonnenlicht des Klostergartens. Sie war in Begleitung der Dienerin, die diese Woche mit dem Läuten der Glocken zu den täglichen sieben Gottesdiensten beauftragt war. Man behauptete oft, die Missbildung eines Kindes sei entweder das Zeichen für die Sünde eines Elternteils – und Frevisse wusste einiges über Lord Warenne, das dies bestätigt hätte – oder ein Hinweis auf seine angeborene Neigung zur Boshaftigkeit. Aber niemand in St. Frideswide hatte jemals ein Anzeichen für angeborene Boshaftigkeit bei Lady Adela entdeckt. Obwohl sie hübsch war, hielt sie jedoch den Kopf beim Laufen gesenkt, und ihre Schultern waren leicht nach innen gewandt, vielleicht, weil sie ahnte, was man über sie sagte. Oder es sogar zufällig gehört hatte.

Frevisses Meinung nach war Lady Adela zu still, zu sehr darauf bedacht, nicht aufzufallen. Es schien ihr einziger Wunsch zu sein, Schwester Perpetua zu begleiten, wann immer es ihr erlaubt war, oder sich scheu hinter dem Rücken der ihr zugewiesenen Dienerin zu verstecken – oder einfach nur friedlich drinnen oder im Garten zu sitzen und zu nähen.

Frevisse hatte während ihrer Kindheit niemals so still sein wollen, vielleicht kamen ihre Zweifel daher. Schwester Perpetua war jedenfalls mit dem Betragen des Kindes zufrieden, und Frevisse wollte es damit bewenden lassen. Sie wandte sich ab von dem beschaulichen Bild, wie Lady Adela den Blütenkelch einer Akelei betrachtete und die Dienerin nach dem Glockenseil griff. Die Nonnen würden vom Geläute herbeigerufen werden. Es war Zeit, die Kerzen am Altar anzuzünden.

Am anderen Ende des Klosters wurde plötzlich das Hoftor aufgeschlagen. Rufen und Schreien sowie das laute Klappern von Hufen drangen herein. Eine der Dienerinnen des Gästehauses schrie, derweil sie sich an das Tor klammerte: »Hilfe, zu Hilfe! Räuber! Mörder! Zu den Toren! Hilfe!«

Frevisse dachte boshafterweise, dass es erst gar keine gute Idee gewesen war, das Tor zu öffnen. Dann lief sie rasch den Kreuzgang entlang, schob die jammernde Dienerin beiseite und trat nach draußen in den Hof, wo weder Räuber noch Mörder waren, sondern nur ein Durcheinander war aus Pferden, die von zu Tode erschrockenen Frauen geführt und geritten wurden, und von mehr Bediensteten als vermutlich nötig.

Bei ihrem ersten kurzen Blick über dieses Chaos stellte Frevisse fest, dass fünf schweißgebadete Pferde mit weit aufgerissenen Augen vor ihr standen, zwei davon ohne Reiter. Auf den anderen saßen nur zwei Frauen: eine dickliche, die ein Kind vor sich im Sattel hielt, und eine andere, die ein weiteres Pferd führte, auf dem noch ein Kind saß. Keine bewaffneten Männer, nicht einmal Waffen. Die schlimmste Gefahr stellten die reiterlosen Pferde dar. In ihrer Verwirrung und Furcht bäumten sie sich auf und scheuten, ließen niemand an sich heran. Die dickliche Frau, die das Kind im Sattel hielt, weinte und sprach stammelnd und unzusammenhängend auf die Männer ein, die nach den Zügeln gegriffen hatten. Aber anstatt ihr zuzuhören, erteilten sie sich Befehle, ohne selbst aufeinander zu hören.

Nur die schlanke Frau auf dem grauen Pferd schien zu wissen, was sie tat. Sie lenkte ihr Pferd von der Dienerschar weg und ritt entlang der Klostermauer auf die Kirchenpforte zur Rechten Frevisses zu. Das Pferd des Knaben führte sie mit sich. Ihre Haube und ihr Schleier waren verrutscht, das dunkle Haar zerzaust, und das zusätzliche Paar Zügel behinderte sie. Als sie Frevisse und die offene Tür hinter ihr sah, trieb sie ihr Pferd auf den Zufluchtsort zu. »Ihr müsst uns helfen!« rief sie.

Frevisse nickte kurz zum Zeichen des Einverständnisses. Was auch immer geschah, die Verzweiflung dieser Frau war echt. Was auch immer geschah, man musste sie und die Kinder sowie die andere Frau aus dem Durcheinander des Hofes in die Sicherheit des Klosters bringen, wo man in Ruhe reden konnte.

Nach einem ängstlichen Blick zurück auf den Torbogen hinter ihr brachte die Frau ihre verstörte Stute schließlich neben der Pforte zum Stehen. »Die Kinder«, sagte sie. »Bringt sie nach drinnen. Jenet, hier! Bring Jasper hierher!«

Frevisse trat zur Seite, als das graue Pferd auf sie zukam, und nahm der Frau die Zügel des anderen Pferdes ab. Sie hielt es dicht an der Kandare und besänftigte es mit ihrer Stimme und ihrer Hand. Die Frau raffte indessen ungeduldig ihre Röcke und saß ab. Dann hob sie den Jungen herunter. »Jenet!« befahl sie wieder.

Als Frevisse sah, dass Jenet noch immer mit den Zügeln und dem Kind, mit der Verwirrung der Umstehenden und mit ihrem eigenen Gejammer beschäftigt war, sagte sie: »Ich komme mit ihr nach. Geht nur hinein.« Erleichtert stellte sie dann fest, dass Roger Naylor, der Verwalter des Priorats, von außen durch den Torbogen kam, mit einem Blick, der zu sagen schien: Ich werde diesem Durcheinander hier ein Ende bereiten. Da sie wusste, dass sie ihm die Handhabe der Pferde und die Aufsicht über die Dienerschaft überlassen konnte, bahnte sie sich einen Weg zu Jenet und befahl den Männern, die Zügel und Zaumzeug umklammerten: »Haltet den Gaul still!« Vor ein paar Jahren war sie Schwester Hospitalaria gewesen, die sich um die Gäste und Besucher des Priorats zu kümmern hatte. Die Männer hatten damals auf sie gehört und taten es auch jetzt, als sie ihren Befehl erteilte. Zu einem Mann sagte sie: »Hilf ihm herab. Nein, nicht ihr, dem Jungen zuerst. Gib ihn mir. Jenet, lass ihn los. Es ist alles in Ordnung.« So wie die Männer gehorchte auch Jenet den klaren Anweisungen und überließ dem Mann den kleinen Jungen, der ihn sanft herunterhob und Frevisse übergab. Das Kind wand sich heftig in ihrem Griff, aber es weinte nicht, sondern protestierte nur: »Lasst mich runter! Ich kann alleine laufen!«

»Nicht hier«, gab Frevisse in dem gleichen herrischen Tonfall zurück. »An der Pforte.« Sie setzte ihn fest auf ihre Hüfte – er war klein, wog aber einiges und strampelte ziemlich – und wollte ihn gerade in Sicherheit bringen, als sie feststellen musste, dass Schwester Alys von irgendwoher aufgetaucht war und den Eingang einerseits mit ihrer Körperfülle, andererseits mit ihrer Hitzigkeit versperrte.

Schwester Alys war jetzt Schwester Hospitalaria – und offenbar erzürnt, dass sie nicht an dem teilhatte, was hier vor sich ging. Sie war früher Kellermeisterin des Priorats gewesen – nach der Priorin selbst das zweithöchste Amt – und hatte damit zugleich die Aufsicht über die Küche übernommen. Und dort hatte sie ihr Bestes geleistet, hatte beim Kochen darauf geachtet, dass nichts anbrannte oder verschwendet wurde. In der Küche des Priorats hatte es Bedienstete gegeben, die sie terrorisieren konnte, und unempfindliche Töpfe und Utensilien, auf die sie einschlagen konnte. Doch nach dem Ämtertausch – den die Ordensregel vorschrieb – hatte sie sich als Küsterin weniger bewährt. Die kostbaren bestickten Altardecken fasste sie viel zu grob an, Kerzen brachen, wenn sie sie nur berührte, Kelchglas, Hostienteller und Kerzenständer litten, wenn sie sie schrubbte.

Beim Ämterwechsel im letzten Winter schließlich wurde sie zur Hospitalaria gemacht und erhielt damit eine Aufgabe, die sie so wie jede andere erfüllte, die ihr angetragen worden war: mit viel Schwung und wenig Gefühl. Als Hospitalaria waren ihr die beiden Gästehäuser anvertraut, die das Tor zu beiden Seiten des Hofes flankierten, und sie fühlte sich – aus dem ihr eigenen Übereifer heraus, denn die Ordensregel sah es nicht vor – verantwortlich für alles und jedes in der Umgebung der Gästehäuser. Worin ihrer Meinung nach jetzt gerade auch der Klosterhof und die Klosterpforte eingeschlossen waren. Groß und beleibt und unsensibel, wie sie war, rief sie über die Köpfe der Umstehenden hinweg: »Was ist denn hier los? Könnte man mich mal darüber aufklären, was hier los ist?«

Die erste Frau hielt den Knaben fest an der Hand, schob eine Dienerin beiseite, trat auf Schwester Alys zu und sagte ihr ins Gesicht: »Lasst uns augenblicklich vorbei. Wir sind in Gefahr!«

»Gefahr? Die einzige Gefahr hier stellen Eure wildgewordenen Pferde dar! Es kommt mir keiner ins Kloster, bevor ich nicht weiß, was hier gespielt wird!«

»Wir sind von Männern angegriffen worden, die uns vermutlich immer noch verfolgen. Wir bitten um Asyl! Um Himmels willen, Ihr müsst es uns gewähren!«

»Einfach so?« spottete Schwester Alys. »Das hier ist doch kein Gasthaus am Wegesrand, in das man so mir nichts, dir nichts hereinplatzen kann, ganz gewiss nicht!«

Frevisse schob sich zwischen die beiden verzweifelten Frauen und Schwester Alys. »Sie hat um Asyl gebeten. Das gehört zu meinen Aufgaben, ich bin die Küsterin«, sagte sie. Sie war sich nicht sicher, ob diese Behauptung stimmte, doch vermutlich wusste Schwester Alys es auch nicht besser. Noch nie hatte jemand in St. Frideswide um Asyl gebeten. »Lasst sie hinein.«

»Mit Gott weiß wem auf den Fersen? Ohne zu wissen, wer sie überhaupt sind?«

Hinter Frevisse tauchte jetzt Roger Naylor auf. Er sagte: »Ich habe das äußere Tor schließen und Wachen aufstellen lassen. Niemand kann mehr hereinkommen, ohne dass wir es wollen. Was ist also los?«

Er wandte sich mit seiner Frage an die Frau, doch bevor sie antworten konnte, sagte Schwester Alys: »Der Teufel ist los. Stürmen hier herein, ohne lang zu fragen, und –«

»Ich glaube, wir sollten sie lieber hineinbringen, Master Naylor«, sagte Frevisse mit fester Stimme über die immer lauter werdende von Schwester Alys hinweg. »Sie haben mich um Asyl gebeten, und ich habe es ihnen gewährt. Alles, was sie uns zu sagen haben, sollte lieber von ein paar Ohren weniger mit angehört werden.«

Master Naylor nickte zustimmend. »Schwester Alys wird dafür sicherlich Verständnis haben«, sagte er mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete. Als Verwalter des Priorats unterstand er außerhalb des Klosters nur der Priorin Edith und der Kellermeisterin. Abgesehen davon war er ein Mann mit der typisch autoritären Haltung eines Mannes. Schwester Alys sah feindselig drein, doch man hatte ihren Argumenten den Boden entzogen. Also nickte sie nur mürrisch und trat zur Seite.

Die schlanke, impulsive Frau ging zuerst hinein. Sie hielt immer noch den Jungen an der Hand und sagte über ihre Schulter hinweg: »Beeil dich, Jenet.«

Die andere Frau, die noch immer schniefte, gehorchte und streckte die Arme aus, um den anderen Jungen aus Frevisses Armen entgegenzunehmen. »Alles in Ordnung, M-Master Jasper. Jetzt ist alles gut. Braucht keine Angst mehr zu haben.«

Der Knabe warf ihr einen entrüsteten Blick zu und wehrte sich dagegen, schon wieder auf den Arm genommen zu werden. »Ich hab’ ja gar keine Angst! Ich wäre nicht weggelaufen! Ich hätte gekämpft, wenn du mich gelassen hättest! Ich hätte sie mit meinem Schwert erstochen!«

Frevisse setzte ihn ab und sagte: »Marsch, hinein!« Jenet ergriff seine Hand und zog ihn nach drinnen, in die ersehnte Sicherheit. Nur ein gottloser Verfolger würde ihnen hierher folgen, um ihnen Böses anzutun.

Aber Frevisse drehte sich auf der Schwelle um und sagte: »Master Naylor, Ihr werdet uns benachrichtigen, wenn etwas los ist? Falls sie jemand … sucht?«

»Ich habe Wachen am Tor postiert und Boten ins Dorf gesandt. Ich werde dafür sorgen, dass niemand hereinkommt, der nicht hierhingehört, und Euch Bescheid sagen, wenn sich etwas ereignet.«

Frevisse nickte zufrieden und folgte den anderen ins Kloster. Endlich läutete jemand die Vesperglocke, nun, da sich der Trubel im Hof gelegt hatte. Weltliche Aufregungen durften auch dann nicht vom eigentlichen Sinn des Priorats – dem Gebet – ablenken, wenn sie ins Kloster selbst kamen. Schwester Alys knallte das Tor mit donnernder Gewalt hinter Frevisse zu und stolzierte an der Klostermauer entlang zur Kirche. Frevisse rief trotz des Schweigegebots, das innerhalb der Klostermauern herrschte, hinter ihr her: »Würdet Ihr wohl so freundlich sein, die Altarkerzen anzuzünden, Dame Alys?«