Der Diener des Philosophen - Felix Heidenreich - E-Book

Der Diener des Philosophen E-Book

Felix Heidenreich

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Beschreibung

Ein unterhaltsamer Roman über den Philosophen Immanuel Kant und die Abgründe der Aufklärung. Als der ehemalige Soldat Martin Lampe in den Dienst des jungen Philosophen Immanuel Kant tritt, beginnt ein Kampf zwischen Herr und Knecht. Lampe entwickelt eine eigenwillige Form des subtilen Widerstands: Nach außen gibt er den Trottel, doch in Wirklichkeit versucht er mit hinterhältigen Mitteln den Meisterphilosophen vorzuführen und treibt ihn allmählich in den Wahn. Schon bald werden der Diener Lampe und sein Herr zu einem skurrilen, stadtbekannten Paar. Doch auch Kants guter Freund Ehregott Wasianski, der später als erster Biograph Kants berühmt werden wird, hat seine Pläne. Diese zielen vor allem darauf ab, die Gefahr einer Verheiratung Kants abzuwehren, denn dies würde das Ende der genialischen Arbeit Kants bedeuten. Der Autor inszeniert ein Verwirrspiel, bei dem historische verbürgte Fakten und intertextuelle Überblendungen ineinander übergehen. Und so liefert dieser Roman nicht nur Unterhaltung, sondern zugleich einen philosophisch informierten Blick in die Abgründe der Aufklärung.

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Felix Heidenreich

Der Diener des Philosophen

Roman

Inhalt

Umschlag

Titel

Der Diener des Philosophen

Impressum

Wir fallen und fallen. Durch kalte, graue Wolken, immer tiefer hinab. Bis diese plötzlich aufreißen und uns den Blick freigeben auf ein flaches, schneebedecktes Land. Und wir fallen weiter und sehen eine kleine Stadt. Ein Fluss führt hindurch, wir erkennen einzelne Häuser. In der Mitte ein Kirchturm.

Die Glocke schlägt. Was ist das, eine Hochzeit? Menschen in schwarzen Mänteln strömen zusammen. Nein, es ist eine Totenfeier. Es muss ein wichtiger Mensch sein, der hier zu Grabe getragen wird. Die Straßen sind voll. Man rutscht über Schnee und Eis, um in die Kirche zu gelangen. Wie kleine Planeten kreisen sie um den Sarg. Ein jeder sieht die Kiste anders und sieht zugleich die anderen, die einen jeden sehen.

Entschlossenheit

Es war ein wunderbar sonniger Tag. Der Ausflug in der Kutsche hatte fröhlich begonnen, und während der Fahrt handelte das Gespräch zunächst im üblichen Plauderton von den politischen Ereignissen der Gegenwart.

Ein stetiger Wind zog durch die hohen Bäume. Das Rauschen klang wie ein einziger langer Atemzug. Ihre Blätter bewegen sich spielend im Wind, dachte er, während der Stamm unbeweglich aufrecht steht. Wie ein Cogito, ein »Ich«, mit seinen Erscheinungen. Wie bewundernswert stark die Säulen-Pappeln heute im Wind residierten, unter dem weiten Himmel Preußens! War es nicht herrlich, als junger Mann mit dem großen Philosophen und seinen Freunden übers Land zu fahren?

Sie machten Rast in einem Gasthaus, wo Wein im Garten serviert wurde. Zum ewigen Frieden stand auf einem großen Holzschild. Der Name verwies auf den angrenzenden Friedhof. Doch er sah hinüber in die andere Richtung, hinab zu einem kleinen Weiher. Und während Kant mit seinen anderen Freunden über Berlin und Wien, Paris und London sprach, fiel Wasianskis Blick auf ein seltsames Tier, das dort am Ufer im Wasser stand. So einen Vogel hatte er hier noch nie gesehen. Sein Schnabel war groß und breit wie ein Schuh. Er stakste im Wasser wie ein Storch, war aber kleiner, breiter und von blau-grauem Gefieder. Seine Bewegungen waren seltsam ruckhaft, wie ein tickendes Uhrwerk bewegte sich das Tier, dachte er überrascht. Und dann blieb der Vogel plötzlich stehen und starrte ins Wasser, unbeweglich. Was ist das nur für ein Tier?, dachte er. Ein Waldrapp? Dafür ist der Schnabel viel zu breit. Ein seltsam fremdes Tier.

Da drehte der Vogel plötzlich den Kopf zur Seite, und sein kalter Blick aus der schwarzen Pupille traf Wasianski. Es war, als blickte dieses seltsame Tier in ihn hinein, in die dunkelsten Ecken seiner Seele. Und dann öffnete es plötzlich seinen breiten Schnabel, und ein seltsames, krähendes und kreischendes Geräusch entfuhr dem Tier, als wollte es vor einer Gefahr warnen. Oder einen Fluch ausstoßen. Wasianski wandte sich ab.

Die anderen hatten das Tier nicht bemerkt, und er zögerte, sie auf diese Kreatur hinzuweisen. Hatten sie es überhaupt gesehen? Die Herren wechselten die Themen schneller, als er folgen konnte. Es ging um die große Politik, Allianzen, Strategien, ja Menschheitsepochen. Er versuchte verzweifelt, irgendwie einen Punkt zu finden, der ihm den Einstieg in das Gespräch ermöglichen würde. Doch er war der Jüngste, und niemand schien an seiner Meinung Interesse zu haben.

Auf der Rückfahrt kam die Sprache dann doch auf jene Frage, die unausgesprochen den ganzen Tag herumgegeistert war. Die anderen redeten Kant zu. Es sei an der Zeit, erklärte Joseph Green. Und Hippel formulierte geradezu ein Plädoyer für die Ehe, ganz so, als habe er sich die Argumente seit Jahren bereitgelegt. Dabei war dieser Hippel gar nicht verheiratet! Soll er doch erst einmal selbst, bevor er andere …, dachte er, während er auf Hippels breiten Mund blickte. Die Zähne seines Unterkiefers wirkten unnatürlich lang und hervorstehend, in seinem Mundwinkel sammelte sich weißer Schaum.

Hippel hatte seine wirren Reden gar mit der Frage »Wie oft?« beendet. Der Ackermann solle seine Saat nur ausbringen, wenn er hoffen dürfe, dass diese auch aufgehe. Andererseits seien Kinder ja nicht der Endzweck der Ehe. Es müsse auch Ehen ohne Kinder geben können, so Hippel. »Wer Hunger hat, isst, wer müde ist, schläft«, hatte er gesagt, »auch am Sonntag!«. Wasianski traute seinen Ohren kaum. Doch Hippel war nicht zu bremsen. »Die Seele hat zwar den ganzen Körper gemietet, allein sie residiert im Oberstockwerk. Man könnte sagen, dass sie zum Fenster herausguckt, weil man sie zuweilen im Auge beinahe sieht«, so erklärte Hippel. Warum nur blieb dieser Hippel nicht bei seinen Leisten, beim Strafrecht, bei den Fragen der Verwaltung, dachte Wasianski. Glaubt denn heute ein jeder Trottel, er müsse ein Freidenker und Schriftsteller werden?

Er konnte es kaum glauben, als Kant schließlich von seiner Absicht berichtete. Er, Kant, habe sich bereits ausführlich mit der Philosophie der Ehe beschäftigt und erkenne deren logische Notwendigkeit an. Schon bald seien hier bahnbrechende Einsichten aus seiner Feder zu erwarten, Einsichten, die ihn, so Kant, berühmt machen könnten. Daher sei er der Ehe aus philosophischen Gründen nicht abgeneigt.

Sein Herz begann zu rasen. Er trug Kant die naheliegenden Bedenken so bedächtig und dennoch eindeutig wie irgend möglich vor, musste aber feststellen, dass er nicht durchdrang, ja sich immer mehr lächerlich zu machen drohte, und die anderen nur mit sanftem Spott auf seine Fragen antworteten. Er versank immer tiefer in seinem Mantel. Der blaue Vogel mit dem breiten Schnabel ging ihm nicht aus dem Sinn.

Eher reserviert hatten sie sich verabschiedet. Kants Pläne schienen festzustehen.

Den ganzen Tag grübelte er weiter. Am Abend war ihm ein Gedanke gekommen. Im Schuppen fand er, was er brauchte. Hier lagen noch Reste vergangener Schreinerarbeiten.

Vorsichtig wog er das Holz in seiner rechten Hand. Ja, so könnte es gehen, dachte er. Die Kanten waren scharf geschliffen, das Eichenholz ausreichend hart, gutes deutsches Holz. Und doch war das Stück so klein, dass es unauffällig in seinem Mantel zu verstauen war.

Es wird darauf ankommen, dass ich den Mut finde, entschlossen zuzuschlagen, dachte er. Alles musste so gut durchdacht und vorbereitet sein, dass der letzte Schritt nur noch ganz klein und geradezu notwendig war. Nur so würde es gelingen, die natürliche Hemmung zu überwinden und die Pflicht des Dieners zu erfüllen.

Sorgfältig verstaute er das Vierkantholz in seinem Schrank. Es muss sein, dachte er, während er das Schloss verriegelte und den Schlüssel in seine Jackentasche steckte.

Vergessen

Ich glaube nicht, dass ihm die Beerdigung gefallen hätte. Die Straßen waren gesäumt von Neugierigen, die unbedingt dabei sein wollten, wenn ein Weltphilosoph zu Grabe getragen wird. Ein Spektakel in Königsberg.

Die Kälte dieses klaren Wintertages kroch mir von allen Seiten in die Knochen. Auch im Dom schienen sich die Menschen wie Tiere vor einem Trog zu drängen. In dieser Menge sah ich nur den schmutzigen Nacken meines Vordermanns. Die feierlichen Reden waren hinten kaum zu verstehen. Die Musik klang in all dem Husten weit entfernt und sehr verschwommen.

Ich verstand kaum ein Wort, war nur damit beschäftigt, mich nicht zu erkälten und atmete verzweifelt durch die Nase wie viele andere auch, um die eisige Luft erst zu erwärmen, bevor sie in die Lunge fährt.

Der Eifer der Trauernden hätte ihn befremdet.

Als schließlich der Sarg in die Professorengruft getragen wurde, überkam mich das seltsame Gefühl, einem hochbedeutsamen und zugleich völlig belanglosen Ereignis beizuwohnen. Nun ist es also zu Ende, dachte ich. Eigentlich war es für mich schon vor zehn Jahren abgeschlossen. Die Zeremonie schien lediglich ein Siegel auf die bereits geschlossene Akte zu drücken.

Als sich die Gruppe schließlich auflöste, kam Wasianski auf mich zugestürmt. Der beste Freund und beständige Begleiter des Meisters. Es wird nicht lange dauern, bis er mit allerlei Geschichten an die Öffentlichkeit gehen und sich als Sachwalter des Weltphilosophen in Szene setzen wird. Auch er ist alt geworden, seine Haare grau und wirr. Er schien aufgebracht und durcheinander, wenn auch sichtlich bemüht, ein gutes Bild abzugeben, korrekt gekleidet und mit einem dünnen Gehstock bewaffnet.

Ich versuchte verzweifelt, ihm aus dem Weg zu gehen. Vergeblich. Er holte mich ein und begann ohne Begrüßung auf mich einzureden, mich zu beschimpfen. Er hielt mir einen Zettel unter die Nase: Der Name Lampe muss nun endlich völlig vergessen werden!, stand da. Wie ich sofort erkannte, war es in der Tat Kants Handschrift. Ich begriff nicht und blickte Wasianski nur fragend an, während er mich anzischte. Ich sei ein elender Dummkopf und hätte den großen Philosophen ins Unglück gestürzt, ihn ins Grab gebracht, ihm den Verstand geraubt. Ich sei der Grund, warum sein Werk unvollendet blieb.

Ich erschrak bis ins Mark. Benommen und verwirrt wankte ich heim.

Endlich zu Hause. Ich zerre mir den klammen Mantel vom Leib. Meine Finger sind steif, meine Zähne klappern. Und doch muss ich lächeln. Sollte Wasianski Recht haben? Sollte es möglich sein, dass er, Kant, sich selbst schriftlich daran erinnern musste, mich zu vergessen? Mich, den elenden, beständig verspotteten Diener Lampe? Dann wäre mein Plan aufgegangen.

Jahrelang habe ich versucht, ihn zu vergessen, mich dazu angeleitet, nicht an ihn zu denken. Und lag dann doch nächtelang wach und konnte nicht anders, als an ihn zu denken. Meine Gedanken drehten sich um ihn, unaufhaltsam angezogen von einer rätselhaften Leerstelle, von einer schwarzen Sonne. Es hat mich Jahre gekostet, meinen Hass auf ihn zu überwinden. Ja, jetzt kann ich es so sagen: Ich habe ihn gehasst.

Kisten

Joseph Greens beiläufiger Blick auf die Turmuhr ließ ihn erschrecken. Schon so spät? Vermutlich würde Kant wie beinahe jeden Tag um diese Stunde sogleich bei ihm läuten und ihm seine neuesten, womöglich spektakulären, vielleicht aber auch nur winzig kleinen Fortschritte zur Bewertung vortragen. Eigentlich fühlte sich Green geehrt, von einem so bedeutenden Philosophen um Rat gefragt zu werden, ja mit seinen Einwänden und nicht selten leicht spöttischen Kommentaren auf ein stets offenes Ohr zu stoßen. Doch gerade jetzt drängten wichtige Geschäfte. Greens Compagnon Robert Motherby hatte zum wiederholten Male um eine Aufstellung gebeten, die Green noch nicht abgeschlossen hatte. Kants Besuche stießen bei Motherby auf erkennbar wenig Begeisterung, schienen sie doch dem Geschäft zu schaden und drohten, eine kaum noch tolerable Ablenkung zu werden, die nicht mehr zu rechtfertigen war. Wäre es nicht beinahe ein Wink des gütigen Himmels, wenn Kant heute keinerlei Einfälle vorzutragen hätte und deshalb von seinem zur Gewohnheit gewordenen Abstecher zu Green absehen würde?

Die Mächte des Himmels schienen Green gewogen zu sein und zu seiner Überraschung der moralischen Mindestforderung der Fairness zu genügen. Die Zeit war nun schon so weit fortgeschritten, dass nicht mehr mit Besuch zu rechnen war.

Zufrieden wanderte Greens Blick durch den Raum. Zur Rechten öffnete ein Fenster den Blick auf den Pregel; die Güter, die hier von den kleinen Segelschiffen gelöscht wurden, konnten direkt durch den großen Torbogen in den Innenhof verbracht, inventarisiert und in den umliegenden Gebäudeteilen gelagert werden. Auf diesen Innenhof ging das Fenster zu seiner Linken. An der Wand hinter seinem Arbeitstisch wusste Green seine Bibliothek, wohlsortiert in seinem Rücken wie eine große schützende Hand aus Ledereinbänden und Papier. Trotz der nicht endenden Sorgen des Kaufmannslebens hatte er es sich in seiner Welt gut eingerichtet, dachte Green.

Womöglich hatte er sich ganz umsonst Gedanken gemacht und konnte nun endlich seine Zeit ganz ungestört jenem eigentlichen Tagwerk widmen, von dem ihn den ganzen Vormittag die verschiedensten Kleinigkeiten abgehalten hatten. Doch gerade als er den Bogen Papier bereitgelegt hatte und im Begriff war, die Aufstellung der strittigen Auslagen in Angriff zu nehmen, ja genau in jenem Moment, in dem die Feder das Papier berührte, ertönte unten die Klingel. Bedeutsame Gleichzeitigkeit, schoss es Green durch den Kopf, und schon hörte er seinen Adlatus zur Tür eilen, um Kant zu öffnen und ihn hinaufzubegleiten. Konnte er Kant hinausbitten mit dem Hinweis auf eine anzufertigende Aufstellung von eingelegten Heringen, Seilen und Stoffen? Er würde es nicht wagen.

Schon hörte er Kants leichten, federnden Schritt auf der Treppe. Greens Diener öffnete die Tür und kündigte »Herrn Professor Kant« an.

Und als dann Kant hereinstürzte, Green mit leuchtenden Augen begrüßte und sogleich zu berichten begann, wurde Green klar, warum er diesem seltsamen Wesen nichts ausschlagen konnte. Kants Kopf wirkte seltsam groß, seine Hände und Finger indes sehr klein. Der Körper war unglaublich schmächtig, Arme und Beine erschreckend dünn; der ganzen Erscheinung mangelte es erkennbar an Gewicht. Nur die Augen strahlten, seine Stimme war seltsam hell, eher wie die einer Frau. Beinahe wie ein großes Kind, dachte Green, der sich bei der Begrüßung regelrecht hinabbeugen musste zu seinem kleinen Freund. Er scheint auch kaum Bartwuchs zu haben, dachte Green, während sie die Hände schüttelten und einander begrüßten. Irgendwie fühlte er sich diesem wunderlichen Menschen, diesem Wesen, wie er auf Deutsch dachte, auf merkwürdige Weise verbunden, obwohl Kant ihm wie von einem anderen Stern zu sein schien.

Und als dieser berichtete, dass er heute früh beim Morgentee den Stützbalken eines philosophischen Gebäudes nach langer, Wochen, ja Monate beanspruchender Feinarbeit endlich verfugt habe, klopfte ihm Green väterlich auf die Schulter. Noch, so Kant, sehe er nicht vollends klar. Noch könne er nicht abschätzen, was dies genau bedeute. Aber zum ersten Mal gebe es so etwas wie Licht im Nebel der Probleme.

Das sei ja hocherfreulich, versicherte Green und seufzte innerlich, da ihm sofort klar war, dass die heutige Prüfung der philosophischen Einsichten so lange dauern würde, dass die Aufstellung für Motherby erneut verschoben werden müsste.

»Seht nur«, sagte Kant und hielt ihm einen Zettel mit zwölf Worten in vier Gruppen hin. Was hat er sich nur wieder ausgedacht!, ging es Green durch den Kopf. Kant erläuterte, es handle sich um angeborene »Kategorien«, um unhintergehbare Ordnungsmuster, die jedes Vernunftwesen zur Anwendung bringen müsse. Einheit, Vielheit, Allheit, las Green. »Enden die alle auf -heit?«, fragte Green.

Doch Kant antwortete nicht, sondern führte Green zum Fenster. »Seht hier in Euren Innenhof«, sagte Kant und deutete auf die Arbeiter der Firma Green & Motherby, die Fässer und Kisten ausluden, umsortierten und ordneten. »So macht es unser Verstand mit den Sinneseindrücken. Wir ordnen, indem wir Urteile fällen, Urteile, die wir nach Quantität und Qualität, Relation und Modalität bestimmen. Und alle Urteile, die wir überhaupt nur fällen können, müssen wir mit diesen Kategorien bilden.«

Green blickte hinab in das bunte Treiben. Irgendwo zwischen den Arbeitern stand plötzlich Motherby und sah fordernd zu Green hinauf. Die Liste!, schienen seine Lippen zu formen.

Green wandte sich schnell wieder Kant zu. »Höchst interessant, in der Tat«, antwortete er schnell, um zu verbergen, dass er nicht recht zugehört hatte. Herrjeh, die Liste. Motherby würde äußerst erbost sein, wenn er erfuhr, dass Green sich mit Kants Ideen beschäftigte und nicht mit der Liste. Es wäre doch besser, wenn Motherby nicht davon erführe, dass Kant hier schon wieder philosophische Probleme ins Haus brachte, die man eigentlich nicht gebrauchen konnte.

»Damit haben wir universale Verstandesbegriffe, eine Art System aus Kästen und Fächern in unserer Vernunft«, fuhr Kant fort.

»Ich glaube zu verstehen«, erwiderte Green und blickte auf den Zettel, auf dem die Begriffe wohlsortiert in vier Gruppen angeordnet waren. 1,2,3 und 4; aus drei mach vier, mal drei macht zwölf, dachte Green. Spontan wollte es ihm verdächtig erscheinen, dass die menschliche Vernunft ausgerechnet zwölf Kategorien haben sollte. Wie die zwölf Apostel, die zwölf Monate? Warum nicht elf oder dreizehn? Ist dreizehn nicht auch eine vielsagende Zahl? Er erinnerte sich dunkel an irgendeine arabische Erzählung von dreizehn Kamelen. Da ging es um einen Erbstreit. Aber zwölf? Nein, das ist zu einfach, zu simpel, zu passend!, dachte er, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann in einem langen Bogen zu seinem Schreibtisch zurückzugehen, wobei er sein linkes Bein etwas nachzog. Vor einigen Jahren war ihm eine Kiste Tee auf den Fuß gefallen. Green versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass er sich diese Verletzung gewissermaßen ganz ritterlich auf dem Kampfplatz des Überseehandels eingefangen hatte, dass er sozusagen Veteran eines Handelskrieges, also eigentlich ein Kriegsheld war. Nein, diese Idee mit den zwölf reinen Kategorien hörte sich einfach zu rund an.

»Könnt Ihr das auch beweisen? Könnt Ihr belegen, dass es genau diese Verstandesbegriffe sein müssen?«, wandte er sich an Kant, der zum anderen Fenster hinübergegangen war und nun dem glitzernden Sonnenlicht entgegenblickte, das vom Fluss reflektiert wurde. Green setzte sich an seinen Tisch und bewegte vorsichtig die schmerzenden Zehen in seinem Schuh. Ich brauche größere Schuhe, fuhr es ihm durch den Kopf. Da fiel sein Blick auf das noch immer leere Papier der Liste. Nur ein einziger Punkt war zu sehen, entstanden in jenem Moment, als die Feder das Papier berührt hatte. Ein merkwürdig kleiner und unentschlossen wirkender Punkt ist das, dachte Green. Schnell wandte er den Blick zu Kant.

Nun waren ihre Gesichter auf Augenhöhe, obwohl Kant sich keinesfalls gesetzt hatte, sondern immer noch am Fenster stand und zum Wasser hinunterblickte. Wie bei einem sitzenden Arzt, der ein stehendes Kind untersucht, dachte Green überrascht, als ihm klar wurde, dass er genau in jener Höhe blickte, die Kant stehend erreichte.

Unten, in Kants Blickfeld, lief ein streunender Hund an den Matrosen vorbei. Seltsamerweise hielt er einen alten Lederriemen im Maul, der um seinen Hals gelegt war. Merkwürdig, schoss es Kant durch Kopf, er führt sich gewissermaßen selbst an der Leine. Wie ist das möglich? Er ging langsam zum rechten Fenster hinüber und räusperte sich. Dann begann er voller Energie zu dozieren. Dass diese Kategorien ja bereits den Griechen bekannt gewesen seien, dass sie deren Funktion aber nicht richtig verstanden hatten. Dass es sich bei ihnen um unbestreitbare Vernunfttatsachen handele, dass sie kategorisch, absolut kategorisch zu verstehen seien. Dass die Reinheit, die transzendentale Reinheit dieser Kategorien denknotwendig und absolut zwingend sei.

Green hatte zwischendurch den Faden verloren, dann wieder das Gefühl gehabt, doch etwas zu verstehen, doch jetzt, als Kant langsam endete, blieben nur einzelne Wörter in seinem Kopf zurück. Streng. Rein. Prinzipiell. Dass diese Philosophen immer glauben müssen, einer ganz großen Sache auf der Spur zu sein!, dachte Green. Er versuchte einen Gedanken zu finden, an dem er wieder mitdenken konnte. Erleichtert blickte er auf, als Kant schließlich mit den Worten abschloss: »Kurzum: Das wird nicht so einfach sein, aber ich denke, es muss möglich sein. Wenn diese Begriffe tatsächlich rein in unserem Verstand zu finden sind, dann muss sich auch zeigen lassen, warum das so ist. Man muss das irgendwie als notwendig deduzieren können.«

Kant blickte einen langen Augenblick nachdenklich und zugleich voller Entschlossenheit aus dem Fenster. Green hörte plötzlich seinen eigenen Atem.

Reine Verstandesbegriffe. Green konnte dieser Liebe zur Reinheit nichts abgewinnen. Eigentlich hatte er sich etwas ganz anderes vorgenommen, etwas weniger Philosophisches. Er wollte Kant zu einer Reise nach England überreden. Oder doch wenigstens zu einem befreundeten Grafen aufs Land. Kants Denken schien Green einer gewissen Durchlüftung, einer Ortsveränderung bedürftig. Man solle keinem Gedanken trauen, der im Sitzen entstanden sei, hatte er einmal gehört. Das hatte ein befreundeter Kavallerist gesagt. Nur beim Reiten sei wahres, eigentliches Denken möglich. Am besten im Galopp, so war gesagt worden. Aber das könnte bei Kant schwierig werden. Und doch würde man auch auf einer Reise mit Kutsche oder Schiff womöglich endlich eine passende Frau für Kant finden. Nachdem nun schon die Damenwelt Königsbergs für den eleganten Herrn Professor schwärmte, müsste doch auch irgendwo eine Dame zu finden sein, die seinen Ansprüchen genügen könnte. Vielleicht würde es dann auch mit diesem Drang zur Reinheit endlich besser werden.