Der dunkle Hirte - Martin Schmitz - E-Book

Der dunkle Hirte E-Book

Martin Schmitz

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Beschreibung

Die Berichte über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche reißen nicht ab. Über die schleppende Aufarbeitung wird hitzig diskutiert, die Anzahl der Kirchenaustritte erreicht immer neue, traurige Rekorde. Die Opfer treten kaum in der Öffentlichkeit auf, zu tief sitzen oftmals Schmerz und Scham. Jetzt bricht der ehemalige Ministrant Martin Schmitz das Schweigen. Auch er hat einen langen Leidensweg hinter sich und wurde jahrelang von einem pädokriminellen Priester missbraucht. Erschreckenderweise war der Täter im Bistum Münster für sein übergriffiges Verhalten bekannt, dennoch wurde nichts unternommen. Höchste Zeit, das gnadenlose System des Vertuschens und Verheimlichens aufzudecken!

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Seitenzahl: 280

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumDanksagungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Epilog

Über dieses Buch

Die Berichte über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche reißen nicht ab. Über die schleppende Aufarbeitung wird hitzig diskutiert, die Anzahl der Kirchenaustritte erreicht immer neue, traurige Rekorde. Die Opfer treten kaum in der Öffentlichkeit auf, zu tief sitzen oftmals Schmerz und Scham. Jetzt bricht der ehemalige Ministrant Martin Schmitz das Schweigen. Auch er hat einen langen Leidensweg hinter sich und wurde jahrelang von einem pädokriminellen Priester missbraucht. Erschreckenderweise war der Täter im Bistum Münster für sein übergriffiges Verhalten bekannt, dennoch wurde nichts unternommen. Höchste Zeit, das gnadenlose System des Vertuschens und Verheimlichens aufzudecken!

Über den Autor

Martin Schmitz wurde 1961 in Rhede geboren. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und führt einen Handwerksbetrieb. Weiterhin leitet er eine Selbsthilfegruppe und arbeitet im Bundesausschuss zur Aufarbeitung der Missbräuche in der katholischen Kirche mit.

MARTIN SCHMITZ

Der dunkle Hirte

Vom Priester missbraucht.Mein Kampf für Aufklärungund Gerechtigkeit

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

In diesem Buch geht es um sexualisierte Gewalt und Suizidgedanken. Hilfe finden Betroffene und Angehörige etwa bei der anonymen Telefonseelsorge unter den Rufnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Matthias Auer, Bodman-Ludwigshafen

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngenunter Verwendung von Motiven von © Volker Görtz /EyeEm /GettyImages

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2890-4

luebbe.de

lesejury.de

Mein Dank gilt meiner Frau Anke und meinen Söhnen Brune und Campo, ohne die es mich heute nicht mehr geben würde:A, B, C plus M

Kapitel 1

Was war das denn? Ich zucke zusammen und habe Angst, rot anzulaufen. Wir halten unser Messdienertreffen im Büro des Pfarrhauses »Zur Heiligen Familie« in meiner Heimatstadt Rhede ab – und unser Kaplan Pottbäcker hat mich gerade zur Begrüßung auf den Mund geküsst.

Unsicher sehe ich mich um. Hat es jemand gesehen? Was sollen denn die anderen denken?

Verstohlen wische ich mir mit der Hand über die Lippen und fühle, dass sie noch nass von seinem Speichel sind. Es ist ekelig, und ich putze mir schnell die Hand an meiner Hose ab.

Was soll das? Warum küsst er mich? Er, der Priester, der unsere Messe hält und den alle bewundern.

»Überlegt euch dann bitte, was wir in der heutigen Gruppenstunde singen wollen, und lasst mich wissen, für welche Sportart ihr euch nachher entschieden habt. Wie wär’s mit Fußball? Also, ich bin sehr gespannt auf eure Vorschläge, gleich geht’s los …«

Kaplan Pottbäcker holt seine Gitarre aus dem Nebenraum und spielt als Einstieg unser Lieblingslied:

When I find myself in times of trouble

Mother Mary comes to me

Speaking words of wisdom

Let it be.

Wir sind heute nur eine kleine Gruppe von fünfzehn Messdienern, sitzen im Halbkreis auf dem Boden und singen hingebungsvoll den berühmten Beatles-Hit.

And in my hour of darkness

She is standing right in front of me

Speaking words of wisdom

Let it be.

Unser Kaplan hockt lässig auf seinem Bürostuhl, ein Bein abgestützt an einem Tischchen, und gibt den Ton an. Er singt inbrünstig den Text und spielt dazu auf seiner Gitarre.

Es ist ein milder Frühsommernachmittag. Die Fenster sind weit geöffnet, und wir können das benachbarte Pfarrheim und den Kindergarten sehen.

Der Himmel ist tiefblau, die Vögel zwitschern, und es riecht nach frischem Grün.

Kaplan Pottbäcker zaubert auch heute wieder mit seiner Gitarre eine unvergessliche Stimmung, die es erst gibt, seitdem er bei uns ist und die keiner von uns insgesamt vierzig Messdienern bislang so kannte.

Kaplan Pottbäcker bringt nicht nur Leichtigkeit in unsere Freizeiten, er nimmt uns ernst, hört zu, weiß Rat. Jede Stunde mit ihm ist besonders und einfach schön.

»So, Jungs, noch einmal«, kündigt er eine weitere Zugabe an, und ich schließe die Augen und möchte die Welt anhalten, so außergewöhnlich ist der Moment.

Ich bin seit zwölf Monaten dabei, und mit zehn Jahren einer der Jüngeren, kenne mich aber in den liturgischen Abläufen bereits gut aus und helfe genauso oft bei den Messen wie die Älteren. Aber seitdem Kaplan Pottbäcker bei uns ist, fühle ich mich noch sicherer, denn er lobt mich oft und scheint viel von mir zu halten.

»Der bevorzugt dich doch eindeutig …«, hat mir erst kürzlich einer der Jungs zugezischt, und er schien richtig eifersüchtig zu sein. Und Thomas, einer meiner Freunde, meinte: »Du bist der Liebling des Kaplans!«

Ich weiß nicht, ob das so ist und ob er mich deshalb geküsst hat, aber er hat mich kürzlich schon die Altarkerze tragen lassen, obwohl das sonst eigentlich die Älteren unter uns machen.

Vielleicht mag er mich wirklich. Sicher ist, dass auf jeden Fall ich ihn mag. Er ist klasse!

»Mein lieber Martin, du hast ganz wunderbar gesungen!«, lobt er mich jetzt vor all den anderen.

Thomas knufft mir in die Seite. »Natürlich, du wieder«, flüstert er mir zu und grinst mich verstohlen an.

Ich muss schmunzeln, aber ich finde wirklich, dass ich ganz gut gesungen habe.

»So, Jungs, jetzt machen wir Schluss für heute, und ich freue mich schon, wenn wir uns alle das nächste Mal wiedersehen.«

Kaplan Pottbäcker lächelt uns an, sucht mit jedem von uns kurz Augenkontakt. Das ist auch so eine Eigenart, die ich an ihm schätze: Man fühlt sich von ihm wahrgenommen. Das ist einfach toll.

»Kommt gut nach Hause, bis Donnerstag, gleicher Ort, gleiche Zeit«, ruft er uns zum Abschied zu.

Als wir aufstehen und unsere Sachen zusammensuchen, steht er plötzlich hinter mir und schlingt völlig unvermittelt beide Arme um mich.

Ich bin über die erneute Nähe sehr irritiert und sehe ihn überrascht an. Er wird mich doch nicht wieder küssen?

»Bis dann, Martin«, sagt er lachend und gibt mir zum Glück nur einen Klaps auf den Rücken, bevor er mich auf den Flur schiebt.

Der Kuss, die körperliche Nähe, ich schäme mich richtig und möchte schnell weg. Doch Kaplan Pottbäcker ruft mich und zwei weitere Jungs noch einmal zurück.

»Kommt ihr drei noch einmal mit bitte, es ist so schön draußen. Lasst uns noch eine Partie Tischtennis spielen.«

»Ich habe keinen Schläger«, sage ich kleinlaut, während die anderen ihre mitgebrachten Utensilien auspacken.

»Du hast keinen Schläger?«, wiederholt der Kaplan meine Antwort. »Dann warte mal«, meint er lächelnd, öffnet eine Anrichte und drückt mir einen nagelneuen Schläger in die Hand. »Jetzt hast du einen.«

»Wie, kann ich den benutzen …?«, frage ich unsicher.

»Er gehört dir«, sagt er lächelnd und nickt mir zu. »Ein Geschenk der Kirche. Also los, wir starten.«

»Echt jetzt?« Ich kann es kaum glauben.

»Ganz echt, aber jetzt komm, und zeig, was du draufhast.«

Ich spiele an diesem Nachmittag wie ein kleiner Weltmeister, und das liegt nicht nur an meinem funkelnagelneuen Schläger, nein, ich fühle mich auch wertgeschätzt, gesehen und anerkannt. Ich fühle mich prächtig und genieße die Zeit beim Tischtennis, nicht zuletzt, weil Kaplan Pottbäcker das Doppel mit mir spielt.

Er ist der beste Kaplan, den man sich vorstellen kann, und wir alle hier bewundern ihn. Natürlich finde ich es toll, dass er mich mag, vielleicht sogar ein bisschen mehr als die anderen. Ja, ich bin stolz darauf.

Wenn es nur diesen ekligen Kuss auf den Mund nicht gäbe. Das irritiert und belastet mich, weil ich mir keinen Reim darauf machen kann.

Als ich nach Hause gehe, vergesse ich mein unangenehmes Gefühl, denn ich treffe ein paar Jungs, mit denen ich noch auf der Straße kicken kann. Aber abends, allein in meinem Bett, geht mir der Kuss nicht mehr aus dem Kopf, und ich denke daran, wie ich zu Kaplan Pottbäcker kam …

*

Ich lebe mit meinen Eltern und meinen vier Geschwistern auf einem Bauernhof am Ortsrand von Rhede. Ursula, die Älteste von uns Kindern, ist zwei Jahre älter als ich, nach mir kommen noch Magdalena, Michael und Dieter. Mein Vater Josef ist eigentlich Schreiner, arbeitet aber als Betonbauer und Einschaler im Brückenbau. Meine Mutter Adelheid kümmert sich um den Hof, den Haushalt und um uns Kinder.

Mein Vater ist im Prinzip in Ordnung. Er ist ein recht kleiner, schmaler, fast schon schmächtiger Mann, der eher leise durchs Leben geht. Er hält sich gern zurück und aus Problemen heraus – und wirkt immer ein bisschen wie vom Leben gezeichnet. Ich glaube, er hatte es nicht leicht mit meiner Oma, von der er den Hof erbte.

Meine Mutter ist das Gegenteil von ihm, resolut und durchsetzungsstark. Sie gibt in unserer Familie den Ton an, hält das Geld zusammen und organisiert das Familienleben. Sie führt uns alle durch den Alltag, und das macht sie auch gut. Jeder Tag ist straff organisiert. Bei uns ist immer viel zu tun, und jeder packt mit an: Wir Kinder helfen im Haushalt, füttern die Tiere, sammeln auf dem Feld Kartoffeln ein, pflücken Äpfel, kochen Marmelade und Saft und unterstützen meinen Vater dabei, das Haus in Schuss zu halten.

Ich liebe es, mit ihm unterwegs zu sein, wenn es auf dem Hof etwas auszubessern gibt. Als ältester Sohn bin ich seine rechte Hand und lerne früh, wie erfüllend es ist, wenn man mit den Händen arbeitet und hinterher sieht, was man geschaffen hat. Wir arbeiten viel am Haus, bessern Fenster aus, erneuern Balken und werkeln am Grundstück an den Zäunen. Es ist schön, wenn wir gemeinsam in der Natur sind, uns mit wenigen Worten austauschen, uns Werkzeuge reichen, Material geben. Es genügen kleine Signale, ein Nicken, eine Handbewegung, und wir verstehen uns.

Ich fühle mich in diesen Stunden groß, ein bisschen erwachsen schon und bin stolz, weil er mich mitnimmt. Ich bin Papas Kumpel, Partner, Assistent, was auch immer, zumindest wenn wir gemeinsam handwerklich beschäftigt sind. Ich lerne viel von ihm und bin in diesen Stunden einfach glücklich.

Aber leider hat mein Vater zwei Gesichter. Denn sein sanftes, introvertiertes und kumpelhaftes Ich wird manchmal abgelöst durch ein unangenehmes, unkontrolliertes und gewalttätiges, auch in der Öffentlichkeit.

»Dein Vater säuft«, hat mir ein Freund vor einiger Zeit gesagt und recht damit. Mein Vater trinkt, ich glaube täglich und unterschiedlich intensiv. Gut, das Bier zum Abendbrot gehört dazu. Und es gibt Tage, an denen es dabei bleibt.

Aber es gibt auch die Tage, an denen er danach weitertrinkt. Erst zu Hause und später in der Kneipe. Dann geht er schon türenpolternd aus dem Haus und kommt meist erst spätabends zurück. Wenn er richtig »getankt« hat, wie meine Mutter gern sagt, dann ist er ein anderer Mensch, brutal und unberechenbar und in seiner Aggression durch nichts und niemanden zu stoppen. Er steckt dann voll innerer Wut, und leider gibt es in dieser Situation nur einen, an dem er sich regelmäßig abreagiert: mich.

Wenn er nachts nach Hause kommt, erkenne ich es bereits an den Schritten im Treppenhaus, ob er »getankt« hat und damit aggressiv ist. Mit pochendem Herzen horche ich dann, was mich erwartet. Wenn seine Schritte unsicher sind und er schon mal gegen die Wand knallt, weil er das Gleichgewicht verliert, weiß ich, dass ich »fällig« bin und es kein Entkommen gibt.

Sekunden später fliegt meine Zimmertür auf, er reißt mir die Decke weg, zerrt mich aus dem Bett und drischt auf mich ein, mit der flachen Hand, mit den Fäusten, immer schweigend.

Warum? Er verrät es mir nicht.

Ob ich etwas getan habe? Keine Ahnung.

Ich glaube, er will einfach nur Dampf ablassen, und es gibt in seinen Augen niemand anders, bei dem er das tun kann, nur bei mir, zumal ich der Einzige von uns Kindern bin, der ein eigenes Zimmer hat.

Am Anfang habe ich laut geschrien und gehofft, dass meine Mutter oder meine Geschwister aufwachen und mir helfen. Aber es ist nie jemand gekommen, und mittlerweile halte ich die Schmerzen und die Demütigung einfach aus. Ich kann mir denken, warum meine Geschwister sich heraushalten. Sie haben Angst, auch etwas von seiner Wut abzubekommen. Aber warum meine Mutter nicht reagiert, kann ich mir nicht erklären. Mein Vater würde meine Mutter nie verprügeln. Dafür mich aber umso mehr.

Also halte ich still, immer verängstigter, immer hoffnungsloser – und es läuft immer gleich ab. Irgendwann spüre ich das warme Blut in meinem Gesicht, schmecke es und bete zu Gott, dass wenigstens er mich sieht und diesen Mann stoppt.

Bis jetzt hat er mich schließlich noch jedes Mal erhört und dafür gesorgt, dass mein Vater irgendwann wieder Ruhe gibt, sich abwendet und schnaubend aus dem Zimmer stolpert.

Am nächsten Morgen, wenn wir dann zusammen frühstücken, sind seine Prügel kein Thema mehr. Mein Vater verliert kein Wort darüber, beißt schweigend in sein Brot, und meine Mutter sieht nicht nach, ob ich blaue Flecken am Rücken habe und vor Schmerzen kaum sitzen kann – und ich sage ebenfalls nichts und trinke stumm meinen Saft.

Als er mich das erste Mal verprügelt hat, war ich fünf Jahre alt und so geschockt, dass ich den ganzen Tag das Zimmer nicht verlassen habe, aus Angst, er könnte noch einmal zuschlagen.

Später, als es sich immer wiederholte und ich begriff, dass nie jemand kommen und mir helfen würde, habe ich mir angewöhnt, in diesen schlimmen Momenten an schöne Dinge zu denken.

Wenn mein Vater mit vor Wut entstelltem Gesicht vor mir steht und auf mich einhaut, stelle ich mir immer vor, dass gar nicht er es ist, sondern ein böser Geist, der sein Äußeres angenommen hat. Und ich versuche zudem, mich wegzuträumen, auf eine grüne Wiese oder in den sommerwarmen Wald, und ich male mir aus, wie ich die Zeit dort genieße.

Ich bin nämlich gern in der Natur unterwegs, früher mit dem Roller und heute mit dem Fahrrad. Meistens bin ich allein auf Tour, denn ich habe kaum Freunde.

»Du bist so ein typischer Eigenbrötler«, meint meine Schwester Ursula immer, und Magdalena findet, dass ich zu wenig rede und deshalb niemand gern mit mir Zeit verbringe. Ich glaube etwas anderes: Ich kann nur schwer Freunde finden, weil ich nirgendwo mitmachen darf.

Ich möchte so gern Leichtathletik machen, Gitarre spielen und im Verein kicken, aber meine Eltern winken immer ab. Mein Vater meint, ich könne arbeiten, dann hätte ich genug Bewegung und Abwechslung, und meine Mutter sagt klipp und klar, dass wir kein Geld dafür hätten.

So treffen sich die Jungs nach der Schule bei allen möglichen Hobbys, und ich fahre allein draußen herum, weil ich nirgends dabei sein darf.

Die einzige Abwechslung ist für mich jahrelang nur die Sonntagsmesse. Ich gehe sehr gern in die Kirche. Mir gefällt die festliche Orgelmusik und die andächtige Ruhe. Es herrscht immer eine ganz besondere Stimmung da, es ist ein Erlebnis, das mir guttut und mich innerlich stark macht. Zudem ist es auch ein Gemeinschaftsfest. Die ganze Familie putzt sich dafür, so gut es geht, heraus. Meinen Eltern ist wichtig, was die Leute sagen, und deshalb ist es ihnen auch wichtig, dass die Fassade aufrechterhalten wird. Meine Mutter trägt grundsätzlich ein dunkles Kleid und mein Vater immer seinen längst nicht mehr neuen Anzug. Wir Kinder sehen aus wie brave Internatszöglinge.

Aber die Sonntagsmesse ist auch ein festes Ritual, das uns in unserem Leben Struktur gibt. Wir wissen an diesem Tag genau, was uns erwartet: der gemeinsame Spaziergang zur Kirche, die feierliche Liturgie und anschließend, vor der Kirche, das Schaulaufen mit dem Austausch von Neuigkeiten und allerlei Tratsch. Doch es geht auch darum, ob jemand Hilfe braucht, weil er nicht mehr zum Einkaufen gehen kann oder ins Krankenhaus gefahren werden muss.

Noch mehr als die Sonntagsmesse liebe ich jedoch die Kirchenfeste in der Gemeinde: Weihnachten, Ostern, Pfingsten. Denn dann werden jedes Mal besonders schöne Messen gefeiert. Der Pfarrer trägt farbenfrohe Gewänder, die Musik ist feierlich, die Stimmung würdevoll. Wenn die Orgel ertönt und der Gesang der Gläubigen durch das gewaltige Kirchenschiff hallt, durchfährt mich jedes Mal ein wohliger Schauer, und ich fühle mich in solchen Momenten Gott immer besonders nah.

»Du bist ein lieber, gottesfürchtiger Junge«, lobt mich meine Mutter stets, wenn ich mich strikt an die christlichen Regeln halte, die unseren Alltag prägen. Wir beten vor den Mahlzeiten, Freitag gibt es nie Fleisch zu essen, und in der Fastenzeit werden die Mahlzeiten drastisch reduziert. Zudem lese ich viel in meiner wunderschönen Kinderbibel, und ich habe gewisse Stellen, die ich immer gern bete. Dazu gehört auch Psalm 23:

Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen.

Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.

Er stillt mein Verlangen; er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen.

Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil;

denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht.

Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde.

Du salbst mein Haupt mit Öl, du füllst mir reichlich den Becher.

Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang,

und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit.

Danach lebe ich. Diese Worte geben mir Kraft und Zuversicht.

Aber seit einem Jahr ist Kirche noch viel mehr für mich! Sie ist mein allerliebstes Hobby – und das ergab sich ausgerechnet an dem bedeutendsten Tag meines bisherigen Kirchenlebens, dem Weißen Sonntag, dem Tag, an dem ich meine Erstkommunion empfangen habe. Denn als ich nach der Messe mit meinen Eltern vor der Kirche stand, kam der damalige Kaplan zu mir.

»Sag mal, Martin, hast du nicht Lust, Messdiener zu werden?«, fragte er geradeheraus und sah erst mich und dann meine Eltern an.

Ich konnte nicht in Worte fassen, wie stolz ich in dem Moment war, aber auch unsicher, ob ich mich freuen dürfte. Ich hatte Angst, dass meine Eltern wieder Nein sagen würden, und sah sie erst einmal vorsichtig von der Seite an. Und dann erlebte ich die große Überraschung: Meine Mutter sagte sofort zu, bedankte sich sogar freudestrahlend beim Kaplan, und mein Vater klopfte mir anerkennend auf die Schulter, meinte: »Dann mal los, mein Junge!«, und fragte den Kaplan: »Wann soll er denn kommen?«

Der strahlte mich an. »Gleich nächste Woche, Martin. Wir freuen uns!«

Ich war einfach nur glücklich. An diesem Tag zählte ich zwar zu Hause noch mein Geschenkegeld zusammen, aber überstrahlt wurde all das von der Aussicht, bald als Messdiener am Altar stehen zu dürfen.

Ich freute mich zudem so sehr darauf, bei den regelmäßigen Treffen dabei zu sein, von denen ich in der Schule schon viel gehört hatte. Man lernt dort, was man beim Ministrieren alles können muss, aber das ist noch nicht alles: Man spielt auch miteinander, lacht, hat Spaß. Und dann gibt es noch die vielen Ausflüge und Reisen, von denen alle schwärmen, in die Berge und ans Meer!

Und meine hohen Erwartungen wurden wirklich erfüllt. Messdiener zu sein ist seitdem das Beste, was ich mir vorstellen kann. Ich helfe mit, dass Gott zu uns kommt. Darauf bin ich stolz. Es ist etwas Besonderes, wenn sich der Kirchenraum öffnet, und ich, begleitet von den Orgelklängen, hinter dem Pfarrer zum Altar schreite. Ich trage einen bodenlangen roten Talar, darüber das Chorhemd, ein weißes Leinengewand, das bis zu den Knien reicht. Jeder Tag ist anders, ich erlebe normale Messen, aber auch Beerdigungen, Taufen und Hochzeiten. Zudem sind wir eine tolle Truppe, die zusammenhält. Wir spielen Tischtennis und Fußball, singen und haben viel Spaß gemeinsam.

Seitdem ich Messdiener bin, sind das Pfarrheim und die Kirche mein zweites Zuhause, vielleicht ja sogar mein richtiges. Denn bei meinen Eltern gibt es kaum Ansprache, weil sie viel zu sehr beschäftigt sind. Hier in der Kirchengemeinde hingegen gibt es sie reichlich. Ich werde mit offenen Armen empfangen. Dazu lerne ich viel: über die Bedeutung der Farben für die Liturgie, den Einsatz der Hilfsmittel für die Messe. Ich erfahre, welche Kleidung der Pfarrer wann trägt, wie man das Weihrauchfässchen füllt und die Kerzen anzündet und das Altarbuch richtig hält.

Darüber hinaus liebe ich die von Gottes Geist erfüllte Stimmung, die mich umgibt. Oft sehe ich durch die Kirchenfenster in den Himmel und habe das Gefühl, bei Gott zu sein.

Seit Kaplan Pottbäcker nach Rhede gekommen ist, macht alles noch mehr Spaß. Er ist die beeindruckendste Persönlichkeit, die ich kenne, jung, lustig, kumpelhaft und überhaupt nicht so wie andere Erwachsene. Wir treffen uns meistens mit ihm im Pfarrbüro, und wenn keine Messen sind, wird gesungen und gelacht und später im Garten gespielt.

Diese Stunden trösten mich über alles andere hinweg. Wenn ich traurig bin, weil es wieder Schläge von meinem Vater gab oder ich trotz der Empfehlung meiner Lehrer nicht das Gymnasium besuchen darf, weil mein Vater das »für Unfug« hält. Die Treffen im Rahmen der Kirchengemeinde trösten mich für alles, und ich fühle mich schon besser, wenn ich die Kirchtürme sehe, und noch besser, wenn ich mit Kaplan Pottbäcker zusammen bin. Er gibt mir das Gefühl, gemocht zu werden, und lässt mich Aufgaben erledigen, die sonst nur die älteren Messdiener übernehmen dürfen, was mir sehr schmeichelt.

Allerdings, und darüber spreche ich mit niemandem, passieren nun seit einiger Zeit auch Dinge, auf die ich mir keinen rechten Reim machen kann, etwa, wenn er mich im Pfarrhaus wie heute umarmt.

Das ist eine Umarmung, die nicht guttut. Ich spüre dabei seinen vibrierenden Körper, und die Nähe ist mir unangenehm. Und seit einiger Zeit schon küsst er mich dabei auf die Wange – und nun sogar auf den Mund. Ich will das nicht und muss mich trauen, ihm das auch zu sagen.

*

Was soll das? Warum tut er das?

Das ist ja noch ekliger als sein widerlicher Kuss!

Ich bin mit den anderen im Pfarrbüro, und Kaplan Pottbäcker spielt auch heute wieder Gitarre.

»Komm mal zu mir, Martin«, hat er mich gerade gebeten und zu sich auf den Schoß gezogen.

Das war schon schlimm. Ich bin doch kein Kleinkind mehr!

Aber jetzt hat er auch noch seine Hand in meiner Hose und berührt mein Glied. Ich spüre auch seins, das immer größer wird.

Ich möchte die Hand wegschieben, von seinem Schoß springen – und ich will, dass er das nie mehr mit mir macht. Aber ich traue mich das nicht. Ich möchte doch, dass er mich gernhat und wir Freunde sind. Und ich möchte auch mit auf die Sommerfahrt.

Kaplan Pottbäcker fährt nämlich mit uns nach Lüdenscheid in eine Jugendherberge, und ich glaube zwar nicht, dass meine Eltern mich mitfahren lassen, aber ein bisschen Hoffnung hege ich noch, denn der Kaplan hat versprochen, dass er sich darum kümmere und mit ihnen sprechen wolle.

Ich rutsche unruhig hin und her und versuche, seine Hand loszuwerden – aber er umschließt mein Glied nur noch fester. Mir wird heiß vor Ekel, aber dann habe ich Glück. Ich höre Schritte im Treppenhaus. Der Pfarrer kommt, und Kaplan Pottbäcker zieht sofort seine Hand weg und schiebt mich von seinem Schoß.

Es ist vorbei.

*

»Herr Kaplan, Sie hier. Das ist ja schön …«

Es hat eben an der Tür geklingelt. Ich mache in der Küche meine Hausaufgaben, als ich Kaplan Pottbäckers Stimme höre.

»Haben Sie kurz Zeit? Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen«, meint er zu meiner Mutter.

Mama hat Zeit, kocht schnell einen Kaffee für ihn und Kakao für mich und holt den Blechkuchen vom Wochenende aus dem Kühlschrank. Mein Vater ist zur Arbeit, und wir sitzen zu dritt am Tisch.

»Dann schieße ich mal los«, meint Kaplan Pottbäcker. »Es geht um Martin.«

Ich zucke zusammen und überlege sofort, ob es einen Grund gibt, sich über mich zu beschweren. Aber meine Sorge ist unnötig, denn er lobt mich in den höchsten Tönen.

»Martin erledigt seine Aufgaben als Messdiener ganz wunderbar. Er hat sehr schnell gelernt, worauf es in der Kirche ankommt«, erzählt er und lächelt mich dabei freundlich an. »Alles, was man als Messdiener machen muss, beherrscht er wirklich schon perfekt … Aber er wird von mir auch darüber hinaus Aufgaben anvertraut bekommen. Ich habe viel mit ihm vor …«

Meine Mutter strahlt über das ganze Gesicht, so stolz ist sie auf mich.

»Ach, Herr Kaplan, das ist ja schön, dass sich der Junge so gut macht. Hört er denn auch aufmerksam zu? Oder gibt er Widerworte?«, will sie wissen.

Pottbäcker schüttelt den Kopf. »Nein, Widerworte, nein, die gibt es bei Martin nicht. Er ist gottesfürchtig und folgsam. Ich bin sehr froh, dass er bei uns ist.«

»Und verträgt er sich mit den anderen Jungs?«, fragt meine Mutter weiter, und Kaplan Pottbäcker lobt mich in den höchsten Tönen, bevor er zum eigentlichen Punkt seines Besuches kommt, der Sommerreise nach Lüdenscheid, zu der er mich gern mitnehmen möchte.

Meine Mutter sieht etwas verlegen auf ihren Teller und druckst herum, als es um das Geld geht, das für die Reise fällig wird.

»Wissen Sie, Herr Kaplan, wir haben fünf Kinder und müssen schon mit jeder Mark rechnen …«, meint sie entschuldigend.

Kaplan Pottbäcker nimmt ihr jedoch sofort den Wind aus den Segeln und verspricht, dass sich die Kirche an den Kosten beteiligen werde. »Der Junge muss doch in der Gemeinschaft bleiben. Wenn Sie mir Ihre Zustimmung geben, dass er mitfahren darf, kümmere ich mich um die Finanzen.«

Ich würde am liebsten vor Freude aufspringen und durch die Wohnung tanzen, so erleichtert bin ich. Aber ich bleibe stumm sitzen, kann mir allerdings ein Lächeln nicht verkneifen.

»Ich bin dabei!«, juble ich innerlich. Drei Wochen Sommerferien in einer Jugendherberge mit den anderen und mit diesem tollen Kaplan. Ein Traum!

Meine Eltern besaßen nie Geld für Urlaube, und so kenne ich bislang nichts anderes als Rhede. Aber nun wird alles anders.

Als Kaplan Pottbäcker geht, streckt er meiner Mutter freundlich die Hand entgegen.

»Also, Martin kommt mit, in Ordnung?«, versichert er sich noch einmal.

Mama schlägt ein. »Jawohl!«, bestätigt sie.

Ich strahle, und Kaplan Pottbäcker blinzelt mir zu.

Kapitel 2

Seit gestern bin ich auf Reisen, zum ersten Mal in meinem Leben.

Die Fahrt mit dem Bus war bereits richtig toll. Wir haben die ganze Zeit über gesungen. Kaplan Pottbäcker saß vorn im Bus und hat mit seiner Gitarre die schönsten Kirchenlieder angestimmt, zum Schluss sogar wieder sein »Let it be«, das längst zu meinem Lieblingslied geworden ist.

Nach der Ankunft haben wir ausgiebig die Umgebung erkundet und anschließend eine erste Andacht im Freien abgehalten. Die Stimmung war großartig. Wir standen auf einer kleinen Wiese, Kaplan Pottbäcker hat eine Predigt gehalten, und wir beteten und sangen gemeinsam, während die Vögel über unseren Köpfen ausgelassen zwitscherten. Später entfachten wir ein Feuer und bereiteten Stockkartoffeln zu. Anschließend machten wir uns auf zum Spielen. Ich bin nach dem Abendessen todmüde ins Bett gefallen, so wohlig erschöpft war ich.

Wir Jungs schlafen alle in Zweibettzimmern, und ich teile mir den Raum mit Udo, der zwei Jahre älter ist. Die Zimmer sind klein, es gibt nur die Betten mit jeweils einem Nachtschränkchen und einen Kleiderschrank, den wir uns teilen. Wir haben ein Fenster zum Garten und zum Glück nur wenige Schritte zu den Gemeinschaftsduschen und den Toiletten. Alles ist neu und sauber, und ich fühle mich total wohl.

Kaplan Pottbäcker und die beiden anderen Betreuer aus Rhede haben Einzelzimmer. Sie lassen uns viele Freiheiten, und niemand ist wirklich streng. Wir müssen nur pünktlich zu den Mahlzeiten da sein.

Heute gibt es in der Kantine Frikadellen, Kartoffeln und Rotkohl und zum Nachtisch Apfelmus und Fruchtsuppe. Mir schmeckt es so gut, dass ich sogar noch einen Nachschlag hole und mich pappsatt esse.

»So Jungs, um 15 Uhr geht’s weiter.«

Kaplan Pottbäcker steht an unserem Gruppentisch und blickt auf die Uhr. »Ihr habt jetzt zwei Stunden Pause. Legt euch etwas hin, und wer sich noch fit fühlt, kann im Aufenthaltsraum Karten spielen.«

Er faltet die Hände zum Gebet. »Und nun sprechen wir noch alle zusammen ein ›Vaterunser‹ – und sehen uns dann am Nachmittag in alter Frische auf dem Sportplatz …«

Udo möchte im Bett ein Rätselspiel machen, und ich lege mich ebenfalls hin und lese.

Bei uns zu Hause gibt es keine Bücher. Aber seitdem ich in der Schule bin, liebe ich es, mir Bücher auszuleihen und in Ruhe zu schmökern. Im Moment bin ich auf den Spuren des Weltumseglers Magellan unterwegs, träume mich in die weite Welt Südamerikas hinein und bin ganz vertieft in die Abenteuer, als es plötzlich an unserer Zimmertür klopft.

Ohne ein »Herein« abzuwarten, öffnet Kaplan Pottbäcker die Tür und steht in unserem Zimmer.

»Udo, geh mal bitte in den Gruppenraum. Da spielen ein paar Jungs Halma, und du spielst ja bestimmt gern mit«, meint er freundlich.

Udo sieht mich fragend an. Ich zucke mit den Schultern. Ich habe keine Ahnung, was los ist. Mein Zimmernachbar fragt auch nicht nach, sondern legt seine Rätselseiten auf das Nachtschränkchen, zieht sich eilig Jacke und Schuhe an und geht schnell hinaus.

»Soll ich auch …?«, frage ich irritiert, klappe mein Buch vorsichtshalber schon mal zu und stehe auf.

Ich will mir gerade die Schuhe anziehen, als ich sehe, wie Kaplan Pottbäcker die Tür abschließt. »Was soll das denn jetzt?«, huscht es mir durch den Kopf, und ich setze mich unsicher wieder zurück auf das Bett.

Kaplan Pottbäcker kommt auf mich zu, und mir fällt sofort sein merkwürdig starrer Blick auf. Er lächelt mich dabei auf seltsame Weise an.

»Mein kleiner Martin«, sagt er jetzt fast schon säuselnd, und seine Stimme klingt ungewohnt verzerrt. »Es ist schön, dass wir beide endlich mal allein sind und Zeit für uns haben.«

Zeit? Für was?

Ich richte mich auf und ziehe unsicher meine Beine an. Was will er von mir? Habe ich etwas falsch gemacht? Aber ich wüsste nicht, was.

Mein Herz beginnt heftig zu pumpen. Ich möchte nicht, dass er mich wieder küsst.

»Komm, wir legen uns ins Bett«, höre ich ihn sagen und kann mir keinen Reim darauf machen, was eigentlich los ist.

»Wie?«, murmle ich irritiert. »Wieso denn?«

»Nun komm, Martin, verärgere mich nicht.« Kaplan Pottbäcker fasst mich etwas unwirsch am Arm und zieht mich vom Bett hoch. Dann hebt er die Decke hoch und schiebt mich energisch zurück.

»Wir machen es uns jetzt richtig schön …«

»Richtig schön? Aber warum denn im Bett?«, flüstere ich und bin so perplex, dass ich mich nicht wehre, sondern geschehen lasse, was er von mir verlangt.

Völlig überrumpelt merke ich, dass er an meine Seite rutscht und die Decke über uns zieht. Er schmiegt sich an mich und sieht mich an, lange, viel zu lange. Dann fährt er mir mit der Hand über die Wange, ganz sanft, und auch diese Berührung ist mir zuwider, und ich versuche, mich ganz klein zu machen. In der Hoffnung, dass er spürt, wie unangenehm mir diese Zärtlichkeiten sind, und damit aufhört.

Aber Kaplan Pottbäcker scheint nichts davon zu bemerken. »Mein lieber Martin«, flüstert er leise. »Der liebe Gott sieht gern, wenn wir uns liebhaben, ich meine, so richtig liebhaben!«

Ich bin mittlerweile ganz starr vor Anspannung und kann mir überhaupt nicht erklären, was er von mir will.

»Zieh dich aus«, sagt Kaplan Pottbäcker dann, und seine Stimme klingt plötzlich gar nicht mehr freundlich, sondern kalt und fordernd.

Ich will nicht und bleibe reglos liegen. Aber schon spüre ich seine Hand, die mir erst die Sporthose und dann die Unterhose herunterschiebt. Ich schäme mich fürchterlich und bin wie erstarrt vor Angst und Widerwillen – denn auch er zieht sich nun unter der Decke aus: Ich spüre seine Haut und sein hartes Geschlechtsteil.

Was passiert hier bloß? Was soll das alles? Ich fühle mich wie von einer eiskalten Welle überflutet und weiß nicht mehr, wo ich bin und was mit mir geschieht.

Kaplan Pottbäcker, der in der Kirche »Zur Heiligen Familie« die Messen hält und den alle so sehr mögen, achten und bewundern, unser Kaplan Pottbäcker, der mit uns Jungs betet und singt, liegt jetzt halbnackt mit mir im Bett einer Jugendherberge und flüstert mir ins Ohr, wie sehr er mich liebe!

Und dann sind da seine Hände, die Zunge, die Erektion, alles ist so widerlich, und ich möchte, dass es nicht wahr ist, sondern nur ein böser Traum.

Ich sehe aus dem Fenster, immer noch starr und unfähig, auf all das zu reagieren.

Seine Hände sind überall. Ich spüre sie an meinem Rücken, an meinen Schenkeln, zwischen den Beinen. Dazu bedrängen mich seine Lippen. Seine Zunge umschlingt meine und stößt wieder und wieder in meinen Mund. Das Stöhnen wird immer lauter, und der heiße Atem ekelt mich so sehr, dass ich versuche, mein Gesicht wegzudrehen. Doch seine Hand lässt das nicht zu. Sie packt mich grob, und Kaplan Pottbäcker hält mein Gesicht fest, damit er mich weiter küssen kann.

Mir ist übel, und ich fürchte, mich übergeben zu müssen. Ich möchte weg, weit weg, aber ich kann mich nicht wehren, kann nichts tun.

Meine Hand? Was ist mit meiner Hand? Wie ein Schraubstock umgreifen mich seine Finger und schieben meine Hand an sein hartes Geschlecht. Ich kann nicht mehr entkommen, ich bin wehrlos, ausgeliefert … und begreife, dass ich es aushalten muss.

Ich blicke immer noch aus dem Fenster in den blauen Sommerhimmel und zähle die vorbeiziehenden Wolken. Ich liebe dieses Bild und träume mich weg, hoch hinauf in den Himmel, zu Gott, der das alles wohl so will. Ich fühle mich wie ein Geist in einer Hülle, mein Körper reagiert nicht mehr auf meinen Kopf. Ich fühle mich wie abgeschaltet …

Irgendwann lässt mich Kaplan Pottbäcker dann los. Ich sehe sein jetzt wieder ganz entspannt wirkendes Gesicht im Sonnenlicht. Er lächelt, wieder richtig freundlich. So, wie er es eigentlich immer tut. Das andere Gesicht, das er mir gerade gezeigt hat, das grobe, verzerrte, das hässliche und brutale, das ist jetzt weg. Er ist nun wieder wie immer: liebenswert, mein Freund. Nur einfach körperlich viel zu nah. Denn Freunde kuscheln nicht nackt im Bett. Das passt nicht zusammen.

Ich will, dass er aufsteht und geht. Aber er geht nicht.

»Mein lieber Martin«, murmelt er wieder, und seine Hand streicht mir erneut liebevoll über die Wange, bevor er mich zum wer weiß wievielten Mal auf den Mund küsst. »Wenn wir gleich Fußball spielen, bist du der Kapitän und kannst dir deine eigene Mannschaft zusammenstellen. Das möchtest du doch gern, stimmt’s?«