Der Dichter und die Ratio - Fritz Sternberg - E-Book

Der Dichter und die Ratio E-Book

Fritz Sternberg

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Beschreibung

»Meinem ersten Lehrer!«, schrieb Bertolt Brecht seinem Gesprächspartner und Freund Fritz Sternberg 1927 in ein Exemplar von »Mann ist Mann«. Sternberg und Brecht lernten sich 1927 in Berlin kennen. (Da hatte Sternberg soeben sein Buch Der Imperialismus veröffentlicht.) Ihr letztes Treffen fand 1947 in Kalifornien statt. In den ersten Jahren versuchten beide, der marxistische Theoretiker und der bereits erfolgreiche Dramatiker und Regisseur, die historischen, politischen und ästhetischen Bedingungen eingreifender Gegenwartsdramatik zu ergründen. Und bald darauf, durchaus im Zusammenhang damit, auch die Frage zu beantworten: Wie kann das Theater zum Kampf gegen den Nationalsozialismus beitragen? Darum stritten die beiden, scharfsinnig und leidenschaftlich, und davon handeln Sternbergs Erinnerungen. Ihre Auseinandersetzung ging aber auch bis in die Exilzeit hinein um ihre immer unterschiedlicher werdende Einschätzung der Kommunistischen Parteien und der Sowjetunion. Daher die Bedeutung des schmalen Buchs, wie Helga Grebing, Historikerin und Politikwissenschaftlerin, in ihrem Nachwort erklärt.

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Seitenzahl: 218

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Sternberg und Brecht lernten sich 1927 in Berlin kennen. (Da hatte Sternberg soeben sein Buch Der Imperialismus veröffentlicht.) Ihr letztes Treffen fand 1947 in Kalifornien statt. In den ersten Jahren versuchten beide, der marxistische Theoretiker und der bereits erfolgreiche Dramatiker und Regisseur, die historischen, politischen und ästhetischen Bedingungen einer eingreifenden Gegenwartsdramatik zu ergründen. Und bald darauf, durchaus im Zusammenhang damit, auch die Frage zu beantworten: Wie kann das Theater zum Kampf gegen den Nationalsozialismus beitragen? Darum stritten die beiden, scharfsinnig und leidenschaftlich, und davon handeln Sternbergs Erinnerungen. Daher die Bedeutung des schmalen Buchs, die Helga Grebing, Historikerin und Politikwissenschaftlerin, in ihrem Nachwort erläutert.

Fritz Sternberg, geboren 1895 in Breslau, starb 1963 in München. Er war Wirtschaftswissenschaftler, marxistischer Theoretiker und sozialistischer Politiker. Der Dichter und die Ratio erschien zuerst 1963.

Fritz SternbergDer Dichter und die RatioErinnerungen an Bertolt Brecht

Erstveröffentlichung 1963 im Verlag Sachse & Pohl, Göttingen, Schriften zur Literatur Band 2, mit einem Vorwort von Reinhold Grimm© 1963 by Sachse & Pohl Verlag GmbH, GöttingenAbdruck der Texte von Fritz Sternberg und Lucinde Worringer mit Genehmigung der Rechteinhaberin Helga Grebing

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2014

© Helga Grebing 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlagfoto: Privatbesitz

Der Dichter und die RatioErinnerungen an Bertolt Brecht

Bertolt Brecht bin ich das erste Mal im Winter 1926/27 begegnet. Ende 1926 hatte ich ein Buch »Der Imperialismus« veröffentlicht1, das außerordentlich viel in Zeitungen und Zeitschriften diskutiert wurde, und war daraufhin nach Berlin gegangen. Dort besaß ich zunächst noch keine Wohnung, so daß ich bei dem mir befreundeten, erst vor wenigen Jahren in München verstorbenen Maler Rudolf Schlichter kampieren mußte. Schlichter fragte mich eines Tages, ob ich seinen Freund Bertolt Brecht kennenlernen wolle. Ich wußte nur wenig von Brecht. Die Presse nannte noch vielfach Bronnen und Brecht zusammen. Ich selbst hatte bisher nur in dem Stück »Baal« geblättert, ohne sehr davon beeindruckt worden zu sein.2 All dies in Erinnerung, sagte ich zu Rudolf Schlichter: »Mir liegt nicht viel daran, Brecht kennenzulernen.«

Noch am selben Abend gingen wir in ein damals berühmtes Berliner Restaurant, das dem älteren Bruder von Rudolf Schlichter gehörte.3 Wir aßen dort. Einige Tische weiter bemerkte ich einen Mann, der eine Brille trug und auch zu Abend aß. Er fiel mir auf. Wie er so dasaß, wie er die Hände bewegte, ging von seinem Gesicht und seiner Gestalt etwas Merkwürdiges, Unvergeßliches aus. Ich sagte zu Schlichter: »Du, Rudi, den Mann möchte ich kennenlernen.« Schlichter lachte laut: »Das ist ja der Brecht«, antwortete er.

Er bat Brecht, an unseren Tisch zu kommen. Es war erst früher Abend, und wir blieben bis in die Nacht. In der ersten Stunde ging es ganz und gar nicht friedfertig zu. Ich kann mich auf keine Einzelheiten mehr besinnen; ich weiß nur noch, daß Brecht in einer prononcierten Weise Urteile über Dinge fällte, die er, wie mir schien, nicht ganz verstand. Ich widersprach daher oft sehr heftig. Ich sagte beispielsweise, daß sein »Baal« mit den vielen Frauen schlechter sei als die Jugendstücke von Wedekind. Brecht hörte sich das zunächst ganz ruhig an. Dann wandte er sich unvermittelt an Schlichter: »Sag mal, hast du nicht erwähnt, daß Herr Sternberg seinen Doktor in Ökonomie gemacht hat?« Als Schlichter dies bejahte, sagte Brecht, der in scheinbar höflicher Form außerordentlich grob sein konnte: »Frag ihn doch mal, ob er mir helfen will, wenn ich mir einen Anzug kaufe. Vielleicht könnte ich das mit seiner Hilfe ökonomischer machen.« Schlichter bemühte sich, diesen Tiefpunkt des Gesprächs zu überwinden, und es gelang ihm auch.

Im weiteren Verlauf des Abends sagte Brecht: »Ich habe einmal ein Drama ›Trommeln in der Nacht‹4 geschrieben, und obwohl der Erste Weltkrieg und die bayerische Revolution den Hintergrund bildeten, stand doch in diesem Drama die Beziehung eines Mannes zu einer bestimmten Frau im Mittelpunkt.« Ich weiß nicht, ob ich diese Sätze noch Wort für Wort zitieren kann; jedenfalls fuhr Brecht fort: »Seitdem ich dieses Drama geschrieben habe, ist es mir nicht mehr möglich, aus der Beziehung eines Mannes zu einer Frau eine Vision zu gewinnen, die stark genug wäre, ein ganzes Drama zu tragen.«

»Das ist der erste nicht nur interessante, sondern fortschrittliche Satz, den Sie bisher gesprochen haben«, sagte ich in die Stille hinein, die nach Brechts Worten entstanden war. 

Brecht wurde sehr erregt. Mit einer Erschütterung, die durch seinen ganzen Körper ging, fragte er: »Wieso? Warum ist es fortschrittlich, wenn ich nicht mehr eine Vision davon bekomme, daß ein Mann mit einer bestimmten Frau eine Beziehung hat?« – »Um Ihnen das zu erklären«, antwortete ich, »brauche ich längere Zeit.« Brecht erwiderte, ich müsse ihm das unbedingt erklären. Es sei wesentlich für sein ganzes Schaffen. Was ich Brecht daraufhin sagte, war etwa folgendes: Es habe bereits viele Zeiten gegeben, in denen die Beziehung eines Mannes zu einer bestimmten Frau nicht im Mittelpunkt stand. Wenn ich die weitere Entwicklung richtig einschätzte, befänden wir uns heute und auch in nächster Zukunft in einer Zeit, wo die Beziehung eines Mannes zu einer Frau für die Epoche nicht symptomatisch sei.

Brecht bat mich, dies näher zu erklären. Er fragte, ob ich historische Beispiele dafür hätte, Beispiele aus großen literarischen Dokumenten.

Meine Antwort war: »Es gibt dafür eine weite Reihe entscheidender literarischer Dokumente. Vor mehr als 2000 Jahren schrieb Platon sein Symposion. Nun steht zwar in den meisten platonischen Dialogen Sokrates ohnehin im Mittelpunkt und verkündet die Lehren des Philosophen. Die Lehre, die im Symposion verkündet wird, hat Platon aber für so wichtig gehalten, daß er Sokrates erklären läßt, sie sei ihm unmittelbar von der Göttin Diotima offenbart worden. Und was lehrt Sokrates im Symposion? Die Liebe, sagte er, gehe den Weg von der Liebe zu einem einzigen schönen Leibe zur Liebe zu vielen schönen Leibern und schließlich zur Liebe zu der Idee der Schönheit. Daß im Leben eines Mannes die Liebe zu einer Frau im Mittelpunkt stehen könne, kam für Plato nicht in Frage.

Jahrhunderte später sind die Märchen aus Tausendundeiner Nacht entstanden. In vielen von ihnen liebt ein Mann eine schöne Frau. Wenn aber die Dichter diese schöne Frau beschreiben, hat sie keinerlei individuelle Züge. Man kann in den meisten Geschichten von Tausendundeiner Nacht die schönen Frauen vertauschen; sie sind fast immer mit den gleichen Worten beschrieben.«

»Und in Europa?« fragte Brecht.

Darauf ich: »Wir haben, wie Sie wissen, die Tristan-Legende. Tristan soll für seinen König die Braut holen. Er liebt Isolde; aber um glaubhaft zu machen, daß dies überhaupt möglich sei, daß die Liebe zu einer bestimmten individuellen Frau stärker sein könne als die Vasallentreue zum König, dazu brauchte man damals noch einen Teufelstrank.

Ein Umschwung kam erst mit Dante. Dante begegnet in sehr jungen Jahren Beatrice und schreibt die ›Vita Nuova‹. Am Ende dieses Werkes erklärt er, er wolle Beatrice ein Denkmal setzen, wie es noch nie ein Sterblicher einer Sterblichen gesetzt habe. Und Dante schreibt die Göttliche Komödie. Aber in unserem Zusammenhang«, so sagte ich zu Brecht, »scheint es mir wesentlich zu sein, daß Dante immer nur von sich allein spricht: er sei von Beatrice bis ins Innerste seines Wesens erschüttert worden; er wolle ihr ein Denkmal setzen. Dante sagt nirgends, daß er in seinem Werk bereits für seine Epoche spreche.

Das Neue, der wirkliche Wandel, kommt Jahrhunderte später mit Shakespeare, mit ›Romeo und Julia‹. Romeo – das scheint mir wichtig zu sein – ist keine außerordentliche Figur wie etwa Coriolan oder Cäsar oder Hamlet; ebensowenig ist Julia eine außerordentliche Frau wie etwa Kleopatra oder Portia. Die beiden lieben einander: das ist ihr Mittelpunkt und ist der Mittelpunkt des Dramas. Wahrscheinlich war dies noch gar nicht symptomatisch für die Shakespeare-Zeit, sondern wurde es erst für die Epoche, die ein Jahrhundert später kam. Aber da Shakespeare ein Dichter war, stand er nicht wie die meisten der heutigen sogenannten Schriftsteller hinter seiner Zeit zurück oder im besten Falle als Photograph ihren Erscheinungen gegenüber, sondern hatte Visionen und schuf in ihnen Menschen, die für eine viel spätere Zeit symptomatisch werden konnten.

Als dann Goethe 1774 seinen ›Werther‹ schrieb, war die Liebe eines Mannes zu einer bestimmten individuellen Frau für die Epoche schon so charakteristisch geworden, daß er mit seiner Veröffentlichung eine kleine Selbstmordepidemie auslöste. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich wird die Beziehung eines Mannes zu einer Frau immer mehr zum Mittelpunkt des Dramas. Ibsen und Strindberg sind ohne sie nicht denkbar. In unserer Zeit aber – nach dem Ersten Weltkrieg und nach der Oktober-Revolution – reichen diese Stoffe nicht mehr aus.« Das waren ungefähr meine Worte.

Brecht hatte kaum unterbrochen – und wenn, dann nicht um zu polemisieren, sondern weil er den einen oder anderen Punkt ausführlicher erörtert haben wollte oder selbst einige Bemerkungen in der gleichen Richtung zu machen wünschte.

Es war spät geworden. Bevor wir aufbrachen, verabredeten wir, uns öfter zu sehen, und Brecht fragte, ob er mir unveröffentlichte Manuskripte senden könne.

Seit diesem Gespräch – Brecht stand damals etwa in der Mitte seines Lebens – kannten wir uns, kannten uns mit langen Unterbrechungen zwanzig Jahre. Das letzte Mal sah ich Brecht in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg, bevor er nach Europa und dann in die Ostzone ging. In der letzten Epoche seines Lebens, nach 1947, bin ich ihm nicht mehr begegnet.5

Seit dieser ersten Nacht im Frühling 1927 sahen wir uns, wenn wir beide in Berlin waren, ziemlich regelmäßig, im allgemeinen mindestens einmal in der Woche. Brecht kam seltener zu mir – ich wohnte in der Koblankstraße, nicht weit vom Schönhauser Tor in unmittelbarer Nähe der Volksbühne, er hatte ein Atelier am Knie und war viel in der Wohnung der Schauspielerin Helene Weigel, die er 1929 heiratete.6

Ich hielt damals Kurse, in denen ich gewisse Zusammenhänge des Marxismus mit den Geisteswissenschaften zu analysieren versuchte. Auch Brecht nahm einige Zeit an meinen Kursen teil, gab dies aber dann – und wir waren uns darin einig – wieder auf. Das systematische Denken lag ihm nicht. Wenn daher in einem größeren Kreise ein bestimmtes Thema analysiert wurde, war die Diskussion mit ihm nicht sehr fruchtbar. Dagegen konnte eine Diskussion mit Brecht allein unendlich fruchtbar sein. Ich sagte ihm einmal: »Sie denken nicht in geraden Linien, Sie denken im Rösselsprung. Sie denken in Assoziationen, auf die sonst kaum jemand käme.« So verhielt es sich in der Tat –: wir hatten manchmal stundenlange Diskussionen. Brecht war ungemein wißbegierig und konnte sehr gut fragen. Manchmal merkte man im Laufe eines Abends, wieviel er in wenigen Stunden gelernt hatte. Bald beim Fragen, bald beim Nachdenken explodierte es in ihm, und er sagte dann neue, sehr originelle Dinge. So wurde oft ein Abend, der damit begonnen hatte, daß Brecht gewisse Dinge von mir wissen, und zwar sehr genau wissen wollte, für mich wiederum außerordentlich fruchtbar; denn mitten in einer Erklärung konnte er Anschauungen formulieren, die in dieser Form für mich neu waren und mich zwangen, die Dinge noch einmal durchzudenken.

Wir redeten die ganzen Jahre immer wieder über ein und dasselbe Thema: über den Dichter in der Zeit, oder um es noch deutlicher zu sagen: über den Dichter in unserer, in der heutigen Zeit, über den Dichter im Deutschland vor 1933. Brecht brachte mir damals fast alles, was er schrieb, darunter sehr vieles, was zunächst nicht veröffentlicht wurde; und wir diskutierten oft ganze Abende lang über seine Werke. Er brachte nicht nur seine Dramen, sondern auch seine Gedichte. Wir sprachen natürlich vor allem über seine Dramen. Als »Mann ist Mann« erschienen war, brachte er mir ein Exemplar und schrieb hinein: »Meinem ersten Lehrer«.7

Manchmal unterhielt sich Brecht mit mir über Projekte, die noch keine festen Formen gewonnen hatten, die in seinem so produktiven Kopfe erst als plastische Gedanken bestanden. Eines Tages rief er mich zum Beispiel an und fragte durchs Telefon: »Sagen Sie, Sternberg, hat es in den Kriegsjahren 1916/17 noch viele Freiwillige gegeben?« Ich sagte: »Nein, Freiwillige gab es 1914 in den ersten Kriegsmonaten, aber schon 1915 waren es nicht mehr viele. Warum wollen Sie das wissen?« Brecht antwortete: »Ich möchte gleich zu Ihnen kommen, um Ihnen das zu erklären.« Ich muß hinzufügen, daß wir einige Tage vorher den »Braven Soldaten Schweyk« auf der Bühne gesehen hatten. Es war die berühmte Piscator-Inszenierung von 19288 mit Max Pallenberg als Schweyk.

Brecht kam also zu mir und begann gleich: »Ich habe eine Idee zum Soldaten Schweyk. Ich möchte in einem Gebäude den Ludendorff darstellen, wie er vor riesenhaften Landkarten steht. Das Zimmer muß außerordentlich hoch sein, so hoch wie sonst zwei Stockwerke. Und auf diesen Landkarten dirigiert Ludendorff die deutschen Divisionen. Er dirigiert sie von der Ostfront – damals war Revolution in Rußland – an die Westfront; er dirigiert sie nach Rumänien; er dirigiert sie nach Italien. Er hat die innere Frontlinie; er hat ein glänzend funktionierendes Eisenbahnsystem; aber die Divisionen kommen nicht rechtzeitig an, und sie kommen nicht in der von ihm geplanten Stärke an. Sie kommen auch nicht in der von ihm bestimmten Zahl. Es funktioniert nicht – und warum funktioniert es nicht?

Unter dem riesigen Zimmer, in dem Ludendorff an seinen Karten regiert und die deutschen Divisionen hin- und herschiebt, befindet sich ein großer kellerartiger Raum, der mit Soldaten gefüllt ist; und wenn man näher hinsieht, ähneln sie alle in irgendeiner Form dem Schweyk. Und die Schweyks werden in Bewegung gesetzt. Sie wehren sich nicht direkt, aber sie kommen nicht oder nicht rechtzeitig an. Es gibt Zwischenfälle. Immer mehr und immer vielseitigere Zwischenfälle, die sie hindern; sie brauchen mehr Zeit, sie verschwinden. Es gibt nirgendwo einen aktiven Widerstand; es gibt nicht einmal im Gespräch eine Opposition, die direkt gegen den Krieg gerichtet wäre: sie folgen allen Befehlen, sie respektieren ihre Vorgesetzten, sie setzen sich, wenn sie die Marschorder bekommen, in Bewegung. Aber niemals erreichen sie in der Zeit, die Ludendorff oben an der Karte bestimmt, ihren Bestimmungsort, und niemals erreichen sie ihn vollzählig.«

Das waren einige der Gedanken, die Brecht damals zu »Schweyk im Ersten Weltkrieg« aussprach. Ich weiß nicht, ob er sie jemals zu Papier gebracht hat.9

Brecht war sehr kritisch gegenüber manchen seiner Dramen, und ich sagte ihm, er werde es noch sehr schwer haben, schwerer als Shakespeare. »In der Zeit, als Shakespeare schrieb, in der Zeit, die noch im wesentlichen vom Feudalismus bestimmt und beherrscht wurde, mit einigen städtischen Inseln in diesem feudalen Ozean – in dieser Zeit«, sagte ich, »hatten die Menschen einen bestimmten Standort in der Gesellschaft. Der einzelne wußte es, und alle wußten es. Die Gesellschaft war in ihrem soziologischen Charakter deutlich sichtbar. Man wußte, was ein König, was ein Graf und was ein Großgrundbesitzer war; man wußte, was ein Leibeigener, war. Man konnte mit bloßem Auge die soziologische Schichtung im wortwörtlichen Sinne sehen und brauchte sie nicht erst vorher durch den Verstand zu analysieren. Der damalige Dramatiker konnte daher weitgehend intuitiv arbeiten – er war nicht so sehr auf seinen Verstand angewiesen. Er brauchte auch nicht zu befürchten, daß die rationale Analyse die dichterische Intuition zerstören oder deren Entfaltung hemmen werde.

Heute dagegen«, suchte ich Brecht zu erklären, »liegt es in einem entscheidenden Punkte anders. Heute, in der modernen Industriegesellschaft, kann man die verschiedenen sozialen Schichten nicht einfach mit den Augen sehen. Gehen Sie einmal in eine Fabrik, sehen Sie, was die Unternehmer, was die Direktoren, was die Angestellten, was die Arbeiter tun. Wenn Sie all dies gesehen haben, wissen Sie gar nichts. Der Arbeiter kann gut bezahlt oder aufs schwerste ausgebeutet werden. Das Sehen allein führt zu keinem Resultat und ebensowenig die Intuition. Es ist notwendig, daß vorher eine Analyse der heutigen Gesellschaft stattfindet, die nur durch die Ratio und nicht durch die Intuition geleistet werden kann, und daß Sie hinterher, nachdem Ihnen dies geglückt ist und Sie nicht mehr jedesmal eine rationale Analyse zu vollziehen brauchen, wieder versuchen, die Ratio zurückzudrängen und Ihre großen intuitiven Quellen auszuschöpfen.«

Das ist ein ungeheuer schwerer Prozeß, darüber waren wir uns einig – wie wir uns auch darüber einig waren, daß es keinen in Deutschland gab, der ihn durchgeführt hätte. Es gab Schriftsteller, die wie Thomas Mann (dessen Werk Brecht schon damals nicht sehr hoch einschätzte) sich der Epoche, in der wir lebten, zu entziehen suchten; und es gab Schriftsteller, die glaubten, ihr zu begegnen, wenn sie Verse schusterten, die sich auf Elektrizitätswerk reimten. Wir hatten keinen großen Dichter in Deutschland – Brecht war ein Dichter.

Als wir über die Notwendigkeit der Ratio sprachen, sagte ich ihm einmal, er werde mich vielleicht später hassen. Solange er versuche, sich über die Ratio ein Bild der heutigen Gesellschaft zu machen, werde er nicht schreiben können. Und diese Periode könne lange Zeit dauern. Brecht gab dies zu. Tatsächlich hat er in den ersten zwei Jahren, in denen wir uns kannten, nur sehr wenig geschrieben. Aber Brecht meinte gleichzeitig, er werde die Haßgefühle gegen mich bekämpfen, da er ja wisse, woher sie kämen. Für ihn sei die Erfassung der Wirklichkeit einfach eine Lebens- und Schaffensnotwendigkeit. Blicke ich heute auf Brecht und sein Schaffen zurück, so will mir scheinen, daß ihm weder das eine noch das andere völlig geglückt ist. Die rationale Erkenntnis unserer heutigen Gesellschaft ist ihm nicht restlos gelungen; und er war auch nicht immer imstande, rationale Erkenntnisse so selbstverständlich in sein ganzes Sein, in seine ganze Existenz zu integrieren, daß seine intuitiven schöpferischen Kräfte darunter nicht litten.

Aber zurück zu Berlin und den zwanziger Jahren. Wir sahen uns viel in der Zeit der Prosperität; wir sahen uns aber auch viel in der Zeit der Krise, als der Nationalsozialismus immer stärker wurde. Wir diskutierten zu zweit, zu dritt; ja manchmal war ein ganzer Kreis beisammen. Es gab damals viele Diskussionen, an denen Alfred Döblin teilnahm. Brecht liebte ihn sehr. Er sagte mir einmal, er habe zwei uneheliche Väter: der eine sei Georg Kaiser, der andere Alfred Döblin. Diesen beiden und Lion Feuchtwanger fühlte er sich verpflichtet für die Ausarbeitung seiner eigenen Anschauungen über das epische Drama. Wenn Brecht und Döblin zu mir kamen – Döblin war in der ersten Zeit noch Nervenarzt und wohnte in den Arbeitervierteln Berlins –, dann erzählten sie sich lustige Geschichten oder spielten auch nur mit Worten. Sie konnten lachen wie die Kinder, lange und herzlich lachen. Es dauerte manchmal eine gute Stunde, bis wir zu einer ernsthaften Diskussion kamen. Und blieben wir unter uns, dann waren beide, die sonst so empfindlichen, auch fähig und willens, sich kritisieren zu lassen.

1929 war Döblins Roman »Berlin Alexanderplatz« erschienen und im Gegensatz zu seinen früheren Werken ein großer Publikumserfolg geworden. Wir beide, Brecht und ich, hatten den Roman mehrfach gelesen. Vieles gefiel uns daran; aber wir waren in einem Punkt nicht einverstanden. In Döblins Buch nahm das Lumpenproletariat den entscheidenden Platz ein, Huren und ihre Zuhälter. Wir bestritten nicht, daß diese Schichten eine Rolle spielten, aber wir bestritten, daß sie die Rolle spielten, die ihnen Döblin gab. Nicht am Alexanderplatz und nicht in Berlin. Döblin hatte die Arbeiter vergessen, und das schien uns deshalb so wesentlich, weil der deutsche Roman und vor allem auch Thomas Mann immer die industriellen Arbeiter vergessen hatten. Döblin machte erst eine Reihe von Einwendungen – dann wurde er still und nachdenklicher. Ich hatte zunächst den Angriff gegen ihn geführt; um so mehr mußte es daher Döblin treffen, als Brecht auf eine direkte Frage kurz und eindeutig sagte: »Ich glaube, daß Sternberg recht hat.« An diesem Abend meinte Döblin, er werde einen weiteren Band über den Alexanderplatz schreiben, in dessen Mittelpunkt dann die Arbeiter stünden. Leider hat er es nicht getan.

Als die Wirtschaftskrise schärfer wurde, fanden unsere Diskussionen zeitweilig häufiger statt. Brecht sah völlig klar, daß die Nazis an Boden gewannen und daß die Position der Linken sich verschlechterte. Wir waren uns nicht über alle Faktoren einig, die zu dieser Entwicklung geführt hatten. Bereits damals stand Brecht nach meiner Anschauung der Kommunistischen Partei Deutschlands viel zu unkritisch gegenüber, obwohl er nicht Mitglied der Partei war. Aber unabhängig von sehr wesentlichen Meinungsverschiedenheiten über konkrete politische Fragen, stimmten wir doch darin überein, daß ein erheblicher Teil der deutschen Mittelschichten – erschüttert durch den verlorenen Ersten Weltkrieg, erschüttert durch die nachfolgende Inflation, in der ein großer Teil von ihnen sein Vermögen verlor, erschüttert durch die große Weltwirtschaftskrise, die Deutschland schwerer traf als die übrigen Länder Europas – am ehesten Opfer der nationalsozialistischen Propaganda werden könnte und werden würde.

Brecht meinte, man müsse etwas dagegen tun. Auch die Schriftsteller müßten etwas dagegen tun. Eines Tages bemerkte er bei einer Diskussion, es sei verhältnismäßig leicht, zu Arbeitern zu sprechen; denn die seien direkt von der Krise betroffen, einmal durch die Arbeitslosigkeit und dann durch den Rückgang ihrer Löhne. Es sei viel schwerer, zu Leuten aus den Mittelschichten zu sprechen. Brecht erwähnte dabei seinen Bruder, der damals Ingenieur war, und erklärte, solange der beschäftigt sei, kümmere er sich kaum um die Krise und die politische Lage. Bei weiteren Diskussionen suchten wir ein Wort zu finden, um uns klar zu machen, worum es ginge. Wir konstruierten auch zusammen ein solches Wort: den »Umwälzungsgrund«, d. ‌h. den Grund, die Ursache, warum bestimmte Mittelschichten für eine Umwälzung der Gesellschaft eintreten sollten. Wir kürzten das Wort »Umwälzungsgrund« ab und sprachen vom Ug. Jede besondere Mittelschicht, erklärten wir, hat heute in der Krise einen Ug, einen Ug, der für die verschiedenen Mittelschichten sehr verschieden liegt: für die alten Mittelschichten, die Handwerker und Kleinhändler, liegt er anders als für die neuen Mittelschichten, die Angestellten; für die Ingenieure liegt er anders als für die Architekten. Ein besonderes Problem waren die Frauen.

Nach einem Gespräch zu zweit kamen wir mit Döblin zusammen und diskutierten die Aufgabe der Schriftsteller. Diese sollten, fanden wir, den besonderen Ug oder die besonderen Umwälzungsgründe für die einzelnen Mittelschichten herausfinden, um durch die Analyse einmal die verlogenen Programme der Nazis zu enthüllen, zum anderen aber auch positive Vorschläge zu machen. Denn es war für uns selbstverständlich, daß bei der Schwere der Krise eine Analyse allein nicht ausreichen würde, daß vielmehr positive Vorschläge gemacht werden müßten. Döblin war durchaus mit uns einig; er machte sich auch an die Arbeit. Aber was damals herauskam, war nur ein Ehestück, besser: eine Ehesatire.10

Unsere Diskussionen wurden im Sommer in der Regel unterbrochen, da wir beide während dieser Zeit meist nicht in Berlin waren. Brecht hielt sich öfters in seiner Geburtsstadt auf, wo ich ihn auch einmal besuchte. Er stammte aus einer guten Mittelstandsfamilie. Sein Vater, den ich ebenfalls kennenlernte, war Direktor einer Papierfabrik. Er besaß ein Haus, und Brecht hatte im Obergeschoß einige Räume inne, die auch dann unvermietet blieben, wenn er nicht in Augsburg war. Ich fragte ihn bei Gelegenheit, warum er denn so oft im Sommer nach Augsburg ginge. Brecht lächelte verschmitzt: »Im Winter in Berlin, da ist Saison, da ist so viel Ablenkung, da komme ich nicht zum konzentrierten Schreiben. Da komme ich vor allem nicht dazu, ein Stück zu schreiben. In Augsburg liegt das anders. Hier kenne ich wenige Leute und verkehre nur mit wenigen Leuten. Augsburg hat zwei Kinos. Die wechseln in der Woche einmal ihr Programm. Da sind höchstens vier Abende besetzt, und ich langweile mich. Was kann ich tun? Ich muß arbeiten. So schreibe ich hier meine Stücke und komme zur Saison nach Berlin immer mit einem Stück.«

Direkte finanzielle Sorgen hatte Brecht nicht. Er meinte, die schlechteste Zeit in seinem Leben sei die verhältnismäßig kurze Periode gewesen, in der er Kurzgeschichten für Geld schreiben mußte. Aber diese Periode war damals schon vorbei. Brecht erzählte mir auch, er habe einen Fünfjahresvertrag mit dem Ullstein-Verlag abgeschlossen. Während dieser fünf Jahre erhalte er monatlich 600 Mark. Seine Verpflichtung Ullstein gegenüber bestehe darin, daß er dem Verlag seine Werke in diesen fünf Jahren zum Druck gebe – jene, wohlgemerkt, die er allein schreiben würde. Ullstein könne den Profit aus diesen Büchern und den Profit aus den Theateraufführungen der Brechtschen Werke aufrechnen, bis die Summe von 30 000 Mark (je 6 000 Mark in fünf Jahren) erreicht sei. Aber weder die Brechtschen Bücher noch die Aufführungen Brechtscher Werke waren damals ein finanzieller Erfolg. Brecht meinte, damit sei er wahrscheinlich einer der seltenen Fälle, in denen Ullstein von einem Autor ausgebeutet werde. Ich fragte: »Und die ›Dreigroschenoper‹?« Sie fiel nach Brecht nicht unter diesen Vertrag mit Ullstein. Er hatte sie nicht allein geschrieben, sondern sie war eine Gemeinschaftsarbeit von ihm und Weill. Brecht bekam also den größten Teil der Honorare für die Aufführungen. Auf der einen Seite, erzählte er mir, wachse sein Defizit mit Ullstein ständig an – aber eben ein Defizit, das er nicht zu bezahlen brauche –, während auf der anderen Seite sein Bankkonto durch die »Dreigroschenoper« ständig zunehme.

Brecht war, wie man weiß, selbst Regisseur; aber in diesen Jahren hatte er im allgemeinen einen Regisseur für seine Stücke, und gewöhnlich gab es sehr bald Krach. So auch bei der Dreigroschenoper. Brecht erzählte mir, daß dem Regisseur eine Woche vor der Uraufführung gekündigt worden sei und daß er selbst die endgültige Regie übernommen habe. Der Regisseur11 ging zu dem damaligen Direktor des Theaters am Schiffbauerdamm, Aufricht, und erklärte ihm, jedes der Brechtschen Stücke sei bisher ein Mißerfolg gewesen; mit der »Dreigroschenoper« werde es ebenso gehen. Es wäre gut, bereits auf Vorrat ein Stück zu inszenieren, um etwas zu haben, wenn nach ein paar Tagen die »Dreigroschenoper« vom Spielplan abgesetzt werden müßte. Nun, es kam bekanntlich anders. Die »Dreigroschenoper« wurde ein großer Erfolg, zunächst in Deutschland; aber nunmehr, ein Vierteljahrhundert später, in der ganzen Welt.