Der digitale Gott - Rainer Bayreuther - E-Book

Der digitale Gott E-Book

Rainer Bayreuther

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Beschreibung

Waren die Apostel die Vorläufer der heutigen Influencer? Ihre Präsenz konnten sie zwar nicht in sozialen Netzwerken nutzen, aber auch sie übten durch ihre Bekanntheit starken Einfluss aus. Auch zu unseren heutigen Emojis finden sich Vorläufer, so nutzten die frühen Christen den Fisch als Symbol zur Verständigung. Nichts liegt daher näher, als sich mit der Frage zu beschäftigen, wie sich fortschrittliche Technik und Glaube produktiv verbinden lassen. Denn die Digitalisierung wird nach und nach alle Bereiche der christlichen Frömmigkeit erfassen. Dem Glauben an Jesus Christus steht ein tiefgreifender Wandel bevor. Aber nicht der Untergang. Ein leidenschaftliches Plädoyer von Rainer Bayreuther für digitalen Fortschritt in der Kirche.

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Rainer Bayreuther

Der digitale Gott

Glauben unter technologischen Bedingungen

Für Jan Assmann, der in den Vergangenen die Zukünftigen erkennt

INHALT

Vorwort

Kapitel 1   Reich(weite) Gottes

1.1Gott im Vorgang

1.2Gott im Hier und Jetzt

1.3The medium is the (happy) message

1.4Von der Kirchenmitgliedschaft zum Kirchenmitgliedereignis

Kapitel 2   Schöpfung als Schaltung

2.1Prometheus running

2.2Religion und Schrift

2.3Religion und Code

2.4The digital Pilgrim’s Progress

Kapitel 3   Digitalisierung der religiösen Praktiken

3.1Die digitalen Kirchen

3.2Die digitalen Glaubenseinstellungen (Glauben, Hoffen)

3.3Die digitalen Charismen des Glaubens

3.4Die digitalen Charismen des Hoffens

Literatur

Anmerkungen

Vorwort

Digital Diary, Saig im Hochschwarzwald, 2. August 2022. Unter mir das natürliche Amphitheater namens Saig. Das hellgrüne Halbrund der Ränge, 150 Meter in der Höhe und 2 Kilometer im Durchmesser, öffnet sich nach Süden zur Bühne. Auf ihr wird ein Stück von Formen und Farben großen Ausmaßes gespielt. Oben mehrere Schichten von Weißblauweiß, die sich gegeneinander verschieben. Ein Bussard und ein Gleitschirm ziehen ihre Bahn, halb vom Wind und halb von den Gegenkräften ihrer Flügel gelenkt. Auf der Bühne der südliche Schwarzwald, je nach Licht und Bewuchs in allen Grüntönen tönend. Als Kulisse die Alpenkette von den Churfirsten bis zum Pizol, vorhin klarer, jetzt verblasst. Aber auch die Ränge spielen mit: Auf ihnen grast Vieh, Fahrzeuge ziehen ihre Bahn. Die Dorfkirche sondert das Vesperläuten ab, und jetzt erst fällt mir auf, wie exakt mittig auf der Halbschale sie positioniert ist. Ich, auf dem obersten Rang sitzend, die Beine im Gras, das Laptop auf den Beinen. Neben mir Ameisen auf ihrem Hügel und Hummeln in den Preiselbeeren.

Wer ist hier Akteur, wer Zuschauer? Vor allem, welches Stück welches Autors wird gespielt? Dieser Essay behauptet, Gott spielt sein Stück, das ihn selber zum Inhalt hat. Ob er wollte, was sich hier in vielen Details abspielt? Das vertrocknete Gras, den allzu warmen Abendwind, die gelben Flecken in den Birken, den vom Sturm kahlen Hang gegenüber, wollte er das? Das Stück ist so geworden, weil die Dinge miteinander vernetzt sind. Sie tauschen wie eine Rechenmaschine Informationen aus. Sie berechnen sich gegenseitig. Sie wissen, was ist, was sein wird, und sie setzen es selber um. Das Stück auf dem Amphitheater vor mir ist allwissend und allmächtig. Also göttlich. Wollen und wünschen aber sind sehr menschliche Denkfiguren.

Digital Diary, Le Porge-Océan, 13. August 2022. Welle um Welle nähert sich Gott und zerfließt mit dem letzten Kräuseln des Wassers im Unmerklichen. Nicht in der einzelnen Welle ist Gott, so mächtig sie sich auch vor mir auftürmt. Er ist im unweigerlichen, alles durchdringenden Kommen einer Welle nach der anderen. Somit auch in den Pegelausschlägen aller vor- und nachgelagerten Sachverhalte. Der Essay verficht die These, dass solcherart Gott ist, gerade der christliche Gott, der in Jesus sich nähert und kommt. Dieser Gott ist nur als der ereignende und in Frömmigkeitspraktiken gesuchte Gott zu haben. Ereignisse sind immer Informationsflüsse. Seit rund 90 Jahren gibt es Maschinen, die Informationsflüsse ver- und bearbeiten können, seit rund 30 Jahren sind sie als Personal Computer in jedermanns Hand. Die Objekte nehmen sich selber in die Hand. Das ist ein schlechterdings göttlicher Moment. Ihn versuche ich in drei Kapiteln zu denken: 1. ausgehend von aktuellen Diagnosen des Christentums in der digitalen Transformation, 2. in einer Analyse der Göttlichkeit des Code, nach dem Rechenmaschinen arbeiten, 3. in der Digitalisierung der christlichen Frömmigkeitspraktiken.

Kapitel 1 Reich(weite) Gottes

1.1 Gott im Vorgang

Jesus sagte, das Gottesreich ist nahe herbeigekommen (Mk 1,15). Heute sagt man, nur was es im Internet gibt, was also auf digitalem Weg nahe zu uns herbeikommt, das gibt es auch. Was diese beiden Dinge miteinander zu tun haben, ist die Frage dieses Essays.

Im Lauf der zweitausend Jahre ist uns das Christentum so nahegerückt, dass man von einem Kommen nicht mehr reden kann. Aus dem Wanderprediger Jesus aus Nazareth wurde der Weltenherrscher Christus. Aus der Handvoll Jünger am See Genezareth wurde die Una sancta catholica et apostolica. Aus den von wenigen Ohren auf Aramäisch vernommenen Worten ist die in alle Sprachen übersetzte Heilige Schrift geworden, und alle Sprachen wiederum sind in Unicode repräsentier- und damit digital umfassend verarbeitbar. Alle Menschen, wann und wo sie auch lebten, sind allzumal Sünder und ein für alle Mal durch einen Sühnetod gerettet. Der Befehl, die Christusbotschaft in alle Welt zu missionieren, wörtlich also zu schicken, zu senden, zu melden, durchzuleiten, ist erfüllt, in jedem Winkel unseres endlichen Planeten ist sie heute verfügbar. Sicherlich sind noch nicht in alle Erdenwinkel Glasfaserkabel verlegt worden, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Das Christentum gilt urbi et orbi, und wo es gilt, da kommt es auch hin oder vielmehr ist immer schon dort, auch wenn man hier und da schwaches Netz hat oder, ganz analog, die Verkehrsverbindung schlecht ist. Wenn die Christusmessage heute nicht kommt, dann kommt sie eben morgen, ihre Geltung tangiert das nicht.

In den +1930er-Jahren aber spielte die Verkehrsverbindung auf einmal wieder eine Rolle. Da kam Christus nur bis Eboli, wie es in einem bekannten Buchtitel heißt. Weiter kam er nicht, weil Eboli, ein kleines Städtchen nahe Salerno, damals Endstation im italienischen Eisenbahnnetz war. Natürlich gab es im unwegsamen kampanischen Hinterland aus irgendeiner dunklen Vorzeit Kirchen und Kapellen, aber als der junge Arzt und Schriftsteller Carlo Levi dorthin kam, fand er eine bettelarme Bevölkerung vor, die in Hütten und Höhlen lebte und deren archaische Religiosität von Hexen, Dämonen, Kobolden und Zaubereien durchzogen war. Gewiss lag irgendwo eine Bibel herum, aber niemand konnte lesen. Sicherlich waren Kirchtürme und Kruzifixe zu sehen, aber sie waren tote Zeichen, die für niemanden einen Informationsgehalt hatten. In dieser Gegend war der Gedanke, dass das Reich Gottes überall gilt, absurd. Es reichte nur bis Eboli, dahinter gab es Christus nicht. Vielleicht reklamiert man hier eine Unterscheidung zwischen gelten und geben. Von einer medialen Sicht der religiösen Dinge aus, sei es via Eisenbahnschienen, sei es via Datenkabel, wird sich dieser Unterschied als gegenstandslos erweisen.

Unsere Frage ist einfach, vielleicht naiv oder sogar banal: Inwiefern ist die christliche Religion abhängig von ihren Medien? Und zwar abhängig zunächst in dem absoluten Sinn, dass Christus den Menschen jenseits von Eboli nicht ex nihilo erschien, sondern mit der Eisenbahn oder mit der Bibel – oder eben überhaupt nicht. In gewisser Weise haben sich die Christen diese Frage schon immer gestellt. Der Missionsbefehl, das Evangelium in aller Welt zu predigen, besagt im Umkehrschluss, dass kein Evangelium ist, wo die Predigt nicht hingelangt. Daher operierte die christliche Mission von Anfang an mit dem Kriterium der weißen Flächen auf der Landkarte, die durch Christianisierung zurückzudrängen sind. Das ist bis heute so, und man greift zu den jeweils zeitgemäßen Ausbreitungsmedien: Klostergründungen mit ihrer agrarischen, bürokratischen und liturgischen Erschließung, Kreuzzüge mit ihren religiösen Säuberungen, Entdeckung Amerikas samt Kolonisierung, Missionierung Afrikas und Ostasiens mit Schulbildung, heute die Verlagerung aller kirchlichen Aktivitäten dorthin, wo die Menschen sind und leben, ins Internet.

Man bemerkte, dass es neben dem absoluten auch einen relationalen Sinn der Medienabhängigkeit der christlichen Religion gibt. Diese Sache war aber delikater und weniger leicht zu explizieren. War eine Präsenz des Evangeliums hergestellt durch ein Kloster, eine Verkehrsinfrastruktur, eine politische Machtbeziehung, eine kirchliche Institutionalisierung, eine ausgearbeitete Theologie der Sakramente, dann stand die Frage im Raum: Welcher Gott ist das, der auf diesem und jenem Medium dahergeritten kommt, und ist das der ganze Gott? Gelangen die diversen religiösen Erfahrungswege zu demselben göttlichen Gegenstand? Warum geschieht, was geschieht, wenn man den einen oder den anderen medialen Weg geht? Wie im Detail geschieht es? Dieser relationalen Frage ist das Christentum tendenziell ausgewichen. Wir können uns das am Medium der Eucharistie vor Augen führen. Sie zielt auf die reale, allerdings unsinnliche Präsenz Christi. Der Erklärung bedürftig schien der Sprung von der sicht- und schmeckbaren Prozedur von Brot und Wein zum Resultat der tatsächlichen, aber mit den fünf Sinnen unzugänglichen Gegenwart Gottes. Je nach Konfession raunte man von einem Geheimnis der Wandlung oder argumentierte mit der Allgegenwart Christi. Was man durch die ganzen zweitausend Jahre Christentum nicht erklärte, wovor man auf merkwürdige Weise zurückschreckte und sofort zum Resultat sprang, als müsse eine Peinlichkeit kaschiert werden, das war die spezifische Religiosität des Mediums selber. Die relevante Frage ist nicht: Welcher Gott geht der Prozedur von Brot und Wein voraus, welcher liegt ihr zugrunde und bleibt derselbe, wenn sie vorüber ist? Die relevante Frage ist, welcher Gott ergibt sich in der Prozedur von Brot und Wein? Welcher Christus ereignet sich, wenn das dreifache Agnus Dei gesungen wird? In welchen göttlichen Zustand gelangt der Weltgebetstag der Frauen, wenn er pandemiebedingt in riesigen Onlineforen anstelle kleiner präsentischer Versammlungen abgehalten wird? Fast scheint es, als habe man Angst, auf etwas Hexen-, Dämonen-, Kobold-, Zauberartiges zu stoßen, wenn man die innere Frömmigkeit der christlichen Prozeduren selber anschaut, sodass man rasch über sie hinweg zum unbezweifelbaren, absoluten und universalen Christus springt. Mit äußerster theologischer Spannung und um einen hohen Preis, den Preis eines gewissermaßen a-theistischen Christentums, konnte man die Seinsweise Gottes aus den frommen und selbst den sakramentalen Prozeduren heraushalten. Ihre Symbolik, ihre Künstlichkeit, die Behauptung ihrer kontrafaktischen Wirksamkeit sicherten sie ab gegen den Verdacht von Blasphemie und Aberglauben. Wenn aber die sakramentalen Prozeduren sich mit technologischen verschwistern, wird die theologische Argumentationslage kritisch. Beispiele kann man quer durch die Geschichte bis in die Mythologie hinein finden: die Entdeckung des Elektromagnetismus im 19. Jahrhundert, der Elektrizität im 18., der Infinitesimalrechnung im 17., der mechanischen Zeitmessung im 13., des Feuers bei Prometheus, des Baums der Erkenntnis bei Adam und Eva. Das Kritische daran war immer, dass sich Gott herausfordern ließ. Das offenbart den eigentlich kritischen Punkt in den Technologien: das Informationstechnische. Die Technologien entbargen den Informationsgehalt von Dingen oder Zuständen und die Wechselwirkung, die sich mit dem Informationsgehalt von anderen Dingen und Zuständen ergibt. Nicht im Feuer und seiner physischen Gewalt selber, sondern im Informationsfluss, der zwischen einer Wärmequelle und einem trockenen Stück Holz abläuft, liegt das göttliche Moment, das den Allmächtigen herausfordert. Wenn nun im 20. Jahrhundert die Information selber erst in Mathematik und dann in Technologie, also ins Operative überführt wird, verblasst die Grenze zwischen Schöpfer und Schöpfung. Die technologischen Prozeduren selber ragen ins Göttliche. Von ihnen selber her liegt es nahe, sie mit den Frömmigkeitsprozeduren zu verschwistern. Das ist der Punkt des vorliegenden Essays.

Genauso wie es in den +1930er-Jahren keinen Sinn ergeben hätte, die Eisenbahn hinter Eboli weiterzubauen, um Christus auch dorthin zu bringen, ergibt es heute keinen Sinn, das Evangelium durch die Sozialen Medien zu pumpen, die Kirchengemeinde per Homepage und You Tube-Channel zu präsentieren und das Gesangbuch auf dem digitalen Endgerät zur Verfügung zu stellen. Christus ist nämlich die Eisenbahn, die Communio Sanctorum ist Twitter und Instagram, das Lob Gottes ist das Handy. Das ist so freilich noch roh und unzureichend gesagt, wir werden es ausdifferenzieren. Aber hier liegt die Pointe der relationalen Abhängigkeit der christlichen Religion von ihren Medien. An dem Punkt, dass das Medium selber die (frohe) Botschaft ist, müssen wir ausharren, ihn müssen wir erkunden, auch wenn er unkirchlich, undogmatisch, unfromm, ungemütlich anmutet. Es ist das Eisenbahnende Christi zu denken, das Instagrammable der Kirche, das Netzwerkende des Gotteslobs. Sie sind zu denken nicht als weitere Optionen der Kommunikation, die mit dem technischen Fortschritt hinzugekommen wären. Sondern als harte Limitationen der Faktizität des Christentums, jenseits derer es nicht existiert, jenseits derer nicht einmal Gott existiert. Es hat noch nie, in der heutigen digitalen Ära aber am allerwenigsten, einen archimedischen Punkt des Christentums gegeben, an dem sich alle seine kommunikativen Praktiken messen und von dem her sie sich korrigieren und kritisieren lassen mussten. Die Konstantinische Wende, die dies vorgaukelte, wendet sich abermals und endgültig. In einem riesigen, zweitausendjährigen Spiralgang ist das Christentum wieder in der Nähe seines Ausgangspunkts angelangt. Seine Gegenstände, Gestalten und Institutionen verschwinden. Mindestens als Maß der Medienpraxis werden sie untergehen. Die göttliche Medienpraxis oder die medienpraktische Göttlichkeit, was dasselbe ist, bleibt.

Was haben wir zu tun, um an diesem Nullpunkt zweiter Ordnung auszuharren und seine Kälte, seine Offenheit zu ertragen? Wir werden nicht die digitale Kommunikation von der Kirche her beurteilen. Wir werden nicht die gegebenen Liturgien mit den Fetischen und Frömmigkeiten des medialen Flows aufhübschen. Wir messen das Internet nicht an den christlichen Institutionen. Wir verurteilen den Theismus der digitalen Götterwelt nicht mit dem Atheismus des Christentums. Wir werden auf eine gesonderte Analyse der Kirchlichkeit, der Rechtgläubigkeit, der sozialen Struktur, auch der Ethik der christlichen Techno-Logik verzichten. Wir gehen tendenziell umgekehrt vor, jedenfalls ist unser Ausgangspunkt der umgekehrte. Wir nehmen die intrinsische Frömmigkeit des medialen Flows selber in den Blick, wir versuchen die implizite Göttlichkeit von informationstechnologischen Prozeduren selber zu erfassen, wir suchen die heiligen Zeit-Punkte der Netzwerklandschaften direkt auf. Von dort aus rechnen wir nicht auf eine Kirchlichkeit oder eine Dogmatik dieser Prozeduren hoch. Nicht nur, weil das eine verwegene Spekulation auf die Zukunft des Christentums wäre. Wir halten das schlicht nicht für möglich. Kirche und Dogmatik sind in einer technologisierten Religiosität nichts weiter als temporäre Effekte, die ein technologisches System selber erzeugt, um sich so lange stabil zu halten, bis seine Prozedur in die göttliche Sphäre vorgedrungen ist. Danach geht in veränderter technologischer Anordnung, die wie jedes Ereignis eine eigentümliche und für uns Christen ungewohnte Einmaligkeit hat, das religiöse Spiel ganz von vorn los.

1.2 Gott im Hier und Jetzt

Vor rund zwanzig Jahren wurden zwei bemerkenswerte religionsgeschichtliche Fragen formuliert, beide thematisierten den offenkundigen Niedergang des Christentums. Die eine stellte Charles Taylor: Warum war es einem gewöhnlichen Menschen in Europa bis um 1600 nicht möglich, nicht an Gott zu glauben, und warum ist es einem gewöhnlichen Menschen heute nicht möglich, an Gott zu glauben?1 Die andere kam von Jean-Luc Nancy: Wenn der Glaube an Gott eigentlich nicht möglich ist, inwiefern tun es die Christen dennoch? Warum lassen sich die Christen auf einen Glauben ohne Gott, auf einen nur wenig verhohlenen christlichen Atheismus ein?2

Seit rund denselben zwanzig Jahren aber werden merkwürdige Dinge ins Werk gesetzt, Dinge, die Taylor massiv irritieren müssen. Im Schweizer Jura, nahe der deutschen Grenze, wurde in einem ausrangierten Telefonhäuschen eine Maschine installiert, der Volksmund nennt sie Schulterklopfmaschine. Sie spendet Anerkennung für eine gute Tat. Eigentlich ist das eine klassische Aufgabe Gottes. Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan, und dafür werdet ihr in die ewige Seligkeit eingehen, sagt Jesus im Matthäusevangelium. Die Zeit der ewigen Herrlichkeit oder aber des ewigen Jammers wird mit absoluter Gewissheit kommen. Wer als Wohltäter diese absolute Gewissheit hat, wird sein Erdendasein überschauen und abwarten können. Dass sie gewiss kommt und die gute Tat nicht im Weltgetriebe zerrieben wird, ist das Göttliche des Heilsversprechens, nicht so sehr die unermessliche Größe des Heils. Doch gibt es viele Wohltäter, die dieses Vertrauen in ein vor zweitausend Jahren dahingesagtes Gleichnis nicht haben. Auch sie wollen Anerkennung, und obwohl sie kirchlichen Versprechungen keinen großen Glauben schenken, wollen sie eine in gewissem Sinn göttliche Anerkennung. Wir nennen sie göttlich, weil auch die ungläubigen Wohltäter ihre allzu profanen Erfahrungen mit der menschlichen Missgunst, Trägheit und Selbstsucht gemacht haben und Anerkennung von ihren Mitmenschen nicht wirklich erwarten. Sie erstreben die Vergeltung ihrer Tat mit genau derselben absoluten Gewissheit wie die bibeltreuen Wohltäter. Wenn sie tatsächlich kommt, entgegen aller menschlichen Erwartungen, werden sie ganz ohne Bibellektüre und Kirchenmitgliedschaft ihre Erfahrung göttlich zu nennen bereit sein. Die Schulterklopfmaschine liefert ihnen diese Erfahrung. Sie erzählen der Maschine in eigenen Worten von ihrer guten Tat oder wählen auf dem Touchscreen vorformulierte gute Taten aus den Kategorien Familie, Beruf, Verkehr und einigen anderen aus. Mit einem O.K.-Button wird die gute Tat abgerundet und von der Maschine akzeptiert. Die Anerkennung erfolgt garantiert, was informationstechnisch heißt: definitiv innerhalb einer bestimmten Zeitspanne, die hier ein paar Sekunden beträgt. (Für den christlichen Wohltäter ist die Spanne gleich die Restlaufzeit seines Erdendaseins, aber der Unterschied ist graduell. Entscheidend für die Göttlichkeit ist, dass es eine echtzeitliche Spanne ist.) Dann erfolgt sicht- und hörbarer Applaus und es wird ein Coupon ausgegeben, der beim Bäcker oder in der Gastronomie vor Ort eingelöst werden kann. Eine physische Schulterklopfrobotik hatten die Macher auch erwogen, wegen der Unfallgefahr wurde darauf verzichtet.

Denken wir uns zwei theologische Argumente gegen den göttlichen Sinn des Schulterklopfcomputers, denn um eine Rechenmaschine handelt es sich, die einen recht schlichten Algorithmus ausführen kann. Das erste Argument will sich nicht damit abfinden, dass Gott in einem simplen Rechner steckt. Zugleich nicht damit, dass unser guter Mensch von Gott auf Erden vergessen wurde. Wer Gutes tut, dem werden Gutes und Barmherzigkeit ein Leben lang folgen, verspricht ein alttestamentlicher Glaubenssatz, vielleicht nicht binnen Sekunden, aber doch binnen Lebenszeit. Sein Leben wird ein Segen sein, sagt man fromm, Menschen werden ihm begegnen und Umstände sich auftun, die ihm das Gute vielfältig zurückgeben wie dem Sämann, der für das eine Saatkorn eine reiche Ähre erntet. Wo aber soll da der Unterschied zur Schulterklopfmaschine sein? Zwar bleibt der gute Mensch im allzu menschlichen Ungewissen, wann, wo, wie viel und ob überhaupt er ernten wird. Seine Ernte hängt nämlich von einer anderen guten Menschentat ab, und die ist so un-wahrscheinlich – im Sinne von nicht mit Wahrscheinlichkeitsrechnung quantifizierbar – wie seine eigene. Aber wenn das biblische Versprechen gilt, dann hat Gott in un-wahrscheinlicher Zeitspanne bei dem Mitmenschen die gute Tat der Anerkennung ausgelöst. Die Anerkennung hat sich damit um einen Schritt verlagert von der Schulterklopfmaschine auf den anderen Menschen, ist aber strukturell genau dieselbe geblieben, da Gott computergleich eben auf den Mitmenschen eingewirkt hat statt auf den guten Menschen selber. Mit dem anderen Argument steht es nicht viel besser. Es ist nur noch raffinierter darin, die göttliche Faktizität der Anerkennung in einem Überall und Nirgendwo verdunsten zu lassen. Dieses sehr kirchliche Argument fragt unseren guten Menschen rhetorisch zurück, warum er überhaupt eine konkrete irdische Anerkennung brauche, in der Erlösungstat Christi sei sie doch schon erfolgt. Aber ist dieser kirchliche Dispens von einem konkreten Zuspruch akzeptabel? Als die Sünderin Jesus die Füße wäscht, nimmt er die gute Tat nicht stumm an, weil ihre Sünden immer schon und aus irgendeinem prinzipiellen Grund vergeben seien. Er spricht ihr die Sündenvergebung unmittelbar zu, und damit ist ihre gute Tat in Echtzeit und an konkretem Ort mit einer anderen guten Tat vergolten. Freilich, Jesus ist Gott. Aber er ist hier genau deshalb Gott, weil er das Vergelts Gott indikativisch spricht und nicht konjunktivisch auf unbestimmte Zeit hinausschiebt. Der Konjunktiv ist Menschenmodus, Gott ist indikativisch.

Wir haben bereits alle Gedanken gestreift, warum es einen Segensroboter geben kann und warum er früher oder später gebaut werden würde, so wie früher oder später eine Tauf-, Beicht-, Lob-, Predigt-, Abendmahl-, Betmaschine gebaut werden wird und wie kirchliche Blockchains vor der Tür stehen, die ein religiöses Lied oder ein Glaubensbekenntnis in je aktuelle, unabänderliche Zustände überführen. Das ethische Naserümpfen gegen die Schulterklopfmaschine fand sein Pendant im kirchlichen Naserümpfen gegen den Segensroboter BlessU-2, der +2017 bei einer Ausstellung zum Reformationsjubiläum vorgestellt wurde. Der Informationsfluss dieser Maschine ist, bis auf den Beginn, identisch mit dem der Schulterklopfmaschine: Jemand wünscht einen Segen, sei es, dass er wie der gute Mensch im Nettauertal glaubt, ihn sich verdient zu haben, sei es genau das Gegenteil, dass er befürchtet, ihn verwirkt zu haben. Dieser Beginn ist etwas offener als bei der guten Tat, aber wie bei jener kommt es auf die Faktizität einer menschlichen Aktion nicht an, sondern auf die Faktizität der algorithmischen Re-Aktion. Um deren Sicherstellung geht es. Was vorher genau geschah, wird immer im Nebel menschlicher Einschätzung bleiben und es wird überwunden. Der Segensbedürftige startet das Programm, wählt einen Segenswortlaut aus und bekommt ihn nach wenigen Sekunden über ein vorgefertigtes Audiofile zugesprochen, auf Wunsch auch ausgedruckt. Wie ein banger Zauberlehrling und in geradezu atheistischer Gottverleugnung behauptet die kirchliche Begleitmusik, es gehe bei BlessU-2 darum, mit den Menschen „ins Gespräch zu kommen“ über den Glauben in einer digitalisierten Welt.3 Die Wahrheit ist viel einfacher, sie liegt bei den Usern: Man möchte sich einen Segen abholen, so faktisch und definitiv wie möglich, so definitiv wie der Erstgeburtssegen bei Jakob lag, der den Knopf des Segensroboters drückte, und nicht bei Esau, der ihn nicht drückte. Gegen das Ansinnen, konkrete göttliche Emanationen, die die Kirche mit ihren sakramentalen Handlungen selber initiiert, gleich wieder ins universalistische Ungefähr verdunsten zu lassen, setzt sich die Faktizität der Emanationen durch. Es liegt in der Natur dieser Faktizität, algorithmisiert zu werden, um die Echtzeitlichkeit und das tatsächliche Resultieren des sakramentalen Akts sicherzustellen. Wir erkennen hier, verschwommen hinter dem Schleier einer übervorsichtigen und der alten Dogmatik verhafteten kirchlichen Kommunikation, die Matrix der religiösen Digitalisierung: Die ganz gewöhnlichen christlichen Vollzüge werden es sein, die – sei’s experimentell wie beim Segensroboter, sei’s in schierer alltagsdigitaler Pragmatik wie dem Benutzen eines sozialen Mediums für einen seelsorgerlichen Dienst – in der technologischen Prozedur ihr neues Gesicht entbergen. Der Schleier des Allzu-Menschlichen, des konzilianten Nicht-wissens-aber-doch-Glaubens, des in endlose Sinnbezüge Zerfasernden reißt und eine direkte Göttlichkeit tritt hervor.

Taylors Diagnose, der moderne Mensch könne nicht mehr an Gott glauben, war für das 20. Jahrhundert plausibel. Im 21. Jahrhundert zeigt sich, dass sie nur eine Oberfläche der Moderne erfasst. Die Natur birgt für das moderne Bewusstsein keine Geheimnisse mehr, für die nur Gott verantwortlich sein könnte. Selbst unanschauliche Dinge wie Elektromagnetismus, Quantenzustände, Atomphysik oder vieldimensionale Raumzeit sind dem menschlichen Wissen zugänglich. Offene Fragen gibt es genug, aber keine davon muss für immer Gottes Geheimnis bleiben. Der Mensch hat gelernt, mit diesen Feuern die Grenzen des alten Homo sapiens von Raum, Zeit und Kausalität weit zu übersteigen. Weil frühere Zeiten all dies der göttlichen Allmacht zuschlugen, soll seine Verfügbarmachung nun ein Grund sein, sich von dem Gedanken Gott abzuwenden. Diese Version von Säkularisierung mochte im 19. und 20. Jahrhundert überzeugen. Wenn aber ausgerechnet die neuen Religionsmaschinen mit ebendiesen Feuern spielen, muss die Diagnose uns für das 21. Jahrhundert skeptisch stimmen. Nicht nur hat sich längst, seit Kepler, Galilei, Leibniz, Maxwell, Darwin spätestens, ein Bild von Gott als hinfällig erwiesen, der dort sei, wo der Mensch nicht hingelange. Die Sache kippt gerade ins Gegenteil. Gott ist genau dort, wo der Mensch auch hinkommt, womit nicht Liebe, Frieden und Bewahrung der Schöpfung gemeint sind, wie die inzwischen verstummten christlichen Sonntagspredigten meinten. Vielmehr ist etwas viel Offensichtlicheres, Konkreteres, in gewisser Weise Wohlbekanntes gemeint, nichts anderes nämlich als das gesamte wissenschaftliche Wissen selber. Auf der Rückseite seiner säkularisierenden Kraft zeichnet sich spiegelbildlich eine theisierende Gegenkraft ab. Wir werden diesen Punkt in möglicher Klarheit noch ausleuchten, aber so viel lässt sich einer ersten Erkundung der neuen Religionsmaschinen schon entnehmen, dass es ausgerechnet die evidente Erklärbarkeit, die rechnende Rationalität, die instantane Innerzeitlichkeit der technologischen Apparate ist, aus denen das Göttliche grüßt. Dafür war die Säkularisierungsthese systematisch blind. Ebenso systembedingt konnte die Dogmatik nur im Gleis der negativen Theologie denken: Da ist eine Naturgesetzmäßigkeit, also ist Gott hier nicht, dort ist eine, also ist er dort auch nicht, und so weiter, bis Gott das Nichts zur Welt schlechthin wurde. Die religiösen Maschinen erproben frech das Gegenteil. Sie zitieren Gott in die blanke Anwesenheit herbei, sie ziehen ihn an der algorithmischen Leine in die schiere Realität. Aber nicht im Wissen steckt Gott, so wie er früher im Nichtwissen steckte. Er grüßt aus der Anwendung. Er nähert sich in der Performance von Wissen. Er lässt sich dort herbeizitieren, wo es einen User gibt, der buchstäblich auf Knopfdruck Gott spielt. Wie der Romanheld Hans Castorp, der in einem Schweizer Sanatorium am Vorabend des Ersten Weltkriegs auf den Knopf eines Grammofons drückt und schöne Stimmen herbeizitiert, deren Körper nicht im Raum oder gar schon unter der Erde sind. Das beschert dem bislang religiös Unmusikalischen ungekannte göttliche Gefühle, es lässt ihn die Hände falten beim Hören und den Apparat einen Schrein und Sarg und Tempel nennen. Das Zitieren, das Lesenkönnen, das Performen der göttlichen Signaturen der Welt ist die Prozedur, die mit dem Knopfdruck in Gang gesetzt wird. Dafür braucht es, wie wir sehen werden, dann doch eine kritische Masse an Technologie, über die die vormoderne Technik nicht ohne Weiteres verfügte.

Das Resultat selber, das die Religionsmaschine ausgibt, spielt eine untergeordnete Rolle. Bei Hans Castorp ist es das Ende der Rillenspirale, wo der Tonabnehmer leerläuft, die Epiphanie vorbei ist und wieder die banalen Alltagsgeräusche die Regie im Raum übernehmen. Er nimmt die Platte vom Gerät und verstaut sie wieder im Schrank, wie wenn man nach der Messe das Sakramentsbesteck wegräumt. Der ausgedruckte Segen ist ein Streifen Thermopapier, der bald verloren und vergessen sein wird. Der Gut-gemacht-Coupon wird beim Bäcker gegen ein Stück Kuchen eingetauscht und rasch verdaut sein. Das Resultat der Religionsmaschinen stellt sich zurück in die eine existierende Welt, von der es ein unbedeutender gegenwärtiger Ausschnitt ist. Den Segenscoupon kann sich Jakob – und gegen erneuten Knopfdruck anschließend auch Esau – abholen. In ihm liegt kein Versprechen mehr auf die Zukunft. Vielmehr hat er dem User Augen und Ohren für die Gegenwart geöffnet, die sich vor ihm in ihrer Göttlichkeit vollzieht.

Die in der Gegenwart verharrende Zeitstruktur der Religionsmaschinen ist höchst bemerkenswert. Wir überschauen das vielleicht deutlicher, wenn wir sie mit anderen religiösen Tendenzen unserer Zeit vergleichen. Wir meinen damit nicht Verschiebungen zwischen den drei großen Monotheismen. Wir meinen das Aufkommen neuer Monotheismen. Natürlich zeichnet sich keine neue Weltreligion ab, die Judentum, Christentum und Islam Konkurrenz machen könnte. Aber es ist interessant zu beobachten, dass es aktuelle ideologische Strömungen gibt, die einige wesentliche Merkmale des Monotheismus aufweisen. Dergleichen gab es über Jahrhunderte nicht. Etwa werden dem Klimaaktivismus religiöse Züge attestiert.4 Ob man das für plausibel hält oder nicht, man wird konzedieren müssen, dass es eine Nähe zum Glauben an einen Gott gibt. Das wird einsichtig, wenn man sich klarmacht, dass der monotheistische Gott sich immer auch über die Regeln definiert, die er den Menschen gibt, um ihn zu finden oder ihnen umgekehrt klarzumachen, dass sie bei Nichtbefolgung von ihm getrennt sein werden. Dieses Merkmal der Observanz ist zentral in der Klimaideologie, es macht sie zur Religion, indem sie Gebot und Verbot definiert, die ihrerseits den Klimagott definieren. Monotheismus und religiöse Monothematik sind miteinander verschränkt. In der Klimareligion ist das Monothema der Energiehaushalt der Welt, darauf ist die gesamte Observanz bezogen, so wie etwa im Judentum die Observanz auf die Erhaltung des auserwählten Volkes bezogen ist. Für derartige Monothematiken ist Homo sapiens ziemlich ungeeignet. Er muss seiner ins Fremde, Unbekannte, Unendliche strebenden Natur gemäß auf vielen Hochzeiten zugleich tanzen, was ihn kategorial vom Tier unterscheidet, aber eben bei monothematischen Anforderungen notorisch scheitern lässt. Er wird nolens volens zum Sünder, damit notwendigerweise erlösungsbedürftig. Hier kommt das vielleicht bedeutsamste Merkmal der Monotheismen ins Spiel, der eschatologische Zeithorizont. Der Mensch, der notgedrungen scheitert an monothematischen Anforderungen, kann nicht auf innerweltliche Erlösung hoffen; sie wird erst nach dem Ende der Zeiten erfolgen. Von der erwarteten Zeitenwende her formen sich Hoffen und Fürchten, Lieben und Hassen. Vor allem formt sich von ihr her der Gott: Stets wird es ein abwesender, jenseitiger, und mit Nancy muss man sagen: atheistischer Gott sein.

Mit diesen monotheistischen Kategorien lässt sich eine ganze Reihe ideologischer Erscheinungen unserer Tage durchdeklinieren wie der Postkolonialismus, die Identitätspolitik, der Anti-Antisemitismus, alle nicht zu Unrecht bereits als Religionen etikettiert. Kaum jedoch wurden sie als Monotheismen erkannt. Ihre Monothematik gebiert den Monotheismus, ihr Monotheismus gebiert einen Universalismus und einen Transzendentalismus, der alle menschlichen Dinge zu allen künftigen Zeiten vom Monothema her begreift. Typisch für solchen Universalismus und seine eschatologische Geschichtszeit, dass er keine Inkarnation und keine echten Heiligen, dafür viele Propheten hat. Er bildet keinen tätigen Pietismus aus, der in jedem gepflanzten Apfelbaum, in jedem gegründeten Waisenhaus und, ja, auch jedem installierten Segensroboter Gott am Werk sieht. Er fordert zwar zur Umkehr auf, aber niemand wird dadurch seinen universalen Kolonialismus, Antisemitismus oder Rassismus los.

All das werden wir in einer digitalen Frömmigkeit, die zugleich eine Frömmigkeit des Digitalen ist, niemals antreffen. Warum sollte die digitale Frömmigkeit auf Erlösung warten und auf das bessere Jenseits? Die Erlösung geschieht, hier und jetzt. Das Gottesreich liegt nicht im Jenseits, es kommt nahe herbei in der medialen Prozedur. Warum observant auf ein Monothema starren? Der digitale Gott hat kein genuines Thema, weder eine Umweltethik noch eine Sexualmoral noch die Nächstenliebe. Er kann sich buchstäblich in jedem Thema inkarnieren und wir werden noch auf viele heilige Orte und Dinge stoßen. Ist es nicht höchst bemerkenswert, dass sich mit der sich digitalisierenden Frömmigkeit eine Abkehr vom Universalismus vollzieht? Und dass uns, uns Christen, mittlerweile eher etwas am globalen Universalismus von Glaubenslehren faul vorkommt als an der lokalen konkreten Gottesbegegnung? Viel lieber möchten wir so denken: Klimawandel und Rassismus sind bedrohliche Erscheinungen, lasst uns vor unserer Haustür damit beginnen, ihnen etwas entgegenzusetzen. Willkommen in der Frömmigkeit des digitalen Gottes. Genauso denkt auch sie. Genauso inkarniert sich der Gott des Digitalen. Wo er ist, sind auch wir. So lokal ist das Prinzip Hoffnung in der digitalen Religion geworden. So lokal wird auch unsere Analyse sein. Eine theologische Analyse von Utopien und Kontrafaktizitäten bei der Technologisierung der Frömmigkeit würde ins Leere laufen. Die Grenzen der Eisenbahnlinie oder die einer verschalteten Hardware sind die Grenzen der Gegenwärtigkeit und die Grenzen Gottes. Alles darüber hinaus ist wüstes diabolisches Hirngespinst und in Wahrheit viel kleiner und ohnmächtiger als der digitale Gott, der auf einen begrenzten Gegenwartspunkt auch wirklich durchgreift.

Wir täten nicht gut daran, die Glaubensdimensionen zu entfalten, die sich im Inneren der Begegnungen mit dem digitalen Gott ergeben. Solches Entfalten vollzog sich in dem Raum, den die Theologie treffend als nachösterlich bezeichnet. Es ist jene postfaktische Innerlichkeit, in der die fragwürdigen christlichen Selbstermächtigungen sich vollzogen. Die einmalige Er-Kenntnis des Tu es Christus vollzog sich noch in der realen Anwesenheit Jesu, das unendlich wiederholbare Be-Kenntnis hat sich aus der Faktizität schon entfernt und mutiert zum Tu es Petrus. Es kann zu allen möglichen weiteren Bekenntnissen mutieren, denn sobald man aus der sanften Gewalt des Erfahrens entlassen ist und auf seine Erfahrung zurückblickt, hat sich mit einem Mal der Raum ins Grenzenlose geweitet. Der Sinn schießt über ins Unendliche. Diese potenzielle Unendlichkeit ist in der Kirchengeschichte arg überdehnt worden; heute bezahlen die schrumpfenden Kirchen dafür die Rechnung. Die digitale Frömmigkeit ist das Antidot zur universalistischen Versuchung. Sie wird nämlich intrinsisch begrenzt durch die operativen Logiken, die in ihr walten. Die operative Logik einer digitalen Religionsmaschine und nichts außer oder vor ihr ist die harte Grenze, innerhalb derer sich der Sinn des Glaubens abspielt. Das Stück Thermopapier und das Stück Kuchen zerfallen ins Nichts des Weltenlaufs; lächerlich geradezu, in ihnen einen Fels sehen zu wollen, auf dem Kirche gebaut werden könnte. Aus diesem Grund wird es auch nicht gelingen, über das operative Erfahren Gottes „ins Gespräch zu kommen“. Man hätte buchstäblich das Momentum verpasst. Es wird deshalb für die digitale Glaubenspraxis wie für unsere Analyse darauf ankommen, den operativen Moment nicht zu versäumen. Die Operativität der faktischen technologischen Performance wird die Grenze von Kirche und Kirchengemeinde definieren. Wenn sich Kirchengemeinden hierzulande beklagen, das Onlineangebot der Nachbarparochie stehle ihnen die Gottesdienstbesucher, dann ist sie offenkundig mit dieser Grenze schmerzhaft kollidiert. Wir tun gut daran, uns nicht bei jenem Schmerz aufzuhalten, sondern beim Procedere der Nachbarparochie. Das ist keineswegs immer die Seite des Erfolgs, es ist nicht weniger und nicht mehr als die des operativen Momentums. Dem steht der imperiale Anspruch der ersteren Kirchengemeinden entgegen, der universalistische Anspruch also, das Gebiet unbedingt zu repräsentieren. Die Imperien haben Macht und tendieren dazu, zurückzuschlagen. Die Qigong-Bewegungen etwa, die in China in den +1990er-Jahren aufkamen (am bekanntesten: Falun Gong) und weitgehend in digitalen Praktiken bestanden5, sind heute so gut wie ausgetrocknet. Vom chinesischen Reichsgedanken wollten, systembedingt auch: konnten sie sich nicht imprägnieren lassen. Der Preis dafür, postfaktische Glaubensdimensionen eben nicht aufzuspannen und konsequent darauf zu verzichten, zum Imperium ein Gegenimperium zu errichten, muss unter Umständen bezahlt werden, es ist der Preis des raschen Verlöschens. Aber der ist es wert, man hat für ihn eine wirkliche Gotteserfahrung erhalten.

Die scharfe Frontstellung von einem prozeduralen und einem universalistischen Gottesverständnis stellt uns allerdings vor eine weitere Versuchung: Was ist mit den wohlbekannten digitalen Giganten, die mit ungenierter Pseudoreligiosität auftreten und von der Hybris einer gottgleichen Allmächtigkeit befallen sind?6 Ihr Gebaren und in gewissem Sinn damit ihre Universalität basiert in der Tat auf gewissen Eigenschaften des Digitalen, die diversesten Realitäten mit erstaunlicher Präzision repräsentieren zu können, und daran ist, wie wir bald näher beleuchten, unzweifelhaft etwas Religiöses. Aber ist das ein Grund, das Kind mit dem Bad auszuschütten und immer gleich Götzendienst und Teufelswerk zu wittern, wenn auf der religiösen Klaviatur gespielt wird? Wir werden genau hinsehen müssen, welche Techniken der Ausbreitung ins vermeintlich Universale hier am Werk sind und ob es dieselben sind wie des Tu es Petrus. Es wird sich eine tiefe Differenz zeigen, und ein erster Hinweis ist der Umstand, dass die Techgiganten keine Eschatologie und keine Jenseitsvorstellung ausbilden. Zwischen den Prozeduren des Annäherns und Ausbreitens und der Selbstermächtigung zur Repräsentation verläuft eine feine Trennlinie. Die Religiosität der Techgiganten scheidet sie nicht auf die eine oder die andere Seite, sie schneidet mitten hindurch. Worauf wir methodisch bei den Kirchen verzichten, nämlich die christliche Medienpraxis von der Kirche her zu analysieren, wird bei den Plattformunternehmen Pflichtübung sein: Soweit sich ihre religiöse Anmutung aus der Medienpraxis selber ergibt, ist sie unser Thema, ob uns Kirchenchristen das gefällt oder nicht.

Wir machen uns darauf gefasst, dass der Gott, der aus der Kiste einer technologischen Performance uns entgegenspringt, eine immer andere Gestalt hat. Er ist das eigentliche Resultat der Performance, wohingegen der Endzustand der Performance als Erdenrest zur Erde zurückfällt. Er ist aber eben das Resultat einer bestimmten und einmaligen Performance. Jeder informationstechnologische Vorgang verwickelt ein kontingentes Stück Hier und Jetzt in sein algorithmisches Spiel, und diese gegenwärtige Kontingenz ist unhintergehbar. Es gibt keine Software, lautet ein ehernes Gesetz der Medientheorie7, was im Umkehrschluss besagt, dass es nur Hardware gibt, oder genauer: je einmalige, unwiederholbare Zustände von Hardware. Diese Zustände sind dann das je einmalige, unwiederholbare Antlitz Gottes. Sie lassen die primitive Vielgötterei und den starren Monotheismus gleichermaßen hinter sich, die beide den irrigen Gedanken der universalen, immer schon und jenseitig, also letztlich atheistisch existierenden Gottheit brauchen, die im Offenbarungsprozedere immer nur repräsentiert wurde. Aber eine technologische Prozedur repräsentiert nichts, sie ereignet sich. Die Vorstellung, dass Jakob und Esau auf den Knopf des Segensroboters drücken können und sich jedem von beiden ein Gott zeigt, schmeckt verwöhnten Christenmündern herb, aber wir kommen an ihr nicht vorbei. Der digitale Gott erzwingt einen neuen Begriff von Inkarnation. Etwas kommt zur Erde und wird zu Erde in einer technologisierten religiösen Erfahrung – aber ist das identifizierbar mit dem immergleichen einen Gott oder mit dieser und jener immergleichen Göttin, die von sich sagt, ich bin, die ich bin? Wir haben unsere Zweifel und hegen die Vermutung, dass die Inkarnation des digitalen Gottes in gewisser Weise schwächer und begrenzter sein muss als die der klassischen Trinitätslehre.