Der Dschihadist - Irfan Peci - E-Book

Der Dschihadist E-Book

Irfan Peci

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was sind das für Menschen, die sich dem Terror verschreiben? Aufgewachsen mitten unter uns, ganz normal zur Schule gegangen, weltlich orientiertes Elternhaus. Und plötzlich radikalisieren sie sich, wollen in den »Heiligen Krieg« ziehen. Irfan Peci ist einer von ihnen. Aber Peci wird verhaftet, lässt sich vom Verfassungsschutz als V-Mann anwerben. Er wird zur Trumpfkarte im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Es ist ein Kampf, der erbarmungslos geführt wird – von Dschihadisten wie auch von den Sicherheitsbehörden.

Irfan Peci kennt beide Seiten. Hier erzählt er seine Geschichte.

Laut einer Entscheidung des Landgerichts Frankfurt am Main (einstweilige Verfügung) wurden auf insgesamt sechs Seiten dieses Buches Textstellen geschwärzt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 445

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Was sind das für Menschen, die sich dem Terror verschreiben? Aufgewachsen mitten unter uns, ganz normal zur Schule gegangen, weltlich orientiertes Elternhaus. Und plötzlich radikalisieren sie sich, wollen in den »Heiligen Krieg« ziehen. Irfan Peci ist einer von ihnen. Aber Peci wird verhaftet, lässt sich vom Verfassungsschutz als V-Mann anwerben. Er wird zur Trumpfkarte im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Es ist ein Kampf, der erbarmungslos geführt wird – von Dschihadisten wie auch von den Sicherheitsbehörden. Irfan Peci kennt beide Seiten. Hier erzählt er seine Geschichte.

Ein einzigartiges Dokument aus der Welt der Geheimdienste und des Terrors!

Zu den Autoren

Irfan Peci, geboren 1989 in Serbien, aufgewachsen in der Oberpfalz, wird 2007 zum Deutschland-Chef der »Globalen Islamischen Medienfront« (GIMF), eines der weltweit wichtigsten Propaganda-Netzwerke für al-Qaida. Vom BKA enttarnt, wird er inhaftiert und als V-Mann für den Verfassungsschutz angeworben. Heute hat er mit seiner extremen Vergangenheit gebrochen und strebt ein normales Leben an.

Johannes Gunst, Jahrgang 1984, hat im Jahr 2010 das Ressort Investigative Recherche des stern mitbegründet. Der studierte Kommunikationswissenschaftler stand bereits zweimal auf der Shortlist des Henri-Nannen-Preises, zuletzt 2013 mit einer Recherche über die Aktenvernichtung beim Verfassungsschutz nach der Enttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU).

Oliver Schröm, geboren 1964, gründete und leitet beim stern das Ressort Investigative Recherche und profilierte sich mit Enthüllungsbüchern über Terrorismus, Nachrichten-dienste und die CDU-Parteispendenaffäre. Zuletzt erschien von ihm der Bestseller Geld Macht Politik (gemeinsam mit Wigbert Löer). Schröm ist Vorsitzender der Journalistenvereinigung netzwerk recherche.

IRFAN PECI

JOHANNES GUNST

OLIVER SCHRÖM

DER DSCHIHADIST

Terror made in Germany –

Bericht aus einer dunklen Welt

Mitarbeit: Helmut Kuhn

Laut einer Entscheidung des Landgerichts Frankfurt am Main (einstweilige Verfügung) wurden auf insgesamt sechs Seiten dieses Buches Textstellen geschwärzt.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Copyright © 2015 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Johann Lankes

Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie

Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung

eines Fotos von © Frank Bauer, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-15533-9V003

www.heyne.de

Inhalt

Prolog

von Johannes Gunst und Oliver Schröm

»Wegen dir schieben sie uns noch ab!«

Eine Jugend in Weiden

Das Mädchen mit dem Kopftuch

Beim Salafisten-Cousin in der Heimat

SALAFISMUS

Diesseits oder Jenseits?

TOD DURCH TAUSEND NADELSTICHE – INDIVIDUELLER DSCHIHAD ALS NEUE STRATEGIE

DIE GLOBALE ISLAMISCHE MEDIENFRONT (GIMF)

Die Wiener Brüder

MAHMOUD IM VISIER DER FAHNDER

Die Wiedergeburt der GIMF

DER LOCKSPITZEL – DIE UNTERWANDERUNG DER GIMF DURCH SITE

DIE CAUSA ALMUJAHED

»Akhi, zünd die an …«

Das Video

ÖSTERREICH UND DEUTSCHLAND IN ALARMBEREITSCHAFT

WER IST MUHAMMAD OMAR?

Besuch von der Staatsmacht

ALS WÄRE NICHTS GEWESEN – NACH DER PRÄVENTIVPOLIZEILICHEN MASSNAHME

Schluss mit lustig

DIE JAGD NACH DEM PHANTOM AHMED BEKIR

Ausreisepläne

EINE VEREINBARUNG MIT ALLAH – DAS VERKORKSTE LEBEN DES R. M.

Der Hassprediger

VOM SESSEL-DSCHIHADISTEN ZUM HEILIGEN KRIEGER – »PERSONENSACHSTANDSBERICHT«

Von Löwen und Schafen – in Berlin

WAZIRISTAN

Ein Gast ist ein Gast …

JURISTISCHES NACHSPIEL DER HANDYLADENATTACKE

In U-Haft

M. UND DIE HAMBURGER REISEGRUPPE

Das BKA auf Knastbesuch

UND BIST DU NICHT WILLIG … PECI UNTER DRUCK

Wut, Hass, Verzweiflung – in der JVA Nürnberg

BUNKERHAFT UND SCHLAFENTZUG

Ein neues Spiel

DAS BUNDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ

INFOS GEGEN HAFTENTLASSUNG

Unbeschwerte Tage

»Vergiss nicht, wem du das zu verdanken hast«

Agent statt Knasti

SCHIITEN UND SUNNITEN – EIN KONFLIKT MIT TIEFEN WURZELN

Der Deal

DIE QUELLENWERBUNG BEIM BFV

Ein Spion in Berlin

POLIZEI UND GEHEIMDIENST: EINE KOMPLIZIERTE ANGELEGENHEIT

Nachricht aus Waziristan

R. M. REISE IN DEN DSCHIHAD

Mein erster Auftrag – die Namensliste

BERLINER GRUPPE

Mein neuer V-Mann-Führer

V-PERSONEN IN PROBEZEIT

BEZAHLUNG VON V-LEUTEN

DIE DEUTSCHEN TALIBAN MUDSCHAHEDIN (DTM)

Anschlag oder Ausreise?

DIENSTVORSCHRIFT BEZÜGLICH DER ROLLE, DIE V-LEUTE IN ÜBERWACHUNGSOBJEKTEN SPIELEN DÜRFEN

DIE FESTNAHME VON ALICAN T.

Alaeddine und der mysteriöse Schwager

DIE SAUERLAND-BOMBER

Neues Leben, neuer Pass, neue Lügen

Wer ist Jan Schönbeck?

NACHRICHTENDIENSTPSYCHOLOGIE

Eine kleine Spende für Mohammed Ali

FINANZSPRITZEN VOM BFV FÜR NAZIS UND DSCHIHADISTEN

Gornja Maoca

TERRORAUSBILDUNG IN BOSNIEN

Die geheimen Sonntagstreffen oder: Was kostet das Paradies?

Blinde Wut – die S-Bahn-Attacke

FILMRISS OHNE FOLGEN

Das Ende eines gefährlichen Spiels

»Zum Wohle des Staates«

Enttarnt – vom Spitzel zum Zeugen

MOHAMMED ALIS SCHICKSAL NACH SEINER AUSREISE

DAS ZEUGENSCHUTZGESETZ

Die Prozesse in Berlin und in München

DIE BOMBE PLATZT: ÖFFENTLICHE ENTTARNUNG

DAS BFV UNTER DRUCK

Eine vertane Chance und ein toter Bruder

DER BÜRGERKRIEG IN SYRIEN

Ein letzter Umweg und dann nach Hause

Epilog

Dokumentenanhang

Anmerkungen

Register

Prolog

von Johannes Gunst und Oliver Schröm

Sieben Männer und eine Frau betreten hintereinander den großen Gerichtssaal im Münchner Justizpalast. Mit Mappen verdecken sie ihre Gesichter. Die Frau trägt einen schwarzen Ganzkörperschleier. Zwei der Männer haben sich die Haare komplett geschoren und sich markante Bärte wachsen lassen. Es ist der 12. April 2011. An diesem Dienstag beginnt einer der größten und aufwendigsten Prozesse gegen mutmaßliche Terrorhelfer der al-Qaida, den Deutschland jemals erlebt hat.

Der zuständige Bundesanwalt räuspert sich. Mehr als drei Jahre lang musste seine Behörde ermitteln. Aber irgendwann waren alle Zweifel ausgeräumt: Bei den Angeklagten handelt es sich um einen verlängerten Arm des islamistischen Terrorismus. Das deutsche Sprachrohr des Dschihad. Der Bundesanwalt zieht langsam das Mikrofon zu sich heran und beginnt mit der Verlesung der Vorwürfe.

Bis auf den 18-jährigen Emin T. sind alle Angeklagten deutsche Staatsbürger. Der Bundesanwalt ist davon überzeugt, dass die Gruppe in den Jahren 2006 bis 2008 als Propagandist für die Terrororganisation von Osama bin Laden aktiv war. Während dieser Zeit hat sie islamistische Gräuelvideos verbreitet. Darunter etwa Aufnahmen, die geköpfte Geiseln im Irak zeigen. Oder Hetzreden von Terrorpapst bin Laden. Oder grausam zugerichtete US-Soldaten, getötet durch Anschläge der irakischen al-Qaida-Filiale. Vieles versehen mit deutschen Untertiteln. Mundgerechte Propagandahappen für den Terrornachwuchs von Flensburg bis zum Bodensee. Bequem abrufbar vom eigenen PC aus.

Verbreitet wurde dieses Propagandamaterial über ein Internetforum der deutschen Sektion der »Global Islamic Media Front« (GIMF). Die Angeklagten waren allesamt Mitglieder in diesem Terrornetz. Doch einer der GIMF-Verantwortlichen sitzt an diesem Dienstag nicht mit auf der Anklagebank. Sein Name ist Irfan Peci. Er war nicht irgendjemand bei al-Qaidas deutschen Propagandahelfern. Er war ihr Chef. Und dass er sich an diesem Tag nicht vor Gericht verantworten muss, ist offenbar kein Zufall. Irfan Peci wechselte im Gefängnis die Seiten. Zermürbt von der Isolationshaft, die er als mutmaßlicher Terrorunterstützer erdulden musste. Peci ließ sich vom Bundesamt für Verfassungsschutz anwerben, dem deutschen Inlandsgeheimdienst.

Als einer der Verteidiger im GIMF-Prozess am zweiten Prozesstag enthüllt, dass der einstige GIMF-Chef ein doppeltes Spiel trieb, ist die Empörung groß. Von einem »Paukenschlag« sprechen die Tageszeitungen am nächsten Tag. Peci muss schließlich doch vor Gericht erscheinen. Das können die Verfassungsschutzbeamten nicht verhindern. Aber sie können ihm den Mund verbieten. Viel mehr als seinen Namen darf Peci vor Gericht nicht verraten, als er in der zweiten Prozesswoche als Zeuge geladen ist. Der Verfassungsschutz habe ihm untersagt, über die Zusammenarbeit mit dem Amt zu reden, erklärt Pecis Anwalt. Der V-Mann verlässt den Münchner Gerichtssaal in Begleitung bewaffneter Personenschützer.

Nach langem Tauziehen muss Peci am 28. Juni 2011 ein zweites Mal im Prozess auftreten. Eigentlich soll er als Zeuge aussagen. Aber der Vorsitzende Richter verliest einen Brief aus dem Bundesinnenministerium. Ministerialrat Dr. Dieter Romann, ein Karrierebeamter, der später zum Präsidenten der Bundespolizei befördert wird, beerdigt mit seinem Schreiben in knappen Sätzen die Hoffnungen auf eine umfassende Aufklärung: Bedauerlicherweise könne zu keiner der Fragen, die das Gericht in Bezug auf Irfan Peci interessiere, eine Aussagegenehmigung erteilt werden. »Es steht zu besorgen, dass Rückschlüsse auf die Arbeit des ›Bundesamtes für Verfassungsschutz‹« gezogen werden könnten, schreibt Romann. Dies würde »dem Wohl des Bundes« schaden. Peci musste schweigen – zum Wohle Deutschlands. In diesem Buch erzählt er seine Geschichte.

Das Buch besteht aus zwei Ebenen: Irfan Pecis persönliche Sicht auf die Ereignisse wird ergänzt durch Hintergrundtexte der investigativen Jounalisten Johannes Gunst und Oliver Schröm. Auf Grundlage zahlreicher externer Quellen – darunter etliche Polizei- und Gerichtsakten – stellen sie Pecis Erinnerungen in einen größeren Zusammenhang. Unterschiedliche Schriftarten machen die beiden Ebenen des Buches unterscheidbar

»WEGEN DIR SCHIEBEN SIE UNS NOCH AB!«

Eine Jugend in Weiden

Meine Islamisierung trug ein Kopftuch und hatte einen Namen: Elif. Sie war vierzehn Jahre alt und ging in die achte Klasse in Weiden so wie ich. Bis dahin hatte ich immer geglaubt, wir wären wie die anderen Deutschen oder Christen. Ich besuchte den katholischen Religionsunterricht und betete sogar. Der einzige Unterschied war, dass wir kein Schweinefleisch aßen. »Sag, du bist Moslem und du darfst kein Schweinefleisch essen«, das hatte mir Mutter schon mit auf den Weg in den katholischen Kindergarten gegeben. Ich dachte, wir essen eben nur kein Schweinefleisch, bis Elif eines Tages ein Kopftuch trug. Sie war ein türkisches Mädchen, das mir bisher nicht weiter aufgefallen war. Aber das Kopftuch hat mich sehr beeindruckt. Manchmal hatte ich dieses Mädchen früher geärgert, und jetzt fühlte ich mich urplötzlich mit ihr verbunden. Da wusste ich, dass ich anders als meine Mitschüler war.

Geboren bin ich am 21. Februar 1989 in Novi Pazar, der »Hauptstadt« des Sandschak, einer Region, die zu Serbien gehört und bis 1913 eine Verwaltungsregion des Osmanischen Reiches war. Tradition und Religion sind dort sehr ausgeprägt, die Bewohner sind mehrheitlich Muslime und werden Bosniaken genannt.

1991 flohen meine Familie und ich nach Deutschland und galten damit als Kriegsflüchtlinge. Mein Vater war schon vor uns nach Deutschland gefahren, denn er hatte den Krieg in Jugoslawien vorausgesehen. Meine Mutter, meine ältere Schwester und ich kamen nach; ich war damals zwei Jahre alt. Nach einigen Stationen, unter anderem in München und Frankfurt, sind wir letztendlich in Weiden, genauer gesagt, im Asylheim in Rothenstadt gelandet, weil mein Vater hier Bekannte und Aussicht auf Arbeit hatte. An die Zeit im Asylheim erinnere ich mich ziemlich gut, ich war ein ruhiges, braves Kind. Während die anderen draußen rumtobten, saß ich meistens in unserem Zimmer, schaute Zeichentrickfilme und spielte mit Spielzeugautos. Dabei war ich stundenlang mucksmäuschenstill. Für die damaligen Verhältnisse lief es sehr gut für uns. Mein Vater hatte Arbeit, verdiente genug Geld, kaufte sich das erste Auto, und nach zwei langen Jahren im Asylheim konnten wir dann in eine richtige Wohnung ziehen. Ich besuchte einen katholischen Kindergarten. Die Erzieherinnen waren strenge Nonnen, doch es lag nicht an ihnen, dass ich nicht gerne in den Kindergarten ging. Ich wollte mein bequemes Zuhause nicht verlassen und lieber den ganzen Tag im Pyjama fernsehen und Cornflakes essen und nicht raus in die Kälte müssen. Da begriff ich zum ersten Mal, dass das halbe Leben aus Zwang besteht, dass man immer wieder etwas machen muss, das man eigentlich nicht will. Im katholischen Kindergarten spielte natürlich die Religion eine große Rolle, wir sind oft in die Kirche zum Gottesdienst gegangen. Ich betete und sang die Kirchenlieder genau wie alle anderen Kinder. Die Kirche war für mich damals ein dunkler, unheimlicher Ort, und die Geschichten, die man uns immer wieder erzählte, machten mir Angst. Wie Jesus gekreuzigt wurde, das war doch Folter, und es stimmte mich immer traurig. Ich begriff nicht, wie der Sohn Gottes so grausam getötet werden konnte von so schwachen Menschen, von Geschöpfen Gottes. Ich begriff nicht, warum Gott das zuließ und warum diese Menschen das taten. Ich fand keine Antworten.

Warum meine Eltern mich in einen katholischen Kindergarten schickten, weiß ich nicht genau; es war wohl eine Mischung aus dem Wunsch, mich zu integrieren, und dem Gefallen an strenger Disziplin. Ich empfand mich nicht als anders außer eben, dass ich als Moslem kein Schweinefleisch aß. Ich wusste nicht genau, was das hieß, ein Moslem zu sein, und dachte, das hinge eben mit unserer Herkunft zusammen.

In der Schule verhielt ich mich zunächst so unauffällig wie im Kindergarten. Der Unterricht am Morgen begann immer mit dem Vaterunser, wozu wir aufstehen mussten. Ich habe es weder gemocht noch gehasst, es war mir eher egal, ich musste ja nicht mitbeten. Stehen musste ich aber schon – aus Respekt, sagte der Lehrer. Später, in meiner rebellischen Phase, bin ich sitzen geblieben. Nicht aus religiöser Überzeugung, sondern aus Provokation. Meine Leistungen waren durchschnittlich. Als ich dann aber auf die Hauptschule wechselte, veränderte ich mich. Ich wurde rebellisch gegenüber Autoritätspersonen, aggressiv, gewalttätig, impulsiv. Ich war ein schlechter Verlierer und merkwürdig gefühllos, so würde ich mich rückblickend beschreiben. Aber ich hatte auch meine guten Seiten. Gegenüber Freunden war ich loyal, hilfsbereit und großzügig.

Damals war ich viel allein, erinnere ich mich. Ich fuhr mit dem Bus nach Hause, machte mir etwas zu essen und sah dann gern Bruce-Lee-Filme, Van Damme, Action. Ich hatte keine Lust, Schularbeiten zu machen. Mein Zimmer teilte ich mit meiner großen Schwester, meine Eltern ließen mich meist in Ruhe und schritten erst ein, wenn eine Anzeige oder Beschwerden kamen. Sie sprachen serbisch mit mir, aber ich bin zweisprachig aufgewachsen, denn mit den anderen Kindern hatte ich schon im Asylheim immer deutsch gesprochen. Ich schlug mich oft. Einmal kamen andere Jungen aus dem Asylheim zu mir in die Klasse, Armenier, Kurden, und wir machten richtig Ärger, waren gemein und mobbten die anderen. Die fünfte Klasse musste ich schließlich wiederholen. Es war schon so: Die deutschen Kinder waren eher brav, wir Ausländerkinder machten Stress. In der sechsten Klasse gab es ständig Schlägereien in den Pausen, und ich bekam irgendwann einen verschärften Verweis. Zwei Polizisten wurden daraufhin zur Pausenaufsicht abgestellt, das stand sogar in der Zeitung. Ein anderes Mal drückte ich den Notruf, die Feuerwehr rückte an, und ich bekam einen Direktorenverweis. Vater musste kommen, er stand immer auf der Seite der Lehrer.

»Wegen dir schieben sie uns noch ab«, musste ich mir dann von ihm anhören. Er war außer sich nach solchen Vorfällen.

Vater arbeitete damals in einer Zinkerei, später war er Hausmeister bei Karstadt. Mutter arbeitete als Putzfrau. Vom Krieg sprachen sie nie, nur wenn Besuch kam, dann ging es um Politik und Massaker. Am Ende der sechsten Klasse besserten sich meine Noten. Mit vierzehn Jahren bekam ich einen deutschen Pass. Meine kurdischen Freunde dagegen wurden abgeschoben. Mein bester Freund war Russe, und wir waren vielleicht so etwas wie Führernaturen. In der Schule jedenfalls hatten wir das Sagen.

Mit Drogen hatte ich nie etwas zu tun, obwohl in meinem Umfeld Drogen allgegenwärtig waren. Denn in einer Stadt wie Weiden kiffte man entweder oder trank viel Alkohol. Heute ist es noch schlimmer. Die meisten, die damals kifften, nehmen jetzt Crystal Meth. Die Droge ist in Weiden sehr verbreitet aufgrund der Nähe zu Tschechien. Einige meiner Freunde sind daran gestorben. Nur ein einziges Mal, als ich mit meinen Eltern zu Besuch bei meinen Großeltern in der Nähe von Köln war, habe ich gekifft. Mein Cousin war ein richtiger Kiffer und hatte fast nichts anderes mehr im Kopf. Da ich tagelang mit ihm unterwegs war und er so lange auf mich einredete, probierte ich es schließlich. Als ich am Joint zog, konnte ich regelrecht spüren, wie sich der Rauch in meinem Körper ausbreitete und Tausende Gehirnzellen in meinem Kopf vernichtete. Das war unter meiner Würde. Außerdem hat mich der Sport vor Drogen bewahrt. Ich habe viel Sport betrieben, und so war ich Drogen gegenüber negativ eingestellt. Ich spielte als Stürmer bei VfB Rothenstadt. Ich hasste den FC Bayern und liebte Real Madrid, mein Lieblingsspieler war Mihajlovic von Lazio Rom. Ich konnte die Stammspieler jedes Bundesligavereins herunterbeten. Wir trainierten dreimal die Woche, am Sonntag spielten wir, ich wurde Stammspieler, und dann spielten wir auch in den Schulpausen lieber Fußball, als uns zu prügeln. Im Verein schoss ich die meisten Tore, da hatte ich Erfolgserlebnisse. In der Schule nicht, und wenn wir dort im Fußball verloren, rastete ich aus. Dann schlug ich meine Mannschaftskollegen, die Lehrer mussten dazwischengehen. In der Schule mochte ich nur Sport und Geschichte,

Einmal kam ich nach Hause, es war 2001, und sah mir im Fernsehen eine Serie an, die plötzlich von der Berichterstattung über einen Anschlag unterbrochen wurde: 9/11. Ich war fasziniert, konnte nicht mehr wegsehen und sah in den folgenden Tagen alle Dokumentationen über al-Qaida und bin Laden. Ich hörte zum ersten Mal, dass sich Muslime unterdrückt fühlten. Das hatte ich bis dahin noch nicht gewusst, und mit den Dokus wuchs meine Sympathie für bin Laden und diese al-Qaida. Die Kleinen lehnen sich gegen die Mächtigen auf. David gegen Goliath, das fand ich toll. Sie nannten es Dschihad. Ich erfuhr, dass es Nazis gab, die sich mit Muslimen verbündet hatten, weil sie gemeinsame Feinde hatten, die Juden. Ich hörte mir Reden von Himmler an. Er sprach gut über Muslime. Das machte mir die Nazis sympathisch.

Ab der siebten Klasse ging ich auf die Hauptschule in Weiden. Mein erster Klassenlehrer dort war sehr streng, aber mit dem zweiten verstand ich mich gut. Ich hatte einen neuen Freund, er kam wie ich aus Serbien. Wenn wir nicht kickten, zockten wir auf seiner Playstation 2 Pro Evolution Soccer. Am Samstag guckten wir Sportschau und tranken dazu Eistee. Wir waren richtig süchtig, ich habe bestimmt vier oder fünf Liter Eistee am Tag getrunken. Die Schule machte wieder Spaß. Von meinem Taschengeld setzte ich Sportwetten und gewann sehr viel.

Das Mädchen mit dem Kopftuch

Elif hatte in der achten Klasse zum ersten Mal mein islamisches Bewusstsein geweckt. Ich mochte meinen Klassenlehrer, der während meiner ganzen Schulzeit der einzige Lehrer war, der wirklich Einfluss auf mich hatte und dessen Ratschläge mir zu denken gaben. Er war jünger als die anderen Lehrer, aufgeschlossen und modern. Das genaue Gegenteil der bayerischen Lehrer, mit denen ich es sonst zu tun hatte. Erzkonservative, fast schon verbitterte Typen, die auf unsere Generation herabsahen. Wir alle waren für sie einfach nur faul, respektlos und unerzogen.

Ich ging also wie jeden Tag gut gelaunt in die Schule, es war sonnig, und überlegte auf dem Weg, welchen Blödsinn ich heute anstellen könnte. Letzte Woche hatte ich einen besonders guten Einfall: Als unser Klassenlehrer kurz rausgegangen war, um etwas zu kopieren, schoben wir einen Schrank vor die Tür. Als er dann zurückkam, die Tür öffnete und dabei auf seine Blätter in der Hand schaute, stieß er gegen den Schrank. Wir alle haben uns totgelacht, nur unser Lehrer und der Schuldirektor fanden das nicht so komisch. Sie verstanden zwar Spaß, aber es gab Grenzen, die ich oft überschritt. Die Sache mit dem Schrank war da noch harmlos gewesen. Ein anderes Mal, nach einem ähnlichen Streich, kam eine Gastlehrerin, die mich eine Weile beobachtet hatte, auf mich zu.

»Kennst du den Film Uhrwerk Orange?«

»Nee, kenn ich nicht. Um was geht’s da?«

»Um jemanden, der dir sehr ähnlich ist – ehrlich gesagt, erinnerst du mich sehr an die Hauptfigur.«

Ich fasste das als Kompliment auf. Ich erinnerte sie also an einen Actionhelden. »Danke«, sagte ich und grinste.

»Fass das mal lieber nicht als Kompliment auf.«

»Wieso nicht?«

»Sieh dir den Film an, dann weißt du Bescheid.«

Irgendwann habe ich mir den Film tatsächlich angeschaut. Bis zur Hälfte gefiel er mir überhaupt nicht. Es war alles viel zu schräg, dazu klassische Musik. Ich mochte keine futuristischen Filme, besonders dann nicht, wenn sie für mich keinen Sinn ergaben. Erst einige Jahre später, als ich Kubrick-Fan wurde, habe ich mir den Film noch mal angesehen und fand ihn sehr gut. Uhrwerk Orange ist ein Film über sinnlose Gewalt. Er ist heute einer meiner Lieblingsfilme.

An jenem Morgen aber war ich wie so oft spät dran, alle saßen bereits da, ich ging zu meiner Bank hinten links, dem Stammplatz aller Unruhestifter, schaute in die Klasse und sah, dass Elif aus der ersten Reihe ein Kopftuch trug. Das wunderte mich ein wenig und doch irgendwie wieder nicht. Es passte zu ihr, sie war genau der Typ Kopftuchfrau, hatte nichts mit Jungs zu tun, war immer nett und schüchtern. Ich dachte daran, wie ich sie oft verarscht hatte, vor allem wenn sie im Englischunterricht vorlesen musste. Jetzt hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich war ein echter Teufel, immer musste ich alle fertigmachen, aber wenn jemand versuchte, mich zu verarschen, kriegte er gleich was auf die Fresse. Irgendwie musste ich das bei ihr wiedergutmachen. Sie war jetzt bedeckt, betete bestimmt und führte ein gottgefälliges Leben. Ich Idiot hatte sie oft vor der Klasse bloßgestellt und ausgelacht. Bestimmt hatte sie geweint wegen mir. Auf einmal sah ich mich in der Hölle schmoren. Sie war das einzige Mädchen der ganzen Schule, das Kopftuch trug, und diese Keuschheit beeindruckte mich damals zutiefst. Ich sah Elif jetzt mit anderen Augen. Sie war uns allen moralisch überlegen. Ich setzte mich und schaute nachdenklich auf ihr Kopftuch. Unser Lehrer begrüßte uns.

»Also, bevor wir mit dem Unterricht beginnen, möchte ich kurz was ansprechen«, sagte er ernst. »Wie ihr alle seht, hat Elif angefangen, ein Kopftuch zu tragen. Das ist ihre freie Entscheidung, sie tut das aus religiöser Überzeugung, und wir alle haben das zu akzeptieren. Ich will nicht hören, dass sie deshalb geärgert wird oder so was. Ich habe mich mit dem Islam beschäftigt. Okay, ich habe jetzt nicht den ganzen Koran gelesen, ist ja auch ein dicker Schinken …«

»Ein dicker Schinken?«, warf ich ein.

Vereinzelt Gelächter, offenbar von denjenigen, die den Witz verstanden hatten.

»Nein, so meine ich das doch nicht, Irfan. Sollte keine Beleidigung sein, das sagt man nun mal so. Beginnen wir jetzt mit dem Unterricht.«

9:30 Uhr, große Pause, endlich. Wir gingen zu dritt runter zum Verkaufsstand und holten uns eine Käsesemmel.

»Ey, ihr müsst Kiss of the Dragon anschauen, zu heftig der Film«, sagte ich.

»Echt? Ja, Mann, Jet Li macht die geilsten Filme«, sagte Anton.

Da kam ein Klassenkamerad, der ab und zu mit uns abhing, hinzu.»Ey, Patrick hat Elif während der ganzen Pause verarscht wegen des Kopftuchs. Haha.«

»Was ist daran so lustig, du Depp?«

Er hörte sofort auf zu lachen. »Keine Ahnung …«

»Patrick, dieser Bastard! Dafür ist er dran!« Ich wurde wütend.

Patrick stand vor dem Klassenzimmer und unterhielt sich mit zwei Mädchen.

»Hey, Patrick, wie geht’s?«

Er grinste. »Heeey, Irfanooo. Gut, und dir?«

»Ich hasse es, wenn man mich so nennt. Halt’s Maul! Klar? Nenn mich nicht so. Hab gehört, du hast Elif verarscht? Noch einmal und ich schwöre, ich mach dich fertig!«

»Ja, okay, beruhige dich, war doch nur Spaß!«

»Jaja, Spaß, dann verarsch Wolfgang oder wen, der rastet wenigstens noch aus, und das macht dann richtig Spaß. Haha …«

Alle lachten. Ich hatte mich wieder beruhigt.

Beim Salafisten-Cousin in der Heimat

Wie im letzten Sommer verbrachten wir den Familienurlaub in Novi Pazar. Obwohl ich meine Geburtsstadt liebe, fühle ich mich nicht heimisch dort. Meine Eltern haben eine ganz andere Beziehung zu ihrer Heimat. Sie fühlen sich dort wohl, alles ist ihnen vertraut, das Leben in Deutschland haben sie nur wegen des Bürgerkriegs gewählt. Und bloß weil die wirtschaftliche Situation dort auch nach Kriegsende noch schlecht ist, planen sie keine Rückkehr.

Bei mir ist das anders. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, zur Schule gegangen, ich beherrsche die deutsche Sprache besser als Serbisch und bin den Lebensstandard in Deutschland gewohnt. Manche Dinge sind mir einfach fremd: Stromausfälle, ein Krankenwagen, der erst nach einer Stunde erscheint, und ein Arzt, dem man Geld zustecken muss, damit er einen auch mitnimmt und behandelt. In Sachen Gesundheitssystem oder Infrastruktur sehe ich Deutschland einfach als Vorbild. Der Staat funktioniert zuverlässig. Mir gefällt diese Genauigkeit. Präzise Regeln, die strikt eingehalten werden. In unserer Heimat wird nur improvisiert. Das entspricht mir nicht. Bevor ich etwas tue, plane ich alles genauestens und überlasse nichts dem Zufall. Das ist meine deutsche Seite. Es gibt aber auch Eigenschaften, die ich an meinem Volk schätze und in Deutschland vermisse. Diese Herzlichkeit, Gastfreundschaft, Brüderlichkeit. Das habe ich mit den Menschen meiner Heimat gemein. Wenn ich jemanden wirklich gern habe, tue ich alles für ihn. Aber wenn ich jemanden hasse, kann ich der schlimmste Feind sein. Die Mitte gibt es nicht. Entweder Freund oder Feind. Mit dem Unterschied, dass ich meine Aggressionen heute zum Glück im Griff habe.

In dieser Zeit war ich kaum religiös. Der Islam spielte für mich so gut wie keine Rolle, der einzige Unterschied zu meinen christlichen Mitschülern war, dass ich kein Schweinefleisch gegessen habe und nicht mitbeten musste bei Schulbeginn. Der 11. September hatte Eindruck auf mich gemacht, diese Sympathie bezog sich allerdings mehr auf den Kampf Davids gegen Goliath als auf die Religion an sich. Damit konnte ich weiterhin nicht viel anfangen. Ich verstand vieles nicht in dieser fremden, seltsamen Welt. Nicht nur beim Islam ging mir das so. Ich verstand auch die christliche Religion nicht. Warum sich dieser Jesus, der ja der Sohn Gottes sein sollte, von den Menschen so demütigen ließ, das ergab für mich alles keinen Sinn. Ich konnte aber genauso wenig verstehen, wie ein Mensch es schaffen sollte, fünfmal am Tag zu beten und dabei rituelle Waschungen zu vollziehen. Ich kannte niemanden, der das tat. Erst in diesem Urlaub sah ich in Pazar die sogenannten Wahhabiten. Sie trugen lange Bärte, Mützen und arabische Pluderhosen. Viele von ihnen waren durchtrainiert wie Bodybuilder und verhielten sich einfach komisch. Aber sie strahlten etwas aus. Verwandte und Freunde redeten ab und zu mal über diese Wahhabiten und sagten, sie seien eine Sekte und bekämen Geld aus Saudi-Arabien. Einige seien in Afghanistan im Krieg. Ein Cousin von mir, der in einem Dorf in der Nähe von Novi Pazar lebte, sei selbst ein Salafist, erzählte mir meine Mutter.

Das waren also die Leute, die ich aus dem Fernsehen kannte. Aus den Dokus über 9/11, al-Qaida, den Dschihad. Sehr interessant. Diese Typen waren so geheimnisvoll, so mysteriös, und ich wollte wissen, was dahintersteckte.

»Nein, bist du verrückt? Halt dich bloß fern von denen, die verpassen dir eine Gehirnwäsche, und nachher bis du genauso krank wie die«, warnte mich ein Freund.

»Hm. Hört sich nach Hokuspokus an, ich glaub nicht an so einen Blödsinn. Dass man Menschen einfach so manipulieren kann. Ich geh in die Moschee und lern die einfach mal kennen.«

Ich wusste nicht genau, wie das mit dem Beten funktionierte, kannte nur ungefähr den Ablauf, aber ich ging einfach mal zum Freitagsgebet. Die Moschee war wie jeden Freitag überfüllt, doch es waren nur wenige Salafisten da. Ich beobachtete sie und bemerkte, dass sie anders beteten, sie standen breitbeiniger da und hielten die Hände auf der Brust anstatt unter dem Bauchnabel. Was sollte das? Was bedeuteten diese Unterschiede?

Nach dem Freitagsgebet ging ich nach Hause. Meine Eltern saßen mit Verwandten im Wohnzimmer.

»Warst du in der Moschee zum Freitagsgebet? Schön! Auch wenn du in Deutschland lebst, solltest du deine Religion nicht vergessen«, sagte meine Tante.

Dieser Satz motivierte mich, öfter in die Moschee zu gehen und meine Religion zu entdecken. Danach zu suchen, was ich vielleicht sein mochte. War das die Identität, die Heimat, nach der ich mich gesehnt hatte? Hier war ich auf einmal der Deutsche. Wenn ich Serbisch sprach, hörten die Leute meinen deutschen Akzent heraus, und außerdem sahen sie an der Kleidung, dass ich aus Deutschland kam. Das erzeugte Neid, und man gab mir das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören. In Deutschland war ich wiederum der Ausländer. Der Serbe, Kosovare und Bosnier, doch was war ich wirklich? Serbe? Albaner? Bosnier? Das, was dein Vater ist, bekam ich oft als Antwort. Schön. Aber das überzeugte mich nicht. Ich war doch auch das, was meine Mutter ist. Jugo? Okay. Das sagten die meisten, und damit kann ich schon mehr anfangen, denn in Jugoslawien war es egal gewesen, ob man Serbe, Bosnier oder Albaner war. Jugoslawien existierte aber nicht mehr. Balkaner! Mich nach einem Gebirge benennen? Und sind dann Griechen und Türken, die auch einen Teil dieses Gebirgszuges bewohnen, meine Landsleute?

Nein, ich war Moslem. Endlich! Da hatte ich die Antwort nach langem Raten gefunden. Im Islam gab es keinen Nationalismus, jeder konnte Moslem sein, egal aus welchem Land. Nationalitäten spielten da keine Rolle. Araber oder Europäer, keiner war mehr wert als der andere, alle waren gleich. Aber ich kannte den Islam viel zu wenig, als dass ich mich wirklich mit ihm hätte identifizieren können. Das musste ich ändern.

Als mein Cousin, der Salafist, davon erfuhr, dass ich in der Moschee war, kam er uns besuchen. Er ist etwas kleiner als ich, sehr muskulös, langer schwarzer Bart, kurze Haare, blaue Augen.

»Irfan, ich hol dich morgen Abend ab, und wir gehen ein bisschen zu mir nach Hause, okay?«, schlug er vor.

Mein Vater, der bis heute vom kommunistischen Jugoslawien schwärmt und bei den Wahlen in Deutschland immer die Linken wählt, beobachtete meinen Kontakt zu meinem Cousin misstrauisch. Ich merkte schon sehr früh, dass er ein strikter Gegner der Salafisten war. Als ich abends in dem Kinderzimmer meiner Verwandten lag, in dem ich immer schlief, fiel mein Blick auf einen Aufkleber mit einer einbalsamierten Leiche. »Was passiert nach dem Tod? Der Islam gibt die Antwort«, stand darauf.

Dieser kleine Aufkleber beeindruckte mich unheimlich, und noch heute denke ich manchmal an diese Art Schlüsselmoment zurück: Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich später kein Salafist geworden wäre? Wenn ich nicht im Knast gesessen und für den Geheimdienst gearbeitet, sondern stattdessen ein stinknormales Leben gewählt hätte?

Am nächsten Tag holte mich mein Cousin ab. Wir gingen zu ihm, und ich stellte ihm eine Menge Fragen. Warum tragt ihr einen Bart? Wozu die kurzen Hosen? Warum betet ihr anders? Er redete in Koranversen und Prophetenaussprüchen. Okay. Das große Geheimnis ist gelüftet. Keine Zauberei, keine Mystik. Diese Leute machen einfach nur, was im Koran und in der Sunnah steht, in Büchern, die es millionenfach gab und die jedem zugänglich waren. Ich war enttäuscht. Ich hatte die Vorstellung von einer Art Geheimgesellschaft gehabt, in der bloß Eingeweihte die volle Wahrheit erfahren. Der Reiz des Geheimnisvollen war verflogen. Doch mein Interesse blieb. Mein Cousin zeigte mir ein Video. »Lass uns ein bisschen Tschetschenien anschauen«, sagte er und erklärte mir den Konflikt: Arme unterdrückte Muslime wehrten sich gegen übermächtige, ungläubige Russen. Das Video war folgendermaßen aufgebaut: Erst wurden unterdrückte Muslime gezeigt, die unter den Russen zu leiden hatten, man sah tote Frauen und Kinder. In mir stieg Wut auf. Man musste doch diesen armen Leuten irgendwie helfen können, dachte ich. Genau in dieser Gefühlslage zeigte das Video sehr wohltuend Racheaktionen der Mudschahedin, Hinterhalte und Sprengfallen an Straßenrändern. Ich sah, wie russische Soldaten zerfetzt wurden, und konnte mich gar nicht sattsehen. Ich hatte ja immer noch die Bilder der toten Frauen und Kinder im Kopf. Das mag sehr banal klingen, aber genauso empfand ich das. Endlich wehrte sich jemand und rächte sich an den ungläubigen Russen! Nie zuvor hatte ich solche Aufnahmen gesehen. So realistisch und wahr, eins zu eins. Hautnah erlebte ich schwere Gefechte zwischen Mudschahedin und Russen, ich saß wie gebannt vor dem Monitor meines Cousins. Zum ersten Mal sah ich Krieg. Praktisch live. Dann begann der letzte Abschnitt des Videos. Man erkannte einzelne Mudschahedin, dazu erschien etwas in arabischer Schrift, und im Hintergrund lief traurige islamische Musik.

»Was steht da auf Arabisch?«

»Da steht der Name des Mudschahed. Diese Mudschahedin, die du jetzt siehst, sind alles Shuhada, Märtyrer.«

»Was? Die sind alle tot?« Ich war entsetzt. Ein Held durftenicht sterben! Das ist doch kein Happy End, wenn am Ende alle Guten sterben, diese Vorstellung war einfach deprimierend.

»Ja«, sagte mein Cousin, »sie wurden zwar getötet, aber da sie im Dschihad fielen, sind sie Märtyrer und jetzt im Paradies.«

Andererseits, die Vorstellung, dass sie jetzt alle im Paradies waren und dort alles hatten, was sie sich wünschten, war natürlich sehr schön. So ist man immer Sieger. Wenn man überlebt, hat man irdischen Erfolg, und wenn man stirbt, den jenseitigen. Dieses erste Dschihad-Video war ein echtes Erlebnis.

In der Moschee erzählten dann einige der Salafisten, dass es da ein Dorf in Bosnien gebe, in dem nur Salafisten lebten, ausschließlich. Sie regelten alles selbst, brauchten keine Polizei, das sei schon praktisch ein kleiner islamischer Staat. Das interessierte mich, und die Leute in der Moschee deuteten an, dass ich diesen Ort auch besuchen könnte, da sie diese Woche sowieso dorthin fahren würden.

Das Dorf hieß Gorjna Maoca. Wir fuhren mit vier, fünf Leuten in einem roten Golf, die Fahrt dauerte einige Stunden. Das bosnische Dorf sah ganz normal aus. Die Landschaft war schon sehr beeindruckend, viele Wälder, Berge, aber sonst nichts Besonderes. Das Dorf hatte vielleicht ein paar Hundert Einwohner, die Männer waren alle islamisch gekleidet, die Frauen voll verschleiert. Wir wurden herzlich empfangen und konnten in einer Art Gästehaus übernachten. Essen wurde gemacht, wir brauchten uns um nichts zu kümmern. Oft gab es in der großen Moschee Vorträge des Imam. Der war dort der Chef, eine Art Anführer. Das Besondere war tatsächlich, dass dieses Dorf nur von Salafisten bewohnt wurde. In den drei Tagen, die wir dort verbrachten, sah ich nicht einen Polizisten, auch Geschäfte gab es nicht, nur Häuser, in denen die Bewohner Lebensmittel lagerten. So stelle ich mir Afghanistan vor.

Am letzten Tag hörte ich von der Möglichkeit, sich dort ausbilden zu lassen. Die älteren Männer erzählten Kriegsgeschichten und vom Dschihad und dass es eine islamische Pflicht sei, sich zu wehren und sich ausbilden zu lassen, besonders in Zeiten, in denen Krieg gegen Muslime geführt werde. Auf diesen Krieg sollte man immer vorbereitet sein. Diese Männer hatten Waffen, mit denen sie umzugehen wussten, und sie gaben mir zu verstehen, dass auch ich mich rüsten sollte. Ich war tief beeindruckt von ihren Ideen.

Mein Cousin gab mir zum Abschied ein »Dawah-Paket« mit auf die Reise zurück nach Deutschland. CDs, DVDs, Bücher. Ich begann, mich intensiv mit diesem Material zu beschäftigen.

SALAFISMUS

Der Begriff »Salafist« geht auf das arabische »as-Salaf as-Salih« zurück und bedeutet so viel wie »die frommen Altvorderen« – damit sind die ersten drei Generationen von Muslimen nach dem Tod des Propheten Mohammed gemeint.

Über 1200 Jahre nachdem der Religionsstifter im Jahr 632 n. Chr. gestorben war, brach im Orient das Zeitalter der Kolonisierung an. Gnadenlos bekam die muslimische Welt ihre eigene Unterlegenheit vor Augen geführt. Ob technologisch, wirtschaftlich oder militärisch – in fast allen Belangen war man zum Ende des 19. Jahrhunderts gegenüber dem »Westen« ins Hintertreffen geraten. Während die politischen Eliten mit radikaler Modernisierung und einer Zurückdrängung der Religion reagierten (mit Kemal Atatürk, dem Begründer der modernen Türkei, als leuchtendem Beispiel), schlugen Islamgelehrte der Al-Azhar-Universität in Kairo den entgegengesetzten Weg ein: Sie machten einen Verrat am Erbe der »Altvorderen« für die missliche Lage verantwortlich: Statt sich weiter am Leben des Propheten und seiner Gefährten orientiert zu haben, sei die islamische Gemeinde (»Umma«) durch unzulässige Neuerungen, Abspaltungen und den Kontakt mit fremden Kulturen geschwächt worden. Die wachsende Verbreitung dieser Überzeugung gilt als Geburtsstunde des Salafismus.

Durch eine Neubesinnung auf die Werte der muslimischen Urgemeinde wollen Anhänger dieser Ideologie den Islam wieder zu alter Stärke führen. Doch um ihre Vision von der Rückkehr ins »goldene Zeitalter« wahr werden zu lassen, bedienen sich Salafisten unterschiedlicher Mittel: Während sich die meisten von ihnen lediglich privat und im familiären Umfeld um ein Leben nach dem Vorbild des Propheten bemühen, wollen »politische Salafisten« die Gesellschaft, in der sie leben, nach ihren strengen Vorstellungen umgestalten. Und wenn sie zu diesem Zweck nicht nur missionieren, sondern auch Gewalt anwenden, benutzen Politiker und Sicherheitsbeamte meist das Label von den »dschihadistischen Salafisten«.

Gemein ist allen drei salafistischen Strömungen die Überzeugung, dass einzig der Koran selbst sowie die frühen Überlieferungen vom Leben des Propheten und seiner Jünger (»Hadith«) als authentische Quellen für den »wahren Islam« gelten dürfen. In jenen Quellen finden sich neben genauen Anweisungen über die angemessene Gottesverehrung (etwa die berühmten »Fünf Säulen« aus Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten, Almosen und Wallfahrt) auch zahlreiche Rechtsvorschriften. Falls sich etwa eine unverheiratete Frau mit einem verheirateten Mann eingelassen hatte, sollte die Frau im Haus eingesperrt werden, »bis der Tod sie abberuft oder Gott ihr einen Ausweg schafft« (Sure 4, 15). Der Genuss berauschender Getränke war bei einer Strafe von mindestens vierzig Stockschlägen verboten, genauso wie das Rauchen oder die Teilnahme am Glücksspiel. Wer schweren Diebstahl beging, musste sich von seiner rechten Hand verabschieden. Im Wiederholungsfall drohte die Amputation des linken Fußes.

All dies klingt brutal. Nicht minder brachial lesen sich im Koran Forderungen, den »Heiligen Krieg« (»Dschihad«) gegen die Ungläubigen (»Kuffar«) zu kämpfen: »Prophet! Führe Krieg gegen die Ungläubigen und die Heuchler und sei hart gegen sie! Die Hölle wird sie aufnehmen – ein schlimmes Ende« (Sure 66,9).

Solche und ähnliche Verse zeugen von dem unbedingten Willen Mohammeds, sich als neuer und machtvoller Religionsführer zu etablieren. So wurde Mohammed, nachdem er in seiner Geburtsstadt Mekka die ersten göttlichen Offenbarungen empfangen hatte, von vielen entweder belächelt oder angefeindet. Nachdem er aber im Jahr 622 nach Medina geflohen war, gelang es ihm dort, in kurzer Zeit zahlreiche Anhänger um sich zu scharren. Mohammed erkannte die Chance, neben der religiösen auch die politische Macht in der Region zu übernehmen. Doch das war kein Selbstläufer. Juden, Christen, arabische Stämme – längst nicht alle Menschen waren bereit, sich seiner muslimischen Herrschaft zu unterwerfen und ihn als Propheten Gottes anzuerkennen. Mohammed entschied sich zum Kampf. Und um diesen Kampf zu gewinnen, bedurfte es motivierter und zu allem entschlossener Männer an seiner Seite. Für den Fall, dass seine Glaubenskrieger auf dem Schlachtfeld ihr Leben ließen, versprach Mohammed ihnen, dass sie als Märtyrer direkt und ohne weitere Prüfung ins Paradies einziehen würden: »Allah unterstützt den, der für den Pfad Allahs kämpft. Wenn er überlebt, kehrt er mit Ehren und Beute beladen nach Hause zurück. Wird er aber getötet, wird er ins Paradies gelangen.«1

Während heutzutage das Gros der gemäßigten Muslime Mohammeds Aussagen über die »Pflicht zum Dschihad« und zum Einzug ins »Paradies« als »Märtyrer« in ihrem historischen Kontext zu deuten weiß, verlangen Salafisten auch in der Moderne des 21. Jahrhunderts nach deren wortgetreuer Auslegung. Die »Scharia«, die Gesamtheit der islamischen Gesetze und Vorschriften, dürfe als »Ordnung Gottes« prinzipiell nicht durch menschengemachte Vorschriften ergänzt oder gar ersetzt werden.

Ibn Taymiyya ist in einer Umgebung aufgewachsen, in der es vor menschgemachten Gesetzen nur so wimmelte. Es war das Jahr 1270: Taymiyya war sieben Jahre alt, als Mongolen in seine Heimatstadt Harran in der türkischen Region Mardin einfielen. Die ungläubigen Mongolen führten sich als brutale Besatzer auf und zwangen die zumeist muslimische Bevölkerung unter ihre Herrschaft. Als die Lage zunehmend unerträglich wurde, fragten die Menschen von Mardin Ibn Taymiyya, der sich mittlerweile als streitbarer Islamgelehrter einen Namen gemacht hatte: Sollte Mardin überhaupt noch als Teil der muslimischen Welt angesehen werden?

Die Antwort des Gelehrten an die Bewohner Mardins ist als »Mardin Fatwa« berühmt geworden: »Das Gebiet ist weder vollständiger Teil der muslimischen Welt, da es unter der Herrschaft der Mongolen steht, noch ist es Teil der nicht muslimischen Welt, da es von Muslimen bevölkert wird.« Die Fatwa besitzt allerdings noch einen zweiten Teil. Hunderte Jahre nach seinem Tod avancierte Taymiyya auch dank der Hilfe dieses zweiten Abschnitts zu einer historischen Lieblingsfigur radikaler Salafisten. al-Qaida-Chef Osama bin Laden zitierte diese Passage regelmäßig2, um seine Terroraufrufe gegen den Westen ideologisch zu unterfüttern:

»Die Muslime, welche dort leben, sollten entsprechend ihrer Rechte als Muslime behandelt werden, während die Nichtmuslime, welche dort außerhalb der islamischen Gesetzgebung leben, bekämpft werden sollten, wie sie es verdienen.«

Diese lange Zeit eifrig genutzte Überlieferung besitzt nur einen kleinen Schönheitsfehler: Sie ist nicht korrekt. Statt des Ausdrucks »yuqatal« (sollten bekämpft werden) hatte Taymiyya ursprünglich das ähnlich klingende arabische Wort »yu’amal« (sollten behandelt werden) benutzt. Durch den Übertragungsfehler hatte die Fatwa einen – im wörtlichen Sinne – radikal anderen Sinn bekommen: Statt Nichtmuslime lediglich anders, nach ihren eigenen Gesetzen, zu »behandeln«, sollten sie »bekämpft« werden. Bedauerlicherweise gelang es erst im Jahr 2010, diesen Fehler aufzuklären. Islamwissenschaftler waren der Abweichung durch einen Vergleich mit der in einer Bibliothek in Damaskus lagernden Kopie des Originalmanuskripts auf die Schliche gekommen und hatten ihre Entdeckung auf einer Konferenz öffentlich gemacht.3

Leider ist nicht bekannt, wie al-Qaida-Chef Osama bin Laden auf diese Nachricht reagiert hat. Glücklich wird er nicht gewesen sein: Der (falsche) Text passte einfach zu gut zum ultimativen strategischen Ziel dschihadistisch-salafistischer Gruppierungen aus aller Welt – der Wiederherstellung der zu Zeiten Mohammeds gelebten Gesellschaftsordnung und somit letztendlich auch der Ablösung der politischen Systeme in ihren jeweiligen Heimatländern. »Sie sind überzeugt: Wenn erst alle unserer Sichtweise folgen und unsere Regeln befolgen, wird die Menschheit in Wohlstand und Frieden leben«, sagt Dr. Christine Schirrmacher, Leiterin des International Institute of Islamic Studies.4 Der Weg zu dieser Utopie ist allerdings mit Blut gepflastert. Muslime und Nichtmuslime müssen bekehrt werden – notfalls mit Gewalt.

Um in der heutigen Zeit neue Mitstreiter für dieses Unterfangen zu gewinnen, haben Salafisten ein verlockendes Angebot parat: Auf einen Schlag werden neue Glaubensbrüder und -schwestern Teil einer weltweiten Gemeinschaft, die sich durch ihren Lebensstil radikal nach außen abgrenzt, sich selbst als ständig bedroht wahrnimmt und gerade dadurch ihre Identität gewinnt. Salafisten bekommen durch ihren Glauben feste Regeln und Strukturen an die Hand und lernen eine klare Unterscheidung zwischen Freund und Feind sowie zwischen erlaubt (»halal«) und verboten (»haram«).

Insbesondere bei Orientierung suchenden Jugendlichen, bei Menschen aus problematischen Familienverhältnissen und Personen mit krimineller Vergangenheit können derartige Versprechungen schnell verfangen. Längst nicht alle Salafisten werden deshalb zum Sicherheitsrisiko. Aber Experten haben eine Beobachtung gemacht, die sie seit 9/11 in kontinuierliche Alarmbereitschaft versetzt: »Nicht jeder Salafist ist ein Terrorist«, warnte Heinz Fromm, der frühere Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV). »Aber jeder uns bekannte Terrorist war irgendwann einmal in salafistischen Zusammenhängen unterwegs.«5

Diesseits oder Jenseits?

Ich wusste nicht, was ich nach der Hauptschule machen sollte, also besuchte ich im Anschluss eine Wirtschaftsschule. Und bemerkte gleich am ersten Tag, wie wenig Ausländer es dort gab, mein bester Freund und ich waren fast die einzigen. Der Rest waren Oberpfälzer aus den umliegenden Dörfern, typische Bauern, wie wir sie nannten, deren Bayerisch so ausgeprägt war, dass wir sie nur schwer verstehen konnten.

Die Lehrer waren allesamt konservativ und oft ausländerfeindlich. Ich hatte große Probleme mit ihnen und vertiefte mich mehr und mehr in den Islam. Einerseits war ich von der Richtigkeit der Religion und der damit einhergehenden Lebensweise überzeugt, andererseits fiel es mir schwer, mein Leben wirklich umzukrempeln. Fünfmal täglich beten, kein Kontakt zu Mädchen, keine Musik? Aber ich war fest entschlossen. Ich sah in diesem Leben mehr als nur irdische Gelüste. Ich war fasziniert vom Jenseits und davon, wie jede Tat im Diesseits Auswirkungen auf dieses Jenseits hatte. Es musste einfach etwas danach geben, sonst ergab die gesamte Schöpfung keinen Sinn. Ich musste mich also entscheiden: Diesseits oder Jenseits. Die Schule oder beten. Ich schwänzte immer öfter, verließ morgens das Haus, als würde ich in die Schule gehen, damit meine Eltern nicht stressten, setzte mich mit ein paar islamischen Büchern auf einen abgelegenen Spielplatz und las. Dabei fühlte ich mich wohler als je in der Schule, trotzdem hatte ich ein schlechtes Gewissen. Wenn ich so weitermachte, würde ich rausfliegen, das war klar. Als ich mal wieder dort war, erzählte mir ein Türke, dass ein Lehrer im Unterricht den Propheten Mohammed beleidigt hatte. Ich flippte aus. »Ich schlag ihm seine Fresse ein!«

»Spinnst du, der zeigt dich doch dann an«, sagte der Türke.

»Ist mir egal. Ich warte hier im Flur. Jetzt. Und wenn er kommt, schlag ich ihn zu Brei.«

Ich wartete, und zu seinem Glück kam der betreffende Lehrer nicht. Es war das islamische Prinzip: die Gott ergebenen Muslime zu lieben und mit ihnen Freundschaft zu pflegen, aber die Feinde des Islam zu hassen und ihnen offen Feindschaft zu zeigen. Auf dieser Schule hatten sie mir signalisiert, dass sie mich hassten und mich nicht dahaben wollten. Genau das lehrte mich der Islam. Könnt ihr so haben. Ich würde auch Feindschaft zeigen. Ich hatte mich angepasst, ich sah aus, redete, lebte wie sie, aber ich wurde nicht akzeptiert, ich blieb der Moslem. Aus Trotz und aus islamischer Überzeugung würde ich ab jetzt in jeder, wirklich jeder Angelegenheit zwischen Gläubigen und Ungläubigen unterscheiden.

Rückblickend sehe ich, wie mich auch die Ablehnung und Feindschaft dieser bayerischen Lehrer in den Extremismus trieb.

Am Ende flog ich dann tatsächlich von der Schule. Jetzt musste ich die einjährige Berufsschulpflicht erfüllen. Ich machte einige Praktika im Einzelhandel, in einem Baumarkt war ich für die Drecksarbeit zuständig. Praktika dienen ja eigentlich dazu, einen Ausbildungsplatz zu finden, aber daran war ich nicht mehr im Geringsten interessiert. Ich konzentrierte mich allein auf den Islam.

Ich forschte im Internet und stieß auf ein islamisches Forum. Dort konnte man Fragen stellen und Diskussionen verfolgen, aus denen ich viel gelernt habe. Arabische Wörter schlug ich im Wörterbuch nach, und bald konnte ich allen Diskussionen problemlos folgen. So lernte ich die verschiedenen Gruppierungen und Ansichten kennen und konnte mich endlich klar positionieren. Den ganzen Tag und oft auch die Nacht hindurch beschäftigte ich mich nun mit dem Islam. Vorträge, Bücher, Foren – ich war einfach überzeugt davon. Ich sah jetzt in allem einen Sinn. Der Islam gab mir klare Antworten über das Dies- wie das Jenseits, feste Grundlagen, die ewige Gültigkeit zu haben schienen. Alles hatte auf einmal seine Ordnung, von alltäglichen Kleinigkeiten bis zum großen Ziel. Für alles gab es eine Anleitung, kein großes Herumphilosophieren, alle Antworten waren bereits da. Man musste sie nur im Koran und im Islam suchen. Es gab nur einen Gott, der alles erschaffen hatte. Nur ihn durfte man anbeten, Punkt. Klare Botschaft. Keine endlosen Diskussionen über Dreieinigkeit oder gar darüber, ob es Gott überhaupt gab. Das Moralverständnis im Islam war fast deckungsgleich mit dem, was ich schon zuvor gedacht und gefühlt hatte. Ich war konservativ. Ich hasste Ungerechtigkeit. Ich war eifersüchtig. Deshalb sagten mir die Bedeckung für Frauen und die Geschlechtertrennung zu. Mir imponierten die typisch islamischen Eigenschaften wie Großzügigkeit, Schamhaftigkeit, Eifersucht, Männlichkeit. Auch Militarismus hatte mir schon zuvor gefallen. Die Pflicht zur Verteidigung. Ich erfuhr: Flucht auf dem Schlachtfeld galt strengen Muslimen als eine Sünde. Und ich erfuhr: Mut und Aufopferung sind islamische Pflichten. Das gefiel mir. Und auch die islamische Geschichte begeisterte mich. Wie aus einem kleinen Stadtstaat eines der zwischenzeitlich größten Reiche der Menschheitsgeschichte wurde.

Über ein islamisches Forum gelangte ich zu »Paltalk«, das heißt so viel wie »Kumpelgespräch«. Auf dieser Internetplattform gab es Chaträume, in denen man Vorträgen zuhören und gleichzeitig quatschen konnte, so kam ich ins Gespräch mit anderen Gleichgesinnten.

Das Forum, das ich zunächst genutzt hatte, war mir mit der Zeit zu liberal und theoretisch geworden. Ich wollte den Dschihad erleben, wie er wirklich war! Wie das islamische Gesetz auch in der Wirklichkeit umgesetzt wurde. So was. Deshalb schaute ich mir immer mehr Videos an. Ich fand es faszinierend, den Dschihad, den ich nur aus Büchern und Geschichten kannte, auf diese Weise scheinbar hautnah zu erleben. Ich sah mir Videos aus Waziristan an, in denen Vergewaltiger gekreuzigt wurden. Ich sah die berühmt-berüchtigte Steinigung. Damit hatte die Theorie Hand und Fuß. Ich war begeistert. In dieser Zeit sah ich auch mein erstes Enthauptungsvideo. Es stammte aus Tschetschenien und zeigte, wie ein tschetschenischer Mudschahed einem russischen Soldaten den Kopf abschnitt.

Mittlerweile aß ich nicht mehr mit meinen Eltern und Geschwistern am Tisch, ich holte mir nur noch meinen Teller, ging in mein Zimmer und schaute mir beim Essen Videos an. Bei meinem ersten Enthauptungsvideo aß ich Cornflakes. Ich drückte auf Play, schaute neugierig auf den Bildschirm, ohne zu zwinkern, und aß dabei, dann ging es los. Zu meinem Erstaunen stach der Tschetschene erst mit dem Messer in den Hals und schnitt dann den Hals durch, dabei röchelte der Russe etwas ekelhaft, und als sein Kopf nur noch am Nacken hing, haute der Mudschahed mit dem Messer drauf und trennte den Kopf komplett ab. Das war heftiger, als ich es mir vorgestellt hatte, doch ich löffelte meine Cornflakes ungerührt weiter, übel wurde mir nicht. Und dennoch stimmte mich das Video etwas nachdenklich. Ich dachte darüber nach, wie grausam und brutal diese Welt doch sein konnte. Gleichzeitig fand ich es seltsam, dass ich überhaupt darüber nachdachte, das Ganze war schließlich im Dschihad geschehen und absolut berechtigt gewesen, wieso war ich jetzt also so skeptisch? Dann fiel mir der Grund ein. Es lag einzig und allein daran, dass ich hier in Deutschland so behütet aufgewachsen und ein verweichlichtes, verwöhntes, westliches Wohlstandskind war. Es blieb ein Hauch von Zweifel, ob es tatsächlich das Verweichlichte in mir war oder der Rest von Menschlichkeit, der noch in mir steckte. Doch ich schüttelte die Zweifel ab und wandte mich wieder dem Video zu.

Wenn man sich mit dem Dschihad beschäftigt, stößt man unweigerlich auf al-Qaida. Ich forschte nach, wie es zur Gründung kam, was die Ziele waren, wie die Strukturen aussahen und wer die führenden Köpfe dieser Organisation waren. Im Chat, in den Foren, bei den Predigern von Paltalk. Ich verstand: Bin Laden war so etwas wie der Popstar der Szene. Als ideologischer Mastermind aber galt Abu Musab al-Suri.

TOD DURCH TAUSEND NADELSTICHE – INDIVIDUELLER DSCHIHAD ALS NEUE STRATEGIE

Als wenige Wochen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 amerikanische Kampfjets aufsteigen, um die Gotteskrieger von Taliban und al-Qaida aus ihren afghanischen Verstecken zu bomben, hat Abu Musab al-Suri ein Déjà-vu.

Rund zwei Jahre zuvor, im Juli 1999, hatte er Osama bin Laden eine E-Mail geschrieben. Er beschwerte sich darin über die theatralischen und großspurigen Attacken des al-Qaida-Chefs gegen amerikanische Ziele. Aktionen wie die Bombenanschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania im Jahr 1998 durch al-Qaida würden das TalibanRegime in Afghanistan bedrohen – das Regime, das ihnen beiden Schutz gewährte. Denn al-Suri war ein enger Weggefährte bin Ladens. Der gebürtige Syrer mit den feuerroten Haaren gehörte zum innersten Führungszirkel der al-Qaida. In seiner Mail warf al-Suri dem al-Qaida-Boss vor, er sei von »krankhafter Sehnsucht nach Bildschirmen, Blitzlicht, Fans und Applaus« befallen.6

Die Warnung erzeugte keinen Nachhall. Nachdem bin Laden seine Selbstmordattentäter in die Türme des World Trade Center hat fliegen lassen, bestätigen sich al-Suris schlimmste Befürchtungen. Nach dem Propagandafest kommt das böse Erwachen. Bereits zwei Monate nach den Anschlägen haben die Taliban ihre Macht über Afghanistan verloren. Fast 80 Prozent der al-Qaida-Mitglieder am Hindukusch sind tot.7 Doch mit das Schlimmste ist: Weite Teile der muslimischen Welt sind der Überzeugung, dass 9/11 das harte Zuschlagen der Amerikaner rechtfertigen.

Der Salafist al-Suri, damals Anfang vierzig, flüchtet aus Afghanistan in den Iran. In seinem persischen Versteck beginnt er mit der Arbeit an seinem Lebenswerk, einer Kampfschrift mit dem Titel Call for Worldwide Islamic Resistance. Im Dezember 2004 stellt der frühere Aktivist der syrischen Muslimbruderschaft seinen 1 600-Seiten-Wälzer ins Internet. Sein Werk wird einen radikalen Umdenkprozess unter Gotteskriegern weltweit einleiten. Es wird zur Blaupause von al-Qaidas Strategie für die Post-9/11-Ära.

Al-Suri fordert seine Leser dazu auf, sich gegen repressive Regime aufzulehnen und gegen die westliche und jüdische Besatzung der muslimischen Welt zu kämpfen. Das ist salafistische Ideologie in Reinform – also alles andere als neu. Das radikal Neue an al-Suris Strategie ist die Art und Weise, wie dieser Kampf gekämpft werden soll. Statt aufwendig orchestrierter und zentral in Afghanistan vorbereiteter Anschläge nach dem Strickmuster von 9/11 breche nun das Zeitalter des »individuellen Dschihad« an. Terroranschläge sollten zukünftig von kleinen Zellen oder Einzelpersonen autonom geplant und durchgeführt werden. Muslime überall auf der Welt würden, so al-Suris Ziel, mit ständigen, unvorhersehbaren Attacken den westlichen Feind langsam, aber sicher zermürben. Von außen betrachtet, würden die Gewaltausbrüche wie eine koordinierte Massenbewegung wirken. Statt einer operativ tätigen Terrororganisation sollte al-Qaida mehr und mehr zur ideologischen Basis werden. »Tod durch tausend Nadelstiche«, so taufte al-Suri seine revolutionäre Strategie. Bereits im Jahr 2000 hatte er diesen Wandel vorausgesehen. In einer seiner Predigten hatte al-Suri gesagt: »Al-Qaida ist keine Organisation, keine Gruppe, und das möchten wir auch gar nicht sein. Al-Qaida ist ein Weckruf, eine Referenz, eine Methodik.«8

September 2012, fast acht Jahre sind seit der Buchveröffentlichung al-Suris vergangen. Hans-Georg-Maaßen gibt sein erstes Zeitungsinterview. Im Monat zuvor hat er seinen Dienst als Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) angetreten. Maaßen wurde Nachfolger von Heinz Fromm. Der SPD-Mann war zuletzt immer stärker unter Druck geraten, nachdem bekannt geworden war, dass man in seiner Behörde kurz nach dem Auffliegen des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) brisante Akten geschreddert hatte.9 Die Affäre um die Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die jahrelang unerkannt mordend durch Deutschland ziehen konnten, war einer der größten Skandale. Die Medien tauften den NSU die »braune RAF«.

Aber Hans-Georg Maaßen, Karrierejurist mit Stallgeruch aus dem Bundesinnenministerium, verfolgt in seinem ersten Zeitungsinterview als Verfassungsschutzpräsident ein anderes Anliegen. Er spricht über die Bedrohung durch den »individuellen Dschihad«.10 Durch »Aktionen von Einzeltätern oder Kleinstgruppen«, so warnt der neue BfV-Präsident in seinem Interview mit dem Tagesspiegel, werde der Dschihad »entgrenzt«. »Das wird gerade auch für Europa und Deutschland gefährlich.«

Al-Suri, der Schöpfer dieser Idee, ist zu jener Zeit längst aus dem Verkehr gezogen. Agenten des pakistanischen Geheimdienstes ISI haben ihn in der Stadt Quetta dingfest gemacht. Fünf Millionen Dollar Kopfgeld waren auf den strategischen Mastermind von al-Qaida ausgesetzt. Die Pakistaner übergaben den Mann an die Amerikaner, diese verfrachteten ihn in sein Heimatland Syrien.11 Dort verschwand al-Suri – mutmaßlich im Folterknast. Sein ideologisches Vermächtnis aber lebte fort.

Maaßens Warnung vor »Aktionen von Einzeltätern« haben einen konkreten Anlass: Im März 2011 hatte Arid Uka am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten erschossen, ein Jahr später hat Mohamed Merah in Frankreich sieben Menschen hingerichtet, darunter drei jüdische Kinder. Weder