Der Sound Gottes - Rainer Bayreuther - E-Book

Der Sound Gottes E-Book

Rainer Bayreuther

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Beschreibung

Die Kirchenmusik ist zu einem Ohrensessel geworden, in dem man sehr weich und sehr tief sitzt. Zweifellos gehört die hörbare und gemeinschaftliche Ekstase unverzichtbar zur christlichen Frömmigkeit. Aber lässt sich daraus nicht viel mehr ableiten, als auf der Kirchenbank Gesangbuchlieder mit Orgelbegleitung zu singen oder den Kirchenchor auftreten zu lassen? Und ansonsten immer wieder Bach, Bach und wieder Bach. Rainer Bayreuther spricht sich leidenschaftlich für mehr experimentellen Mut in der Kirchenmusik, für den Einsatz auditiver Medien und die kreative Verknüpfung von digitaler und menschlicher Kommunikation aus. Gerade brandaktuell sind seine Ideen auch vor dem Hintergrund pandemischer Einschränkungen im Gemeindeleben.

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Copyright © Claudius Verlag, München 2021

www.claudius.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München

unter Verwendung von © ioat/shutterstock.com

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2021

ISBN 978-3-532-60084-9

Götterbotin

Göttin

G

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

ΩDämmerung

1.1Im Ohrensessel

1.2Musikbausteine für den Gottesdienst

1.3Aus dem Musikwörterbuch des Gutmenschen

1.4Der Wort-Wahn-Witz der Kirchenmusik

1.5Lieder, Lieder, nichts als Lieder

1.6Geschichten erzählen

1.7Musik zum Wohlfühlen

Α.Kultus

Β.Griechen

Γ.Juden

Δ.Jesus

Ε.Paulus

2.1Ins Offene, Freund

2.2Gottes Finger am Bausteindomino

2.3Verantwortungs-los

2.4Sounds ohne Worte

2.5Melos

2.6Daten generieren

2.7Sounds zur Hingabe

Anmerkungen

ΩDämmerung

Die Gewissheit von der Größe und Sicherheit der christlichen Kirchenmusik ist erodiert. Trotz eines Fundaments frommer Sozialisation, trotz tiefer Liebe zu den Werken der Kirchenmusik und ihres langen Studiums hat sich meine Befürchtung verdichtet, dass sie nicht mehr in die Zukunft des christlichen Glaubens an Gott tragen. Es ist der Kirche etwas abhandengekommen, ohne das alle musikalische und kulturelle Bedeutung eines kirchenmusikalischen Werks nichtig wird, eine tatsächliche Begegnung mit Gott, wenn die Musik erklingt.

Was allerdings nie abhanden kommen wird, sind: Gott und Klang. Die Frage ist, welche Stellung wir darin einnehmen.

Aktuelle krisenhafte Umbrüche wie der Medienwandel, neue Formen politischer Repräsentation und der pandemische Ausnahmezustand zeichnen die Krise der Kirchenmusik in schärferem Licht. Gewiss gaben sie äußere Anstöße für das Entstehen dieses Buchs. Zu manchen Thesen und Argumentationen fühlte ich mich von ihnen aufgerufen. Schwerer jedoch wiegt, dass diese Umbrüche tief ins Religiöse hineinragen. Dass die Kirchenmusik von der Digitalisierung, von der Tektonik des Politischen und von Corona tangiert wird, ist trivial. Dass in diesen Umbrüchen ein epochaler religionsgeschichtlicher Niedergang wie auch ein Aufgang von Neuem vor sich geht, das gilt es zu denken. In diese Dämmerungen ist die Kirchenmusik hineinverwoben.

Die sieben Abschnitte des ersten Kapitels sind der Versuch, gegenwärtige Symptome der Krise zu diagnostizieren und ihre tieferen Ursachen zu verstehen. Das zweite Kapitel greift Punkt für Punkt die sieben Themen auf und kehrt ihre Perspektive um. Nun wird aufgezeigt, wie sich die Gegenwart Gottes in einem Klanggeschehen denken lässt.

Die fünf Abschnitte in der Mitte sind eine Art Spiegelachse. Sie erörtern den Zusammenhang von göttlicher Gegenwart, Kultus und Klang in einem religionsgeschichtlichen Durchgang.

Auf der Heuberghütte im Chiemgau, Karsamstag 2021

1.1Im Ohrensessel

Die Kirchenmusik ist zu einem Ohrensessel geworden, in dem man sehr weich und sehr tief sitzt. Schon lange haben sich Rückenschmerzen eingestellt. Sobald man sich erheben will, wird der Schmerz stechend, und man lässt sich zurücksinken.

Wenige Füllstoffe stecken im Polster, von denen aber sehr viel. Umfragen bescheinigen stabil, dass es an erster Stelle kirchenmusikalische Veranstaltungen sind, die die Menschen noch zum Gang in die Kirche bewegen. Von den immer Wenigeren, die überhaupt eine Kirche betreten, sind es immer mehr, die es nur wegen der Musik tun. Stabil seit über zweihundert Jahren, seit der Säkularisation von 1803 nämlich, als sich in der klerikalen Peripherie eine bürgerliche Kirchenmusik bildete, werden die Programme der großen, konzertanten Kirchenmusik von denselben Schlachtrössern dominiert: Händels Messias, Haydns Schöpfung, Mozarts Requiem, den drei Bach’schen Oratorien. Das Angebot bestimmt die Nachfrage, die Nachfrage das Angebot. Der Kreislauf im engen Radius bringt nach wie vor Sänger in die Chöre. Er hält Sponsoren und Kulturpolitiker bei der Stange, die sich allemal lieber mit dem Bekannten und Bewährten schmücken als mit Experimenten. So lässt eine geschlossene „self fulfilling prophecy“ die wenigen Satelliten um sich selber kreiseln. Um den schmalen Erfolg nicht zu riskieren und eine der letzten Gewissheiten der Kirchenmusik nicht zu erschüttern, bewegt man sich lieber nicht von der Stelle.

Die Phantasielosigkeit auf den kirchenmusikalischen Programmzetteln ist aber nicht das eigentliche Problem. Die Kirchenmusik ist mittlerweile findig geworden, die ganze Kirchenmusikgeschichte zu bespielen. Musik aus dem Mittelalter, aus der Moderne oder dem Pop ist kein Tabu mehr. Wir werden sogar sehen, dass es tief im Wesen der Kirchenmusik liegt, ihr Repertoire ständig zu entgrenzen und zeitgemäß zu halten. Kirchenmusiker und Pfarrer finden selbstverständlich Händel erhebend und Mozart göttlich und geben augenzwinkernd zu, dass sie auch schon mal inkognito nach Wacken fahren. Religiöse Erfahrungen machen sie hier wie dort nicht, und wenn ein klein wenig doch, dann eher dort als hier.

Eine tiefer gehende Problemanzeige ist, dass der Traditionsfundus auf Werke hin abgegrast wird, die funktionieren. Die funktionieren bei einer bestimmten Zielgruppe, in bestimmten Stimmungslagen, für diese und jene Kasualien. So bilden und erneuern sich die Repertoires. So zieht man mit den bewährten Schlachtrössern in den Kampf, bis sie nach Jahrzehnten doch irgendwann lahm und siech werden. (Wer spielt, wer kennt heute noch Grauns Passion, Schneiders Weltgericht, selbst Beethovens Missa solemnis? Bewährte Schlachtrösser über Jahrzehnte, die jetzt das Gnadenbrot der CD-Einspielungen fressen.) Aber alle diese längeren oder kürzeren Konjunkturen sind merkwürdig irrelevant bei den großen Verfallserscheinungen der kirchlichen Frömmigkeit. Die manchmal immer noch prächtige und erhebende klassische Kirchenmusik dreht nur am Hamsterrad. Das ist es, was müde macht.

Ein anderer Füllstoff ist Bach, Bach und immer wieder Bach. Bach sei das fünfte Evangelium. Evangelien sind sakrosankt, aber nicht, weil irgendwelche Autoritäten sie für kanonisch erklären. Der Grund für die Heiligsprechung ist, dass aus ihnen mit objektiver Zuverlässigkeit Heil und Segen strömt. Die Autorität, die Bach zum Evangelisten erklärt hat, war übrigens nicht der Arzt, Theologieprofessor, Orgelvirtuose und Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer. Ihm wird das Diktum fälschlicherweise zugeschrieben, aber was er tatsächlich gesagt hat in seinem Bachbuch, fordert auf zum Sitzenbleiben: „So ist Bach ein Ende. Es geht nichts von ihm aus; alles führt nur auf ihn hin.“1 Was ist, wenn viele nicht zu ihm hingeführt werden, weil sie auf diesem Feld der Kirchenmusik gar nicht mehr unterwegs sind? Was ist, wenn das Offensichtliche offensichtlich wird, dass Bach kein Evangelist ist, sondern einfach ein sehr guter Komponist von Kirchenmusik? Wenn das Hohle, Verlegene, Verlogene dieser Formel herauskommt?

Die Orgel, noch so ein Polstermaterial. Sie ist limitiert in ihren Ausdrucksmöglichkeiten wie andere Instrumente auch, das gibt jeder zu. „Danke für diesen guten Morgen“ auf der Orgel zu begleiten ist aus stilistischen Gründen suboptimal. Aber andererseits ist sie doch auch das Welteninstrument, die Universalmaschine, die Gott selbst baut und spielt, wie ein katholischer Autor im 17. Jahrhundert einmal wirkmächtig schrieb. Von einer E-Gitarre kann man das nicht gerade sagen. Daher darf dieses Instrument wuchtig in jeder Kirche stehen und, Stilbedenken hin oder her, alles und jedes begleiten. Es gibt nämlich allem und jedem das Kirchengschmäckle. „Danke für diesen guten Morgen“, „I did it may way“ und „Highway to hell“ auf der Orgel gespielt klingen plötzlich wie von einem Kirchenmusiker komponiert. Wie Bach ist die Orgel „the winner that takes it all“. Eine riskante Wette auf ein einziges Pferd. Sie zwingt alle Musik, die auf ihr stattfindet, in ihre Chancen, Risiken und Nebenwirkungen. Die Kirchengemäßheit all dessen, was durch ihre Pfeifen strömt, ist garantiert. Aber diese Art Beruhigung ist beunruhigend, von ihr geht nichts aus, alles führt nur auf sie hin, sie ähnelt Beruhigungspillen.

In der Kirchenmusik kursieren Totschlagargumente. Ein Totschlagargument lässt jedes Gegenargument so dastehen, als habe es den Zusammenbruch zur Folge. Der Status quo ist zwar nicht optimal, niemand in der Kirchenmusik hat das in der jüngeren Vergangenheit behauptet. Aber jede Veränderung würde alles nur noch schlimmer machen. Aus dieser Haltung ist eine paradoxe Melange aus Unmut und Selbstzufriedenheit, aus kreisendem Stillstand, aus laut gähnender Müdigkeit erwachsen. Kirchenmusikmikado: Wer sich bewegt, hat verloren.

Jetzt schrillen die Alarmglocken der kirchlichen Versammlungsbeschränkungen, der Singeverbote, der Verlagerung des Frommseins ins Virtuelle, der unweigerlich auf die Kirchenmusik durchschlagenden Wirtschaftskrise. Die Kirchenmusik muss sich bewegen, aber erstens tut es fürchterlich weh, und zweitens weiß sie nicht wohin. Impulse des Aufstehens hat es in der Geschichte der Kirchenmusik viele gegeben. Der Protestantismus der Lutherzeit protestierte gegen das überbordende Kunstgebaren der katholischen Kirche. Die Restauration des späten 18. Jahrhunderts forderte für die Kirchenmusik ein „back to the roots“, in beiden Konfessionen. Die Liturgiebewegung im späteren 19. Jahrhundert, ebenfalls konfessionsübergreifend, mahnte das satte bürgerliche Oratorienwesen zu musikalischer Diät und liturgischem Training. Das Zweite Vatikanische Konzil der 1960er-Jahre beschloss den kirchenmusikalischen Pluralismus.

Diese Reformen haben den Finger in Wunden der Kirche und immer auch der Kirchenmusik gelegt. Sie haben – aus tiefliegenden theologischen Gründen – aber immer nur ein Ja-aber hervorgebracht. Ihre Predigt war am Ende immer: aufstehen und sitzenbleiben gleichzeitig. Die Kirchenmusik ist verkeilt in einer widersprüchlichen Situation, und zwar seit Jahrhunderten. Vielleicht zeitigt die gegenwärtige Krise den Impuls, der endlich ausreicht, um sich aus dem Geflecht herauszuwinden. Vielleicht ist sie groß genug, dass die alten Argumente des Ja und des Aber von selber zerbröseln. Vielleicht aber reicht sie immer noch nicht aus fürs Aufstehen aus dem Ohrensessel. Ich bin kein Prophet und schon gar kein Evangelist. Dieses Buch versucht nichts weiter, als die gegenwärtige Lage der Kirchenmusik zu denken, worunter letztlich zu verstehen ist: die gegenwärtige Lage Gottes und seines irdischen Erklingens zu denken.

Schon früh in der Geschichte des Christentums, in der Schülergeneration des Paulus, etablierte sich ein Muster der Kritik, mit dem die Kirche ihre eigene Kirchenmusik in die Schranken wies. Immer wieder waren es die Instrumente, die aus der Kirchenmusik zu verbannen waren, so schon bei den Kirchenvätern selber, im Tridentinischen Konzil des 16. Jahrhunderts oder bei den Caecilianern des 19. Jahrhunderts. Zu viele Worte, das war das Angriffsziel der päpstlichen Bulle Docta sanctorum aus dem 13. Jahrhundert. Die falschen Worte, nämlich nicht die der kanonischen Liturgie, so wiederum das Tridentinum und Joseph Ratzingers Angriff auf die Lockerungen des Zweiten Vatikanums. Das Zerstreuende der Musik, an dem sich Zwingli störte.

In diesen Säuberungen steckt eine Zuspitzung des christlichen Kultus auf einen einzigen pointierten Grundgedanken, den des ganzen Gottes im ganzen Menschen. Mit diesem Muster läuft man unweigerlich in eine widersprüchliche und ausweglose Situation hinein. Betrachten wir die Reformatoren. Ihr Protest richtet sich gegen die katholische Tendenz, alles Große und Schöne in der Welt als fortgesetztes Schöpferhandeln Gottes aufzufassen. Die prächtigsten Bauten, die anmutigsten Gedichte, die kühnsten Kompositionen, die intensivsten leiblichen Erfahrungen, alles gehörte tendenziell zur Summe der Theologie (Thomas von Aquin), zur Gesamtheit des Logos Gottes. Also darf es in der Musik vorkommen. Nein, hält Zwingli mit dem Kritikmuster radikal dagegen, diese Summe ist nicht der ganze Mensch, sie ist die menschliche Anmaßung von Ganzheit. Die menschlichen Hervorbringungen sind von der göttlichen Schöpfung in Wahrheit unendlich weit weg, getrennt durch die Sünde, also fort mit ihnen. Im Herzen singen hieße radikal mit Zwingli, nur im Herzen zu singen und nicht mit Mund und Hand.

Man sollte Zwinglis Rigorismus ernsthaft nachtrauern. Was nämlich Luther dem an Halbherzigkeiten und Konzessionen entgegnet, hat vorderhand die schöne Vokalpolyphonie seiner Zeit gerettet, tatsächlich aber die Widersprüche der Kirchenmusik als DNA für scheinbar immer und ewig eingepflanzt. Die Musik, so sagt er in einer seiner Tischreden, sei eine gute Gabe Gottes, gleich an zweiter Stelle nach dem Wort Gottes komme sie. Solch ein Geschenk indessen möchte keiner haben, wenn man es näher anschaut. Denn es kommt mit dem langen Zeigefinger und einer dicken Gebrauchsanleitung daher. Der Gnadengabe Musik ist der ganze Mensch als Bedingung vorgeschaltet, und das ist für Luther der sündige und der gerechtfertigte Mensch. Dieser Mensch und niemand sonst darf die Gabe nutzen. Musik und Klang als solche, abgelöst von der sündigen conditio humana, sind Luther nicht minder suspekt wie den Kirchenvätern. Musikalische Zerknirschung wird zur Pflicht. Die kirchenmusikalischen Diätpläne des 19. Jahrhunderts, die die klassisch-romantische Symphonik als zu kalorienreich vom kirchenmusikalischen Speisezettel strichen, sind der evangelischen Kirchenmusik in Wahrheit seit Luther eingeschrieben. Die gute Gabe Gottes hat für immer und ewig das Klagelied vom Fall Adams zu sein. Oder maximal das gequälte Lob Gottes, wie es die Mühsamen und Beladenen hervorbringen, die um ihre prinzipielle Teilhabe am ewigen Logos wissen, aber halt keine aktuelle jetzt und hier. Der staubtrockene Musikunterricht an den evangelischen Lateinschulen, die gnadenlose Pädagogisierung der Musik bei den Jesuiten (die ebenfalls Reformatoren sind, wenn auch Gegen-), der Drill der kirchlichen Knabenchöre – lauter Konsequenzen des vergifteten Geschenks, allesamt Anleitungen zum Unglücklichsein. Selbst bei Bach, Bach und immer wieder Bach ist es nicht anders: Der Trost seiner Musik ist so groß, weil sie uns vorher so tief ins Elend stößt.

In der Kirchenmusik kursieren nicht nur Totschlagargumente, sie ist selber eines. Die Kirche, der nicht enden wollende Wartesaal nach Ostern und vor dem Weltenende, verbietet eine wahrhaft ekstatische und epiphanische Musik. Zugleich zwingt sie alle Musik, die das Zeichen Christi trägt, unter ihr Dach. Sie macht Alternativen obsolet. Musik ohne Kirche: ein Ding der Unmöglichkeit, der pralle Adamsapfel. Kirche ohne Musik: geht auch nicht, eine dürre Leseübung, die alsbald vertrocknete. So wird die Kirchenmusik in einer doppelten Unmöglichkeit festgehalten. Sie braucht die eine, um die andere aufzuwiegen.

In Widersprüche eingespannt zu sein macht müde. Kirchenmusik, die kann und nicht darf (nämlich wahrhafter Sound Gottes zu sein). Kirchenmusik, die will und nicht kann (nämlich Sound Gottes sein): die evangelische Kirchenmusikgeschichte ist voll davon. Sie errichtet Dämme gegen den Pomp, gegen den Pop, gegen den Sex und so weiter, lässt sie aber früher oder später erodieren, weil das Land hinterm Damm austrocknet. Sie meint genau zu wissen, was sie ist, aber wenn sie es ausbuchstabieren soll, fängt sie schon nach B wie Bach zu stottern an. Nicht nur der Kirchenmusik, schlimmer noch den Sprachregelungen über die Kirchenmusik ist die Müdigkeit anzuhören. Was die Kirche an Offiziellem zur Kirchenmusik sagt, waren früher scharfe Abgrenzungen, heute, weil man sich das nicht mehr traut, nur noch jämmerliche Plattitüden von der Musik als Tradition, Trostpflästerchern und Quotenbringer, und immer wieder Luther-Bach-Orgel, Luther-Bach-Orgel, Luther-Bach-Orgel.

Müde ist die Kirchenmusik in ihrem Ohrensessel eingesunken. Sie rutscht ein bisschen nach links, dann ein bisschen nach rechts, um die Widersprüche auszutarieren und den Schmerzpunkt zu verlagern. Sie müsste aufstehen und den großen Schmerz aushalten.

1.2Musikbausteine für den Gottesdienst

Beim Begriff des Bausteins stellt man sich leicht etwas Dinghaftes und Handfestes vor. Aber das ist ein Irrtum, und zwar ein folgenschwerer.

Eigenschaften der Abmessung definieren den Baustein. Von einem Dachziegel etwa werden bestimmte Raum- und Gewichtsmaße erwartet, aber auch, dass er Wasser, Wärme und Kälte standhält. Das sind Zweckeigenschaften, die, nicht anders als die Raummaße, quantifiziert sind. Der Ziegel hat genormte Koeffizienten der Wasserdurchlässigkeit und Wärmeleitfähigkeit. Beim Baustein sind auch Zwecke Maße. Innere Schönheit oder andere absonderliche Eigenschaften, die ein Ding interessant und einzigartig machen, sind irrelevant oder sogar wertmindernd. Unbeschränkte Ersetzbarkeit und Reproduzierbarkeit ist das Charakteristikum des Bausteins.

Diesem Begriff von Baustein entspricht die evangelische Kirchenmusik von der Lutherzeit an. Oft ist zu lesen, Luther habe bei seinem Konzept des evangelischen Gottesdiensts im Wesentlichen den römischen Messritus beibehalten. Welch kolossaler Irrtum das ist, zeigt sich am Bausteinprinzip.

1526 formulierte Luther die Agende einer Deutschen Messe. Eine große Zahl von Reformagenden aus allen Ecken der protestantischen Bewegung war ihr seit etwa 1520 vorausgegangen. Teils behielten sie das Latein bei, teils stellten sie auf Deutsch um. Aber das ist nicht der springende Punkt. Zudem sehen die Teile der evangelischen Messe und ihre Reihenfolge den katholischen ähnlich. Auch diese Feststellung verschleiert die Dinge. Die katholische Messe kann man sich als ein Ensemble von Heiligtümern vorstellen: das Kyrie, das Graduale, die Epistel des Alten Testaments oder der Apostelbriefe, das Offertorium, das Agnus Dei und so weiter. Damit sind liturgische Gattungen benannt, nicht Einzelstücke, es gibt also mehrere Exemplare davon. Es gibt aber nicht prinzipiell unendlich viele Graduallieder oder Agnusgesänge. Das katholische Verständnis erlaubt es nicht, einfach neue Exemplare zu produzieren. Das Kirchenjahr hat nämlich endlich viele Tage. Je nach Tag im Kirchenjahr hat jedes der vorhandenen Heiligtümer seinen bestimmten Ort. Dort ist es zuverlässig auffindbar und man wird seiner teilhaftig. Ist man nicht zur gegebenen Zeit am gegebenen Ort, wird man es nicht. Die Stücke der katholischen Liturgie, auch wenn sie in die Tausende gehen, sind keine Bausteine, sondern lauter Einzelstücke. Jedes hat seinen unveränderlichen Ort.

Den protestantischen Agenden war die Vorstellung des ortsstabilen Heiligtums von Anfang an fremd. Das Offenbarsein Gottes manifestiert sich nicht direkt in einem Ding, das analog zum katholischen Liturgiestück einen bestimmten Orts- und Zeitindex hätte. Hinter so etwas wittert der Protestantismus magisches Denken, und das ist ihm suspekt. Der Protestantismus wechselt an dieser Stelle lieber die Seite: von der göttlichen zur menschlichen. Göttliche Offenbarung ist immer schon von der menschlichen Antwort auf die Offenbarung imprägniert. Damit wird dem Ausdruck der Offenbarung eine theologische Verantwortung aufgebürdet. In der Expression einer religiösen Laune oder einer spontanen Eingebung soll er nicht bestehen. Der Ausdruck darf einen Teilaspekt Gottes adressieren, soll aber dabei alle anderen Gotteserfahrungen und ihre Ausdrucksgestalten mitbedenken oder am besten gleich mitadressieren. Der ganze Gott aus Zorn und Liebe, Strafe und Gnade soll es sein. Und er soll vom Menschen in seiner biographischen und personalen Ganzheit ausgedrückt werden.

Das protestantische Gottesdienstsystem ist der – oft verzweifelte, nicht selten tragikomische – Versuch, dieser Riesenaufgabe gerecht zu werden. Sie kann und will die menschlichen Ausdrücke der Gotteserfahrung in Text, Ton und Bild nicht festlegen. Das kirchenkalendarische Detempore ist eine grobe Orientierung. Tatsächlich kann und soll man sich davon freimachen und ein individuelles, sogar ein situativ einmaliges Detempore einfordern. Der Protestant ist auf den Ausdruck seiner individuellen und einmaligen Gotteserfahrungen zurückgeworfen, der aber zugleich irgendwie die Gotteserfahrung der gesamten Christenheit enthalten soll.

Die lutherische Antwort in dieser vertrackten Situation ist zweigleisig: Erstens wendet sie das theologische Augenmerk vom jeweils einzelnen Ausdruck ab und stattdessen hin zur Struktur, die ihn einbettet. Der Gottesdienst soll eine Struktur sein, die „Slots“ für die individuellen Ausdrucksgestalten bereitstellt, und zwar so, dass die individuellen Ausdrücke sich austarieren und ein Gesamtbild des ganzen Gottes geben. Die Struktur, das heißt die Agende, definiert die Eigenschaften der Slots. Dabei können fortwährend neue individuelle Strukturen entstehen, aber immer nur so, dass das trinitarische Gesamtbild stimmt. Zweitens wird der Gottesdienst zur pädagogischen Veranstaltung. Er ist ein Ort, an dem die Menschen ihre religiöse Ausdrucksfähigkeit einüben, erproben, verändern, wobei der Pfarrer gleich Lehrer höchstens primus inter pares ist. Um es im Kirchenjargon zu sagen: im Gottesdienst wird Glaubenserfahrung miteinander geteilt, Glaubensausdruck voneinander gelernt, Erfahrungs- und Ausdrucksfähigkeit füreinander vermittelt.

Damit ist für die Kirchenmusik eine fundamental veränderte Lage entstanden. Wie sie die Teile des Gottesdiensts und ihr Zusammenspiel konkret gestaltet, wird von ihrer sozialen, politischen, ökonomischen und pädagogischen Situation abhängig sein. Dass sich da auf lange historische Sicht Veränderungen ergeben, ist selbstverständlich, aber unwesentlich. Wesentlich ist, dass die Lage von wechselseitigen Rahmenbedingungen und Zwecksetzungen her eingeschätzt wird. Der Zweck, der von den theologischen Aspekten des trinitarischen Gottes ausgeht, ist zum Ab- und Ausgleich zu bringen mit den pädagogischen Zwecken und mit den sozialen, politischen und ökonomischen Gegebenheiten. Alle Aspekte, auch die theologischen, werden auf derselben Ebene behandelt.

So werden die Slots definiert und mit ihnen die Verzahnungen der Slots. Das Prinzip, nach dem sie zusammenzupassen haben, ist wechselseitige Stabilisierung und Risikomanagement. Die Eigenschaften des einen Slot sind systemisch verbunden mit denen des anderen. Das Manko im einen Slot wird vom anderen gepuffert. Fällt die Fürbitte mal weniger authentisch aus, springt das anschließende Gemeindelied in die Bresche. Ist der Gemeindegesang mal eher dürftig und trostlos, wird er von der engagierten Predigt aufgefangen.

Weiter, es muss Akteure geben, die für das Zusammenpassen zu sorgen haben. Das sind die Funktionsträger des pastoralen, diakonischen, bürokratischen, musikalischen und technischen Diensts. Ihr Verantwortungsbereich ist nicht primär, Bausteine für die Slots herzustellen. Dafür sind sie aus Gründen, auf die ich gleich zu sprechen komme, sogar ziemlich ungeeignet. Sie haben das Zusammenpassen der Slots zu managen. Um es noch einmal zu betonen, der Aspekt, dass Gott im Gottesdienst erscheint und wie er in den Gottesdienstteilen erscheint, ist eine Eigenschaft neben anderen. Nicht für diese Eigenschaft alleine, sondern für ihr Zusammenpassen mit allen anderen Eigenschaften tragen die Funktionäre Sorge.

Für die historische Entwicklung der evangelischen Kirchenmusik war all das von erheblicher Bedeutung. Wenn ein Gottesdienstteil als quantifizierbarer Risikoträger im Gesamtgefüge definiert ist, dann kann ein Text, ein Musikstück, ein ikonisches Element, eine liturgische Handlung durch etwas anderes ersetzt werden. Die Alternative muss nur ihren Eigenschaften nach äquivalent sein. Das gregorianische Gloria kann etwa durch ein neu gedichtetes und neu komponiertes Glorialied ersetzt werden. Dass es einmal der Liturg, einmal die Gemeinde ausführt, gehört nicht zum Eigenschaftsset. Es kommt dem protestantischen Gottesdienstverständnis sogar entgegen, wenn ein und derselbe Slot von wechselnden Akteuren bespielt wird. Das ist dann eine Variable im Risikomanagement. Das Lied vor der Predigt, das in den lutherischen Agenden an die Stelle des römischen Graduale trat, kann ein Lied sein, es kann aber auch die Bachkantate sein, musiziert von Profis und mit einer Spieldauer von 30 Minuten. Die Evangelienlesung kann vom Liturg trocken abgelesen werden, sie kann aber auch eine Spruchmotette über den Bibeltext oder sogar eine über einen anderen Bibeltext sein, sofern er den theologischen und kirchenjahreszeitlichen Eigenschaften aus dem Eigenschaftsset dieses Slots entspricht. Er kann im Extremfall sogar eine ausgewachsene Passionsvertonung sein, sofern man sich in der Passionszeit befindet und die zeitlich-räumlich-finanziellen Abmessungen dem Eigenschaftsset entsprechen. Schließlich können die definierten Einheiten ad libitum von gedoppelten oder vervielfachten Exemplaren ausgefüllt werden. Also etwa erst das gelesene, dann das musizierte Evangelium. Die ganze gewaltige Masse an evangelischer Gebrauchsmusik des späten 16. bis Mitte des 18. Jahrhunderts ist daraus erklärlich. Ob der Gottesdienst am Ende eine Stunde dauert oder, wie zu Bachs Zeiten in Leipzig, über drei, ist eine Frage des Managements von Zwecken und Rahmenbedingungen durch die Funktionsträger.

Kurz, die Musik und alle anderen Elemente sind Bausteine in der Systemik des evangelischen Gottesdienstes. Ihre Bedeutsamkeit, ihren Wert im emphatischen Sinn, sogar die Intensität der Göttlichkeit haben sie weder aus sich selbst noch aus Gott selbst. Es kommt nur darauf an, wie angemessen sie die Eigenschaften der Slots ausfüllen. Daher sind sie aus Prinzip ersetzbar. Die Bedeutsamkeit der Bach’schen Matthäuspassion mag für sich genommen sein, wie sie will. Wenn Händels Messias oder das Golgatha Beat Oratorium von Dietrich Schneider und Friedel Berlipp besser passen im Sinn der Slots, dann haben sie den größeren Wert.

Das lässt sich herunterbrechen auf die kleinen Legosteine, aus denen eine Konfirmandenunterrichtsstunde oder eine Trauung zusammengesetzt sind. Dass am Ende des Trauungsgottesdienst der Marsch aus dem Sommernachtstraum oder der aus dem Lohengrin, ein Wedding Song von Elton John oder aber eine Pachelbelfuge gespielt wird, entspricht völlig dem Bausteinprinzip. Sich darüber aufzuregen ist verlogen. Und dass dergleichen auch bei den Katholiken anzutreffen ist, widerlegt nicht, dass es dem katholischen Verständnis zuwiderläuft, ein Heiligtum, in diesem Fall das Benedicamus Domino als Entlassformel am Ende der Messe, mit einem profanen Stück durchzutauschen, während das Substituieren zwecks Anpassen an den Kontext bei den Evangelischen die Regel ist. Der Kontext ist in diesem Fall ein Eigenschaftsset, das die persönlichen Wünsche der Hochzeitsgemeinde als eine gleichberechtigte Eigenschaft neben den anderen begreift. Auch der persönliche Wunsch nach einem Klischee übrigens ist ein persönlicher Wunsch, er passt perfekt ins Bild.

Klischees sind Inbegriffe des Zeitgeschmacks, und genau darauf läuft das Bausteinprinzip hinaus. Der Kontext, der die Eigenschaften des Slots definiert, ist immer der jeweils aktuelle Kontext. In seinem Horizont vollzieht sich das Risikomanagement. Geschickt gehandhabt, erhält das Bausteinprinzip so eine zeitgemäße Geschmeidigkeit. Es entkoppelt die Theologie von den Dingen, an denen religiöse Erfahrungen gemacht werden. Die Theologie ist nun in der Struktur des Gottesdiensts verankert und nur in ihr: im Gesamtgefüge der Bausteine und ihrer Kopplung durch die Eigenschaftssets. Die Dinge selber, also die Individualität der einzelnen Bausteine, werden vom Zeitgeschmack dominiert und schlagen nicht mehr aufs Theologische durch. Sie sind, analog zum Sinn des Worts in den Datenbanksystemen, Content.

Entsprechend werden die Verantwortungsbereiche entkoppelt. Die Funktionsträger haben die Aufgabe, die Struktur des Gottesdiensts zu managen. Darin ist die theologische Aufsicht nicht nur eingeschlossen, sie ist darauf beschränkt. Der Content ist theologisch irrelevant, er erfüllt eine andere Aufgabe. Er stellt die Zeitgemäßheit der Veranstaltung her, indem er den religiösen Ausdrucksgestalten der Gemeindeglieder zum öffentlichen Auftritt verhilft. Die Programmplanung des Contentbereichs wird sinnvollerweise von einem möglichst divers besetzten Laiengremium übernommen. Sofern Funktionsträger darin mitwirken, sind sie pars inter pares. So ist die Zeitgemäßheit des Content am besten sichergestellt.

Nichts liegt näher, als den Content dem Markt für Unterhaltungsgüter zu überlassen. Das ist seit etwa der Jahrhundertwende im vollen Gang, als die Gottesdienstinstitute, Medienhäuser und Jugendwerke der Landeskirchen begannen, sich zu zentralen Marktplätzen für Bausteine des kirchlichen Veranstaltungswesens zu entwickeln. Noch liegt der Schwerpunkt auf dem textlichen, ikonischen und grafischen Content. Der kirchenmusikalische Content war bisher in den Händen eigenständiger Musikverlage, Sounddesign spielte kaum eine Rolle. Das ändert sich aktuell erkennbar, da die massenhaft im Laien- und Popbereich entstehenden Bausteine dem Geschäftsmodell der klassischen Musikverlage kaum mehr entsprechen. Content aus dem Bereich Grafik- und Sounddesign ist bei einer Serviceeinrichtung vom Zuschnitt etwa eines Gottesdienstinstituts viel besser aufgehoben.

Hier sind wir auf dem Boden der evangelischen Bausteinbrüche angekommen. Es herrscht rasender Stillstand. Institute der kirchlichen Bildungsarbeit und der Evangelischen Jugendwerke bieten zum Download Textbausteine, mit denen die Besucher im Gottesdienst „ganz besonders ankommen“ können. Liedbausteine versprechen, das Credo „mal anders“ zu bekennen. Mit dem „mal anders“ ist eine der abgründigsten Wahrheiten über die evangelische Kirchenmusik ausgesagt, es bringt ihr unermüdliches Jagen nach Zeitgemäßheit ebenso auf den Punkt wie die Müdigkeit, die einen in einem übervollen Kaufhaus befällt. Ein weiterer downloadbarer Baustein leitet an, wie das Fürbittengebet mit einer Klangschale „sounddesignt“ werden kann. Textbausteine, auf einzelne Zeilen bekannter Kirchenliedmelodien zu singen, für alle Slots der Agende. Ein Textbaustein für das Kyrie am Sonntag Kantate, in dem es heißt „Gib uns Melodien, die von deiner Freiheit singen“, ein Gebet, mit dessen spontaner Erhörung nicht gerechnet wird, denn die Gemeinde soll anschließend EG 178.9 singen, die bekannteste aller Kyrieversionen. Neue Lieder für alle Slots der Agende durch alle Zeiten im Kirchenjahr. Kirchennahe Shops vermarkten alle erdenklichen Motive der christlichen Malerei (Schwerpunkt Renaissance und Barock). Im analogen Format der Aufstellkarte oder des 3D-Aufstellbilds sind sie für den Kindergottesdienst geeignet, für die Erwachsenenveranstaltung gibt es sie digital. Musikverlage vermarkten alle erdenklichen kontrapunktischen Stückchen (Schwerpunkt Renaissance und Barock) des Formats „Spieldauer ca. 2 Minuten“ und mit Emotionswert „neutral“ unter Titeln wie Orgelmusik im Gottesdienst, Neue Orgelmusik für den Gottesdienst, Leichte Orgelmusik für den gottesdienstlichen Gebrauch und so weiter. Finanziell geht der Trend zum Mikropricing im Centbereich je Download.

Die Produktpalette ist prinzipiell unendlich groß, weil der endlich große Markt nach immer neuem Material verlangt. Die Bausteine in den Slots sind nicht nur im Prinzip austauschbar, sie wollen realiter ständig ausgetauscht werden, weil sich die Erde mal wieder ein Stück weitergedreht hat. Das Kennzeichen dieser Warenwelt der Gottesdienstbausteine ist ihre Janusköpfigkeit aus Neuigkeit und Individualität auf der einen Seite und durchkonfektionierter Produktförmigkeit auf der anderen. Das entspricht exakt der Janusköpfigkeit des Slots, wie ich sie theoretisch umrissen habe: einerseits ein fixes Set von Eigenschaften, andererseits mit immer neuem Content zu befüllen. Bausteine für den Gottesdienst, das sind leere Hülsen, die in Slots – also ebenfalls leere Hülsen – eingesetzt werden.

1.3Aus dem Musikwörterbuch des Gutmenschen

Es könnte das Missverständnis entstehen, ich riefe zum Widerstand gegen die amtskirchliche Hoheit über die Kirchenmusik auf. Ein solcher Appell wäre billig, ja umsonst. Die souveränen Musiker haben sich nie wirklich um die Vorgaben der Amtskirche geschert. Sie haben einfach die Musik gemacht, zu der sie sich, bemerkt oder unbemerkt, von Gott hinführen ließen. Auch souveräne Hörer machen ihre religiöse Erfahrung bei welcher Musik auch immer, bestimmt nicht nur bei der kirchlich verordneten.

Die ermüdete, ausweglose Lage der Kirchenmusik krankt nicht an den Restriktionen der Amtskirche. Die Amtskirche hat den Markt der musikalischen Möglichkeiten längst freigegeben, die protestantische schon seit Luther, die katholische seit dem Zweiten Vatikanum. Nicht aus tieferer Einsicht, dass auch dort religiöse Erfahrung zu machen sei. Sondern in dem flachen Comment, dass es auf echte religiöse Erfahrung in der Musik gar nicht ankomme und es jedenfalls in dieser Hinsicht egal ist, welche Musik läuft. Ganz egal allerdings auch nicht, die Kirche hat noch Interessen und Existenzangst. Sie muss sich ihrer selbst und ihrer Relevanz vergewissern. Sie muss ihre Mitglieder bei der Stange halten und um neue werben. Dort ist das Gebiet für die Rettungseinsätze, in die sie die Kirchenmusik schickt. Dort irgendwo tief verschüttet liegt das Elend.

Die Lage der Kirchenmusik ist verkeilt in Widersprüchen. Irdisch, aber auch ein bisschen himmlisch; ganz bei mir, aber auch ein bisschen beim Anderen; heilig, aber auch ein bisschen profan; erlöst, aber nicht so richtig. Ihre Lage ist eine unmögliche. Die Pathogenese ist vorgezeichnet. Vielleicht macht uns das nachsichtiger damit, dass sie nicht aus dem Ohrensessel kommt.

Wir haben jedenfalls ein gewisses Verständnis für den Musikwortschatz, den sich der gute Christenmensch in seiner misslichen Lage zurechtlegt. Die Einträge darin sind teils alt und greifen zurück auf das, was in den Apostelbriefen zur Musik gesagt wird. In der Masse und in dem auf den religiösen Bildungsmarkt zielenden Zuschnitt aber ist sie eine Erscheinung der letzten zwanzig, dreißig Jahre.

Die guten Wörter der Kirchenmusik sind erst denkbar, sagbar und praktizierbar im Bausteinprinzip. Das Bausteinprinzip bricht die unmögliche Lage der Kirchenmusik herunter auf kleinteilige Arbeitsaufträge, im Kirchensprech: Dienste. Auf Dienst am Anderen, Dienst an der Familie, an der Umwelt, am Frieden, am Ich, an der Psyche, am Körper, an Gott und so weiter. Mit einem Mal wird die Kirchenmusik wieder konkret. In der Verzahnung mit den anderen gottesdienstlichen Aktivitäten übernimmt sie Dienste aus der To-do-Liste. Sie kann plötzlich wieder genau sagen, was sie selber ist und was zu tun ist. Die Müdigkeit ist für den Moment verflogen.

Das Ungeheure der Begegnung des Menschen mit Gott im Klang passt in den Workshop eines kirchlichen Bildungszentrums. Diese erstaunliche Erkenntnis machen wir, wenn wir das Riesenhafte der h-Moll-Messen, Messiasse und Regerfugen in ästhetische und ethische Dienste portionieren. Wir werden dann gute Christenmenschen, mit Arbeit und Dienst beladene zwar, aber das sind eben die zwei Seiten der Medaille. Und es ergeben sich wie von selbst die Formeln des Denk- und Sagbaren der Kirchenmusik.

Stellen wir uns einen solchen Workshop vor. Dort begegnen uns die Einträge im Musikwörterbuch des evangelischen Gutmenschen. Ich habe die kirchenmusikalischen „items“ vorsortiert und die bunten Karteikarten aus dem Consultingkoffer schon mal vorbeschriftet.2 Auf den roten Karteikarten notieren wir die Bausteine zum Thema „Von Gott zum Ich“, auf den blauen „Vom Ich zum Du“, auf den grauen „Kirchenmusik als Transportmittel“, auf den gelben „Kirchenmusik als Therapie“ und auf den grünen „Kirchenmusik als Fördermaßnahme“.

Die roten Karten