Der Duft von Steinen - Gulchehra Hoja - E-Book

Der Duft von Steinen E-Book

Gulchehra Hoja

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Beschreibung

Im Februar 2018 verschwanden Dutzende Angehörige der Journalistin Gulchehra Hoja. Sie wurden ihretwegen verhaftet, denn Hoja hatte es gewagt, über die Not des uigurischen Volkes zu berichten. Die talentierte Tänzerin, Schauspielerin und Geschichtenerzählerin wurde zum Star des chinesischen Staatsfernsehens - bis sie den Genozid erkannte, den China an den Uiguren verübt. Sie floh in die USA und kämpfte dort um mehr Öffentlichkeit für ihr Volk. DER DUFT DER STEINE enthüllt die Schönheit Ostturkestans und seines Volkes und zeigt eine Frau, die bereit war, nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Familie zu riskieren, um der Welt die Geschichte ihres Volkes zu erzählen.

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INHALT

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumProlog1 – Kindheit und Jugend in meiner uigurischen Heimat2 – Harte Landung3 – Die Saat der DesillusionierungTafelteilGroßvaterKindheitStudiumKinderfernsehenFamilieFreiheit und Gefangenschaft4 – Ein Neuanfang und die größte Krise meines Lebens5 – Das Gefühl, angekommen zu seinEpilog

 

ÜBER DAS BUCH

Im Februar 2018 verschwanden Dutzende Angehörige der Journalistin Gulchehra Hoja. Sie wurden ihretwegen verhaftet, denn Hoja hatte es gewagt, über die Not des uigurischen Volkes zu berichten. Die talentierte Tänzerin, Schauspielerin und Geschichtenerzählerin wurde zum Star des chinesischen Staatsfernsehens – bis sie den Genozid erkannte, den China an den Uiguren verübt. Sie floh in die USA und kämpfte dort um mehr Öffentlichkeit für ihr Volk. DER DUFT DER STEINE enthüllt die Schönheit Ostturkestans und seines Volkes und zeigt eine Frau, die bereit war, nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Familie zu riskieren, um der Welt die Geschichte ihres Volkes zu erzählen.

 

ÜBER DIE AUTORIN

Gulchehra Hoja ist eine uigurische Journalistin mit Sitz in Washington, DC. Ihre Berichterstattung über die Situation in Ostturkestan/Xinjiang für Radio Free Asia - die zur Inhaftierung ihrer gesamten Großfamilie führte - hat in den USA und Europa große Anerkennung gefunden. Sie erhielt Auszeichnungen wie den Magnitsky Human Rights Award 2019, den Courage in Journalism Award der International Women‘s Media Foundation 2020 und gilt seit 2016 als eine der 500 einflussreichsten Muslime der Welt. Sie wurde unter anderem in der WASHINGTON POST und der FINANCIAL TIMES porträtiert.

GULCHEHRA

HOJA

DER DUFTVONSTEINEN

Die Sehnsucht nachmeiner uigurischen Heimat undder Kampf für mein Volk

Übersetzung aus dem amerikanischen Englischvon Maria Mill und Simone Schroth

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»A Stone Is Most Precious Where it Belongs«

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2023 by Gulchehra Hoja

Published by Hachette Books

 

Published by arrangement with Susanna Lea Associates

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2023 by QUADRIGA VERLAG, Köln

Textredaktion: Iris Rinser, Großkarolinenfeld

Umschlaggestaltung: SO YEAH DESIGN, Gabi Braun

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock.com: hrui; © plainpicture:

Millennium | Jasper James

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

  

ISBN 978-3-7517-2884-3

quadriga-verlag.de

lesejury.de

 

PROLOG

Am späten Abend des 1. Februar 2018 wurden im Laufe einer einzigen Nacht vierundzwanzig Mitglieder meiner Großfamilie verhaftet. Darunter meine nicht mehr jungen Eltern, ebenso wie Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen sowie deren Ehegatten. Mein jüngerer Bruder war nicht unter ihnen, aber nicht etwa, weil er Glück hatte. Schon ein Jahr zuvor hatte man ihn ohne Angabe von Gründen festgenommen und in einem Internierungslager verschwinden lassen.

An jenem schrecklichen Abend drangen zwei Polizisten, ein Uigure und ein Han-Chinese, im Schutz der Dunkelheit ins Haus meiner Mutter ein. Da mein Bruder im Gefängnis war und mein Vater nach einem Schlaganfall auf der Intensivstation lag, war sie ganz allein im Haus. Sie legten ihr Handschellen an und warfen ihr etwas über den Kopf. Ein schweres schwarzes Tuch, das sie wegen ihres hohen Blutdrucks (neben anderen ernsten Gesundheitsproblemen) nach Luft ringen ließ. Sie flehte sie an, es wegzunehmen.

Der uigurische Polizist beugte sich zu ihr hinunter. »Es tut mir leid. Wir müssen Sie so mitnehmen. So lautet unser Befehl.« Doch gleichzeitig zog er das Tuch ein wenig in die Höhe, damit sie atmen konnte.

Der andere Polizist, der das bemerkte, herrschte ihn an: »Wie, ist sie deine Mutter, oder was?« Er zerrte ihr das Tuch wieder übers Gesicht und führte sie zum wartenden Polizeiwagen.

Als erstes brachte man sie ins örtliche Polizeigefängnis, wo sie auf meine alte Tante traf, die ebenfalls verhaftet worden war. Mittlerweile war der Blutdruck meiner Mutter gefährlich angestiegen. Man untersuchte sie, und da das Gefängnis über keinerlei medizinische Einrichtungen verfügte, wollten sie sie nicht dortbehalten. So wurde meine Mutter wieder von ihrer Schwester getrennt und ins Gefängnis Ürümchi Nr. 1 gebracht, einer berüchtigten Einrichtung für Schwerverbrecher. Obwohl dieses Gefängnis über eine medizinische Station verfügte, wurde meine Mutter weder behandelt noch versorgt. Und als sie um einen Blutdrucksenker bat, gab man ihr Hustentropfen. Als Professorin der Pharmazie kannte sie den Unterschied.

Im Gefängnis zwang man sie, sich zu entkleiden und eine schmutzige Kluft anzuziehen, die noch nach dem Schweiß und der Angst ihrer letzten Trägerin stank. Mit dreißig anderen Frauen warf man sie in einen kleinen Raum und ließ sie dort tagelang an ein Rohr gekettet liegen. Es war nur eine der zahlreichen Erniedrigungen, die sie erdulden musste. Und sie war bei Weitem nicht die Einzige, die solche Demütigungen erlebte. Im 21. Jahrhundert hat sich meine wunderschöne Heimat in eine Stätte des Terrors verwandelt, und die umfassende Zerstörung der uralten uigurischen Kultur und Lebensweise schreitet in unvorstellbarem Tempo voran. Meine Geschichte und die meiner Familie sind Teil dieses kulturellen Genozids.

Die Stadt Ürümchi, in der ich aufgewachsen bin, wird nach Westen hin vom atemberaubenden Tengritagh-Gebirge flankiert und ist von weiten Wüstenlandschaften umgeben, die von überraschend grünen Oasen voller Weinstöcke und Melonensträucher unterbrochen werden. Es ist eine uralte Stadt, die viel näher bei Kasachstan liegt als bei Beijing. Lange einer der wichtigsten Umschlagsplätze der Seidenstraße, ist Ürümchi heute die geschäftige Hauptstadt einer Region, die von der einheimischen Bevölkerung seit dem 19. Jahrhundert als Ostturkestan bezeichnet wird. Das Volk der Uiguren behauptet sich seit Jahrtausenden inmitten einer ebenso herben wie spektakulären Schönheit der Natur und hat in dieser Zeit eine komplexe und reiche Musiktradition, eine Kultur des Tanzes, der Architektur, der bildenden Künste, der Sprache sowie eine eigene Form des Islam entwickelt. Viele Elemente dieser Kultur können auf uralte zentralasiatische und Turk-Einflüsse zurückgeführt werden, aus denen sich vor vielen Jahrhunderten unsere sufistisch geprägte Musik, die Muqam, und viele unserer regionalen Gerichte – von den duftenden, als Naan bekannten Fladenbroten bis hin zu den mit Kreuzkümmel gewürzten, über offener Flamme gegrillten Kebabspießen – entwickelt haben.

Im Süden Ürümchis erstreckt sich die große Taklamakan, die zweitgrößte Flugsandwüste der Welt, in deren Oasen die Uiguren als Kleinbauern mehr als ein Jahrtausend lang mithilfe eines raffinierten unterirdischen Bewässerungssystems namens Kariz Hirse, Weizen, Baumwolle, Feigen, Dattelpflaumen und andere Feldfrüchte kultivierten. Entlang der Ränder dieser enormen Sandfläche haben sich die Uiguren und unsere Vorfahren unter verschiedenen turksprachigen, vorwiegend muslimischen Machthabern meist selbst regiert. Um 1755 eroberte die von den Mandschu geführte Qing-Dynastie die uigurische Region – die etwa die Größe des amerikanischen Bundesstaats Alaska besitzt und ein Sechstel des Gebietes umfasst, das wir heute als Volksrepublik China kennen – und gliederte sie formal ins chinesische Kaiserreich ein. In der Folge griffen lokale Aufstände immer mehr um sich, und das Gebiet geriet auch militärisch zunehmend unter die Kontrolle der Chinesen. Die Umbenennung in Xinjiang (d.h. »neues Territorium«) durch die Chinesen geschah jedoch erst 1884, als meine Urgroßeltern noch lebten. Unser kulturelles Gedächtnis reicht weit zurück. Mein Vater erinnert sich noch daran, dass er mit sieben Jahren in einer Parade mitmarschierte, in der Ostturkestan gefeiert wurde, während sein älterer Bruder hoch zu Ross in der örtlichen uigurischen Kavallerie ritt und unsere blaue Flagge mit ihrem unverwechselbaren Stern und dem Halbmond flattern ließ.

Bis 1949 hisste Ostturkestan stolz seine eigene Fahne und gelangte ebenso sehr unter den kulturellen Einfluss der Sowjetunion wie unter den des chinesischen Staates. Obwohl es ein mehrheitlich uigurisches Gebiet war, in dem Uiguren bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts fünfundsiebzig Prozent der Bevölkerung ausmachten, gibt es auch beträchtliche Minderheiten von Kasachen, Tadschiken, Usbeken, Tataren und Kirgisen, von denen die meisten eine Form des Islam praktizieren. Es ist eine heikle Balance, eine, die die chinesische Regierung seit Mitte des 20. Jahrhunderts systematisch zu zerstören begann.

Nach der offiziellen Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 und der Etablierung der Kommunistischen Partei Chinas als Regierung trat eine neue Politik in Kraft. Statt das Uigurengebiet nur nominell aus der Ferne zu regieren, entschied die junge KPCh, eine umfassende Besatzung sei nötig, um das Uigurengebiet und, ebenso wichtig, die Uiguren zu kontrollieren. Während der 1950er-Jahre gab es eine massive Einwanderung von Han-Chinesen – die Han sind die größte ethnische Gruppe Chinas, das, was man landläufig unter Chinesen versteht –, meist ehemaliger Soldaten, in den nördlichen Teil Ostturkestans. Sie wurden von der Regierung geschickt, um sowohl unberührtes Land zu bewirtschaften als auch für eine enorme paramilitärische Präsenz in der Region zu sorgen. Diese Leute bildeten das Xinjiang Produktions- und Aufbau-Korps oder Bingtuan, und sie waren gekommen, um das Land und seine Bodenschätze maximal auszubeuten. Einfach ausgedrückt, entwickelte sich ein Verhältnis wie das eines Kolonialherrn zu einem kolonisierten Volk, wobei allein die kommunistischen Machthaber in Beijing das Sagen hatten. Innerhalb weniger Jahrzehnte sank der Anteil der uigurischen Bevölkerung in der Region auf unter fünfzig Prozent. Ein umfassendes und sich auf erschreckende Weise beschleunigendes Programm der Kolonisierung und kulturellen Vernichtung hatte begonnen.

In den 1950ern hatte die KPCh Ostturkestan in das »Uigurische Autonomiegebiet Xinjiang« umbenannt, doch genau wie beim sogenannten Autonomen Gebiet Tibet hatte der Name weder politische noch kulturelle Autonomie zur Folge. Wie die Tibeter wurden die Uiguren nach wie vor von vielen als rückständiges Volk betrachtet, und nur wenige Han-Chinesen wussten etwas über unsere Traditionen oder unsere Lebensweise. Das Reisen wurde Uiguren erschwert – viele Hotels weigerten sich sogar, Uiguren zu beherbergen –, und viele Han-Chinesen betrachteten das uigurische Gebiet als eine Art »Wilden Westen« voller Gewalt, Gesetzlosigkeit und primitiver Zustände. Vorurteile waren an der Tagesordnung, gespeist meist aus Unwissenheit, jedoch auch durch die jahrelange unablässige KPCh-Propaganda über die notwendige Zivilisierung des Uigurengebiets und die Erziehung der Uiguren zu modernen Bürgern.

2017 wurde diese Kampagne auf fürchterliche Weise forciert, als die chinesische Regierung begann, eine große Anzahl von Uiguren in Haftanstalten inmitten der Wüste zu internieren, wo sie sowohl dem Blick der internationalen Gemeinschaft als auch dem der örtlichen Bevölkerung entzogen sind. Angesichts der Geheimhaltungsstufe, die diese Lager umgibt, kann man unmöglich wissen, wie viele Menschen in diesen Einrichtungen verschwunden sind. Doch vorsichtigen Schätzungen aufgrund mir zugespielter amtlicher Dokumente sowie Augenzeugenberichten zufolge wurden zwischen einer und drei Million Menschen in diese Lager gezwungen, wo man sie entmenschlichender Behandlung wie Folter, Vergewaltigung und Zwangsarbeit sowie fortwährender Erniedrigung unterzieht. Uiguren können für jeden beliebigen Ausdruck unserer einzigartigen Kultur verhaftet und in diese Lager gesteckt werden.

Doch auch außerhalb der Lager herrschen schlimme Zustände. In meiner Kindheit, während der 1970er- und 1980er-Jahre, waren Fernsehgeräte im Uigurengebiet noch selten. Heute dagegen hat man überall in der Region ein ausgedehntes Überwachungssystem installiert. An Straßenecken, wo einst Wassermelonenverkäufer ihre Eselskarren oder Handwagen abzustellen pflegten, stehen jetzt Militärpolizisten mit der Maschinenpistole im Anschlag. In Städten wie Ürümchi findet man auf jedem Telefonmast High-Tech-Kameras, die mithilfe ausgefeilter Gesichtserkennungssoftware (entwickelt einzig zum Zweck der Einschüchterung und Kontrolle) uigurische Individuen identifizieren können. Überall gibt es in Formation marschierende Polizisten, und sogar der Einkauf von Gemüse im Basar erfordert eine Leibesvisitation. Ja, sogar für den Kauf von Benzin an der Tankstelle müssen Uiguren sich ausweisen. Selbstverständlich werden die in der Region lebenden Han nicht den gleichen repressiven Maßnahmen unterzogen; sie stellen sich an anderen Zugängen an, um auf die Märkte oder in die Bahnhöfe zu gelangen, an denen es keine Kontrollen gibt.

Vieles davon geschieht unter dem Vorwand der so genannten Terrorbekämpfung, der wahre Zweck der Maßnahmen aber ist die methodische Zerstörung der uigurischen Gemeinschaft. Als man der chinesischen Regierung nach den schrecklichen Ereignissen des 11. September 2001 das Feigenblatt des globalen Kriegs gegen den Terror anbot, ergriff sie die Gelegenheit, um normale uigurische Bürger als »Terroristen« abzustempeln, weil sie so gewöhnliche Dinge getan hatten wie etwa zum Beten in die Moschee zu gehen, sich einen Bart wachsen zu lassen oder einen Hidschab zu tragen. Unschuldige Uiguren landeten sogar in Guantanamo. Jedem Anzeichen uigurischen Widerstands gegen derlei repressive Maßnahmen wird mit überwältigender Brutalität begegnet sowie einer Forcierung »vorbeugender Maßnahmen« wie aggressiver Überwachung, Einschüchterung und Inhaftierung. Die Schlinge der totalen Kontrolle, die bereits um den Hals der Region lag, zog sich mit jedem Tag, der verging, weiter zu.

Manche Intellektuelle betrachten die Maßnahmen der chinesischen Regierung in Ostturkestan als unverhohlenen Kolonialismus. Ostturkestan ist reich an Bodenschätzen, Gas, Kohle und anderen Rohstoffen. Es umfasst ein riesiges Territorium und bietet angesichts Chinas enormer Bevölkerungsdichte potenzielle Entlastung. Die Chinesen kommen einfach und nehmen sich, was sie wollen, und sie unterdrücken jeden Widerstand gegen ihre Anwesenheit oder Gier. Viele Intellektuelle vertreten mit Nachdruck Chinas fragwürdigen historischen Anspruch auf das Gebiet und den Wunsch der Regierung, nicht schwach zu erscheinen, indem sie gestohlenes Land an dessen rechtmäßige Bewohner zurückgeben. Andere sehen auch die Angst, dass Menschen in anderen Nicht-Han-Gebieten, etwa in Tibet oder der Inneren Mongolei, ebenfalls aufbegehren und erneut nach Unabhängigkeit streben könnten, während Hongkong und Taiwan sich weigern, vom großen China absorbiert zu werden. Warum es jedoch zu einem Genozid kommt, egal in welcher Form, darauf gibt es letztlich keine definitive Antwort. Trotzdem ist es genau das, was in meinem Heimatland zurzeit geschieht.

All das erklärt, warum meine Familie an jenem schrecklichen Abend im Jahr 2018 hinter Gittern landete. Aber es ist nicht die ganze Geschichte. Denn die bittere Wahrheit und der einzige Grund, warum ich diese Nacht völlig hilflos aus Tausenden Meilen Entfernung miterleben musste, warum überhaupt die chinesische Regierung meine Familie verschleppt hat, bin ich.

1

KINDHEIT UND JUGENDIN MEINER UIGURISCHEN HEIMAT

Der gegenwärtige Horror in meiner Heimat und die glückliche Kindheit, die ich in meiner Großfamilie in Ürümchi erlebt habe – das ist wie Nacht und Tag.

Schon als kleines Mädchen war ich fasziniert von den Künsten und dem Theater. Mein Großvater, Zikri-al-Pattar, war ein berühmter Musiker, ein Komponist von Muqam, jener traditionellen uigurischen Musikform, die auf komplexen Melodien, der Vertonung literarischer Texte sowie einer kunstvollen Choreografie beruht. Die Rolle, die diese Musik in unserer Kultur spielt, ist so bedeutsam, dass sie von der UNESCO zu einem immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärt wurde.

In den 1950er-Jahren hatte mein Großvater das erste Kulturzentrum Ostturkestans gegründet, wo Muqam und andere traditionelle Kunstformen gelehrt wurden. Als Kind erschien mir jedes Wochenende in seinem Haus wie ein Festival. Aus der gesamten Region strömten Musiker herbei, um aufzutreten, ihre neuesten musikalischen Fertigkeiten vorzuführen, gemeinsam zu spielen und voneinander zu lernen. Schon als kleines Mädchen war ich extrovertiert und sang und tanzte ohne Scheu an der Seite der Profis. Sie waren stets freundlich und tolerant, und viele der traditionellen Lieder und Melodien habe ich gelernt, während ich neben ihnen auf dem Boden hockte. Als »blauäugiges« Mädchen ahnte ich weder, dass mein Drang zur »Bühne« mich irgendwann in die Welt hinaus, noch dass er letztendlich zur Trennung von meiner Familie und meinem geliebten Heimatland führen sollte.

Als wir noch klein waren, verbrachten mein jüngerer Bruder Kaisar, ich und unser Cousin Nijad (der Sohn einer meiner Lieblingstanten) viel Zeit im Haus meiner Großeltern. Nijad war drei Jahre älter als ich, und ich blickte zu ihm auf wie zu einem geliebten großen Bruder. Er kommandierte uns gerne herum, doch ich verzieh es ihm, weil er mich ja auch beschützte und aufpasste, dass ich keinen Ärger kriegte. Was jedoch meinen Bruder anging, so waren wir völlig unzertrennlich. War einer von uns in einem Raum, so konnte der andere nicht weiter als um die nächste Ecke sein. Auch altersmäßig waren wir uns so nah, dass man uns leicht für Zwillinge halten konnte.

Solange wir noch nicht zur Schule gingen, wurden wir tagsüber von unserem Großvater beaufsichtigt. In der uigurischen Gesellschaft entsprach das dem normalen Lebenszyklus: Wird ein Mensch älter, kümmert er sich um die Enkel, während die Kinder zur Arbeit gehen; und irgendwann werden dann auch die Kinder erwachsen und kümmern sich um ihre Eltern. Als wir klein waren, aßen wir oft im Haus der Großeltern, und sobald wir zur Schule gingen, verbrachten wir sämtliche Wochenenden dort. Fehlte einmal ein Familienmitglied bei einer Mahlzeit, fiel das auf und wurde bedauert. Im Uigurengebiet waren die Familienbande damals noch sehr eng und liebevoll. Wenigstens in unserer Familie.

Dieses Gemeinschaftsgefühl erstreckte sich über die eigene Familie hinaus auch auf die gesamte Nachbarschaft oder Mahalla. Meine Großmutter war eine ausgezeichnete Köchin und bereitete riesige Festmähler zu aus Chuchure (uigurischen Tortellini), Wan Tans (Teigtaschen) in dicker Brühe, gedämpften Hefebrötchen mit pikanter Kürbisfüllung, die Kawa Manta hießen, und Goshnaan, einem Fladenbrot, das mit Fleisch gefüllt und herrlich knusprig war. Was immer aber sie auch backte oder kochte, sie teilte es mit unseren nächsten Nachbarn in der Mahalla.

»Bring das zur Nachbarin«, befahl sie mir dann und reichte mir einen in ein Handtuch geschlagenen, dampfenden Teller. »Und pass auf, dass dir nichts runterfällt!«

Was ich, meist mit meinem Bruder im Schlepptau, nur zu gerne tat, denn als besonderen Dank für die Großzügigkeit meiner Großmutter steckten uns die Nachbarinnen stets Süßigkeiten zu.

Auch um die ärmeren Familien der Mahalla sorgte sich meine Großmutter. Damals hatte fast noch niemand fließendes Wasser im Haus; wir alle benutzen eine Gemeindepumpe im Freien. Und irgendwie wussten die Nachbarskinder, die daheim nicht satt wurden, dass sie, wenn sie meiner Großmutter einen Eimer Wasser vorbeitrugen, dafür Laghman bekamen, eine Portion frischer, hausgemachter, mit Fleisch und Tomaten gegarter Nudeln, die reichte, um ihre gesamte Familie zu verköstigen.

Meine Großeltern lebten im Uigurischen Kulturzentrum, in dem mein Großvater auch arbeitete. Das Gebäude des Zentrums hatte einstmals das Amerikanische Konsulat von Ürümchi beherbergt, das 1949, als die amerikanischen Beamten aus unserer Region flohen, geschlossen wurde. Mao Zedong hatte gerade erst die (bis heute bestehende) Volksrepublik China ausgerufen, was das Ende der Chinesischen Republik und den Beginn einer völlig neuen Ära in der chinesischen Geschichte bedeutete. Das Nutzungsrecht am früheren Konsulatsgebäude wurde meinem Großvater von Saifuddin Azizi übertragen, welcher in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Uigurischen Autonomen Gebiets Xinjiang zu einer der wichtigsten Figuren im Regionalparlament und zu einem Bindeglied zwischen der lokalen Regierung und der zentralisierten Kommunistischen Partei in Beijing wurde. Azizi fand, dass mein Großvater eine wesentliche Rolle im kulturellen Leben der Region spielte, weswegen er ihm und seiner Familie die Erlaubnis erteilte, dort zu wohnen.

Das einstige Konsulat war ein gigantischer Bau voller Möbel, welche die Amerikaner bei ihrer Flucht aus dem politischen Chaos zurückgelassen hatten. Im ersten Stock stand ein riesiger rechteckiger Tisch, an dem dreißig Leute Platz fanden. Wahrscheinlich hatte man ihn einst für wichtige Versammlungen genutzt; wir verwendeten ihn für die gewaltigen Festessen meiner Großmutter, wenn Gäste kamen. Das Haus war im russischen Stil erbaut – angesichts der Lage des Uigurengebiets nicht untypisch für diese Stadt – und hatte Backsteinmauern, glänzend gewienerte Holzböden und hohe Glasfenster. Die Mauern waren so dick, dass ich auf den Fenstersimsen spielen, ja, mich sogar auf einem davon zusammenrollen und ein Mittagsschläfchen halten konnte. Es gab luxuriöse Sessel aus Leder und Holz und wunderschöne Holzschränke. Uns selbst überlassen spielten wir Kinder oft ein uigurisches Spiel, das »Amsel« hieß und bei dem einer von uns die Rolle der Amselmutter übernahm, die ihre Jungen vor einem räuberischen Adler beschützt. Kaisar wollte immer nur den Adler spielen, der sich mit ausgestreckten Krallen auf uns herabstürzte, während wir uns kreischend vor Lachen und Schreck hinter die ausladenden Sessel flüchteten.

Auch einen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher hatten die amerikanischen Beamten dagelassen. Zu dieser Zeit hatten nur wenige in unserer Region Fernsehen, sodass zu irgendeinem Zeitpunkt immer sämtliche Nachbarn bei uns aufkreuzten, um mit uns fernzugucken. Zwar war der Empfang nicht perfekt, doch wir konnten uns uigurische Musik- und Tanzaufführungen ansehen, ebenso wie die regionalen Nachrichten auf Uigurisch. Auch kommunistische chinesische Filme mit uigurischen Untertiteln gab es, wie etwa Lei Feng über einen Revolutionshelden. Die mochten wir am wenigsten, und sobald einer von denen anfing, verzogen sich die Leute allmählich. Die chinesische Sprache und Kultur waren uns nicht völlig fremd, da sie zunehmend ins Innere Ürümchis vordrangen und unsere Mahalla umzingelten. Aber die chinesischen Geschichten und Lieder im Fernsehen waren so weit von unserer Alltagserfahrung entfernt, dass sich die Leute meist nicht besonders dafür interessierten.

Wir hatten auch ein Grammophon, das mein Großvater benutzte, um Musik zu hören. Manchmal kamen Leute vorbei und fragten, ob sie es sich nicht für eine Hochzeit ausleihen könnten, was mein Großvater jedoch meist ablehnte. »Das ist von der Regierung, es ist für meine Arbeit«, erklärte er ihnen dann düster. Er teilte gern, nahm seine Pflichten jedoch sehr ernst. Allerdings erinnere ich mich auch, dass meine Tanten bei ihren vielen Partys, die sie im Haus gaben, ihre Platten darauf spielten.

Durch seine roten Backsteinmauern und die hohen Fenster unterschied sich das Haus von allen anderen in Ürümchi. Damals bestanden noch viele Gebäude in den Wohnvierteln der Hauptstadt aus Lehmziegeln und waren um Höfe herum gebaut, die sich typischerweise nach Westen hin öffneten. Die Gassen waren eng und gewunden und staubig vom Sand, der von der Wüste hereingeblasen wurde. Aufgrund der isolierenden Wirkung der Lehmziegel waren diese Häuser im Winter leicht warmzuhalten und während der heißen Sommer wunderbar kühl. Die Mahallas waren mit Minaretten gespickt, von denen Muezzine die Menschen fünfmal am Tag zum Gebet riefen. Auf den Straßen tummelten sich stets Verkäufer, die frisch gebackenes Naan, getrocknete Früchte oder Töpfe und Pfannen feilboten, die sie häufig auf Eselskarren transportierten, mit denen sie durch die verwinkelten Gässchen zuckelten. Jede Straße, so schien es, führte zu einem Basar, in dem es alles zu kaufen gab, was das Herz begehrte, von duftenden Gewürzen bis zu farbenfrohen Stoffen oder auch zu einer ganzen gebratenen Ziege.

Unser Haus war schön, doch wie besonders es tatsächlich war, habe ich damals noch nicht verstanden: Es war ein Relikt alter sowjetischer Einflüsse, die zusammen mit einer einst beträchtlichen Minderheit von Russen vertrieben und verdrängt worden waren, als die KPCh die Kontrolle über die Region übernahm. Ich wusste nur, dass meine Großeltern gerne dort lebten. Doch 1982, als ich in die zweite Klasse ging, ließ die Regierung es abreißen. Meine Großeltern zogen in eines jener neuen modernen Apartmentgebäude, die mittlerweile überall in Ürümchi aus dem Boden schossen. Im gesamten Uigurengebiet wurden damals ältere Städte nach und nach »modernisiert«, was bedeutete, dass man ganze Mahallas voller alter Lehmziegelhäuser, die tausend Jahre gehalten hatten, dem Erdboden gleichmachte und billige Mietskasernen im chinesischen Stil hochzog. In Ürümchi, der Hauptstadt, entstand im Zentrum ein boomendes Han-Viertel, und die alte Architektur wurde durch rote Laternen, knallige chinesische Reklame und rote Banner mit politischen Parolen ersetzt. Die uigurischen Bewohner verdrängte man währenddessen aus der Stadtmitte an die weniger begehrten Ränder.

Viele dieser Veränderungen hatten mit dem gewaltigen Zustrom von Han-Chinesen in die Region und vor allem nach Ürümchi zu tun. Sie kamen sowohl wegen der Arbeitsmöglichkeiten als auch aus ideologischen Gründen, da die Regierung die Han ermunterte, nach Westen zu ziehen, um die Region zu »besiedeln und zu entwickeln«. Es war ein Trend, der sich im Lauf der Jahrzehnte nur noch beschleunigen sollte. In der gesamten Region stieg die Han-Bevölkerung von etwa zweihunderttausend Menschen im Jahr 1947 in nur fünfzig Jahren auf mehr als 7,5 Millionen. In Ürümchi wurden die Uiguren rasch zu einer Minderheit in ihrer eigenen Stadt. Im nördlichen Teil des Uigurengebiets war die Situation sogar noch extremer, da die KPCh das Wachstum des Bingtuan dekretierte und Wüste und Wildnis mittels äußerst umweltschädlicher Methoden in Ackerflächen verwandelte. Im Jahr 2012 kontrollierte der Han-Bingtuan mehr als dreißig Prozent der Anbauflächen auf unserem Territorium sowie einen Großteil seiner Wasserreserven, sodass für uigurische Bauern und Hirten nur noch sehr wenig übrigblieb.

Als sie das alte Konsulat abrissen, war mein Großvater ebenso aufgebracht über die Verwüstungen, die man der Stadt antat, wie darüber, dass man ihn aus seinem Haus vertrieb. »Also zerstören sie sogar ein Haus wie dieses!«, seufzte er und schüttelte den Kopf. »Nur noch weg mit dem alten Plunder, her mit dem Neuen – das ist heute die Devise.«

Zunächst fand ich es toll, meine Großeltern in ihrem hohen Apartmenthaus zu besuchen, aber nach dem Umzug wurde alles anders. Wo in der Mahalla die Türen stets für all unsere Nachbarn offen gestanden hatten – vor allem an den Feiertagen, wenn die Leute kamen, um Balpiranik, die fluffigen Honigkuchen meiner Großmutter, zu probieren –, blieben die Türen im Hochhaus stets verschlossen. Und ich selbst musste nun für den Fall, dass meine Großeltern nicht daheim waren, wenn ich nach der Schule zu ihnen kam, einen Schlüssel um den Hals tragen.

Da mehr Han-Chinesen zuzogen, waren die alten Viertel plötzlich voller Fremder, und das alte Gemeinschaftsgefühl, das die Mahallas verbunden hatte, war verschwunden. Man kannte sich nicht mehr, Fenster wurden vergittert, eiserne Sicherheitstüren eingebaut. Mit den Hochhäusern war das Straßenleben nur noch ein Schatten dessen, was es einmal gewesen war, und die alten Männer, die immer an den Straßenecken in Basarnähe beisammengesessen und Tee getrunken hatten, verzogen sich ins Innere der Häuser. Neue chinesische Restaurants entstanden nun in allen Straßen, doch da sie Schweinefleisch servierten und Gerichte, die nicht halal, also nicht nach den islamischen Reinheitsvorschriften zubereitet waren, sah man nie einen Uiguren dort essen. Die Stadt machte zunehmend den Eindruck, als bestände sie aus zwei verschiedenen Welten.

***

Mit unserem Umzug ins Hochhaus endeten auch die großen Feste meiner Großeltern voller Menschen und Gesang, voller Tanz und Unmengen an Essen und Trinken, bei denen meine Großmutter immer noch ein Gericht und noch eins und noch eins aufgetischt hatte. Was vor allem für die traditionellen Feiertage wie Eid al-Fitr am Ende des Ramadan galt, wenn die Leute vorbeikamen, um zu feiern und ihr köstliches Gebäck zu kosten.

An den Festtagen waren meine Eltern immer besonders glücklich. Jeder konnte sehen, wie tief verbunden sie einander waren, auch wenn meine Mutter meistens in der Küche stand und mein Vater im Wohnzimmer die nicht enden wollende Folge der Gäste und Verwandten begrüßte. Inzwischen sind sie die meiste Zeit ihres Lebens miteinander verheiratet gewesen, aber nicht einmal heute kenne ich die ganze Geschichte ihrer Ehe. Sie galt stets als zu privat, als dass man darüber gesprochen hätte. Wenn ich meine Mutter als Mädchen gefragt habe, wie es denn gewesen sei, als sie beide sich das erste Mal küssten oder mein Vater ihr seinen Heiratsantrag gemacht habe, errötete sie nur. Doch sie verriet mir, dass sie bei ihrer Hochzeit 19, mein Vater 24 gewesen sei. Meine Mutter hatte damals gerade erst begonnen, in einer Apotheke zu arbeiten, und mein Vater war im Regionalmuseum Xinjiang beschäftigt, das bedeutende Objekte der frühen uigurischen Vergangenheit beherbergte.

Meine Eltern wurden beide in Gulja-Stadt im nordwestlichen Teil Ostturkestans geboren, einer Gegend, die damals hauptsächlich von einer blühenden Gemeinschaft von Uiguren und Kasachen bevölkert war. Heute besitzt Gulja mehr als eine halbe Million Einwohner, damals war es noch sehr viel kleiner. Mein Vater, Abdulqeyyum Hoja, wuchs neben einem kleinen Obstgarten auf. Sein Vater verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf der Früchte, die er mit eigenen Händen darin anbaute. Es war ein einfaches Leben, und obwohl sie nicht viel Geld hatten, war die Familie glücklich. Aber die Mutter meines Vaters starb, als er fünfzehn war, und mein Vater wurde nach Ürümchi zur Schule geschickt. Im Überlandbus durch gebirgiges Gelände zur Hauptstadt zu gelangen, dauerte damals drei Tage. Wenige Jahre später studierte mein Vater schon an der Universität Xinjiang, und zwar im ersten offiziellen archäologischen Ausbildungskurs im Uigurengebiet.

Schon als Kinder waren meine Eltern Nachbarn gewesen, obwohl sie es damals nicht wussten. Sie lebten im selben Teil Guljas, doch weil meine Mutter, die man nach einer Wüstenblume Qimangul genannt hatte, sechs Jahre jünger war, bemerkte mein Vater sie nicht einmal. Nach 1958 aber wurde der Vater meiner Mutter zum Direktor des Uigurischen Kunstzentrums in Ürümchi berufen und zog mit seiner Familie in die Hauptstadt. Meine Mutter begann an der Medizinischen Universität Xinjiang in Ürümchi Pharmazie und Medizin zu studieren.

Damals tendierten die Leute dazu, mit anderen aus ihren Heimatstädten zusammenzukommen, die es wie sie in die Hauptstadt verschlagen hatte. So trafen sich auch die Studenten aus Gulja, um zusammen zu essen, Musik zu machen und in Erinnerungen zu schwelgen. Als er meine Mutter zum ersten Mal gesehen habe, behauptet mein Vater, habe er sich auf der Stelle in sie verliebt, weil sie so wunderschön war. Sie hatte langes schwarzes Haar, das ihr wie ein dichter, schwarzer Umhang bis in die Kniekehlen fiel. Die Aufmerksamkeit junger Männer war meine Mutter gewohnt. Mein Vater jedoch – so erzählte sie – habe sie bei ihrer ersten Begegnung derart angestarrt, dass sie ganz nervös geworden sei. Doch mein Vater war auch sehr geschickt auf der Dutar, einem traditionellen langhalsigen Zweisaiteninstrument mit mehr als tausendjähriger Geschichte. Wegen seines musikalischen Talents war er unter den Studenten aus Gulja sehr bekannt, und nach und nach gewann er ihr Vertrauen. Nach mehreren Treffen beschlossen sie, für immer zusammenzubleiben.

Sie waren erst kurz verheiratet, als 1966 die Kulturrevolution begann. Weil die Familie meines Großvaters Zikri al-Pattar hochgebildet war, nahm man sie für eine »Umerziehung« ins Visier. Die Kulturrevolution zerstörte mit voller Absicht in ganz China bildungsbedingte, kulturelle, gemeinschaftliche und familiäre Bindungen. Familien, vor allem solche, die als »anti-revolutionär« galten, etwa weil sie Land besaßen, wohlhabend, intellektuell oder in anderer Weise »verdächtig« waren, wurden auseinandergerissen. Kinder wurden ihren Eltern weggenommen, verheiratete Paare getrennt, und das gewöhnliche Leben kam praktisch zum Stillstand. Die Uiguren fanden, dass dieser ganze Aufruhr nur mit den Han und ihrer Kultur zu tun hatte und die Uiguren eigentlich gar nicht betreffen sollte. Doch die politischen Kräfte waren zu stark, als dass man sich ihnen hätte entziehen können, und keine der mehr als fünfzig ethnischen Minderheiten, die die KCh offiziell auswies – von den Tibetern auf der Hochebene des Himalaja bis zu den Hmong in Südwestchina –, entging dem Chaos.

Um die Menschen zu indoktrinieren, nagelte man Wandzeitungen voller Politparolen an öffentliche Anschlagtafeln, und eine gewaltige Massenbewegung zur Zerstörung der traditionellen Kultur setzte ein. In ganz China, auch in unserer Region, gerieten damals die »Vier Alten« unter Beschuss: alte Denkweisen, alte Kulturen, alte Gewohnheiten und alte Sitten. Eine der damals erlassenen Verordnungen besagte, dass alle Frauen sich die Haare abschneiden mussten. Als meine Mutter das hörte, begann sie zu schluchzen. Das war ein sehr persönlicher Eingriff, zumal gerade die Uiguren besonderen Wert auf langes, schönes Haar legten. Doch es gab kein Entkommen vor diesem Erlass, keine Ausnahme von der neuen Willkür-Regel.

Schließlich bat meine Mutter meinen Vater, ihr die Haare zu schneiden. Sie konnte die Vorstellung, dass ein Fremder es tat, nicht ertragen. Sie saß auf einem Stuhl in ihrer Küche, während mein Vater die Schere schwang. Später erzählte sie mir, er habe Stunden dafür gebraucht. Während er an ihrem seidigen dunklen Haar herumschnippelte, hat meine Mutter ihn zum ersten Mal weinen sehen.

Und dann wurden sie getrennt, so bald nach der Hochzeit, dass sie sich noch kaum ans Zusammenleben gewöhnt hatten. Mein Vater und mein Großvater wurden in die Kohleminen geschickt. Meine Mutter schickte man in die entgegengesetzte Richtung, nach Turpan, eine Kleinstadt zwei Stunden südöstlich von Ürümchi im Tarim-Becken, einer der tiefsten Senken der Erde. Obwohl sie mitten in der Taklamakan-Wüste liegt, ist die Stadt auch eine Oase und berühmt für ihre köstlichen Trauben, die man für den Hausgebrauch trocknet und zu einem Wein namens Museles keltert. Acht lange Jahre hat meine Mutter dort gearbeitet, auch als mein Vater schon längst nach Ürümchi zurückgekehrt war. Wie viele andere getrennte Familien fragten sie sich besorgt, ob sie denn je eine richtige Familie gründen und Kinder bekommen würden. Doch später in diesem ersten Jahr, nachdem Mutter meinen Vater in Ürümchi hatte besuchen können, stellte sie fest, dass sie schwanger war. Fern ihrer Familie und aller Freunde, arbeitete sie als Dorfärztin lange Stunden und häufig bis tief in die Nacht. Nicht lange zuvor hatte sie ihr Studium der Pharmazie beendet, doch da es im Dorf keinen Arzt gab, bot sie auch eine breite Palette medizinischer Leistungen an, einschließlich Entbindung und Geburtshilfe. Vertrauenswürdig jedoch waren laut der Ideologie der Kulturrevolution nur Leute ohne formale Bildung. Obwohl sie also gebildeter war als der übliche »Barfußdoktor«, den die KPCh zur ärztlichen Grundversorgung aufs Land schickte, musste sie dennoch sehr schnell sehr viel dazulernen.

Mein älterer Bruder wurde 1970 in Turpan als Siebenmonatsfrühchen geboren. Meine Mutter nannte ihn Khedirdin. Er war winzig, zerbrechlich und beängstigend blass. Brutkästen oder andere hochentwickelte medizinische Geräte, um Frühgeborene am Leben zu halten, gab es jedoch in den Dörfern damals nicht. Meine Mutter blieb bei ihm, hielt ihn im Arm und bemühte sich verzweifelt, ihn zu wärmen. Sie versuchte, ihn zu stillen, doch er hatte nicht einmal genug Kraft, um richtig zu saugen. Sie spürte, wie er ihr Stunde um Stunde weiter entglitt, und nach ein paar wenigen verzweifelten Tagen starb er in ihren Armen. Er wurde in Turpan begraben.

Danach achtete meine Mutter sehr darauf, bei den seltenen Besuchen meines Vaters keine weitere Schwangerschaft zu riskieren – bis man ihr schließlich erlaubte, nach Ürümchi zurückzukehren.

Jahre später fuhr meine Mutter mit mir in das Dorf, in dem sie zur Zeit der Kulturrevolution gearbeitet hatte. Ich war zehn oder elf und nie zuvor in Turpan gewesen. Es war sehr trocken und heiß, und die Sonne schien besonders hoch am Himmel zu stehen.

Bei unserer Ankunft kamen die Dorfbewohner aus ihren Häusern geströmt und brachten ihre Kinder mit, damit sie meine Mutter kennenlernten. Denn viele der Babys hatte sie, während sie dort lebte, eigenhändig entbunden.

Meine Mutter begrüßte alle wie lang vermisste Familienmitglieder. »Und wie heißt du?«, fragte sie ein Mädchen, das ihr ein Wüstenblumensträußchen überreicht hatte.

»Qimangul«, erwiderte die Kleine und errötete.

»So heiße ich auch«, rief ein anderes Mädchen.

Meine Mutter strahlte sie an.

Ich war völlig perplex. »Apa, warum heißen die denn alle wie du?«

Eine der Frauen ergriff meine Hand. »Weil wir deiner Mutter so dankbar waren für die Arbeit, die sie hier geleistet hat, und es ihr irgendwie zeigen wollten. Also haben wir unsere Töchter nach ihr benannt!«

Und da habe ich wohl zum ersten Mal begriffen, wie viel Respekt sich meine Mutter durch ihren unermüdlichen Einsatz und ihre Freundlichkeit erworben hatte. Nie hatte sie uns von alledem, was sie während der Kulturrevolution erlebt und erlitten hatte, erzählt, sodass ich bis zu meinem Besuch im Dorf nichts über ihr Leben dort wusste. Ihre Freunde im Dorf aber behandelten mich wie eine kleine Prinzessin, schenkten mir Süßigkeiten und machten mir Komplimente zu meinem glänzenden dunklen Haar. Meine Mutter führte mich durchs ganze Dorf und zeigte mir das Krankenhaus, in dem sie gearbeitet hatte, damals, als es noch eine winzige Krankenstation war.

»Ich habe da drinnen viele Babys entbunden«, sagte sie. Dann trübte sich ihr Blick. »Sogar noch, als ich mit deinem älteren Bruder schwanger war. Er fehlt mir immer noch.« Sie seufzte und strich mir übers Haar. »Aber du warst ein solches Gottesgeschenk, Gulchehra. Und so heiß ersehnt.«

Erst als meine Mutter nach dem Ende der Kulturrevolution die Erlaubnis erhielt, wieder nach Ürümchi zu meinem Vater und all ihren Verwandten zurückzukehren, wurde sie erneut schwanger. Und die ganze Familie trug sie auf Händen, wie eine Königin. Aus Angst, sie könnte das Baby verlieren, durfte sie im Haus keinen Handgriff mehr tun. Alle scharten sich um sie, um sicherzustellen, dass diesmal auch wirklich alles klappte.

Die Geschichte meiner Geburt hat mir meine Oma oft geschildert. Meine Eltern waren wegen einer Geburtstagsfeier im Haus eines Freundes. Plötzlich platzte bei meiner Mutter die Fruchtblase, und alles ging so schnell, dass sie ihre gesamten Wehen in dessen Haus durchstehen musste. Statt eines Arztes holten sie eine alte Hebamme mit mehr als dreißig Jahren Erfahrung. Als ich schließlich da war, wusch und reinigte mich die Hebamme und rief: »Sie ist ja so winzig, aber sowas von energisch! Und sie sieht aus wie ein Püppchen!«

Und so gab mir mein Großvater den Namen Gulchehra. Der Name besitzt einen Doppelsinn: er bedeutet Blume, aber auch etwas Schönes, etwas, das hoffen lässt. Es ist ein sehr seltener Name und nicht ganz leicht auszusprechen, auf Deutsch müsste man ihn etwa mit »Gulltschehra« wiedergeben. Ich hätte mir einen normaleren Namen gewünscht, doch meine Großmutter meinte dann immer: »Paperlapapp, der Name passt perfekt zu dir. Du bist unser wunderhübsches Blümchen.« Ich lernte meinen Namen zu schätzen. Während meiner gesamten Schulzeit und sogar an der Uni war ich meines Wissens die einzige Gulchehra weit und breit.

Als ich noch klein war, hütete mein Vater mich wie seinen Augapfel. Er wollte nicht, dass ich allein schlief, sodass er mich im Schlaf in den Armen hielt, bis ihm die Arme nachgaben. Als ich acht Monate alt war, wurde meine Mutter mit meinem jüngeren Bruder erneut schwanger und konnte mich nicht mehr stillen. Damals glaubte man, Ziegenmilch komme der Muttermilch am nächsten. Also schwang sich mein Vater auf seinen schweren schwarzen Drahtesel und radelte allmorgendlich etwa eine Stunde in ein nahegelegenes Dorf, um frische Ziegenmilch für mich zu besorgen. Das tat er, bis ich eineinhalb Jahre zählte, nur damit ich auch wirklich die Chance bekam, groß und stark zu werden.

Ich war ein zartes Kind von etwas zerbrechlicher Konstitution. Wann immer ich Husten oder Bauchweh hatte, machte mein Vater sich schreckliche Sorgen. Er tat alles, scheute keine Mühe, damit ich mich in Sicherheit befand und es mir gut ging.

Als ich sechs Jahre alt war, wurde unser Gebiet von einem Cholera-Ausbruch heimgesucht. Viele unserer Nachbarn erkrankten. Gleichzeitig konnte sich Hepatitis B unkontrolliert in der Region ausbreiten, und ich steckte mich in der Kita damit an. Ich verlor stark an Gewicht und lag monatelang im Krankenhaus. Meine Eltern hatten entsetzliche Angst, mich zu verlieren, wie schon meinen älteren Bruder. Jede freie Minute, die sie nicht arbeiteten oder schliefen, verbrachten sie im Krankenhaus, trösteten mich und sorgten dafür, dass ich die nötige Pflege erhielt.

Tag für Tag nahmen mir die Schwestern Blut ab, machten Tests. Oft weinte ich, wohl ebenso sehr aus Erschöpfung und Angst wie vor Schmerzen. Meine Venen waren so winzig, dass die Schwester, wenn sie eine Infusion legen wollte, in die große Vene an meinem Haaransatz stechen musste. Bewegte ich mich jedoch zu viel, wurde die Kanüle dabei herausgezogen, und sie mussten sie an anderer Stelle wieder hineinstechen. Manchmal hielt mein Vater die ganze Nacht lang meinen Kopf in seinen großen Händen, um sicherzugehen, dass die Nadel an Ort und Stelle blieb.

So bin ich aufgewachsen, im sicheren Wissen, dass meine Eltern mich liebten – und dass ich ringsum von einer starken Gemeinschaft umgeben war.

Manchmal weinte ich schon, wenn ich die Schwestern kommen sah, da ich wusste, dass sie mir etwas antun würden, das ich nicht wollte. Einmal, als ich besonders heftig schluchzte, sagte mein Vater: »Hör zu, kleine Blume. Wenn du lächelst, richtig lächelst, tut es nicht mehr so weh. Glaub mir.«

Ich glaubte alles, was mein Vater mir sagte. Sodass ich in der Folge, wann immer eine Schwester mit einer Nadel auftauchte, lächelte und mir einschärfte: Es tut nicht weh. Alles gut, es tut überhaupt nicht weh.

Und noch heute ertappe ich mich dabei, dass ich lächle, wenn ich innerlich aufgewühlt bin. Mein Vater bezeichnete es als »Sonnenschauer« und verglich es mit dem jähen Auftauchen der Sonne zwischen Regenwolken oder den seltenen Regengüssen des Wüstenklimas. Immer lächle ich mich durch den Schmerz. Und jedes Mal, wenn ich während eines Regenschauers den Sonnenschein erblicke, denke ich an meinen Vater.

***

Von meinem Großvater habe ich die Kultur unseres Volkes geerbt, von meinem Vater unsere Geschichte gelernt. Vor seiner Pensionierung war mein Vater ein hochangesehener Archäologe, und das Museum, in dem er arbeitete, mein zweites Zuhause. Von Kindesbeinen an habe ich bei ihm die Kultur und Geschichte meiner uigurischen Heimat aufgesogen. Das Museum beherbergte bedeutende Objekte, unter anderem die Loulan-Mumie, eine Frau aus uralten Zeiten, die sich dank des trockenen Wüstenklimas in der Nähe ihrer einstigen Grabstätte, eines Salzsees, konserviert hatte. Die Gesichtszüge der Mumie und ihre DNA sind indoeuropäisch, nicht chinesisch, ein Hinweis auf den einzigartigen ethnischen Hintergrund der Menschen Ostturkestans. 1980, als mein Vater die Mumie zu untersuchen begann, kam er mit glänzenden Augen nach Hause und erzählte mir: »Heute habe ich deine Urururururururgroßmutter gesehen! Und sie ist wunderschön, genau wie du.«

Eine meiner Tanten war Museumsführerin, und als kleines Mädchen folgte ich ihr häufig auf Schritt und Tritt, ahmte ihre Gesten nach und hoffte, eines Tages auf ähnliche Weise die Aufmerksamkeit der Menschen fesseln zu können. Jeden Gegenstand im Museum prägte ich mir ein, bis ich ihn auswendig kannte.

Zu dieser Zeit war das Uigurengebiet noch zugänglich für Fremde, und es kamen viele Besucher aus Japan, Hongkong und ganz China in unser Museum. Die KPCh förderte den Tourismus als eine Möglichkeit, Einnahmen und Interesse zu generieren, wobei sie stets den Anspruch der Han auf das Gebiet betonte. Eine Zeitlang war unsere Region ein beliebtes Reiseziel: Abgelegen und wunderschön, voller alter Geschichte und Ruinen, wurde sie nicht zuletzt wegen ihrer einstigen Bedeutung an der Seidenstraße verklärt. Manchmal wollten Touristen Fotos mit mir machen – wohl weil ich mit meinen dunklen Zöpfen, den strahlenden Äuglein und rosigen runden Wangen das perfekte kleine Uigurenmädchen für sie verkörperte. Ich hüpfte meiner Tante hinterher und plapperte ungehemmt und ohne jede Scheu mit den Fremden.

Als ich in die Schule kam, war ich ein extrovertiertes, lebhaftes Kind und fand rasch Freunde. Während der 1970er- und 1980er-Jahre waren die Grundschulen Ürümchis nach Sprachgruppen aufgeteilt, sodass es unterschiedliche Schulen für chinesisch-, uigurisch- und kasachischsprachige Schüler gab. In manchen Gegenden wurden die Schulen auch zusammengefasst: Dann hatten Han-Schüler ihre Klassen auf einer Seite des Gebäudes, wo sie auf Chinesisch unterrichtet wurden, und uigurische Schüler ihre auf der anderen Seite, wo der Unterricht – mit Ausnahme des Pflichtfachs Chinesische Sprache – auf Uigurisch stattfand. Jedes Kind wurde in eine Klasse gesteckt, und jede Klasse bekam einen Lehrer, der alle Fächer von der ersten bis zur fünften Klasse unterrichtete, und dann einen anderen, der sie dann von der sechsten bis zu achten Klasse übernahm. Die Schüler der jeweiligen Kohorten lernten sich so gut kennen, dass sie fast zu einer zweiten Familie füreinander wurden.

Weil ich in der Grundschule gut war, wurde ich aus meinem Viertel ausgewählt, um eine der akademisch anspruchsvollsten Mittelschulen unserer Stadt zu besuchen. Das war zwar eine Ehre, wie meine Eltern gerne betonten, doch es bedeutete auch, dass ich jeden Morgen eine geschlagene Stunde im Bus verbringen musste, um zur Schule zu kommen. Ich musste vor allen anderen in der Familie aufstehen, um mich fertigzumachen und dann die elf Haltestellen vom Museum bis nach Yan’an Lu zurückzulegen, wo sich meine Schule befand. Für ein Kind war das eine Ewigkeit. Die Versuchsschule nahm nur die besten Schüler aus Ürümchi und dem Umland auf, und wie ich bald erfahren sollte, war ich nicht die Einzige, die fleißig lernen konnte. Nach dem ersten chinesischen Sprachtest wurden unsere Ergebnisse an der Tafel ausgehängt – damals kam es nur auf die Noten an –, und mein Name erschien erst ganz am Ende der Liste auf dem 27. Platz.

Chinesisch zu lernen, machte mir keinen Spaß. Es gehört einer völlig anderen Sprachfamilie an als das Uigurische, das eng mit dem Türkischen verwandt ist und eine vom arabischen Alphabet abgeleitete Schrift verwendet. Während Han-Kinder in Ürümchi ihre gesamte Schulzeit absolvieren konnten, ohne je eine der regionalen Sprachen zu erlernen, mussten uigurische Kinder Chinesisch als Fremdsprache pauken. Manche Eltern drängten ihre Kinder, möglichst gut Chinesisch zu lernen, da viele Arbeitsplätze die fließende Beherrschung der Sprache voraussetzten. Besorgungen und Geschäfte im Viertel konnten auf Uigurisch abgewickelt werden, und natürlich sprachen wir zu Hause und in den Basaren und Läden alle Uigurisch, doch wichtigere Angelegenheiten wurden häufig auf Chinesisch verhandelt.

An diesem Abend beichtete ich meinen Eltern beim Essen beschämt mein Testergebnis. Kaisar prustete leise, worauf ich ihm einen Tritt unter dem Tisch versetzte.

Mein Vater gab seiner Enttäuschung mit einem leichten Kopfschütteln Ausdruck. Dann lächelte er leise und meinte: »Verstehe. An deiner alten Schule gab es keine Konkurrenz. Und du hast dich nicht besonders anstrengen müssen, was? Nun ja, dann schau mal, wie weit du an der neuen damit kommst.«

»Bei der nächsten Klassenarbeit schneidest du sicher besser ab«, meinte meine Mutter und fuhr mir beruhigend übers Haar.

»Aber Chinesisch ist langweilig!«, platzte es aus mir heraus.

Meine Eltern sahen sich an.

»Mag ja sein, Gul, und niemand wird von dir oder deinem Bruder verlangen, es zu Hause zu sprechen«, erklärte mein Vater bestimmt. »Aber wir sind mittlerweile von Chinesen umgeben. Wenn du Erfolg haben willst, musst du es können.«

Am Ende des Jahres gehörte ich durchweg zu den zehn Besten meiner Klasse, wenn ich auch nie die Beste war. Diese Ehre gebührte einem Mädchen namens Mukerem. Ihr Vater war ein bekannter Geschäftsmann, und stets kam sie in nagelneuen Kleidern zur Schule. Alles an ihr war zart und präzise: Sie war groß, dünn, ihre Haut weiß wie Sahne. Sie achtete auf peinlich saubere Kleidung, und mich verblüffte, dass nicht mal ihre Socken je schmutzig zu werden schienen. Meine rutschten mir immer runter und waren sofort dreckig, sobald ich in der Pause im Schulhof herumtanzte.

Mir war nicht so wichtig, ob ich Klassenbeste war; ich war mit so vielem anderen beschäftigt. Ich nahm an Gesangsgruppen und Tanzwettbewerben teil und begann sogar, kleine Preise für meine Auftritte einzuheimsen. Ich biss die Zähne zusammen und wurde gut in Chinesisch, doch das einzige Fach, in dem ich wirklich Probleme hatte, war Algebra. Irgendwie kam ich mit den Gleichungen einfach nicht klar, und meine Gedanken schweiften ab zu interessanteren Dingen – zu der Choreografie, die ich gerade einübte, oder einem neuen Song, den eine meiner Freundinnen mir beigebracht hatte.

Eines Nachmittags machte ich bei meiner Großmutter meine Mathe-Hausaufgaben, und bei einem besonders schwierigen Problem knallte ich frustriert meinen Stift in die Ecke.

»Gul, Schätzchen, was hast du denn?«, fragte meine Großmutter.

»Ich hasse Algebra!«, erklärte ich.

»Aber Algebra ist doch ein ganz wunderbares Fach! Wenn du Algebra verstehst, verstehst du auch ganz viele andere Dinge.« Sie setzte sich neben mich. »Zeig mir dein Problem, und wir lösen es gemeinsam.«

Am nächsten Tag nach Schulschluss rief mich mein Mathelehrer zu sich ans Pult. Er galt als einer der strengsten und unsympathischsten Lehrer der Schule. Vor ihm lag meine Mathe-Hausaufgabe und er deutete auf die Zahlen. »Wer hat denn diesmal die Hausaufgabe für dich gemacht, Gulchehra?«

Ich senkte den Blick.

»Es ist deine Handschrift, sicher, aber ich weiß, dass es nicht deine Arbeit ist. Das sind alte deutsche Techniken.«

»Es ist meine Arbeit«, widersprach ich.

Er zog die Braue hoch.

»Aber ich hatte Hilfe«, räumte ich ein. »Von meiner Großmutter.«

Er stand auf. »Bring mich zu ihr.«

Ich fühlte mich miserabel, als wir die paar Blocks von der Schule zur Wohnung meiner Großeltern zurücklegten.

Dort angekommen, klopfte ich, anstatt einfach einzutreten wie sonst.

Meine Großmutter öffnete uns in ihrem üblichen schlichten knöchellangen Kleid und einem schmucklosen Baumwoll-Hidschab. Als sie den Mann erblickte, schob sie ein paar lose Haarsträhnen unter den Rand ihres Kopftuchs. Sie sah mich an und blinzelte aus ihrer bescheidenen Höhe zu meinem Lehrer hinauf. Dann lachte sie. »Oje, steckst du etwa in Schwierigkeiten?«

Meine Mathelehrer stellte sich vor, und meine Großmutter lud ihn zu Tee und getrockneten Früchten ein. Zu meiner Überraschung saßen sie dann im Wohnzimmer und unterhielten sich wie alte Bekannte. Nach einer Weile langweilte ich mich und haute ab, ich war einfach erleichtert, dass ich nun offenbar nicht mehr mit einer Strafe rechnen musste.

Am nächsten Tag rief mich mein Lehrer ans Pult und meinte: »Weißt du eigentlich, Gulchehra, von wem du abstammst?«

Ich kannte zwar die Namen meiner sämtlichen Großeltern, aber ich war mir nicht sicher, ob er das gemeint hatte, sodass ich nur den Kopf schüttelte.

»Du bist die Urenkelin des ersten Algebra-Lehrers im Uigurengebiet! Hast du gestern aufgepasst, was deine Großmutter mir erzählt hat?«

Ich musste zugeben, dass ich nicht wirklich zugehört hatte. Soweit ich wusste, kochte und putzte meine Oma für meinen Großvater, kümmerte sich um uns Enkel und verbrachte den ganzen Tag in der Küche. Für mich war sie nur eine ganz gewöhnliche Hausfrau.

Er seufzte. »Ihr Kinder habt ja keine Ahnung von eurer eigenen Geschichte. Dein Urgroßvater hat die erste Schule in Gulja gebaut. Er war ein bedeutender Mann. Ende des 19. Jahrhunderts ging er nach Istanbul, um dort Erziehungswissenschaften zu studieren, und brachte so viele deutsche und türkische Bücher mit, wie er nur konnte, um die Kinder hier mit dem neuen Wissen in Berührung zu bringen. Mit diesen Büchern unterrichtete er zunächst seine eigenen fünf Kinder, wobei deine Großmutter vor allem in Algebra und Geografie brillierte. Als ihr Vater dann seine Schule eröffnen konnte, begann sie, die jüngeren Schüler in Algebra zu unterrichten. Was sie zur Mutter all der Mathematiklehrer macht, die nach ihr gekommen sind.« Er schüttelte den Kopf. »Und du sagst, du kannst Mathe nicht leiden! Hör mal auf deine Großmutter und löse die Aufgaben so, wie sie es dir sagt.«

Es dauerte ein paar Tage, doch schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte meine Oma nach ihrer Zeit als Lehrerin. Da sie eigentlich nie über ihre Vergangenheit oder ihr Leben vor meinem Großvater sprach, wusste ich nicht, wie sie darauf reagieren würde.

Langsam ließ sie den Lappen sinken, mit dem sie gerade die Tischplatte abwischte. »Ja, es stimmt, ich habe jahrelang unterrichtet, als ich noch jünger war, an der Schule, die dein Urgroßvater gegründet hat. Die Nijad-Schule. Dein Cousin ist nach ihr benannt. Weißt du, was der Name bedeutet? Rettung. Weil nämlich unsere Kultur unsere Rettung ist. Verstehst du?« Sie sah mich ernst an.

Ich nickte.

Es gab so vieles in meiner Familie, von dem ich nichts wusste. Jahre später erfuhr ich, dass mein Urgroßvater auch tausend Hektar Land gekauft hatte, um darauf archäologische Grabungen durchzuführen und womöglich einen der Enkel Dschingis Khans auszubuddeln. Er fand tatsächlich ein Grab, das, wie man annahm, einem von Khans Nachfahren, Tughlugh Timur Khan, gehörte. Und es befand sich auf dem Land unserer Familie, welches allerdings später von kommunistischen Truppen besetzt und noch später in eine Touristenattraktion verwandelt wurde. Wie viele Orte von historischer und kultureller Bedeutung für die Uiguren, wurde es von den chinesischen Behörden beschlagnahmt, um damit Geld zu machen, es propagandistisch auszuschlachten und die Bedeutung des gewaltigen uigurischen Turk-Erbes, für das es steht, herabzusetzen. Mein Urgroßvater wurde von der chinesischen Regierung hingerichtet, weil er ein Befürworter uigurischer Unabhängigkeit und freier Bildung war. In seiner Schule wurden Fächer wie Arabisch, die allgemeine Geschichte des Islam, uigurische Sprache, der Koran, Mathematik, Naturwissenschaften und Kunsthandwerk unterrichtet. In den 1920ern und ein weiteres Mal im Jahr 1934 wurde er von den chinesischen Behörden verhaftet, weil er Uiguren in ihrer eigenen Kultur unterrichtete und als Berater Ehmetjan Qasimis diente, des damaligen Präsidenten der zweiten, 1944 gegründeten Ostturkestanischen Republik. Damals kämpfte meine uigurische Heimat mit Aufständen und militärischen Aktionen um ihre Unabhängigkeit von China. Da die Chinesen damit beschäftigt waren, sich gegenseitig zu bekriegen, gründeten Uiguren, Kasachen und andere Gruppen im Jahr 1933 die erste Ostturkestanische Republik inklusive eigener Verfassung und Armee. Doch im Laufe der nächsten beiden Jahrzehnte gelang es den Han, auf gewaltsamem Wege die Kontrolle über die Region zurückzuerlangen, wobei Hunderttausende von Menschen getötet wurden. Mein Urgroßvater hatte meiner Großmutter viele Bücher und Briefe aus dieser Zeit hinterlassen, die sie in einem großen Holzkoffer versteckt aufbewahrte. Während der Kulturrevolution jedoch, als die Kommunisten jedes Haus durchsuchten und alles von kultureller Bedeutung, das sie finden konnten, zerstörten, waren sie nicht zu retten.

Zu erfahren, wie lange sich meine Familie bereits für Bildung – und nicht nur ihre eigene, sondern die aller Uiguren – stark machte, erweckte in mir den Wunsch, bei allem, was ich mir vornahm, mein Bestes zu geben. Doch trotz meiner Bemühungen, mich hinter meine Bücher zu klemmen, war und blieb es das Tanzen, das mir wirklich am Herzen lag.

Tanz ist im uigurischen Leben allgegenwärtig. Ohne Musik können wir nicht sein; sie ist für unser soziales und emotionales Leben zentral. Jeder Uigure hat mindestens ein Instrument in seinem Haus, meist die Dutar. In uigurischen Wohnungen hängt sie oft an der Wand, wo sie allerdings nur selten Staub ansetzt. Mein Großvater war ein Meister der Dutar, und auch meine Eltern beherrschten sie beide ziemlich gut. Wenn sie sich froh oder deprimiert fühlten oder sich einfach nach dem Essen ein wenig Unterhaltung verschaffen wollten, nahm einer von ihnen sie von der Wand und spielte und sang.

Der Tanz ist die natürliche Begleitung der Musik, die unser Leben erfüllt. Es gibt ein altes uigurisches Sprichwort, demzufolge ein Kind, sobald es spricht, auch singen und, sobald es läuft, auch tanzen kann. Was auf mich mit Sicherheit zutraf.

Nach Beendigung der Mittelschule machte ich die Aufnahmeprüfung für die Oberschule mit künstlerischem Schwerpunkt. Als ich hörte, dass man mich auf der Kunstschule für den Bereich Tanz angenommen hatte, wollte ich nur noch auf diesen Zweig. Professionelle Tänzerin zu werden, erzählte ich meinen Eltern, sei mein größter und sehnlichster Wunsch. Worauf meine Eltern mir nur erwiderten, sie wollten es sich überlegen.

Als mein Großvater von meinen Ambitionen hörte, riet er meinem Vater ab: »Lass sie bloß nicht Tänzerin werden. Sie muss auf eine gute Schule gehen, fleißig lernen und einen vernünftigen Beruf ergreifen.«

Als mir mein Vater seine Entscheidung mitteilte, brach ich prompt in Tränen aus.

»Weine nicht, meine Tochter«, meinte er sanft. »Ich weiß, momentan tut das weh, aber dein Großvater hat recht. Deine Ausbildung hat einfach Vorrang.«

Und so durfte ich nicht aufs musische Gymnasium in Ürümchi, sondern wurde stattdessen auf die Oberschule mit dem höchsten akademischen Anspruch geschickt. Und als mich ein Jahr später eine bekannte Tanzschule in Shanghai einlud, um dort zu studieren, verhinderte mein Vater auch dies. Bei einigen der örtlichen Tanzgruppen ließen meine Eltern mich zwar mitmachen, aber nur, wenn es mich in schulischer Hinsicht nicht beeinträchtigte. Stattdessen hockte ich daheim über meinen Hausaufgaben.

Damals konnte ich das alles nicht verstehen. Tanz und Musik waren doch immer so wichtig für uns Uiguren; Künstler sind hoch angesehen – mein Großvater war der lebende Beweis dafür. Gibt man ihnen auch nur den geringsten Anlass, dann tanzen die Uiguren. Sie tanzen auf Hochzeiten, bei Festen, zu jedem freudigen Anlass. Die Choreografie kann äußerst schwierig sein oder aus Variationen auf einem Thema beruhen, mit komplizierten Schrittfolgen und Rhythmen und anmutigen Armbewegungen. Viele der Tänze ahmen alltägliche Handlungen nach wie das Tragen von Schüsseln oder die Bewegungen von Tieren, und häufig nehmen sie die Form eines Reihentanzes an. Oft gibt es auch formellere Tanzabende und -aufführungen, ob in Gruppen von Männern, Frauen oder als Soloauftritte. Fasziniert verfolgte ich diese Vorführungen, völlig in den Bann geschlagen vom goldenen und roten Gewand der Tänzerin und den präzisen, fließenden Wellenbewegungen der Hände und Arme über ihrem Kopf.

Ich weiß nicht, wie ich es schaffte, meine Noten zu halten, während ich einen Gutteil der Unterrichtsstunden Tagträumen nachhing, in denen ich eine berühmte Tänzerin war. Wenn ich dann aber aufpasste, hörte ich zuweilen Dinge, die ich nicht nachvollziehen konnte, vor allem in der Geschichtsstunde. Ich mochte unseren Lehrer – einen dicken Uiguren mit freundlichen Augen – doch oft stand das, was er sagte, in direktem Widerspruch zu dem, was mein Vater mich gelehrt hatte. In meinem ersten Oberschuljahr erzählte er uns eines Tages unter Zuhilfenahme des Geschichtsbuchs, wie unsere Leute einst gemeinsam mit den Han und anderen ethnischen Gruppen aus der Mongolei hierhergekommen seien.