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Der Dreißigjährige Krieg »aus der Nähe«, erzählt aus Dokumenten. Die historischen Abhandlungen zum Dreißigjährigen Krieg bestehen bisher überwiegend aus Großerzählungen der Politik- und Militärgeschichte. Was darin jedoch entschieden zu kurz kommt, sind die konkreten Gewalterfahrungen, Lebensbewältigungen und Erinnerungen der Menschen sowie deren Darstellung in den zeitgenössischen Medien. Das Buch von Hans Medick bringt hier neue Einsichten. In Form einer dokumentarischen Mikro-Geschichte führt es das Leben mit Gewalt im Dreißigjährigen Krieg vor Augen. Zahlreiche, zum Teil unveröffentlichte Selbstzeugnisse und die aufkommenden Massenmedien der Zeit bringen erstaunliche, ja erschreckende Befunde zu Tage. Es ist das Erleben von Gewalt aus der Perspektive einzelner Personen aller gesellschaftlichen Schichten, wie Söldner und Soldaten, Bauern, Bürger und Adelige, das neues Licht wirft auf einen komplexen kriegerischen Ereigniszusammenhang. Damit macht Hans Medick nicht nur die Wahrnehmungen und Verarbeitungen des Kriegsalltags zugänglich, er schreibt auch eine neue, historisch-anthropologisch fundierte Geschichte des Dreißigjährigen Krieges.
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Seitenzahl: 694
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Hans Medick
Der Dreißigjährige Krieg
Zeugnisse vom Leben mit Gewalt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2018
www.wallstein-verlag.de
Umschlaggestaltung: Marion Wiebel, WSV
unter Verwendung von Sebastian Vrancx, Soldaten plündern einen Bauernhof, Öl auf Holz, ca. 1620
ISBN (Print) 978-3-8353-3248-5
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4249-1
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4250-7
Einleitung. Die Nähe und Ferne des Dreißigjährigen Krieges
I. Anfänge. Der Prager Fenstersturz von 1618 und seine Folgen
II. Religionen im Krieg? Macht und Gewalt in konfessionellen Auseinandersetzungen vor Ort
III. Der Krieg im Alltag. Soldaten und Zivilbevölkerung zwischen Gewalt und Zusammenleben
IV. »Geißeln« des Krieges. Pest, Hunger und der Verzehr von Menschenfleisch
V. Belagerung, Massaker, Schlacht. Wahrnehmungen von Gewalt und massenhaftem Sterben
VI. Medien und Krieg. Schlachtentod und politischer Mord als Medienereignisse: König Gustav Adolf 1632 und Albrecht von Wallenstein 1634
VII. Der lange Weg zum Frieden. Friedensinitiativen, Friedensschlüsse und ihre zeitgenössischen Wahrnehmungen
VIII. Festmahl und Freudenfeuerwerk. Das Ende des Krieges auf dem Nürnberger Exekutionstag
Nachwort
Abbildungen
Quellen
Literatur
Anmerkungen
I.1 Der Prager Fenstersturz im Zeitzeugnis eines böhmischen Protestanten
I.2 Wilhelm Slavata. Der Fenstersturz als wunderbare Errettung
I.3 Der Prager Fenstersturz als Frankfurter Zeitungsmeldung
I.4 Bild-Zeitung vom Fenstersturz
I.5 Die Belagerung und Eroberung von Pilsen im Licht des Kometen vom Herbst 1618
I.6 Der Komet von 1618 als Zeichen der Zeit. Eine (himmlische) Anbahnung des Krieges
II.1 »Kriegskontributionen« und Judenfeindschaft. Der Ratsherr Johann Georg Pforr berichtet
II.2 Protestanten besetzen 1632 den Erfurter Dom. Ein besonderer Tag im Leben des Hans Krafft
II.3 Entsakralisierung und ihre Grenzen. Der Abt eines bayerischen Klosters über die Folgen militärischer Okkupation 1632
II.4 Ein konvertierter katholischer Märtyrer: Liborius Wagner
II.5 Melchior Khlesl. Das Restitutionsedikt aus der Sicht eines pragmatischen katholischen Hardliners
II.6 Eine Kindheitserinnerung an das Restitutionsedikt von 1629
II.7 Erzwungene Konversion und Bücherverbrennung 1630 /1631. Erlebt von Pfarrer Bartholomäus Dietwar
II.8 Eine protestantische Reliquie. Die »Nürtinger Blutbibel« von 1634
III.1 Ein Herrscher auf Zeit lässt die »Puppen tanzen«. Szenen aus der Gewaltkarriere eines schwedisch-finnischen Oberst
III.2 Die Einquartierung der »Menschgetierer«. Ein Haushalt unter Druck
III.3 Einquartierung als Last und persönlicher Vorteil, 1636
III.4 Überleben eines Söldners und seiner Familie im Krieg
III.5 Bäuerlicher Widerstand im Zyklus der Gewalt 1627, 1637
III.6 Folter und Flucht. Schwedischer Trunk, Waterboarding und ein Entkommen, 1640
III.7 Vergewaltigungsängste, aktives Handeln und eine Befriedung mit Süßigkeiten. Wie die Dominikanernonnen Bambergs den schwedischen »Feind« besiegten
III.8 Eine Vergewaltigung im Quartier, 1636. Aus dem Tagebuch des Bürgermeisters von Rüthen, Christoph Brandis
III.9 Flucht in die Wälder und »Menschenjagd«, 1640
IV.1 Wie ein Diplomat Krieg, Pest, Hunger und Zerstörung sieht. Eine »Kavaliersreise« in Mitteleuropa auf dem Höhepunkt des Krieges, 1636
IV.2 Die Pest als Geißel Gottes, 1635
IV.3 Hungrige Bauern gegen verhungernde Soldaten, 1633 /34
IV.4 »Elend über alle Elend«. Hungersnot und Verzehr von Menschenfleisch im Pfarrdorf Agawang bei Augsburg um die Jahreswende 1634 /35
IV.5 »Notkannibalismus« in der belagerten Festung Breisach, 1638
V.1 Wie eine Belagerung Spuren in der Landschaft hinterlässt. Friedland (Niedersachsen) 1623 – eine Luftbildperspektive
V.2 Asmus Teufel, Die Belagerung und das »Blutbad« von Münden, 1626
V.3 Katastrophenwahrnehmung aus der Nachbarschaft. Fürst Christian II. von Anhalt-Bernburg erlebt und bewertet den Untergang Magdeburgs
V.4 Die Schlacht bei Lützen »aus der Nähe«. Die Tagebucheintragungen Fürst Christians II. von Anhalt-Bernburg
V.5 Herzog Franz Albrecht von Sachsen-Lauenburg. Kalendereintrag zur Schlacht bei Lützen
V.6 Vor der Schlacht – in der Schlacht. Wallensteins Hilfsgesuch an Feldmarschall Pappenheim vor der Schlacht und sein Schicksal
V.7 Lamentatio Luzensium. Drei Trauerpredigten auf Gefallene in der Schlacht bei Lützen
VI.1 »Siegreich vor dem Tod, im Tod und nach dem Tod.« Eine erste Flugschrift zu Gustav Adolfs Tod in der Schlacht von 1632
VI.2 Unsichere Nachrichtenlage oder Vermeidung schlechter Nachrichten? Wie Zeitungen im November / Dezember 1632 über die Schlacht bei Lützen und den Tod König Gustav Adolfs berichten
VI.3 Zwischen »Condolentz« und Komödie. Eine handgeschriebene »Zeitung« berichtet von gespaltenen Reaktionen auf den Tod König Gustav Adolfs
VI.4 Gestorben, doch »unsterblich«. Gustav Adolf, 1633
VI.5 Der Kult um den toten Gustav Adolf, 1632. Eine katholische Kritik
VI.6 Wallensteins Tod als Zeitungsmeldung
VI.7 Bild-Zeitung: Wallensteins Tod als Meuchelmord
VI.8 Eine »Grabschrift« auf Wallenstein als bissige Parodie. Flugblatt und Zeitungsmeldung
VII.1 Interventionen in den Krieg – zivilgesellschaftliche Friedensbemühungen. Die Friedensrede des Diederich von dem Werder 1639
VII.2 Friedensgedichte einer »gesellschaftlich« engagierten adeligen Frauengemeinschaft
VII.3 Nach den Verheerungen: Zukunftsunsicherheit und Zupacken am Ende des Krieges. Eintrag in einer schwäbischen Familienbibel
VII.4 Der unsichere Frieden. Ein Ulmer Landschuster erlebt und beschreibt die Friedensschlüsse von 1648 und 1650
VII.5 Ein Bauer bezeugt den Frieden, aber auch die fortdauernden Auswirkungen des Krieges
VII.6 Zeitgeschichte in der Zeitung. Die Hamburger Wochentliche Zeitung berichtet über die Friedensverhandlungen und Friedensschlüsse von 1648 in Münster und Osnabrück
VII.7 Alltagsutopie und politischer Horizont. Zwei Flugblätter verkünden die Nachricht vom Frieden 1648
Für Doris
Die Nähe und Ferne des Dreißigjährigen Krieges
Ist ein Buch über den gewaltigen Dreißigjährigen Krieg erst dann dem Gegenstand wirklich angemessen, wenn es ebenfalls monumental und episch angelegt ist? Bis heute und gerade im 400. Jahr seines Beginns ist dieser Krieg in zahlreichen voluminösen Gesamtdarstellungen zu Buche geschlagen. Es wird Zeit, die Perspektive zu wechseln. Ein großer Krieg kann auch ausgehend von kleineren Szenen, Schlüsselereignissen, Episoden und Wahrnehmungsfragmenten zur Darstellung gebracht werden – wie es in diesem Buch anhand von Dokumenten, Selbstzeugnissen und Medien der Zeit unternommen wird. Schließlich kommt es darauf an, was an diesem langen und großen Krieg überhaupt zur Darstellung gebracht werden soll. Sind es die Schlachten, die großen Gipfelereignisse von kriegerischen Zuspitzungen, von Herrscherpolitik und endlichem diplomatischen Friedensschluss? Oder sind es nicht auch, ja hauptsächlich die vielen Gewalt-Ereignisse, die den Alltag durchziehen, und die anhaltenden Versuche, in und mit ihnen zu überleben? Machten nicht erst diese alltäglichen Herausforderungen den komplexen Ereignis-, Wahrnehmungs- und Erfahrungszusammenhang des »Großen Kriegs in Teutschland« aus, als der er von den Zeitgenossen bereits nach seinem ersten Jahrzehnt verstanden wurde, noch bevor später vom Dreißigjährigen Krieg die Rede war.
Die alternative Perspektive dieses Buches ist deutlich: mit Blick auf zeitgenössische Selbstzeugnis- und Zeitzeugnisdokumente[1] wird im Folgenden der Versuch einer andersartigen Gesamtdarstellung des Dreißigjährigen Krieges unternommen. Die Darstellung bleibt dabei aber nicht auf den Rahmen einer Quellendokumentation beschränkt. Sie macht Selbstzeugnisse in einem umfassenderen Repertoire weiterer Zeitzeugnisse fruchtbar: als analytische und darstellerische Ausgangspunkte einer dokumentarischen Mikrogeschichte. Dabei werden auch die besonderen Formen der Verarbeitung von Kriegserfahrung aus dem Blickwinkel der zeitgenössischen Medien zur Geltung gebracht. Denn an ihnen wird, wie an Selbstzeugnissen auch, eine Wahrnehmungsgeschichte des Dreißigjährigen Krieges ablesbar, deren erheblicher Erkenntniswert bisher nicht ausreichend berücksichtigt worden ist.
So ist die hier gebotene Darstellung zwar quellen- und dokumentenbasiert, aber sie verfolgt das Ziel einer Gesamtdarstellung auf der Basis einer analytisch erzählenden Präsentation einer Vielzahl von Episoden, »Zeugnissen und ihren Geschichten«,[2] die zu Miniaturen geformt wurden. »Sternstunden der Menschheit«[3] sind solche Miniaturen wahrlich nicht; weit davon entfernt sind doch diese markanten Alltagsszenen, in denen sich eine andauernde Gefahr verdichtet: die ständige Bedrohung durch militärische Gewalt, denen das Leben auch in seiner zivilen Alltäglichkeit ausgesetzt ist. Auf der Seite der militärischen Täter galt es dagegen, von der Ausübung von Zwang und Gewalt zu leben. Die »Lebenswelten« beider Seiten überschnitten sich im Alltag des Krieges auf vielfältige Weise, vor allem aber verschränkten sie sich in der Einquartierungssituation der Militärangehörigen in den Zivilhaushalten. Dieser andauernde Rückgriff auf eine äußerst prekäre Form von »Gastfreundschaft« war, mehr noch als das Leben im Feldlager, für das Überleben wie die Regeneration der Armeen und Gewaltapparate des Dreißigjährigen Krieges von zentraler Bedeutung.
Aus dieser Einsicht ergibt sich eine der zentralen Thesen dieses Buches. Der Dreißigjährige Krieg fand nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie, auf den Schlachtfeldern statt. Er war ganz wesentlich auch ein Krieg, der »im Hause« vor sich ging, d. h. in den Einquartierungssituationen der Zivilbevölkerung. Hier waren die prekären Verhältnisse von Gewalt, aber auch vom Zwang zum Zusammenleben gewissermaßen »zu Hause«, die den Krieg und seinen Verlauf bis an den Rand der Erschöpfung und das heißt dann auch bis an das Ende seiner Kriegsmaschinen und deren Ressourcen wesentlich prägten.
Die eher epischen Darstellungen des Dreißigjährigen Krieges entlang bekannter »master narratives«, wie wir sie in den anlässlich des Zentenar-Jubiläums bereits erschienenen, voluminösen und teilweise forschungsintensiven Bänden von Herfried Münkler,[4] Georg Schmidt[5] und im Werk von Peter Wilson[6] kennenlernen, widmen diesem zentralen Moment der Alltäglichkeit des Dreißigjährigen Krieges vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Mit diesem Buch wird ihnen eine alternative historische Perspektive in Form einer dokumentarischen Mikrogeschichte des Dreißigjährigen Krieges zur Seite gestellt. Hier wird der Versuch einer »Histoire à part entière’« (Lucien Febvre)[7] gewagt, einer »Detailgeschichte des Ganzen«. Dabei ist sich dieses Unternehmen seiner Grenzen doch zugleich bewusst. Seiner Anlage nach ist es der problemoffene und unabgeschlossene Versuch einer kleineren »histoire totale« eines gewaltigen und vielschichtigen kriegerischen Ereigniszusammenhangs.
Es stellt sich aber die Frage, ob die in diesem Buch gewählte Darstellungsform eine angemessenere »Repräsentation« des Dreißigjährigen Krieges ist, die gerade auch dem entgrenzenden, amorphen und häufig unkontrollierbaren Gewaltverlauf dieses Krieges gerecht wird. Schon ein Zeitgenosse, der Textautor von Matthaeus Merians großem zeit- und weltgeschichtlichen Serienwerk Theatrum Europaeum, Johann Philipp Abelin,[8] hat seine dichten dokumentarischen Beschreibungen, wie es Nicolaus Detering jüngst herausgestellt hat,[9] mit einer Verlaufsform des Krieges im Sinn einer »politischen ›Brandtheorie‹« verknüpft: immer wieder und immer weiter habe sich der Krieg wie ein Lauffeuer, mal untergründig, mal oberirdisch auch an nicht vorhersehbaren Stellen unkontrollierbar über Europa ausgebreitet. Schon diese zeitgenössische Auffassung legt ein »nichtlineares Narrativ« nahe, um es mit den Worten des amerikanischen Literaturtheoretikers Fredric Jameson auszudrücken, der die Darstellungsprobleme von Kriegen – auch die des Dreißigjährigen Krieges – beleuchtet hat.[10] Eine epische Großerzählung dagegen, die zentral auf die militärischen und fürstlichen Akteure bezogen bleibt, ginge mit ihrem langen Atem über Wichtiges hinweg. Den »unheimlichen«, kraken- und rhizomhaften, eben unvorhersehbaren Verlauf dieses Krieges könne sie gerade nicht erfassen.[11]
Wenn hier also die Darstellungsform einer episodischen dokumentarischen Mikrogeschichte gewählt wird, dann soll nicht nur die Vielfalt der Wahrnehmungen und Erzählungen der Zeitgenossen in möglichst direkter Weise zur Darstellung gebracht werden. Die einzelnen Episoden und Ereignisse sind in diesem Buch stets auf eine umfassendere analytische Dimension einer vertiefenden Kontextualisierung bezogen. Ein solch größerer Darstellungsbogen wird jeweils durch die ausführlicheren Einleitungen zu den Einzelkapiteln geschaffen. Hier ist auch der Ort, an dem die eindrückliche Vergegenwärtigung der Einzelszenen durchbrochen wird, um die hineinwirkenden, wahrnehmungsleitenden Rahmungen der Zeitgenossen freizulegen. Eine dieser Rahmungen, um ein Beispiel zu bringen, ist die schon erwähnte zeitgenössische »Brandtheorie« des Krieges. Zum einen ist da der englische Höfling, Diplomat und spätere Sekretär des königlichen Privy Council in London, James Howell, der schon im Jahr 1621 ahnungsvoll an seinen Vater schrieb: »There is nothing in comparison of those hideous fires that are kindled in Germany, blown first by the Bohemians, which is like[y] to be a war without end.«[12] Zum andern ist es die Nonne Maria Anna Junius, die sich ebenfalls die Feuervorstellung vom Kriegsbrand zu Herzen nahm, vor allem seit ein Feuersturm Magdeburg, die Metropole des norddeutschen Protestantismus, im Mai 1631 vernichtet hatte. Als schwedische Truppen die Stadt Bamberg wenig später besetzten, vor deren Toren ihr Kloster lag, und sie selbst in der Nähe Feuer-Rauch aufsteigen sah, überfiel sie die Angst vor dem »Magdeburgisieren« ihres eigenen Klosters. Sie notierte in schreckhafter Wahrnehmung der eigenen Lage: »Da [seit] Magdeburg gebrennet, hat es kaum einen solchen Rauch gegeben. Da erschrecken wir [zu] erst noch mehr, und der Rauch und das Feuer wird noch grösser«.[13] Schließlich wurde auch für den thüringischen Amtmann und Hofrat Volkmar Happe das Feuer als Zeichen wie als Realität zum Inbegriff für die Schrecken des Krieges. Auf einem Gipfelpunkt der vielen hundert von ihm notierten Gewalterfahrungen aus der Nähe, die er in seinem Chronik-Tagebuch auf fast zweitausend Seiten festgehalten hat, bemerkt er gegen Ende des Jahres 1634 von seinem Amtsort Ebeleben aus einen Feuerschein am Nachthimmel über dem Nachbardorf, der ihm durch das Läuten einer Sturmglocke noch bestätigt wird. Zunächst erreicht ihn daraufhin die Nachricht von einer Weltuntergangspanik in diesem Dorf: »Indem alles Volk in großem Zittern und Zagen nicht anders gemeynet, als dass der jüngste Tag kommen würde«. Doch auch für Happe selbst wird das Feuer zum Wahrzeichen für ein mögliches Weltende: »Das sind ja gewiss Zeichen, dass unsere Erlösung durch die Zukunft Jesu Christi nahe sey.«
Die Bemerkungen des thüringischen Amtmanns können aber nicht nur als Ausdruck des Erwartungshorizonts eines nahen Weltendes gelesen werden. Sie sind vielmehr auch Indizien seiner Verzweiflung in einer unglücklichen Situation der Zuspitzung alltäglicher Kriegsgewalt, in der sich angesichts der Vielzahl von Truppendurchzügen und Gewaltaktionen in seiner Nähe sein eigenes »Katastrophenmanagement« als Amtsperson als weitgehend erfolglos und gescheitert erweist, weil es »gleichsam Unglück von allen Orthen geschneiet [hat].«[14]
Aber auch diese Notate des Amtmanns sprechen über mehrere Seiten seines chronikartigen Tagebuchs hinweg noch nicht unbedingt für sich allein, sondern fordern weitere Lesarten heraus. Diese sprechen durchaus eine andere Sprache als die des erwarteten Weltendes. Überwiegend dokumentieren diese Texte die kleineren und größeren Gewaltaktionen in Happes Umfeld, aber auch der Versuche, diese zu steuern und abzumildern. Die analytische Aufschlüsselung dieser Notate in einer Grafik bietet dazu ein bemerkenswertes Bild:
Abb. 1: Blattzahlen der von Happe geschriebenen Tagebücher nach Jahren
Sie zeigt im Panorama des zeitlichen Verlaufs von Volkmar Happes Schreibtätigkeiten auch den von ihm selbst erlebten Kriegsverlauf an und die Versuche, diesem verwaltend und schreibend zu begegnen. Eine solche Grafik ist ebenfalls Bestandteil einer dokumentarischen Mikrogeschichte. Sie ist es aber als eine qualitativ-»statistische« Darstellungsform, die den Kriegsverlauf insgesamt an ganz unkonventionellen Periodisierungen ablesbar macht.
Sichtbar werden hier gerade nicht die üblichen Abfolgen der Kriegsphasen, wie sie in den meisten Darstellungen nach den führenden Kriegsmächten und -theatern genannt und nach den Wahrnehmungsschemata von Politik- und Militärhistorikern definiert wurden und werden: vom böhmisch-pfälzischen Krieg (1618-1623), über den niedersächsisch-dänischen Krieg (1624-1629), bis hin zum schwedischen Krieg (1630-1634) und zum schwedisch-französischen Krieg (1635-1648). Sichtbar wird in der Grafik vielmehr das Auf und Ab einer zivilen Amtstätigkeit in der Begegnung mit dem Krieg, in einer sich freilich über die Jahrzehnte hinweg steigernden Aktivitäts- und Ereignislinie. Doch überraschenderweise kommt diese Aktivitätslinie – wenigstens als Schreibpraxis – für 14 Monate, kurz nach der Schlacht bei Lützen, zwischen Ende November 1632 und Februar 1634 zeitweilig zum Erliegen. Aus welchen Gründen, das verspricht die Arbeit von Felix Henze zu klären.[15]
Ohne dabei in die Erkenntnisfallen einer positivistischen Detailhistorie zu fallen, will dieses Buch also mit seiner Darstellungsform durchaus an das kritische Erbe der Quellenerschließungen des 19. und 20. Jahrhunderts anknüpfen, wie es der Autor bereits in seinen eigenen Erschließungsarbeiten versucht hat.[16] Dazu gehört auch, die Quellenerschließungen des so genannten »Geschichtspositivismus« – wie er oft verächtlich genannt wird – nicht einfach zu übergehen, sondern ihre unausgeschöpften Potentiale neu zu nutzen. Dies soll ein exemplarischer Verweis auf die Leistungen Gustav Droysens (1838-1908) am Ende dieser Einleitung[17] deutlich machen: am Beispiel der Miniatur »Kriegskunst zu Fuß«, über populäre Sinnsprüche aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, aus seinem Nachlass.
Zum Abschluss dieser Einleitung stellt sich die Frage: Warum ist diese Geschichtslandschaft im 400. Jahr des Beginns dieses »Großen Kriegs in Deutschland« (Ricarda Huch)[18] gegenwärtig überhaupt so lebendig? »The past is not dead. It is not even past yet«, hat der zu früh verstorbene englische Historiker und Geschichtsaktivist Raphael Samuel in kreativer Adaption eines Satzes von William Faulkner gesagt.[19] Das heißt allerdings nicht, die Vergangenheit möglichst nahtlos zu vergegenwärtigen, sondern sie – im Bewusstsein von Differenzen und Brüchen – zu »übersetzen«.[20] Dies gilt etwa für die Frage der Erinnerung und des historischen Gedächtnisses des Dreißigjährigen Krieges.[21] Dies gilt auch für die vielseitigen Versuche der Recherche und des Entwerfens neuer Darstellungsformen, wie sie sich gegenwärtig überschlagen – sei es in der Fachhistorie, in der Literatur oder bei vielen anderen, die sich als Lokal- und Detailforscher und -forscherinnen oder als Geschichtsaktivisten mit dem Dreißigjährigen Krieg beschäftigen.[22] Vor allem in der Überlappungszone von Dichtung und Geschichtsschreibung, wie in Daniel Kehlmanns Roman Tyll[23], aber auch in der argumentativen und pointierten Aufarbeitung des Forschungsstands unter einer neuen, überraschenden Perspektive, wie in Johannes Burkhardts »Der Krieg der Kriege«,[24] oder in der Weiterführung bisheriger Forschungen[25] sind innovative Beiträge entstanden. Auch eine wissensgeschichtliche Untersuchung der Wahrnehmungen der Kometenerscheinungen des Dreißigjährigen Krieges vermittelt auf absichtlich schmaler Untersuchungsspur weitergehende, bis ins 20. Jahrhundert reichende Einsichten.[26] Der posthum publizierte, großangelegte Versuch Heinz Dieter Kittsteiners dagegen, den Dreißigjährigen Krieg als kritische Entstehungsperiode, ja als die erste »Stufe« einer »Stabilisierungsmoderne« in einem »Europa der Angst« nach 1618 neu zu bewerten, überzeugt mit seiner säkularen Modernisierungsperspektive nur zum Teil.[27]
Selbst wenn in der Geschichtsschreibung des Dreißigjährigen Krieges die Zeiten der »Trauma-Erzählung« und des »Katastrophen- und Opfernarrativs« vorbei sind und der Platz der deutschen »Urkatastrophe« im historischen Bewusstsein der Gegenwart mittlerweile durch die Weltkriege des 20. Jahrhunderts besetzt wurde,[28] scheint die Beschäftigung mit dem Dreißigjährigen Krieg eine ungebrochene Faszination für das Geschichtsbewusstsein und die Geschichtsforschung der Gegenwart auszuüben. Und diese Faszination erschöpft sich nicht darin, den Dreißigjährigen Krieg als »Analysefolie« für die neuen Kriege des 21. Jahrhunderts heranzuziehen, wie dies der historische Politologe Herfried Münkler in seinem Buch auf bemerkenswerte Weise unternommen hat.[29]
Doch warum diese Nähe einer abgelebten und abgekämpften Epoche der Geschichte zu unserer je eigenen Gegenwart? Auf diese Frage sind im Laufe der Jahrhunderte bereits zahlreiche Antworten gegeben worden.[30] Heute scheint sich nicht nur die Frage neu und von neuen Seiten zu stellen, auch die Antworten sind teilweise neu.
Was den Dreißigjährigen Krieg betrifft, scheinen wir heute, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, und nach einem »Zweiten Dreißigjährigen Krieg« im »Zeitalter der Extreme« des 20. Jahrhunderts[31], zwar – rein historiographisch – von den nationalistischen Leidenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts weit entfernt. Aber sind wir als Historiker und Historikerinnen allein schon deshalb wieder aufs Zeitalter der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zurückverwiesen und auf dessen Zukunftsgewissheit, dass Politik und die Konferenzdiplomatie erfolgreicher Friedensschlüsse nach dem Vorbild des Friedens von Münster und Osnabrück den Weg zu einem dauerhaften, wenn nicht sogar »ewigen Frieden« bahnen würden?
Wir sind es nicht. Zwar wird der Friedensschluss von Münster und Osnabrück im Moment wieder oft als Modell bemüht, um Lösungsmöglichkeiten für Konflikt- und Kriegssituationen, vor allem im Nahen und Mittleren Osten, zu diskutieren. Es wird in diesem Zusammenhang sogar damit geworben, dass der Westfälische Frieden und das »Westfälische System« heute wieder neu zu erfinden seien.[32] Die Einsichten dieses Buches bekräftigen die Absicht dieses und anderer Projekte, aus den historischen Erfahrungen des Westfälischen Friedens heraus neue Instrumente für die Herstellung von Frieden, vor allem im Nahen und Mittleren Osten, zu gewinnen. Doch gerade die detaillierten Untersuchungen dieses Buches zum langwierigen Ende des Dreißigjährigen Krieges und zum nur begrenzten Erfolg der konferenzdiplomatischen und gouvernementalen Bemühungen in Münster und Osnabrück können hier auch neue Akzente setzen. Von ihnen aus ließe sich vielleicht eine realistischere Einstellung zu den Möglichkeiten und Grenzen von Friedensdiplomatie im 21. Jahrhundert diskutieren.
Könnte es sein, dass in Bezug auf die Gegenwartsprobleme von endlos weitergekämpften Kriegen und vom Scheitern der Konferenzdiplomatie ein erfahrungsgesättigter Satz des im Exil in Dubai lebenden syrischen Arztes und Politikwissenschaftlers Ahmad Samir Altaqi weiter führt, den er kürzlich am Ende eines doku-dramatischen Films über den Dreißigjährigen Krieg als »Experte« geäußert hat?
»Normalerweise machen diejenigen Frieden, die Blut an den Händen haben. Man bringt keine Engel zusammen, um Frieden zu schließen. Man muss die schmutzigsten warlords zusammenbringen.«[33]
Und doch: ohne zivilgesellschaftliche Beteiligung, so eine der Schlussfolgerungen dieses Buches für das 21. Jahrhundert, werden Friedensschlüsse langfristig nicht erfolgreich sein können, auch nicht ohne nachhaltige friedenspädagogische Anstrengungen und Erfolge und vor allem auch nicht ohne grundlegende Verbesserungen der (Über)Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten derjenigen, die Opfer von Gewalt, aber oft genug auch ihre Täter sind.
Gustav Droysen (1838-1908) war am Ende des 19. Jahrhunderts einer der produktivsten Historiker des Dreißigjährigen Krieges. Er war der Sohn eines berühmteren Vaters, Johann Gustav Droysen (1808-1884), und stand trotz einer eigenständigen Entwicklung als Historiker der Frühen Neuzeit stets in dessen Schatten. In den Katalogen der öffentlichen Bibliotheken sind beider Werke bis heute oft ununterscheidbar unter der bibliographischen Übermacht des Vaters zusammen gelistet.[34] Gustav Droysens radikal positivistische Quellenkritik, aber auch der etwas ausladende Stil seiner biographischen Werke über Gustav Adolf und Bernhard von Weimar, die ganz im Sinn der protestantischen preußischen Historiographie des späten 19. Jahrhunderts geschrieben wurden, ließen im 20. Jahrhundert das Interesse an ihm in den Hintergrund treten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist er ein vergessener Historiker. Doch einzelne Aspekte seines Werkes sind immer noch interessant, wenn auch unbekannt. Dies gilt für das Musterbeispiel einer mikrohistorisch-quellenkritischen Dekonstruktion eines zeitgenössischen Propaganda-Flugblatts zu König Gustav Adolfs Landung auf der Insel Usedom am 26. Juni 1630,[35] aber auch für eine von Droysen selbst zusammengestellte Sammlung von populären Sinnsprüchen aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Sie findet sich in seinem Nachlass, blieb aber unpubliziert, weil er wohl gegen Ende seines Lebens keine Zeit mehr fand, sie quellenkritisch zu bearbeiten, nach den Ansprüchen, die für ihn selbstverständlich waren.
Droysen nannte diese Sammlung auch »Wahlsprüche einer Kriegskunst zu Fuß«. Er nahm damit den Titel einer 1615 erstmals erschienenen Schrift des Militärreformers Johann Jacob von Wallhausen auf,[36] eines kleinen Handbuchs für die Schulung von Infanterieangehörigen. Aber er gab dem Titel eine erweiterte Perspektive. Er spielte damit wohl auch ironisch-kritisch darauf an, dass es sich bei den von ihm gesammelten Zeugnissen um »Wahlsprüche« volkstümlicher Klugheit handelte, um Zeugnisse einer zivilen »Kriegskunst des Überlebens« angesichts der bitteren Erfahrungen eines Krieges, in dem »Kriegskunst« von den politisch und militärisch Mächtigen zumeist ganz anders verstanden und praktiziert wurde. Die Sprüche sind zuweilen an antike oder humanistische Vorbilder angelehnt. Sie entsprechen dem Zeitgeist humanistischer Kritik am Kriegs- und Söldnerwesen im 16. und 17. Jahrhundert, der sich in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges verschärfte.[37] Auffällig wenige der »Wahlsprüche« haben religiöse Konnotationen. Sie spiegeln zeitbezogen das Leben mit Gewalt, aber auch die Kritik an Gewalt und das kluge Auskommen mit ihr.
Diese von Gustav Droysen angelegte aphoristische Spruchsammlung eröffnet in ihrem Facettenreichtum eine Perspektive auf die in diesem Buch untersuchten Zeitzeugnisse.
»Fried macht Reichtum, Reichthum macht Übermut, Übermut bringt Krieg, Krieg bringt Armut, Armut macht Demut, Demut macht wieder Frieden.«
»Recht ist recht, für einen wie für den andern, er sei groß oder klein, reich oder arm, Bekannter oder Fremder.«
»Ein ganz guter Fürst seyn besser, denn hundert tausend Tonnen voll oder Zentner Sacrament[e].«
»Wann sich die Herren raufen, so kostet es der Undertanen ihre Haare.«
»Das erste und letzte, der Anfang, [die] Mitte und das Ende des Kriegs ist Pecunia, Argentum et Aurum.«[38]
»Geld ist die Losung in aller Welt.«
»Mit Vielem hält man Hauß, mit wenig kommt man aus.«[39]
»Was im Streich erworben und sterben soll, das verbrennt oder ersäuft in keinem Wasser nicht.«
»Mache sich keiner so gewaltig und bös, es kommt allezeit noch ein böserer ober ihn.«
»Ein Kerl allein kann den Feind nicht schlagen.«
»Hunger lehrt essen, was man hat.«
»Wie mans treibet so gehets, sagte der Fleischer, hatte die Kühe bey dem Schwanz.«
»Man darf nicht Läuse in [den] Beltz setzen, sie kommen ohne das wohl darein.«
»Hungrige Fliegen stechen übel.«
»Große Herren haben große Gewalt.«
»Starke Leute geben [ge]schwind Schläge.«
»Ein Schwert behält das andere in der Scheide.«
»Krieg und Unfried ist allweg [ebenso] gut wie bald anzuheben, nicht so gut aber zu führen wie es läuft.«
»Unwillige Hunde dienen nit zum Weydwerk.«
»Mit unwilligen Hunden ist bös jagen.«
»Gute Bezahlung macht und behält gute Freundschaft.«
»Wem der Kopf bleibt, der putzt den Bart.«
»Viel Köpf, viel Sinn.«
D.: Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle, Nachlass Gustav Droysen YI 32 II 59 (16).
Der Prager Fenstersturz von 1618 und seine Folgen
Am Anfang war der Fenstersturz. In diesem Satz steckt eine Tatsachenbehauptung, aber auch eine Aussage der Geschichtsschreibung: Der Dreißigjährige Krieg begann mit der spektakulären Protesthandlung des so genannten »Prager Fenstersturzes« am 23. Mai 1618.
Dieser »Anfang« wird in der politischen Geschichtsschreibung späterer Historiker – bis heute – als der Beginn des Dreißigjährigen Krieges angesehen. Dabei geht es um ein tatsächlich stattgefundenes Ereignis, das zunächst nur von lokaler Bedeutung war. Das Geschehen hatte aber Folgen weit über den Tag hinaus. Es verkörperte – wie es der katholische, tschechisch-österreichische Historiker Anton Gindely im 19. Jahrhundert ausgedrückt hat – nicht nur einen punktuellen »Schicksalstag von Böhmen«, sondern bildete den »Anfang und die Ursache alles folgenden Wehs«.[1]
Doch wie nahmen die Zeitgenossen diesen Anfang wahr? Auch sie sahen den Fenstersturz vom 23. Mai 1618 bereits in der Woche danach als ein Ereignis, das drohte, zu verschärften militärischen Auseinandersetzungen zu führen – wie es aus einer Meldung in der Frankfurter Kaiserlichen Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung des Johann von Birghden hervorgeht.[2] In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wurde der Fenstersturz von den Zeitgenossen dann sehr bald als der kriegerische Beginn einer fatalen Ereigniskette von Gewalt gesehen, die erst nach drei Jahrzehnten an ihr Ende kam. Dies kam auch in der Begriffsprägung »Dreißigjähriger Krieg« zum Ausdruck. Denn sie war zeitgenössisch. Gleich nach dem formellen Ende des Krieges wurde sie im Rückblick auf seinen Anfang geprägt und fand bald allgemeine Verwendung – über die Elite der Amtsträger und akademischen Historiker hinaus, bis hin zu Handwerkern und Bauern.[3]
Aber wurde diese Vorstellung vom Dreißigjährigen Krieg, sobald sie im Rückblick entstand, auch dann noch auf dessen Anfänge im »Fenstersturz« bezogen? Joachim Rese, der Bürgermeister von Jeßnitz (bei Bitterfeld), sah dies jedenfalls nicht so. Ihm war nach dreißig Jahren Kriegserfahrung ein anderer Anfang des Krieges im Gedächtnis haften geblieben: das Erscheinen des großen Schweif-Kometen im November 1618 und dessen lange Sichtbarkeit. Rese schrieb bald nach Kriegsende – vermutlich um 1650 – rückblickend in sein Tagebuch: »In diesem Jahre 1618 erschien der schreckliche Cometstern […], derselbe stunde 30 Tage am Himmel, wie denn der Krieg in Deutschland auch 30 Jahre gewähret, und also jeder Tag ein Jahr bedeutete, wie die Erfahrungen solches leider! genugsam bezeugte[n].«[4] Auch andere bezogen das Kriegsende auf einen Kriegsanfang im Zeichen des Kometen. So las der westfälische Ratsherr Andreas Kothe aus Wiedenbrück Anfang und Dauer des von ihm erlebten »Dreißigjährigen Krieges« ebenfalls an der Kometenerscheinung vom Spätherbst 1618 ab. Bald nach Kriegsende trug er in seine Chronik ein: »Anno 1618 ungefähr im November ist ein großer Cometstern am Himmel gesehen worden […]. Hat […] sich 30 Abend sehen lassen. So ist leichtlich daraus abzunehmen, weil [dass] der deutsche Kreich [Krieg] im Römischen Reich 30 Jahr lang gewähret und anno 1648 im November durch Gottes Gnade wieder geendiget […]. Hätte [ich] aber gewisst, dass es ein dreysigjähriger Kreich bedeuten sollte, hätte ich meine Sachen anders disponieret.«[5]
Doch wie verhielt es sich unmittelbar nach dem Fenstersturz selbst? Auffällig ist, dass die Zeitgenossen sehr bald nach dem Fenstersturz aufhörten, diesen als ein Ereignis von bloß lokaler Bedeutung zu sehen. Schnell verflog die Hoffnung, die Folgen des Ereignisses könnten leicht im Zaume gehalten oder sogar einer friedlichen Konfliktlösung zugeführt werden. Allenfalls in den ersten Tagen gab es einen Eindruck möglicher Konfliktbereinigung,[6] dann aber folgten schlimmste Befürchtungen. Kann man von daher das Ereignis vom 23. Mai 1618 wirklich einen »Fenstersturz in den Frieden« (Johannes Burkhardt)[7] nennen? War es nur ein begrenzter Protest, der eine friedliche und nachhaltige Alternative zur Lösung der politischen und religiösen Konflikte hätte in Gang setzen können, wie sie das Heilige Römische Reich und besonders Böhmen seit dem Ende des 16. Jahrhunderts erschütterten? Ein solches friedensgeschichtliches Interpretament ist interessant, aber vielleicht doch auch mit Skepsis zu betrachten. Auf jeden Fall ist es eine zum Nachdenken anregende Provokation eines Historikers im »Jubiläumsjahr« 2018. Johannes Burkhardt betont die realen historischen Chancen einer kursächsischen Friedensvermittlung (zeitgenössisch »Interposition« genannt) in den Monaten unmittelbar nach dem Ereignis vom 23. Mai 1618. Das Projekt einer erfolgversprechenden Friedenskonferenz im böhmischen Grenzort Eger sei dann vor allem am überraschenden Tod des in die Verhandlungen eingebundenen Kaisers Matthias am 20. März 1619 gescheitert.[8] Eine solche Sicht des Fenstersturz-Ereignisses mag den Wahrnehmungen und Interessen einiger der wichtigsten Machtträger entsprochen haben. Sie waren vor allem im Kurfürstentum Sachsen zu Hause, das sich als Vermittlungsmacht zwischen Kaiser und evangelischen Reichsständen Geltung zu verschaffen versuchte.[9] Aber sie entsprach doch nicht den Befürchtungen der meisten Zeitgenossen, und wohl auch nicht dem realen Gang des bereits weit vorangeschrittenen Konfliktgeschehens.
Diese negative Einschätzung der Friedenschancen in den Monaten und Jahren nach dem Prager Fenstersturz hat Philipp Abelinus auf den Punkt gebracht. Der professionelle Frankfurter Textschreiber und Zeithistoriker ließ 1635, schon mitten in dem andauernden »blutigen und langwierigen Krieg«, im ersten Band des epochemachenden Werks Theatrum Europaeum von Matthaeus Merian[10] die fatale Verknüpfung und Aufeinanderfolge von Kriegsereignissen seit 1618 bis in seine eigene Gegenwart hinein noch einmal Revue passieren. Abelinus sah in seinem Rückblick aus der Mitte des Krieges heraus dessen »Anfang und Ursprung« im »Böhmischen Unwesen« und durchaus auch in der »Fenster Auswerfung zu Prag«. Er eröffnet seine Beschreibung aller vornehmen und denkwürdigen Geschichten des Krieges vom Jahr 1618 an auch dementsprechend:
»Die weil der blutige und langwierige Krieg, welcher Anno 1618 in unserm geliebten Vaterland Teutscher Nation erwachsen und gleichsam als ein schädliches Feuer mit seinen verderblichen Flammen zu vieler herrlichen und bis dahin florierenden Länder, Städte und Herrschaften Ruin, Verheerung und Untergang […] sich ausgebreitet und um sich gefressen [hat], dass dessen traurige und höchstbeklägliche Vestigia [Fußspuren] und Mahlzeichen, wohl so lang die Welt noch stehen wird, verbleiben und […] allen Nachkommen vor Augen schweben werden, […] in dem Königreich Böhmen erstmals seinen Anfang und Ursprung genommen [hat] […] das haben wir zuvorderst hierhero setzen wollen.«[11]
Doch was ist genau geschehen? Am Vormittag des 23. Mai 1618, morgens nach 9 Uhr,[12] wurden die zwei königlichen Statthalter in Böhmen, Wilhelm Slavata[13] und Jaroslav von Martinitz,[14] zusammen mit ihrem Sekretär Philipp Fabricius[15] von protestierenden Vertretern der böhmischen Stände aus einem Fenster der Kanzlei in der Prager Burg geworfen. Zu diesem Zeitpunkt waren weder den Opfern des Sturzes, noch denjenigen, die ihn herbeigeführt hatten, die gewaltigen Nah- und Fernwirkungen des Geschehens bewusst. Es stand ihnen noch nicht vor Augen, dass der Vorfall, an dem sie passiv und aktiv beteiligt waren, den Beginn einer umwälzenden Folge von Ereignissen markierte, die dann drei Jahrzehnte später als »Dreißigjähriger Krieg« bezeichnet werden sollte.
Abb. I.1: Die Prager »Fenster Auswerfung« vom 23. Mai 1618 in der Darstellung Matthaeus Merians, 1635, HAB Wolfenbüttel
Der Krieg wurde ausgelöst durch ein Ereignis in einem bereits existierenden regionalen Konflikt- und Spannungsfeld. Der Fenstersturz war zunächst nichts anderes als ein Zwischenfall in einem schwelenden Konflikt der böhmischen Stände mit den Vertretern der kaiserlichen Zentralgewalt in der böhmischen Hauptstadt Prag. Schon seit Längerem gab es eine Auseinandersetzung um die Glaubens- und Religionsfreiheit der überwiegend protestantischen böhmischen Stände. Diese Freiheit der Religionsausübung war durch einen Erlass Kaiser Rudolfs II. von 1609 verbrieft, wurde aber seit dem Regierungsantritt des Bruders des Kaisers, Matthias, als König von Böhmen 1611 und vor allem nach dessen eigener Wahl zum Kaiser 1612 und seinem Umzug nach Wien zunehmend durch eine Rekatholisierungspolitik eingeschränkt. Diese ging schrittweise, aber durchaus konsequent und demonstrativ an einer Vielzahl von lokalen Fronten vor. Vor allem die Schließung, dann 1617 sogar der Abriss einer reformierten Kirche in der Bergbaustadt Klostergrab (Hrob) und die Schließung einer lutherischen Kirche in der nordostböhmischen Stadt Braunau (Broumov) empörten die protestantische Öffentlichkeit und deren Vertreter in den böhmischen Ständen.[16] Am 23. Mai 1618 kam es in der Prager Burg am Ende eines stürmischen Zusammentreffens der zwei kaiserlichen Statthalter und ihres Sekretärs mit einer Delegation der Stände zu einer spektakulären Entladung: zum Fenstersturz. Mehr als hundert Standesherren hatten sich zuvor zur Burg begeben, um gegen die neuen kaiserlichen Maßnahmen zu protestieren. Durch sie sahen sie ihre religiösen Freiheiten als Protestanten, aber auch ihre politischen Freiheiten als Stände bedroht. Wie in Demonstrationsverfahren dieser und späterer Zeiten üblich, schickten die Protestierenden eine Delegation in die Kanzlei auf der Prager Burg, um ihren Forderungen in der böhmischen Herrschaftszentrale Nachdruck zu verleihen. Erst als ihre Forderungen zurückgewiesen wurden, schritten sie zur Tat. Ihre Protesthandlung war dabei keineswegs singulär oder, wie es der kaiserliche Statthalter Slavata später schrieb: »eine schändliche, in keiner Chronik der Welt erzählte Untat«.[17] Sie griff auf eine böhmische Tradition symbolisch gewaltsamen Handelns bei der Behauptung religiöser und politischer Freiheiten zurück. Es hatte jedenfalls bereits vorher einen Prager Fenstersturz gegeben. Seinem Vorbild folgten die Protestierenden von 1618 bewusst.
Am 30. Juli 1419 hatten Anhänger von Jan Hus, dem böhmischen Religionsführer, der vier Jahre zuvor während des Konstanzer Konzils als Ketzer auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden war, das Rathaus der Prager Neustadt gestürmt, um ihre dort gefangenen Religionsverwandten und »Brüder« zu befreien. Bei diesem Anlass hatten sie zehn katholische Amtsträger aus dem Fenster geworfen und anschließend getötet. Ein weiterer Fenstersturz hätte sich fast 1609 ereignet, während der Kontroversen um den kaiserlichen so genannten »Majestätsbrief«, in dem Kaiser Rudolf II. den böhmischen Ständen schließlich die Religionsfreiheit zusicherte, auf die sie sich 1618 beriefen.
Diesem hoch aufgeladenen Spannungsfeld ist es zuzuschreiben, dass ein singuläres Ereignis wie der »Fenstersturz« geradezu kriegsauslösend wirken konnte, auch wenn der Sturz selbst relativ glimpflich ausgegangen sein mag – in einer »weichen Landung«, wie es Zeit- und Augenzeugen, darunter ein vom Fenstersturz unmittelbar Betroffener, Wilhelm Slavata, beschreiben. Die Erklärungen der Umstände des »Sturzes« und seines relativ sanften Ausgangs sind in den hier dokumentierten beiden Zeugnissen jedoch durchaus verschieden. So führt der kaiserliche Statthalter Wilhelm Slavata, einer der aus dem Fenster Gestürzten, in seinen erheblich später verfassten Memoiren die »weiche Landung« auf ein Marienwunder zurück. Die Jungfrau Maria habe in einem direkten Eingreifen mit ihrem Schutzmantel die Stürzenden sanft auf die Erde geleitet.[18] Der protestantische Zeitzeuge Pavel Skála dagegen hält sich, sehr viel prosaischer, an materielle Ursachen: die weiche Landung sei durch die Weichheit des Untergrunds ermöglicht worden, auf den die Gestürzten fielen. Dieser sei mit Papierabfällen aus der Kanzlei gepolstert gewesen.[19] Was an diesem Erklärungsversuch deutlich wird, ist der Übergang von der Erklärung des Geschehens auf eine kritische Diskursebene. Denn hier zeigt sich die demonstrative Abkehr des protestantischen Augenzeugen von der Wunder-Mythologisierung des Vorgangs, der von katholischer Seite aus schon bald nach dem Ereignis eingesetzt hat. Doch vielleicht ließe sich auch – jenseits religiöser Kontroversen – eine historisch-anthropologische Begründung für die »weiche Landung« ins Feld führen: immerhin erfolgte der Fall über eine Höhe von 16 Metern.[20] Die glimpfliche Landung könnte durchaus auch mit dem kalten Wetter zu tun gehabt haben, das am Tag des Sturzes geherrscht haben soll und das warme Kleidung erforderlich machte. Die Statthalter waren jedenfalls – nach der Information von Jan Kilián – in der am Hofe getragenen spanischen Mode der Zeit gekleidet und ihre Körper deshalb von schwarzen, schweren und möglicherweise sogar gepolsterten Stoffen umhüllt.[21] Ein entscheidender mithandelnder »Aktant« des fatalen Geschehens war jedoch mit Sicherheit die Gebäudeform außerhalb des Kanzleifensters. Die Außenmauer verlief nicht etwa senkrecht nach unten, sondern sie wölbte sich leicht nach außen. Diese Schräge verlangsamte deshalb den Fall der drei Protagonisten und federte ihn gleichsam ab. Die drei dürften also wohl eher herabgeglitten als herabgefallen sein.[22] Man könnte insofern also fast eher von einem Prager »Fensterrutsch« als von einem »Fenstersturz« sprechen.
Doch historisch wichtiger als die einzelnen Umstände und das Drama des Sturzes mitsamt seinen Beobachtungen und Kommentaren aus der Nähe sind seine enormen Auswirkungen. Sie haben in einer Kette von Reaktionen die unmittelbare Gegenwart und die Entwicklung der folgenden Jahre bestimmt:
Die Stände traten schon am 24. Mai erneut zusammen. Sie wählten ein dreißigköpfiges Direktorium als Regierung und erklärten den böhmischen König für abgesetzt. Wenige Tage später begannen sie mit dem Aufbau einer eigenen Armee und der Suche nach Verbündeten. Diese Bundesgenossen gewannen sie bald mit den mährischen Ständen, aber auch denen der Nieder- und Oberlausitz sowie Nieder- und Oberösterreichs. Das Königreich Böhmen wurde zu einer Konföderation gleichberechtigter Länder unter einem gewählten König erklärt. Seit dem Sommer 1618 trat eine Armee in Aktion, in der sich Vertreter der Stände und angeworbene private Kriegsunternehmer wie der bereits notorisch bekannte Söldnerführer Peter Graf von Mansfeld (1580-1626) das Kommando teilten. Am 23. August 1619 wurde der calvinistische Kurfürst Friedrich der V. von der Pfalz zum böhmischen König gewählt. Seine Ehefrau Elisabeth, eine englische Prinzessin aus dem Hause Stuart, war eine Tochter König Jakobs I. (IV.) von England und Schottland. Während die Aspirationen ihres Mannes sich auf eine mit der Krone Böhmens zu erringende protestantische Vormachtstellung im Reich richteten, brachte die anglo-schottische Königstochter die Hoffnung auf die Bundesgenossenschaft der englischen Krone mit weitreichenden europäischen Machtaspirationen in diese neue Verbindung ein.
Diese Konfliktsituation, wie sie in der böhmischen Königswahl an den Tag kam, verschärfte sich dadurch, dass nahezu gleichzeitig eine zweite Herrscherwahl erfolgte. Nach dem Tod des Habsburger Kaisers Matthias wurde dessen Bruder Ferdinand am 28. August 1618 in Frankfurt zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gewählt. Auch der neue Kaiser organisierte sich Bundesgenossen. Er vergewisserte sich der politischen und religiösen Unterstützung der spanischen Krone, des Papstes und der katholischen Liga deutscher Fürsten, in der vor allem die Zusage militärischer Unterstützung des Kurfürsten von Bayern, Maximilian I., entscheidend war. Die Dynamik dieser Auseinandersetzung um die religiös-politischen Freiheiten der böhmischen Stände und die Rechte an der Krone Böhmens erwies sich als nicht mehr beherrschbar. Sie trieb aus einem lokalen und regionalen Konflikt in eine kriegerische überregionale Auseinandersetzung europäischen Zuschnitts hinein.
Wie wurde nun die sich anbahnende kriegerische Auseinandersetzung in Böhmen inner- und außerhalb des Landes wahrgenommen? Einen charakteristischen Wahrnehmungskatalysator bildete die Häufung von außergewöhnlichen Naturerscheinungen, welche die Zeitgenossen als Vorzeichen, ja Geschichtszeichen registrierten. Sie verdichteten ihr bereits vorhandenes Krisenbewusstsein hin zu pessimistischen Zukunftserwartungen. Eine Konflikt- und Notzeit größten Ausmaßes deutete sich für sie an, bis hin zu einem befürchteten und drohenden Ende der Welt in einer endzeitlichen Katastrophe. Angesichts dieser verbreiteten negativen Zukunftserwartungen ließe sich sogar behaupten, der Dreißigjährige Krieg sei als ein umwälzender gewaltträchtiger Ereigniszusammenhang in solchen Zukunftsprojektionen schon vorweggenommen gewesen, noch bevor er überhaupt Wirklichkeit wurde.
Jedenfalls häuften sich die Unheilszeichen (Prodigien) in den Zeit-Zeugnissen innerhalb und außerhalb Böhmens. Ihre Wahrnehmung war meist, aber nicht ausschließlich, auf den großen und außergewöhnlichen Kometen fokussiert, der nach zwei kleineren Vorläufern seit November 1618 am Himmel erschien.[23] Doch hierbei wurde zwischen dem Omen des Zeitzeichens und dem realen Geschichtsprozess durchaus unterschieden. Diese Unterscheidung wurde sowohl in der Chronik des thüringischen Hofbeamten und Amtmanns Volkmar Happe[24] getroffen wie auch im Zeytregister des Ulmer Landschusters Hans Heberle.[25] In der Geschichtsdarstellung, die Philipp Abelinus für Matthaeus Merians neues zeitgeschichtliches Magazin Theatrum Europaeum schrieb, wurde diese Unterscheidung zum Darstellungsprinzip. Auffällig ist hier, dass der Fenstersturz als konkretes Geschichtsereignis zwar in Wort und Bild dargestellt, aber nicht mit dem Kometen in Beziehung gesetzt wurde, der im Text wie in der Geschichtszeit des Jahres 1618 ja auch erst später auftaucht. Die Darstellung der »Fenster Auswerfung« in Wort und Bild im ersten, 1635 erschienenen Band des Theatrum Europaeum[26] blieb Teil einer besonderen säkularen Darstellung des »böhmischen Unwesens«, an dessen Zusammenballung sowohl den kaiserlichen Ratgebern als auch den Vertretern der böhmischen Stände verhängnisvolle Schuldanteile zugemessen wurden.[27] Als ein gewissermaßen retrospektives Geschichtszeichen für die Deutung des Fenstersturzes schied die Kometenerscheinung vom Herbst und Winter 1618 also aus. Als Zeichen einer »vergangenen Zukunft« zur Kennzeichnung späterer historischer Ereignisse hingegen wurde der Komet nachträglich aber durchaus in Stellung gebracht.[28] Der Komet wirkte somit als ein Unheil verheißendes Zukunftszeichen, das umwälzende Ereignisse ankündigte,[29] in seiner eigenen Gegenwart, aber auch als ein historisches Erinnerungs-, Merk- und Pathoszeichen, das im späteren Rückblick dem »Ursprung und Anfang« des seit dem Jahr 1618 um sich greifenden Kriegsfeuers düsteren Sinn und verhängnisvolle Vorbedeutung gab.
Abb. I.2: Der Komet von 1618 über Heidelberg. Dieser Kupferstich von Matthaeus Merian aus dem Jahr 1635 ist die vieldeutige Abbildung aus einer damals schon »vergangenen Zukunft« (Reinhart Koselleck). Sie zeigt den Kometen von 1618 über der Stadt und dem Schloss von Heidelberg, dem Herkunftsort und Stammsitz des pfälzischen Kurfürsten Friedrich V., der 1618 zum böhmischen König gewählt wurde und kaum zwei Jahre später seinen Thron infolge der verlorenen Schlacht am Weißen Berg wieder verlor. Die von Merian mit Bedacht gewählte Position des Kometen ist eine zur Morgendämmerungszeit im November 1618, HAB Wolfenbüttel
Der Fenstersturz war für die Zeitgenossen also nur der äußere Kriegsanlass. Symbolisch stand am Anfang vielmehr der Komet: als ein umfassender Deutungsrahmen – für die Schreiber der Selbstzeugnisse ein bedeutungsträchtiger Ausgangspunkt ihres Kriegsgedächtnisses. Wenn man diesen Perspektivenwechsel nachvollzieht, dann erscheint die gängige Fixierung späterer Historiker auf den Fenstersturz allerdings als einseitig. Denn er ließe sich dann nicht mehr ohne weiteres als »der Anfang« des Dreißigjährigen Krieges benennen, weil sich in den Wahrnehmungen und Zeugnissen der Zeitgenossen tatsächlich mehrere »Anfänge«[30] durchkreuzten.
Mit dem hier abgedruckten Text eines Zeitgenossen wird erstmals in deutscher Sprache ein wichtiges Zeitzeugnis publiziert. Sein Verfasser, Pavel Skála (1583-1640), war am Tag des Ereignisses, am 23. Mai 1618, in Prag anwesend. Er erlebte den Fenstersturz aus nächster Nähe, wenn er selbst wohl auch nicht bei dem Ereignis anwesend war. Als Schreiber des Direktoriums der böhmischen Stände war er jedenfalls einer der bestinformierten Zeugen und Insider auf der ständisch-protestantischen Seite. Seine »Böhmische Geschichte vom Fenstersturz zum Weißen Berg«, der dieser Text entnommen ist, entstand nach 1620 im Exil und wurde im 19. Jahrhundert erstmals auf Tschechisch veröffentlicht. Er wurde bisher nicht ins Deutsche übersetzt. Die Übersetzung des Textes aus dem Tschechischen besorgte die Bohemistin Wilma Iggers aus Buffalo, NY. Sie wurde als Jüdin mit ihrer Familie 1938 selbst aus Böhmen vertrieben und versteht sich auch heute noch als »böhmische Exulantin«. Ihr und Jan Kilián, Pilsen, für seine hilfreichen Kommentare, sei an dieser Stelle besonders gedankt.
Skála verfasste seinen Text als ein gelehrter, aber durchaus parteiischer Zeithistoriker. Seine Darstellung des Ereignisses ist detailliert und kenntnisreich. Sie hat die Charakteristika einer »dichten Beschreibung«, welche die einzelnen Handlungsschritte dieses Tages und die auf der ständischen wie auf der Seite der kaiserlichen Statthalter beteiligten Personen genau und stellenweise mit Sarkasmus erfasst. Aber als eine Beschreibung aus einer besonderen ständenahen Position, niedergeschrieben aus dem erheblichen zeitlichen Abstand von einigen Jahren, hat Skálas Text Teil an der durchaus gegensätzlichen Diskursivierung des Ereignisses, die bald nach dem 23. Mai 1618 einsetzte. Dies zeigt sich z. B. an der demonstrativen Abkehr des protestantischen Zeitzeugen von der Wunder-Mythologisierung des Vorgangs, wie er auf der katholischen Seite im Mittelpunkt stand, in zeitgenössischen Flugblättern, aber auch im hier wiedergegebenen autobiographischen Zeugnis von Wilhelm Slavata.[31] Der Erklärung des relativ sanft und glimpflich verlaufenen Sturzes als Folge eines Marienwunders stellt Skála eine betont nüchtern protestantische Sicht und Erklärung »auf ganz einfache Weise« entgegen. Er führt an, dass der Sturz deshalb so glimpflich für die aus dem Fenster Gestürzten verlaufen sei, weil sie in einen Haufen mit Abfällen der böhmischen Kanzlei gefallen seien, die deren Pförtner zuvor regelmäßig entsorgt hätte. Im Übrigen stellt er als ein humanistisch und historisch Gebildeter die Protest-Praxis des Fenstersturzes in mehrfache historische Zusammenhänge. Er verweist darauf, dass man sowohl im alttestamentarischen Volk Israels wie auch im alten Rom »Störer des Gemeinwohls von Felsen und anderen hohen Plätzen« hinuntergeworfen hätte. Er verweist aber auch darauf, dass die historische Legitimation des Fenstersturzes auch schon Teil der Rechtfertigung gewesen sei, welche die böhmischen Stände selbst unmittelbar nach dem Ereignis öffentlich ins Feld geführt hätten.
»Nachdem Slavata[32] und Martinitz[33] abgetreten waren und Protest laut geworden war, wurden sie vom Grafen von Thurn[34] als Störer der öffentlichen Ruhe, ja als Feinde des Königreichs Böhmen bezeichnet. Denn auf die Frage des Grafen, ob sie die Stände mit ihren Rechten denn anerkennen würden, hatten beide mit großer Schwurgeste und mit zwei erhobenen Fingern geantwortet und unter lautem Geschrei die Stände als aufrührerisch bezeichnet.
Unter den anwesenden Ständemitgliedern erhob sich gleich danach eine Stimme, man möge doch diese Raubtiere ohne viel Federlesens ins Gefängnis oder in den schwarzen Turm sperren. Andere mischten sich ein und riefen noch, man solle die Verräter doch einfach aus dem Fenster werfen.
Während dieser lauten Bekundungen standen beide, Slavata und Martinitz, wie vom Donner gerührt nebeneinander. Sie wurden abwechselnd blass und wieder rot und sahen einander an. Gedrückt verständigten sie sich mit Fingerzeichen und warteten angespannt, was mit ihnen schließlich geschehen würde.
Inzwischen wandten sich Ulrich von Kinski[35] und andere gegen sie und verstellten ihnen die Tür. An die versammelten Standesherren gewandt rief Kinski laut diese Worte: diese Kanickel beraubten meinen Bruder Wenzel um seine Ehre, sie machten ihn beim König schlecht, sodass er das Land verlassen musste, und drängten sich dann auf seine Stelle, kurzum, sie taten auch uns alles Böse an, was sie uns überhaupt nur antun konnten.
Bevor er diese Worte noch richtig zu Ende sprechen konnte – er wollte durchaus noch mehr sagen – trat Graf Thurn schnell an Slavata heran und packte ihn bei der Hand. Gleichzeitig griff sich Graf Ulrich Kinski die Hand des Jaroslav Martinitz. Doch man wusste in diesem Moment noch keineswegs, was mit ihnen geschehen sollte, ob sie etwa nicht doch ins Gefängnis oder in den schwarzen Turm verfrachtet würden. Sie befanden sich mitten in der Menge der Ständemitglieder. In diesem Moment packten sie andere aus der Menge ebenfalls an und zogen sie direkt zum Fenster. Erst in diesem Moment kam es jedem [der Versammelten] zum Bewusstsein, dass man sie aus dem Fenster fegen würde. Und auch die beiden selbst wurden sich bewusst, dass man nun keinen Spaß mit ihnen treiben würde. Obwohl sie bis kurz vorher noch alles andere als demütig aufgetreten waren, fingen sie jetzt an zu flehen, sie doch nicht umzubringen. Sie rangen die Hände und baten um Gottes Beistand, stemmten die Füße auf den Boden und baten um Gnade. Martinitz jammerte und bat sogar um einen Beichtvater. Daraufhin beschied man ihn nur knapp, er solle doch seine Seele besser dem Herrgott anvertrauen. Slavata bat dann erst gar nicht mehr um einen Beichtvater, sondern flehte nur noch zu Gott, er möge geruhen, ihnen beizustehen.
Da ihnen aber keine Gnade gewährt wurde, wurde einer nach dem anderen in die Nähe des Fensters gestoßen […]. Beide [Martinitz und Slavata] klammerten sich mit großem ›Ach, Ach, O Weh‹ Geschrei am Fensterrahmen fest. Schließlich mussten sie doch loslassen. Es war ausgerechnet das Fenster in Richtung Sonnenaufgang, aus dem sie mit ihren Mänteln kopfüber hinausgeworfen wurden, samt ihren Degen und anderem Zierrat, mit denen sie gewöhnlich in der Kanzlei anzutreffen waren. Sie fielen hinunter in einen Graben unter dem Palast, der tiefer war als die anderen Gräben. Es geschah eben von jener Stelle und von jenem Amt aus, das sie vorher nicht zu würdigen wussten, sondern das sie nur dazu genutzt hatten, die erlauchte kaiserliche und königliche Würde verächtlich zu machen und so zum Verderb ihrer böhmischen Heimat beizutragen. Hiermit hatten sie sich dieses Amtes als nicht würdig gezeigt.
Das alles wurde nach durchaus altertümlichem Brauch gehandhabt, wie dies die Stände in ihrer grösseren Apologia[36] ja auch sagen. Es geschah nämlich auf eben die Weise, wie sie im Königreich Böhmen und in Prag bereits früher praktiziert wurde, aber auch so, wie es im Fall der Isebal[37], der Quälerin des Volkes Israel, und bei den Römern und anderen berühmten Völkern üblich war, die auf diese Weise einen Störer des Gemeinwohls von Felsen und anderen hohen Plätzen hinunterwarfen.
Nach ihnen war der Sekretär Filip [Fabricius][38] an der Reihe. Dieser […] versuchte noch, da er nur von mittlerer Gestalt war, sich unauffällig zu machen und sich ganz am Rande unter die Ständevertreter zu mischen. Dabei drehte er sich hin und her wie ein Wetterhahn. Mit seinem vorlauten Wesen verzichtete er auch jetzt noch nicht darauf, spöttische Bemerkungen zu machen, an die man bei ihm ja auch schon von früher her gewohnt war. Auch jetzt noch ermahnte er die Anwesenden – dies freilich nicht ganz angemessen und auch nicht zur rechten Zeit –, sich doch daran zu erinnern, wo sie sich überhaupt befänden und mit wem sie es zu tun hätten, und sich doch bitte friedlicher und vorsichtiger zu benehmen.
Aus diesem Grund wollten einige von ihnen [von den anwesenden Ständemitgliedern], im Zorn mit ihren Dolchen auf ihn los und ihm ans Leder gehen. Aber nachdem sie auch noch vom Grafen Schlick[39] ermahnt wurden, den Ort doch nicht durch einen Mord zu verunreinigen, sondern dem Herren lieber einen Bediensteten zu Hilfe zu schicken, da warfen sie ihn [den Fabricius] wie eine leichte Getreidegarbe ebenfalls durch dasselbe Fenster wie seine Vorgänger.
All das trug sich am selben 23. Mai zwischen der fünfzehnten und sechzehnten Stunde auf der ganzen Aposteluhr[40] zu. Und so geschah dem Filip [Fabricius] was eigentlich Michna[41] geschehen sollte. Aber Michna hatte die sich anbahnende Tragödie schon am vorherigen Tag aus der harten Rede des Linhart von Felz[42] erahnt und sich bei dieser Begegnung schmeichlerisch und zugänglich vor diesen gestellt und mit ihm gesprochen, obwohl dies früher keineswegs seine Gewohnheit gewesen war, vor den Herren Utraquisten[43] so demütig herumzustreichen. Er entschlüpfte rechtzeitig aus Prag, eilte nach Wien und überließ dem flinken Magister Filip, seinem treuen Kameraden und Gehilfen, gern die Ehre und den Sprung. Als sie dann schon alle unten lagen und man sah, dass sie noch lebten, schoss irgendein Hejduk[44] ein oder zwei Mal auf Befehl des Erfrid von Berbisdorf,[45] aus dem Fenster des Palasts ein oder zwei Kugeln aus einer Flinte auf sie ab. Aber auch diese trafen sie nicht. Und man musste sich in Anbetracht der Höhe, die auf 27 Ellen geschätzt wurde, schon wundern, dass keiner von ihnen – denn sie fielen kopfüber – liegen blieb, und alle fliehen konnten. Martinitz und Filip liefen weg, Slavata wurde wegen der schweren Verletzung, die er an seinem Leib erlitt, von anderen aus dem Graben fortgetragen.
Und obwohl natürlich später alle ihre Rettung Gottes wundersamer Fügung und seinem Schutz zuschrieben, glaubten einige besonders abergläubische Menschen römischer Religion, auch diese Rettung sei noch der Mutter Gottes, der Jungfrau Maria, zu verdanken. Angeblich sei sie gerade zu der Zeit, als sie hinunter flogen, an ebendiesem Ort erschienen. Sie sei in einen teuren Mantel aus himmelblauer Farbe gehüllt gewesen. Indem sie jeden Einzelnen [der drei Stürzenden] unter die Flügel ihres Mantels nahm, habe sie diese schön behutsam auf die Erde geleitet. Gesehen wurde dies von einer Frau, die sich das entweder aus Aberglauben ausgedacht hatte, um von ihnen [den drei aus dem Fenster Gestürzten] oder von ihren Freunden ein gutes Bestechungsgeld zu ergattern. Oder sie wurde von jemandem dazu verleitet, sich damit zu brüsten und sich dazu zu verstehen, deren Unschuld zu beweisen.
Abb. I.3: Votivbild, gestiftet von Wilhelm Slavata zum Gedächtnis an seine und seiner Gefährten »wunderbare Errettung« beim Prager Fenstersturz. Im Vordergrund thronend Maria als Caritas, am oberen Rand des Bildes noch schwebend Martinitz und Fabricius, in der linken Bildmitte, fest von Engeln gehalten, Wilhelm Slavata selbst
Die Rolle von Gottes Fügung wird aber auch dann nicht gemindert, wenn man auf ganz einfache Weise über den Sturz [aus dem Fenster] redet. Denn eines könnte den Personen doch sehr geholfen, oder zumindest bewirkt haben, dass der Sturz ihnen nicht sehr schadete oder gar tödlich war: dass sie nämlich genau auf die Stelle eines Müllhaufens fielen, auf welche die Pförtner der böhmischen Kanzlei seit vielen Jahren allen Unrat aus der Kanzlei und aus dem anderen Raum auskehrten und herunterschütteten, von eben dem Ort aus, wo die vereidigten Amtsträger für gewöhnlich sitzen. Die Fallstelle war jedenfalls nicht sehr hart und fest, sondern eher so locker und weich wie ein Misthaufen. Der Vorteil, Gottes Schutz in ihrem Fall auch als ein wahres Gotteswunder zu sehen, sollte trotzdem dabei in Betracht bleiben. Denn es kommt andererseits doch schließlich recht häufig vor, dass mancher, der auf eine ebene Stelle hinunterstürzt, sich das Bein bricht oder gar den Kopf einschlägt.«
D.: Pavel Skála ze Zhoře Historie česká od. r. 1602 do r. 1623 [Böhmische Geschichte. Vom Fenstersturz bis zum Weißen Berg, von 1602 bis 1623], hg. von Karel Tieftrunk, 5 Bde., Prag 1865-1870. Neue Teiledition: Josef Janáček Hg.: Pavel Skála ze Zhoře. Historie česká. Od defenestrace k Bílé hoře, Praha 1984, zum Fenstersturz S. 36-39, hier zitiert nach dieser Neuausgabe.
Wilhelm Slavata (1572-1652) und Jaroslav von Martinitz (1582-1649) waren die zwei kaiserlichen Statthalter in Böhmen, die zusammen mit ihrem Sekretär Philipp Fabricius am 23. Mai 1618 aus einem Fenster ihrer Kanzlei in der Prager Burg geworfen wurden. Slavatas wie Martinitz’ Karrieren waren mit dem Fenstersturz jedoch nicht beendet. Doch erst nach dem Ende des Böhmischen Aufstands 1620 setzten sie sich auf Seiten der kaiserlich-katholischen Partei nahtlos fort. Da Slavata aufgrund seiner schweren Verletzungen am 23. Mai 1618 nicht wie sein Kollege Martinitz fliehen konnte, wurde er im Palais des Oberkanzlers von Böhmen, Zdenek Adalbert von Lobkovicz, in standesgemäße Schutzhaft genommen. Erst nach einem Jahr konnte er sich befreien und seine Karriere als einer der engsten böhmischen Gefolgsleute von Kaiser Ferdinand II. wieder aufnehmen. Als Konvertit vertrat er besonders konsequent die kaiserliche Politik der Rekatholisierung Böhmens. 1621 in den Reichsgrafenstand erhoben, war er von 1628 bis zu seinem Tod in herausragender Stellung als Oberkanzler von Böhmen tätig.
In diesem Auszug aus den 1637-39 verfassten ersten zwei Teilen seines ausführlichen Werks zur Geschichte der Österreichischen Länder[46] beschreibt Slavata den berühmten Zwischenfall und seinen eigenen Anteil daran in der dritten Person. Er objektiviert sich damit, wie auch in den übrigen Teilen seines Werks, als Geschichtsschreiber seiner eigenen Person und rückt sich doch zugleich in den Mittelpunkt der Darstellung. Slavata erklärt, dass es von den Aufrührern von vornherein beabsichtigt war, ihn und seine Kollegen, den Grafen von Martinitz sowie den Sekretär Fabricius, zu töten, aber dass sie durch das Wunder eines göttlichen Eingriffs gerettet wurden. Obwohl Slavata schrieb, dass ein solcher Vorgang wie der »Fenstersturz« einmalig in den Annalen der Menschheit sei, hatte es bereits vorher, im Jahr 1419, einen Prager Fenstersturz gegeben, dessen Vorbild die Rebellen von 1618 bewusst folgten. Am 30. Juli 1419 hatten Anhänger von Jan Hus, dem böhmischen Religionsführer, der vier Jahre zuvor als Ketzer auf einem Scheiterhaufen in Konstanz verbrannt worden war, das Rathaus der Prager Neustadt gestürmt, um dort gefangene Glaubensgenossen zu befreien. Bei diesem Anlass hatten sie zehn Personen aus dem Fenster geworfen, einen Bürgermeister, zwei Ratsherren, einen Richter, fünf Gemeindeälteste und einen Dienstknecht. Alle wurden anschließend mit Hieb- und Stichwaffen getötet. Ein weiterer Fenstersturz hätte sich beinahe 1609 während der Kontroversen um den sog. »Majestätsbrief« ereignet, in dem Kaiser Rudolf II. den böhmischen Ständen schließlich Religionsfreiheit zusicherte.
»Es will sich gebüren, daß ich hier etwas weitläufiger beschreibe, wie diese Auswerfung aus dem Fenster geschehen und wie Gott der Allmächtige diese zwei Grafen wunderbarer Weis beschützet hat. Im ganzen römischen Reich, in allen Königreichen und Fürstenthümern der Christenheit ist es für übel und strafwürdig gehalten worden, daß Personen böhmischen Herkommens und aus den zwei höheren Ständen eine so schändliche in keiner Chronik der Welt erzählte Unthat vorgenommen und zwei Statthalter I.[hrer] M.[ajestät] und oberste Landoffiziere von Böhmen aus dem Fenster in ein tiefes Tal ohne Erbarmen gestürzt haben. Obwohl ihnen die zwei Grafen in allem Glimpf auf alles, was ihnen boshafter Weis zugerechnet worden, geantwortet, auch wider den barbarischen Prozess genugsam protestiert haben, wollen jene in ihrer grimmigen Bosheit von Ordnung, Wahrheit und Gerechtigkeit nichts hören, sondern haben auf die zwei Grafen einen gewaltigen Anlauf genommen und sie unverschämt angegriffen. Erstlich haben vier vom Herrenstand und eine Ritterperson, nämlich Wilhelm von Lobkowitz, Albrecht Smiricky, Ulrich Kinski, Litwin von Ričan und Paul Kaplič den Grafen von Martinitz mit Gewalt ergriffen, ihn bei den Händen stark gehalten und ihn zu den schon offenen Fenstern geführt, indem sie schrien: ›Nun wollen wir uns wider unsere Religionsfeinde rechtschaffen verhalten.‹ Die beiden Grafen meinten, man werde sie aus der Kanzlei in einen Arrest führen; als jedoch Martinitz die Weise seines bevorstehenden Todes erkannte, rief er mit lauter Stimme: ›Weil ich nun für Gott, seinen heiligen katholischen Glauben und I.[hre] k.[aiserliche] Maj.[estät] sterben muß, so will ich alles gerne dulden, nur vergönnt mir bald meinen Beichtvater, damit ich ihm meine Sünden beichten kann.‹ Allein die anwesenden Herren gaben ihm zum Bescheid: ›Jetzt werden wir dir noch einen schelmischen Jesuiten zuführen.‹ Indem sich Graf Martinitz darüber höchst betrübet und seine Sünden herzlich bereuend zu beten anfing: ›Jesu, du Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner, Mutter Gottes gedenke mein‹, hoben ihn die genannten Personen von der Erde und stürzten ihn samt Rapier und Dolch, doch ohne Hut, welchen ihm einer aus der Hand gerissen, mit dem Kopf voraus aus dem Fenster in die Tiefe des Schloßgrabens. Aber er ist, nachdem er im Herabfliegen unaufhörlich den Namen ›Jesus Maria‹ gerufen, so leise auf die Erde gesunken, als wenn er sich setzen thäte, so daß ihm durch die Fürbitt der Jungfrau Maria und den Schutz Gottes der schreckliche Fall an seiner Gesundheit trotz seines schweren Leibes nichts geschadet hat. Etliche fromme, glaubwürdige Leute haben auch ausgesagt, daß sie damals, während sie über die große Brücken mit der Procession auf die Kleinseiten gingen, die allerseligste Jungfrau Maria gesehen, wie sie den Herrn mit ihrem Mantel in den Lüften erhalten, und auf die Erde getragen hat. Graf Martinitz hat dies nicht selbst gesehen, aber es kam ihm während des Falles vor die Augen, als wenn sich der Himmel öffnete und ihn Gott zu ewigen Freuden aufnehmen wollte. Ein Ritter, nämlich Ulrich Kinski, hatte ihm beim Hinauswerfen die Spottworte gesagt: ›Wir wollen sehen, ob ihm seine Maria helfen wird‹; und dann, wie er aus dem Fenster den Grafen Martinitz frisch und gesund auf der Erde sitzen sah, ausgerufen: ›Ich schwöre zu Gott, daß ihm seine Maria geholfen hat.‹
Als nun der Graf Slavata gesehen, wie man mit dem Grafen Martinitz, seinem getreuen Freund und lieben Gespann verfahren ist, hat er leicht schließen können, daß ihm das Gleiche begegnen wird. Mit zum Himmel erhobenen Händen um Gott und seiner Barmherzigkeit willen hat er gebeten, ihm vorher seine Sünden beichten zu lassen; hernach aber mögen sie ihm einen Tod antun, welchen sie wollen; aber viele schrien: ›Wir wollen jetzt nicht den Jesuiten-Schelm herführen, hast ihnen schon genug gebeichtet.‹ Und als ihnen Graf Thun die Worte in deutscher Sprache gesagt: ›Edle Herren, da habt ihr den anderen‹, haben sie den Grafen Slavata ergriffen, von der Erde emporgehoben und ihn samt Mantel und Rapier den Kopf zuvor aus demselben Fenster herabgestürzt. Noch in dem Fenster hat er das Zeichen des h[eiligen] Kreuzes auf die Brust geschlagen und mit zerknirschtem Herzen gesagt: ›Deus propitius esta mihi peccatori, Herr sei mir Sünder gnädig.‹ Als er mit der rechten Hand das Fenster ergriffen und sich ein wenig angehalten, hat ihm noch einer mit dem Knopf des Dolches auf die Finger geschlagen, so daß er dennoch hinabgestürzt worden. Sein Hut, an welchem eine schöne, mit goldenen Rosen und Diamanten besetzte Schnur war, blieb in der Kanzlei. Die goldenen Kette mit dem Kreuz und schwarzen Schmelz [Emaille] haben sie ihm bei dem Auswerfen zerrissen und so in ihren Händen behalten. Graf Slavata hat sich an dem steinernen Gesims des untersten Fensters angestoßen und ist auf der Erde mit dem Kopf noch auf einen Stein gefallen, aber er hat sich dennoch bis in die Tiefe des Grabens herunter gekaulet; und weil ihm das Blut in den Mund geronnen, hat er wie ein Erstickender zu rasseln angefangen und ist halb tot gelegen. Graf Martinitz hat sich entschlossen, ihm auf alle mögliche Weis’ zu Hilfe zu kommen, und weil er fürchten musste, daß die Leute vom Fenster auf ihn schießen möchten, hat er sich schwächer gestellt als er gewesen und sich zu Graf Slavata herunter gewälzt. Obwohl er sich dabei mit Rapier und Dolch auf der linken Seite verletzt, hat er seinem alten Herrn Oheim und Schwager das Haupt aus dem Mantel gewickelt und ihm mit seinem Tüchel das Blut, das aus den Wunden in den Mund geflossen, fleißig abgewischt. Aus einem kleinen silbernen Büchsel, das an das Tüchel gebunden war, hat er stracks den Schlagbalsam [Riechsalz] herausgenommen, dem in Ohnmacht liegenden Herrn unter der Nasen und auf den Schläfen eingeschmiert und ihn also mit Gottes Hilf wieder zurecht gebracht. Dabei ermahnt er ihn, die zugefügte Pein mit Geduld zu ertragen und betete mit ihm; Slavata wiederholte andächtig sein früheres Gebet: ›Gott sei mir Sünder gnädig.‹«
D.: Wilhelm Graf von Slavata: Historischer Bericht vom böhmischen Aufstand, in: Adam Wolf, Hg.: Geschichtliche Bilder aus Österreich, Bd. 1: Aus dem Zeitalter der Reformation (1526-1648), Wien 1878, S. 324-348, hier S. 324-326.
Eine Woche nach dem Ereignis des Fenstersturzes, am 29. Mai 1618, verfasste ein Korrespondent in Prag eine entsprechende Meldung. Sie erschien weitere 19 Tage später, am 18. Juni 1618, in der (damals noch titellosen) Frankfurter Kaiserlichen Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung.[47] Das Blatt war eines der gerade neu entstehenden wöchentlichen Nachrichtenblätter, von denen es in der Reichs- und Messestadt Frankfurt damals allein zwei gab, die in Konkurrenz zueinander standen.[48] Die Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung wurde von dem seit 1615 amtierenden kaiserlichen Frankfurter Ober-Postmeister Johann von den Birghden herausgegeben und vertrieben, dem wohl dynamischsten der damaligen neuen Nachrichtenunternehmer am entstehenden Medienstandort Frankfurt.[49]