Der Earl of Kendal - Fabrice Rebers - E-Book

Der Earl of Kendal E-Book

Fabrice Rebers

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Beschreibung

Heinrich VII. ist König von England. Durch das Recht der Eroberung folgte er Richard III. auf den Thron, doch sein Anspruch ist fraglich. Um seine Macht im Falle eines Sturzes zu sichern schmiedet er einen Plan, der die Jahrhunderte überdauern sollte. Mehr als fünfhundert Jahre später folgt Charly, ein mittelloser Geschichtsstudent aus Cambridge, dem Ruf des in die Jahre gekommenen Anwalts Sir Francis McAllister und erfährt von einem kuriosen Erbe, das die Anwälte der Krone über die Jahrhunderte verwaltet haben. Charlys Leben gerät aus den Fugen und auch Mary, seine Mitbewohnerin, spielt plötzlich eine ganz andere Rolle für ihn.

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Fabrice Rebers

Der Earl of Kendal

Das Vermächtnis der Wallingtons

© 2023 Fabrice Rebers

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor selbst verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Dieses Buch ist allen gewidmet, die Träume haben.

Träume, egal wie groß und egal wie surreal sie sind.

Träume machen uns aus.

Und sie machen auch dich aus.

Ich widme dieses Buch meinen Kindern, Isabella Anouk, benannt nach Elisabeth I. von England, Emilia Catalina, die den Namen der großen Königin Katharina von Aragon trägt und Luca Matteo, der sinnbildlich, wenn auch nicht historisch, die Brüder aus dem Tower repräsentiert.

Ihr seid mein größter Traum.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Vorwort des Autors

Prolog

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechszehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Kapitel Dreißig

Kapitel Einunddreißig

Kapitel Zweiunddreißig

Kapitel Dreiunddreißig

Kapitel Vierunddreißig

Kapitel Fünfunddreißig

Kapitel Sechsunddreißig

Kapitel Siebenunddreißig

Kapitel Achtunddreißig

Kapitel Neununddreißig

Kapitel Vierzig

Kapitel Einundvierzig

Kapitel Zweiundvierzig

Kapitel Dreiundvierzig

Kapitel Vierundvierzig

Kapitel Fünfundvierzig

Kapitel Sechsundvierzig

Kapitel Siebenundvierzig

Epilog

Danksagung

Der Autor

Weitere Bücher

Der Earl of Kendal

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Titelblatt

Urheberrechte

Vorwort des Autors

Weitere Bücher

Der Earl of Kendal

Cover

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Vorwort des Autors

Warum ein Vorwort zu einem Roman?

Nun, die Welt der Bücher ist eine fantastische Welt.

Die meisten Menschen, die lesen zu ihrem Hobby erklärt haben, nehmen ein Buch in die Hand, um für einen kurzen Moment in eine fremde Welt zu entfliehen, einzutauchen in eine völlig andere Welt oder um sich in einer Welt aufzuhalten, in der alles anders ist. Fakt ist: Die meisten Menschen, beinahe alle, haben Bücher zu Hause. Einige haben sogar mehr Bücher zu Hause, als sie gelesen haben und wieder andere haben Bücher zu Hause, ohne die Absicht zu haben, sie überhaupt zu lesen.

Die Welt des Adels fasziniert Menschen im Grunde, seit Wilhelm der Eroberer die englische Monarchie begründete – zumindest beruft diese sich immer dann auf ihn, wenn es um die Frage geht, wer der erste König Englands war.

Diese Faszination ist auch heute noch hierzulande allgegenwärtig, obwohl wir in Deutschland längst keine Monarchie mehr haben. Kleine Mädchen möchten gerne Prinzessinnen sein, kleine Jungen oftmals König. Unzählige Filme erzählen vom Leben und den Geschichten des Adels, sei es über die Tudor-Dynastie oder über König Heinrich VIII. Vor allem Elisabeth I. ist als eine der mächtigsten und größten Königinnen in die Geschichte der Menschheit eingegangen und es gibt unzählige Filme, die von ihrem Leben handeln.

Elisabeth II. ist für einen Großteil der Menschen nicht weniger faszinierend, ist sie doch mit 96 Jahren am 08. September 2022 erst von uns gegangen, wobei sie einen Thron hinterließ, auf dem sie zuvor siebzig Jahre lang saß. Wenn schon Elisabeth I. niemals in Vergessenheit geraten wird, dann wird vor allem Elisabeth II. allein schon aufgrund dieses Rekordes niemals vergessen werden.

Dieses Buch soll Träume ermöglichen.

Träume, die jeder Mensch von uns hat, und Träume, die sich für die meisten Menschen von uns niemals erfüllen werden. Nicht jedes Mädchen kann eine Prinzessin werden. Nicht jeder Junge ein König.

Aber wir können zumindest davon träumen.

Denn egal, was in der Welt auch passiert: Träume erhalten uns. Träume machen uns aus. Also träumen wir.

Und wenn es auch der Traum von einem großen Erbe ist, das uns einen Titel beschert und kleine Mädchen zu Prinzessinnen oder kleine Jungen zu Königen werden lässt.

Träumen wir gemeinsam.

Fabrice Rebers

Prolog

22. August 1485

Nur wenige Stunden, nachdem die Schlacht um Bosworth beendet war, saß Heinrich in seinem Kaminzimmer und wusste, dass er durch das Recht der Eroberung die englische Krone gewonnen hatte. Ohnehin, so war er überzeugt, hatte er ein Recht auf die Krone Englands, denn seine Mutter stammte von Eduard III. ab. Zwar war seine Thronfolge genauso umstritten wie die Abstammung seiner Mutter, jedoch verlieh ihm das Recht der Eroberung ein Anrecht auf die Krone. Auch der Kronrat lehnte sich gegen diese Tatsache nicht auf, obwohl er befugt gewesen wäre, einem anderen dieses Privileg zu erteilen. Da es kein Nachfolgegesetz gab, oblag die Entscheidung hierbei ausschließlich dem Kronrat. Heinrich vermutete, dass der Rat sich nicht mit ihm anlegen wollte, nachdem er als Oberhaupt des Hauses Lancester vorhatte, Elizabeth von York zu heiraten, um somit die langjährigen Rosenkriege zu beenden. Er wusste aber auch, dass seine vermutlich illegitime Abstammung zu Problemen führen könnte, und er wollte alles, nur nicht seine verdiente Krone abgeben. Auch wenn die Schlacht von Bosworth nun beendet war und er Richard III. geschlagen hatte, führten Rebellionen im Lande die Fronten an und nicht jeder war mit seiner Thronbesteigung einverstanden. Heinrich entschied sich deshalb dazu, einen Plan umzusetzen, den er sich bereits vor Jahren zurechtgelegt hatte: Er würde ein Vermögen anhäufen, das im Falle eines Sturzes, sollte er König von England werden, seine Existenz und die seiner Nachkommen sicherte und somit ermöglichte, erneut die englische Krone zu erobern. So ein Heer wollte schließlich finanziert werden.

Als Kind unternahm er eine Reise durch England und lernte hier einen Ort namens Kendal kennen, der unter keinerlei Regentschaft stand. Es schien, als wäre dieser Ort so abgelegen, dass niemand einen Anspruch darauf erhob. Und er hoffte, dass dies immer noch der Fall war. Wissen konnte er das nicht. Wissen konnte dies nur der königliche Rat, auf den Heinrich nun wartete. Zwar war er noch nicht offiziell zum König gekrönt, die Krone gehörte ihm dennoch schon und nach dem Tode Richards III. war er automatisch zum König proklamiert worden.

Ein Klopfen kündigte an, dass der Rat zusammengekommen war. Die Türen öffneten sich und ein Diener erschien im schwachen Kerzenlicht.

„Euer Majestät, der königliche Rat ist zugegen“, sagte er.

„Sie sollen reinkommen“, entgegnete er, ohne aufzublicken.

Der Diener trat zur Seite und acht Männer, die das beste Alter bereits hinter sich hatten, betraten das Kaminzimmer. Gleichzeitig verneigten sie sich vor dem König. Dann blieben sie stumm stehen und warteten darauf, was ihr Souverän zu sagen hatte.

„Sagt mir, ist Euch eine Landschaft namens Kendal bekannt?“, fragte er frei heraus, ohne eine Erklärung abzugeben.

„Majestät?“, fragte einer der Männer und trat einen Schritt nach vorne.

„Ist Euch eine Landschaft namens Kendal bekannt?“, wiederholte er seine Frage. In seinem Ton war ein gewisser Nachdruck zu vernehmen, der auch dem Mann nicht entgangen war, der das Wort ergriffen hatte.

„So aus dem Kopf heraus kann ich nicht behaupten, davon bereits gehört zu haben, Eure Majestät“, sagte er.

„Wie können wir in Erfahrung bringen, ob diese Landschaft einem Peer gehört oder nicht?“, fragte der König.

„Nun, ich denke, dass dies in den Verzeichnissen zu finden sein wird, Eure Majestät. Dürfen wir den Grund für diese Frage erfahren?“, fragte der alte Mann.

„Nein“, antwortete der König knapp. „Finden Sie heraus, ob diese Landschaft frei von Besitz ist. Sofort“, fügte er hinzu.

„Sehr wohl“, die Männer verneigten sich und traten zwei Schritte rückwärts, bevor sie sich umdrehten und das Kaminzimmer verließen.

Kendal wird die Monarchie bewahren, dachte der König, als er in die Flammen schaute und sich noch deutlicher bewusst machte, dass er nun König von England war.

Kapitel Eins

Dicke Quellwolken bedeckten den Himmel. Die Sonne schaffte es heute nicht, durch die immer dichter werdende Wolkendecke zu brechen und sorgte dafür, dass die Temperatur im Sommer auf einen niedrigen zweistelligen Wert herunterfiel. Ein leichter Wind war zu erkennen; die Kronen der Bäume, die man durch das kleine Fenster sehen konnte, wiegten sich hin und her und im Gegensatz zu den letzten Tagen waren kaum Vögel zu sehen, geschweige denn zu hören.

Charly saß an seinem Schreibtisch. Er war unglaublich genervt und gelangweilt, obwohl er das gar nicht hätte sein müssen. Doch seine Gedanken brachten diese Gefühle aus seinem tiefsten Inneren an die Oberfläche. Obwohl er einen Berg Arbeit hatte, viel Literatur, die er lesen sollte, und einen grundsätzlichen Spaß an dem hatte, was er tat, war er heute unzufrieden.

Charly studierte Geschichte an der renommierten Cambridge-Universität. Das war immer schon sein Traum gewesen. Er konnte sich Stunden, Tage, Wochen, eigentlich immer darin verlieren und er war davon überzeugt, dass das Leben in der Vergangenheit besser gewesen war als heute. Dieser Traum zog jedoch seine Konsequenzen sich. Er wusste, dass es schwer werden würde, als Historiker eine Anstellung zu finden. Er fand sich schnell damit ab, dass er früher oder später entweder als Lehrer arbeiten oder arbeitslos werden würde. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, weiterzumachen und der Vergangenheit hinterherzujagen. Mit seiner Familie hatte er schon lange keinen Kontakt mehr. Vor allem seine Mutter empfand seinen Wunsch, Geschichte zu studieren, als nicht sonderlich akzeptabel. Sie hätte es lieber gehabt, hätte er Betriebswirtschaft oder etwas Vergleichbares studiert. Doch Charly wusste, dass er damit niemals glücklich geworden wäre.

„Mum, ich bin lieber arbeitslos als unglücklich“, sagte er immer wieder. Eine Aussage, die seine Mutter rasend machen konnte. Denn von all dem, was sie sich für Charly wünschte, war Arbeitslosigkeit das Letzte.

„Du bringst eine große Schande über die Familie, Charly. Was glaubst du, kannst du erreichen, wenn du in der Vergangenheit lebst? Davon kannst du keine Familie ernähren.”

„Es geht mir nicht darum, eine Familie zu ernähren. Es geht mir darum, meinem Leben den Sinn zu geben, den ich für richtig halte. Möchtest du einen Sohn haben, der in einem Penthouse lebt, aber jeden Tag mit dem Gedanken spielt, alles hinzuschmeißen, weil er ein Leben lebt, das er sich selbst so nie vorgestellt hat? Nur damit seine Eltern zufrieden und glücklich sind? Mum, es tut mir leid, aber du und Dad werdet nicht immer auf dieser Welt sein, genau so wenig wie ich. Und wenn es so weit ist, werde ich noch viele Jahre vor mir haben. Ihr seid dann nicht mehr da. Aber ich bin dann zumindest immer noch unglücklich.” Charly wusste, dass diese Art der Argumentation kontrovers war und alles andere als zielführend. Dennoch, das wusste er, hatte er Recht. Auch wenn seine Eltern das nicht hören wollten.

Die ewigen Streitereien brachten Charly dazu, sein eigenes Leben zu führen. Weit weg von seinen Eltern, die sich offenbar nicht für das freuen konnten, was ihn erfreute. Also entschied er sich zu gehen. Doch seine Gedanken kehrten immer wieder zurück zu den Tagen, an denen der Streit und das Unglücklichsein zum Alltag gehörten.

Charly warf einen Blick auf seinen Schreibtisch, nachdem er sich vom Fenster, den Wolken und dem Wind lösen könnte. Unzählige alte Bücher schmückten den Tisch. Einige waren aufgeschlagen, andere langen schon so lange herum, dass sie eine Staubschicht angesetzt hatten.

Diese Tage kamen immer wieder. Er konnte nichts dagegen tun und im Grunde wollte er das auch nicht. Sie zeigten ihm immer wieder aufs Neue, dass er alles richtig gemacht hatte. Nach einem tiefen Seufzer stand Charly auf und ging in die Küche seiner Wohngemeinschaft. Niemand war zu Hause. Die meisten waren in der Uni oder vertrieben sich die Zeit mit anderen Dingen, die mit Studieren wenig zu tun hatten. Charly war oft allein hier. Die meiste Zeit seines Studiums war dafür vorgesehen, eigenständig zu recherchieren, Texte zu lesen, eben Geschichte zu erfahren. Nicht jede Vorlesung fand er interessant, weswegen er sich auch nur für die Einschrieb, die er unbedingt benötigte, um für Prüfungen zugelassen zu werden. Wieder andere besuchte er mehrfach, weil ihn das ein oder andere Thema mehr reizte als das andere.

Charly nahm die Kanne aus der Kaffeemaschine, goss sich großzügig ein, füllte einen Schluck Milch nach und setzte sich zurück an seinen Schreibtisch. Er musste die Vorlesung vorbereiten, die er heute Nachmittag hören wollte.

Beinahe jeder Platz im Hörsaal war belegt. Noch herrschte ein kleiner Tumult. Viele unterhielten sich, was für eine Lautstärke sorgte, die kaum erträglich war. Alle wurden immer lauter, um die anderen zu übertönen.

Charly saß ruhig auf seinem Platz. Vor ihm ein Laptop, etwas zum Schreiben und ein Buch über die großen Bauwerke der englischen Geschichte. Auf dem Cover des Buches war das Warwick Castle abgelichtet. Ein prunkvolles Schloss, das fast tausend Jahre überdauerte. Sein Unterhalt war so enorm gewesen, dass die Marktgrafen die meiste Zeit ihres Lebens damit verbrachten, Gelder zu organisieren, um es nicht aufgeben zu müssen. Heute lebt dort niemand mehr.

Während Charly über dem Titelbild hing und die Bauweise bewunderte, verdunkelte sich plötzlich der Raum, was dazu führte, dass alle Leute um ihn herum nach und nach stumm wurden und auf ihren Plätzen Platz nahmen. Am Eingang des Hörsaals stand ein Mann mittleren Alters. Seine Hand lag immer noch auf dem Dimmer. Er wartete so lange, bis alle saßen. Erst dann trat er weiter vor und stellte sich an das Pult, das mittig zentriert vor einer beinahe unermesslich großen Leinwand stand.

„Guten Tag“, begann er, während er seine Tasche neben das Pult stellte. Mittlerweile waren alle Stimmen verstummt. Jeder in diesem Raum schien Respekt vor der Thematik zu haben, um die es gehen sollte.

Der Professor betätigte einen Knopf auf dem Pult und ein überdimensionales Bild leuchtete auf der Leinwand auf. Zu sehen war der Tower von London in seiner heutigen Form. Es wirkte, als sei es ein selbst gemaltes Bild, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass es offensichtlich aus der Luft aufgenommen wurde. Viele Touristen waren darauf zu sehen. Definitiv handelte es sich um ein neuzeitliches Bild.

„Der Tower of London“, begann der Professor. „Wer von Ihnen kann mir sagen, wann mit dem Bau begonnen wurde, von wem und warum?”

Stille. Keiner der Studierenden wollte offensichtlich der erste sein, der etwas sagte. Niemand kannte den Professor, der hinter dem Pult stand und deswegen wollte niemand einen Fehler machen. Charly war genervt. Er konnte nicht verstehen, wie wenig Wissen die Menschen, die sich für ein Geschichtsstudium entschieden, mitunter hatten. Er vertrat die Meinung, dass ein grundlegendes Fundament an Wissen im Laufe des Lebens angeeignet wurde, wenn man sich für etwas begeisterte. Und dass man ein Studium deshalb aufnahm, um seine Leidenschaft zum Beruf zu machen.

„1066, Professor. Wilhelm der Eroberer ließ den Bau beginnen, da es während seiner Krönung in der Westminster Abbey zu Unruhen kam. Er wollte einen Ort schaffen, der sicher ist”, warf Charly in den Raum.

“Korrekt“, war die kurze Antwort des Professors. „Bis der Tower jedoch abschließend fertig war, sollten mehrere hundert Jahre ins Land ziehen. Es sollten viele Könige und Königinnen ein und aus gehen, einige sollten nur hineingehen und nicht mehr hinaus. Im Laufe der Zeit war der Tower auf London nicht nur ein prunkvoller Palast, er wurde vielmehr zu einer Art Gefängnis und zu einem Ort, an dem sich viele Verbrechen und Geheimnisse abspielen sollten. Eines der bekanntesten und berüchtigtsten Verbrechen ist das Verschwinden zweier Brüder. Genauer gesagt das Verschwinden des jungen Königs Eduard V. und seines Bruders, dem Herzog of York.“ Der Professor verließ den bildlichen Schutz des Pults und ging um es herum, bis er den Studierenden so nah war, wie er eben sein konnte. „Ich möchte Ihnen heute gar nicht viel über den Bau des Towers erzählen. Viel faszinierender empfinde ich die Geschichte jener Brüder, die Geschichte der Söhne von Eduard IV. Sein erstgeborener Sohn, Eduard V. war de jure König von England, konnte aber aufgrund seines Alters nicht regieren, weswegen seine Regierungsgeschäfte vom Herzog of Gloucester übernommen wurden, dem Onkel der Brüder und Bruder des verstorbenen Königs. Es wird gesagt, dass er die Brüder in den Tower brachte, damit sie ein sicheres Leben führen konnten. Er soll seinem Neffen versprochen haben, das Land in seinem Namen in der Zwischenzeit zu regieren, bis er alt genug war, dies selbst zu übernehmen. Fortan regierte der Herzog of Gloucester als Lord Protektor. Diese Form der Regierung war nichts Ungewöhnliches. Es passierte häufig, dass der eigentliche König zu jung war, um ein Land zu regieren. Oft wurden die Regierungsgeschäfte dann von ranghohen Verwandten ausgeübt, bis die Volljährigkeit erreicht war. Doch in diesem Fall sollte etwas passieren, das den Lauf der Geschichte auf eine Art und Weise veränderte, dass wir nur spekulieren können, wie die Welt heute aussehen würde, wäre Eduard IV. später verstorben und wären die Brüder früher geboren oder hätte es einen anderen Lord Protektor gegeben.” Man spürte die Faszination des Professors für dieses Thema und auch Charly war gefesselt von den Worten des Mannes vor ihm. Einer der Gründe, wieso ihn die Geschichte so faszinierte, war die Tatsache, dass sehr viele Dinge passierten, die nicht aufgeklärt werden konnten und über die heute nur wild spekuliert werden kann. Zwar gibt es unzählige Schriften, Tagebücher und Protokolle, jedoch in der Regel nicht über Dinge, die nicht hätten passieren sollen.

„Der Herzog von Gloucester”, fuhr der Professor fort, „war offensichtlich eine Art Meister darin, einen Plan zu entwickeln, um die Öffentlichkeit langsam an eine neue Realität zu gewöhnen. Während in den ersten Monaten die Brüder noch regelmäßig im Garten des Towers beim Spielen gesehen wurden, wurden diese Sichtungen immer weniger, bis man sie gar nicht mehr in der Öffentlichkeit wahrnahm. Erklärt werden könnte es damit, dass Gloucester sich einem psychologischen Spiel bediente, indem er die Anwesenheit der Jungen nach und nach schleichend reduzierte, um die Menschen daran zu gewöhnen, sie immer seltener zu sehen. Am Ende verschwendeten kaum noch Leute einen Gedanken daran, dass man die Jungen immer seltener sah. Nach ungefähr zwei Jahren wurden dann allmählich die Diener des jungen Königs und seines Bruders entlassen. Erzählungen, deren Wahrheitsgehalt man kaum prüfen kann, handeln davon, dass die Brüder daran gehindert wurden, allein innerhalb des Towers spazieren zu gehen. Sie sollen auf ihre Gemächer begrenzt worden sein bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie komplett verschwunden waren.“ Mit diesen Worten wandte sich der Professor wieder dem Pult zu und drückte erneut auf eine Taste, die ein weiteres Bild auf der Leinwand erscheinen ließ. Es zeigte zwei Jungen, etwa acht bis zehn Jahre alt, beide gekleidet in schwarzen Gewändern mit leicht gelocktem, schulterlangem roten Haar. Jeder von ihnen blickte in eine andere Richtung. Ihre Blicke schienen angsterfüllt, ja verzweifelt zu sein, als suchten sie einen Ausweg aus einer Situation, die sie nicht einschätzen, geschweige denn verstehen konnten.

„The Princes in the Tower wurde 1878 von Sir John Everett Millais gemalt. Etwas mehr als vierhundert Jahre nach dem Tod von König Eduard V. und seines Bruders Richard. Eine Interpretation der Situation, die ich persönlich beeindruckend finde, denn sie zeigt deutlich, dass die Thematik nicht vergessen wurde. Sehen Sie die unterschiedlichen Blicke, die Angst und Verzweiflung in den Augen der Brüder? Vierhundert Jahre nach dem Tod der beiden schaffte es ein Künstler einzufangen, was nie eingefangen werden sollte, wenn es nach dem Herzog von Gloucester gegangen wäre.“ Die Stimme des Professors wurde leiser und sank in sich zusammen. Er setzte sich hinter das Pult und ließ das Bild eine Weile auf seine Studierenden wirken.

„Vermutlich starben die Jungen im Jahre 1483. Genauer kann man dies nicht sagen und – leider – erhalten wir keine Erlaubnis, die 1674 gefundenen Überreste, von denen man ausgeht, dass es sich um die Brüder handelt, genauer zu untersuchen. Unter einer Treppe wurden in jenem Jahr von Arbeitern, die Reparaturen vornahmen, zwei Skelette gefunden. Die Größe ließ vermuten, dass es sich dabei um Kinder handeln müsse. Und da diese Skelette nebeneinander lagen und der Fall der Brüder immer noch Thema war, entschied der damalige König Karl II., die Überreste in der Westminster Abbey königlich zu bestatten. Der König ließ eine Inschrift anfertigen, aus der deutlich hervorgeht, dass man die Schuld für das Verschwinden und den Tod der Brüder und somit des damals rechtmäßigen Königs von England dem Onkel, dem Herzog von Gloucester, der sich selbst zu König Richard III. machte, gab. Karl II. ging sogar noch einen Schritt weiter und ließ in die Gräber eingravieren, dass die Jungen durch ein Kissen erstickt wurden. Ob es sich tatsächlich um die Überreste der beiden Jungen handelt, können wir nicht mit Gewissheit sagen. Und das wird auch so bleiben, solange Ihre Majestät keine Erlaubnis erteilt, die Gebeine mit neusten Möglichkeiten zu untersuchen.” Wieder stellte sich eine Stille ein. Einige Sekunden lang, die Charly wie Stunden vorkamen, sagte niemand ein Wort. Bis der Professor erneut das Wort ergriff.

„Geschichte besteht nicht nur aus dem Lesen alter Dokumente, dem Recherchieren von Beweisen für eine Theorie oder dem Lehren an einer Schule über das Vergangene. Als Historiker müssen und wollen wir uns immer die Frage stelle, wie die Welt und die Zeit aussehen würden, wenn etwas, das geschah, nicht passiert wäre. Was wäre mit England, Europa, der Welt geschehen, wenn nicht König Richard III. die Macht an sich gerissen und sich selbst zum König proklamiert hätte? Wie sähe alles Genannte aus, wenn Eduard V. regiert hätte, so, wie es ihm zugestanden hätte?” Ein Feuer war in seiner Stimme zu hören. „Ich möchte, dass Sie sich Gedanken darüber machen. Ich möchte, dass Sie nach Hause, in die Bibliothek, wohin auch immer gehen und sich Gedanken darüber machen, welchen Lauf die englische Geschichte genommen hätte, wenn nicht Richard, sondern Eduard regiert hätte. Wenn die Brüder nicht verschwunden wären. Betrachten Sie die Aufgabe als eine Prüfungsleistung. Wir ersparen uns die Klausur und eine Hausarbeit wird es ebenfalls nicht geben. Ich möchte von Ihnen einen ausführlichen Text mit Gedanken zur besagten Thematik. Länge und Umfang, Quellen und Literatur sind zweitrangig, untermauern Sie Ihre Argumentation jedoch sinnvoll.” Der Professor stand auf, löschte die Bilder von der Leinwand und beendete die kurze Vorlesung nach einer halben Stunde, indem er den Hörsaal verließ und die Lichter einschaltete.

Charly verließ grübelnd den Hörsaal. Allein. Er hatte wenig Kontakt zu seinen Mitstudierenden. Ehrlich gesagt konnte er es selten ertragen, in einer Gruppe von Menschen zu sitzen. Er empfand es als anstrengend und wollte lieber für sich sein. Einige Male hatte er sich gefragt, was Freud darüber wohl gesagt hätte. Doch irgendwann kam er zu dem Schluss, dass es ihm gut ging, solange es ihm gut ging, ganz egal, ob er diesen Zustand durch Einsamkeit erreichte oder durch Geselligkeit. Die vom Professor aufgetragene Aufgabe begeisterte Charly. Es ist ein wahrscheinlich menschenaltes Phänomen, dass man sich Gedanken über Dinge macht, die nie passiert sind. Kontrafaktisches Denken nennt man das und dies beschäftigt die Menschen seit jeher. Charly war sich sicher, hätte nicht Richard III. regiert, sondern Eduard V. als rechtmäßiger Erbe, dann würde er vermutlich jetzt nicht die Universität verlassen, sondern etwas ganz anderes tun. Es ist allgemein anerkannt, dass die Physik davon ausgeht, dass jede Handlung die Zukunft verändern kann und würde, weswegen man auch davon ausgeht, dass Zeitreisen nicht möglich sind, oder – wenn sie es doch wären – die Zeitgeschichte sich allein durch die Zeitreise so signifikant verändern würde, dass Zeitreisen wahrscheinlich doch nicht möglich wären.

Charly wollte sich gleich an die Aufgabe wagen. Er entschied sich dazu, in die Bibliothek zu gehen, um zunächst alles über Eduard IV., den Herzog von Gloucester, und Eduard V. in Erfahrung zu bringen.

Kapitel Zwei

Ein Klingeln riss Charly aus seinen Gedanken. Um ihn herum lagen Bücher aller Art, unterschiedlichen Alters und in verschiedenen Sprachen verfasst. Das Klingeln, das ihn aus seinen Gedanken riss und ihn bemerken ließ, dass er bereits einen ganzen Block voller Notizen angesammelt hatte, erinnerte die Besucher daran, dass die Bibliothek gleich schließen würde. Er hatte fünfzehn Minuten Zeit, die Bücher zurück an ihren Platz zu bringen und zu gehen. Doch obwohl die Zeit drängte und die ältere, strenge Bibliothekarin alles andere als herzlich und kompromissbereit war, verspürte er keine Hektik. In aller Ruhe räumte er seine Notizzettel zusammen, packte sie in seine Tasche und stapelte die Bücher auf einen Haufen, um sie zurück in die Regale zu stellen. Immer wieder war er unbeschreiblich fasziniert von der Vielzahl der Bücher, ihren Exemplaren, ihrem Alter und dem guten Zustand. Gefühlt waren die Regale unerreichbar und die langen Leitern an den fest montierten Massivholzregalen verstärkten diesen Effekt noch.

Ein erneutes Klingeln erinnerte Charly daran, dass man die Bibliothek in fünf Minuten zu verlassen hatte. Er stellte die Bücher zurück in die Regale, schnallte sich seinen Rucksack auf den Rücken und ging in den kalten Abend hinaus.

Es war kurz vor Mitternacht, als Charly zu Hause ankam. Normalerweise wäre er leise in die Wohnung gegangen, um die anderen nicht zu stören, allerdings wusste er, dass sowieso noch niemand schlafen würde. Im Wohnzimmer brannte Licht und der Fernseher lief. Seine Mitbewohner schienen sich einen Horrorfilm anzusehen. Charly warf einen kurzen Blick ins Wohnzimmer und begrüßte die anderen. John und Mary saßen auf dem alten, abgesessenen Sofa, dessen grüne Farbe diese Bezeichnung schon lange nicht mehr verdiente. Es hatte ursprünglich wohl eine Art Lederbezug sein sollen, aber die Risse und Flecken ließen das Leder langsam, aber sicher zu Fetzen werden. Sie hatten es bei ihrem Einzug übernommen. Was genau mit dem Sofa passiert und wie alt es schon war, wusste niemand. Aber es erfüllte seinen Zweck.

„Hey, Charly“, sagte John, leicht abwesend, da er offenbar nichts vom Film verpassen wollte. „Wo hast du dich den ganzen Tag rumgetrieben?”, fragte er freundlich.

„In der Bibliothek, wo sonst“, sagte Mary unbeteiligt, ohne dabei auch nur eine Sekunde vom Fernseher wegzusehen. Man konnte nicht genau sagen, ob diese Aussage abwertend, neutral oder neidisch klang. Neidisch deswegen, weil sie immer mal wieder darauf kamen, dass sowohl Mary als auch John liebend gern eine solche Motivation für ihr Studium aufgebracht hätten, wie Charly es tat.

„Richtig, hundert Punkte.” Mary drehte sich kurz zu Charly um und lächelte.

„Komm, setz dich zu uns. Der Film ist gut“, lud Mary ihn ein.

„Lieber nicht. Ich möchte noch ein wenig arbeiten, bevor ich schlafen gehe”, erwiderte er.

„Oh, Charly, komm schon. Es ist gleich Mitternacht und du machst ohnehin nichts anderes, als dich mit der Vergangenheit zu befassen. Sieh es so: Der Film wurde in der Vergangenheit gedreht, also ist er ein Stück Geschichte. Setz dich hin, schau den Film und studiere seine Geschichte. Wenn du es gut anstellst, kannst du deinem Gehirn verkaufen, dass du tatsächlich gearbeitet hast.” Mary musste lachen. Auch Charly konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, während John nur dasaß und Charly auffordernd anblickte. Obwohl die drei nicht unterschiedlicher hätten sein können, waren diese beiden Personen wohl die einzigen, die Charly annährend als Freunde betiteln würde. Ihnen selbst hatte er es aber noch nie gesagt. Vermutlich würde er das auch niemals tun. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass diese WG eine reine Zweck-WG war. Als diese Wohnung frei wurde, konnte sie sich niemand leisten. Sie war die perfekte Wohnung für Studierende. Sie lag beinahe auf dem Campus der Universität, aber eben auch nicht, was sie nicht zum Objekt der Uni selbst machte, wodurch also nicht die Regeln galten, die auf dem Campus Gültigkeit hatten. Also suchte John zwei Leute, die mit einziehen wollten. John war ein Macho, wer ihn kannte, wusste, dass es häufig Partys geben würde und er machte keinen Hehl daraus, dass er keine Freunde wollte, sondern Leute, die ihm dabei halfen, diese Wohnung zu finanzieren. So kamen Mary und Charly ins Spiel. Doch im Laufe der letzten Monate hatte sich doch etwas anderes entwickelt. John wurde zusehends ruhiger und das war wohl Mary zu verdanken, und etwas, das niemand wirklich wollte, aber auch etwas, das niemand wirklich verhinderte: Freundschaft.

Charly warf seinen Rucksack in die Ecke und setzte sich neben Mary, die ihm Platz gemacht hatte. „Also, worum gehts?”, wollte Charly wissen.

„Das Übliche: Eine Gruppe junger Leute geht in einen Wald, um ein Abenteuer zu erleben und setzen sich der Gefahr eines Serienkillers aus, der dort lebt.“ Mary musste lachen. „Ich weiß selbst nicht, wieso diese Filme immer so erfolgreich sind. Es gibt unzählige davon und die meisten, eigentlich alle, haben dieselbe Handlung, nur die Personen sind andere. Nicht mal bei den Morden wird wirklich fiel verändert.”

„Genau deswegen sind diese Filme auch so erfolgreich“, mischte sich jetzt auch John ein. „Nimm ein Format, das gut läuft und bastel immer wieder eine ähnliche, aber doch nie gleiche Geschichte drumherum und du hast mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit einen Erfolg. Der Mensch ist einfach gestrickt, er steht auf Gewohntes. Wenn er einmal etwas gut findet, wird er es immer gut finden.” John studierte Psychologie. Und auch, wenn er es niemals zugeben würde, liebte er dieses Fach und konnte sich nichts anderes vorstellen. Aber es würde – jedenfalls aktuell – seinem Ruf als Aufreißer schaden, wenn er plötzlich zu einem Studenten würde, dem das, was er tat, auch noch Spaß machte. Also entschied er, dass er nach Außen so tat, als würde er nur studieren, um seinen Eltern einen Gefallen zu tun. Die Wahrheit sah aber so aus, dass John sich nichts anderes hätte vorstellen können.

Der Film zog sich Charlys Meinung nach. Auch das ist bei beinahe jedem Horrorfilm identisch. Er dauert neunzig Minuten. Zehn Minuten kann man abziehen für den Abspann, die erste Stunde des Films passiert im Grunde nichts und die letzten zwanzig Minuten werden alle umgebracht. Manchmal überlebt jemand. Aber im Grunde sind sie alle gleich. Charly wurde müde und hin und wieder musste er sich zwingen, die Augen offen zu halten.

„Leute, ich bin echt geschafft, ich denke, ich gehe schlafen. Wir wissen alle, wie der Film ausgeht“, meinte Charly lachend. Mary und John lachten ebenfalls und nickten.

„Du hast ja Recht“, sagte Mary. „Gute Nacht.”

John lächelte Charly nur an und sagte in seiner typischen Art rein gar nichts.

„Wir sehen uns Morgen.” Charly stand auf, nahm seinen Rucksack und machte sich auf den Weg ins Bad, um sich für die Nacht fertig zu machen.

„Nein! Nicht!”, schrie Charly in den langen, kalten Gang. Vor ihm waren zwei Männer, in eine Art Rüstung gekleidet. Sie hielten Schwerter in der rechten Hand und schienen jemanden zu verfolgen. Sie beachteten Charly nicht, der ihnen hinterherlief und dabei aufpassen musste, nicht über seine eigenen Füße zu stolpern. Es war dunkel hier drin, wo auch immer er sich gerade befand. Nur vereinzelt hingen kleine Fackeln an den kalten Steinwänden und spendeten ein wenig Licht. Charly blinzelte und im selben Augenblick waren die Männer verschwunden. Er verlangsamte seinen Schritt. Beinahe wäre er gegen eine Mauer gelaufen. Der Gang schien zu Ende zu sein. Doch nur das schäbige, schwache Licht verhinderte, dass Charly sehen konnte, dass sich links und rechts ein weiterer Weg abspaltete.

„Hilfe!”, hörte Charly jemanden rufen. Die Stimme halte an den Wänden wider, was es schwierig machte zu erkennen, woher sie kam.

„Hilfe!”, hörte Charly die Stimme erneut. Jetzt war er sich sicher, dass sie von der rechten Seite kam. Mehr aus Intuition, denn aus Wissen, folgte er dem rechten Gang. Das Licht wurde nicht besser. Seine Sicht war höchstens eine Armlänge lang. Die Fackeln an den Wänden schienen am Verglühen zu sein. Charly entschied sich dazu, einen kurzen Moment innezuhalten, um zu lauschen. In der Ferne glaubte er Schritte zu hören, wusste aber nicht, ob er seinem Gehör glauben konnte, das durch seine tiefen, hektischen Atemzüge immer wieder getäuscht wurde. Nachdem Charly keine Schritte mehr hörte, lief er weiter. Er war sich sicher, dass sie aus dieser Richtung stammen mussten. Doch die hohen, kalten, Wände machten es ihm nicht leicht. Langsam verbesserte sich die Sicht. In der Ferne konnte Charly ein dämmriges Licht erkennen. Offensichtlich lief er direkt auf eine Tür zu, die nicht ganz geschlossen war und hinter welcher Kerzen oder Fackeln einen Raum erhellten. Stimmen drangen aus dem kleinen Türspaltheraus an sein Ohr, aber er war nicht in der Lage zu verstehen, was gesagt wurde.

Langsam nährte er sich der Tür. Sie war angelehnt; gerade so, dass sie nicht ins Schloss fiel. Das war sein Glück. Wäre die Tür verschlossen gewesen, hätte er niemals erfahren, wer um Hilfe gerufen hatte. Ganz vorsichtig und den Atem anhaltend versuchte er, die Tür weiter zu öffnen. Er hoffte, dass sie kein Knarren von sich gab und er so auffallen würde.

Durch den kleinen Spalt konnte er vier Personen erkennen. Zwei davon schienen die Männer zu sein, denen er hinterhergelaufen war. Die beiden anderen Personen kannte er nicht. Aber sie schienen sehr jung zu sein. Charly bemerkte, dass sich am anderen Ende des Raumes noch ein weiter Mann befand.

„Ich möchte nicht, dass ihr noch einmal diesen Raum verlasst”, sagte eine tiefe Stimme ruhig, aber bestimmt. „Es ist nicht gut für euch, da draußen zu sein.”

Der Mann hatte dunkle, schulterlange Haare. Seine Gesichtszüge waren kalt und steif. Es musste eine Ewigkeit her sein, dass er letztmals gelächelt hatte. Seine Knochen im Gesicht schienen eingefallen, das Kinn lief spitz zu.

„Du darfst mich nicht festhalten, Onkel. Ich weiß, dass ich der rechtmäßige König bin. Du musst machen, was ich sage, nicht andersherum“, sagte einer der Jungen. „Du bist zu jung, um König zu sein”, lautete die Antwort.

Jetzt fiel es Charly ein. Der Mann, der sich aus seinem Blickwinkel heraushielt, war der Herzog von Gloucester, der Onkel von Eduard V.

Ohne dass die Jungen noch etwas sagen konnten, wurden sie von den zwei Männern am Arm gepackt und festgehalten.

„Du wirst niemals König von England sein. Es ist mein Recht, die Krone zu tragen”, sagte der Herzog kalt. „Nehmt die Jungen mit und sperrt sie ein. Sie dürfen den Tower niemals verlassen.”

„Ja, Euer Gnaden“, sagte einer der Männer und machte sich mit einem der Jungen auf den Weg in Richtung Tür.

„Nein, lass mich. Hilfe!”, schrie der Junge.

Charly erstarrte, als ihm auffiel, dass es ihm nicht möglich war, zu fliehen. Der Mann und der junge König kamen der Tür immer näher. Dann würde sie geöffnet.

Schnell atmend schreckte Charly aus dem Schlaf.

Die Uhr auf seinem Nachttisch zeigte 04: 37 Uhr an.

Er hatte am Abend zuvor in der Bibliothek so viel über den Herzog von Gloucester und die Brüder Eduard und Richard gelesen, dass er im Schlaf sämtliche Informationen hierüber in einem Traum verarbeitete.

Das war aufregend, dachte Charly, als er sich wieder auf sein Kissen legte und versuchte, noch einmal einzuschlafen.

Pünktlich um sieben Uhr am Morgen klingelte der Wecker. Charly konnte sich nach dem Aufstehen nur noch vage an den Traum erinnern. Er wusste aber, dass ihn diese Thematik so schnell nicht mehr loslassen würde. Vor allem, weil das Königshaus sich strikt weigerte, die Gebeine der angeblichen Brüder untersuchen zu lassen. Er hatte sich im Laufe seiner Recherchen immer wieder gefragt, was der wirkliche Beweggrund dafür sein könnte. Störung der Totenruhe lautete das offizielle Argument. Aber war es nicht auch ein wenig im Interesse der Königin zu erfahren, ob es sich bei den 1674 gefundenen Skeletten um die besagten Brüder handelte? Vermutlich würde er Zeit seines Lebens nicht erfahren, was die Wahrheit war. Das einzige, was er tun konnte, war so viel wie möglich herauszufinden, Schlüsse zu ziehen und sie im Rahmen seiner Berufung als Historiker aufzuarbeiten.

Als er sein Zimmer verließ, kam ihm der Geruch von Kaffee entgegen. Ein Geruch, denn man am Morgen nur zu gerne wahrnahm, denn es bedeutete, dass jemand vor ihm wach war und Kaffee kochte. Somit musste er es nicht mehr tun.

Es war Mary, die in der Küche saß, in der Zeitung las und Kaffee kochte.

„Wieso bist du so früh auf?”, wollte Charly wissen, der es schon lange nicht mehr erlebt hatte, dass Mary oder John vor ihm aufstanden.

„Ach, ich habe heute Morgen einen Termin beim Dekan. Um acht Uhr muss ich schon da sein. Vermutlich geht es darum, dass ich die letzten Vorlesungen nicht besuchte, die Prüfungen aber dennoch mit der vollen Punktzahl bestanden habe. Und wir wissen ja alle, wie er ist: Weil er es nicht kann, kann es auch kein anderer.” Sie verdrehte die Augen, während sie den Wirtschaftsteil überflog. Mary studierte Medizin und es schien so, als sei ihr diese Gabe in den Genen verankert worden. Ihr fiel es leicht, alle relevanten Dinge zu behalten und sie musste dafür nicht einmal viel lernen. Im Grunde genügte es, wenn sie etwas einmal las, um es dauerhaft zu wissen. Das war eine Eigenschaft, die nur von wenigen Professoren und Dozenten anerkannt wurde. Viele gingen schlicht davon aus, dass sie bei Prüfungen schummelte, es schaffte sich irgendwie die Lösungen zu besorgen oder sogar mit den Professoren ins Bett stieg. Dass sie sich an einer Eliteuniversität befand, in der medizinischen Fakultät, wo der Begriff „eidetisches Gedächtnis” kein Fremdwort sein sollte, schien dabei kaum eine Rolle zu spielen.

„Ach, der alte Cleve soll sich nicht so haben“, entgegnete Charly. „Aber ja, wie du sagst: Wenn jemand etwas kann, dass er nicht kann, ist es unmöglich. Keine Ahnung, wie er es geschafft hat, hier Dekan zu werden“, schloss er, als sein Blick auf einen Umschlag fiel, der auf dem Küchentisch lag. Auf dem Umschlag war ein großes Wappen abgebildet. Es war rot und zwei Schlangen umwickelten es. Darin waren die Buchstaben „iur” geprägt, sodass sie leicht hervorstachen. Als Empfänger war sein Name zu erkennen.

„Wie lange liegt der hier schon?”, fragte Charly.

„Was? Oh. Den habe ich gestern mit aus der Post geholt”, erwiderte Mary.

Charly nahm den Umschlag in die Hand und betrachtete ihn genauer.

Affirmanti incumbit probitas, war unter dem Wappen zu lesen. Wer behauptet muss auch beweisen. Zusammen mit dem „iur” im Wappen ergab es für Charly langsam einen Sinn. Der Brief kam von einer Anwaltskanzlei.

Charly nahm sich eine Tasse aus dem Schrank, füllte sie mit Kaffee und Milch und ging auf sein Zimmer. Die einzige Post, die er bisher bekommen hatte, waren Rechnungen gewesen. Post von einem Anwalt zu bekommen, war sicherlich keine der besten Nachrichten, die man erwarten würde.

In seinem Zimmer stellte er die Tasse ab, setze sich an seinen Schreibtisch und öffnete den Brief.

Sehr geehrter Mister Farway,

da meine Bemühungen Sie zu finden leider keine andere Kontaktmöglichkeit offen ließ, habe ich mich dazu entschieden, Sie auf diesem Wege zu erreichen.

Als Rechtsanwalt und Notar bin ich vor allem mit Erbangelegenheiten betraut, weswegen ich in einer Angelegenheit dringend mit Ihnen sprechen muss.

Bitte kontaktieren Sie mein Büro unter der oben genannten Telefonnummer und machen Sie einen Termin mit meiner Sekretärin aus.

Ich freue mich darauf, Sie persönlich kennenzulernen.

Hochachtungsvoll

Sir Francis McAllister

Die Unterschrift des Anwalts nahm beinahe die gesamte Seite ein und schien dem Anschein nach länger gebraucht zu haben als das Anschreiben selbst. Nachdem Charly damit fertig war, die prunkvolle Unterschrift zu bewundern, kehrten seine Gedanken auf den Inhalt zurück. Er fragte sich, in welcher Erbangelegenheit ein Anwalt mit ihm sprechen wollte. Seine Eltern hatten kein besonders großes Vermögen, zudem hätte er sicherlich von einem eventuellen Tod gehört. Auch wenn er keinen Kontakt mehr zu ihnen hatte, würde er davon spätestens durch ein Nachlassgericht erfahren – aber doch nicht direkt von einem Anwalt.

Charly legte den Brief an die Seite und klappte seinen Laptop auf. In die Suchleiste des Browsers gab er den Namen des Anwalts ein und bestätigte mit Enter.

Die gesamte Seite war voll mit Artikeln und Bildern des Anwalts Sir Francis McAllister. Auf einem Bild war er mit dem Prince of Wales zu sehen, wie sich beide die Hände schüttelten. Auf einem anderen Bild war er zusammen mit dem Erzbischof von Canterbury abgelichtet. Sir Francis McAllister schien ein Mann zu sein, der bereits die besten Tage hinter sich hatte. In dem feinen, sicherlich teuren Anzug steckte ein alter, grauhaariger Mann, der das Pensionsalter vermutlich schon um einige Jahre überschritten hatte. Irritierend fand Charly das Monokel, welches der Anwalt sich an sein rechtes Auge gedrückt hatte. Selten sah man heute noch Menschen mit einer solch altertümlich anmutenden Sehhilfe herumlaufen.

Nun gut, sein Alter scheint sich ungefähr mit der Erfindung des Monokels zu überschneiden, dachte Charly amüsiert.

Als Charly auf die Website der Kanzlei klickte, bemerkte er sofort, dass diese von keinem Profi erstellt wurde. Vermutlich hatte sich der Anwalt nur der Technik gebeugt und sich gezwungen sehen, zumindest zum Teil mit der Zeit zu gehen. Wenn Mister McAllister aber in Kreisen der königlichen Familie zu tun hatte, dann waren Mandanten sicherlich kaum das Problem, weswegen die Website irgendwie gar keinen Sinn ergab.

Sir Francis McAllister ist seit vielen Jahrzehnten Anwalt und Notar in London. Er studierte an der berühmten Cambridge-Universität Rechtswissenschaften und machte sich gleich nach seinem summa cum laude prämierten Abschluss mit einer eigenen Kanzlei selbstständig, übernahm aber wenige Jahre später die Kanzlei seines Vaters Sir Robert McAllister, der, ebenso wie sein Sohn ein enger Vertrauter der königlichen Familie ist. Seit Generationen führt die Familie McAllister die Rechtsgeschäfte des englischen Königshauses.

Neben der Telefonnummer der Kanzlei, einer Wegbeschreibung und einem Foto des Anwalts war auf der Website nichts weiteres außer diesem Text zu finden.

Ein komisches Gefühl machte sich in Charlys Magengegend breit. Ein Anwalt, dazu noch der Anwalt der königlichen Familie, wollte mit Charly über eine Erbangelegenheit sprechen. Das war komisch. Er konnte es sich nicht erklären. Darüber nachzudenken, würde ihn aber auch nicht weiterbringen, entschied er. Er schaute auf die Uhr. 07: 23. In der Kanzlei wird um diese Zeit sicherlich noch kein Mensch sein. Auf der Website gab es keine Sprechstundenzeiten. Er würde bis acht Uhr warten und dann anrufen.

Regelmäßiges Ticken erfüllte das alte Arbeitszimmer.

In der Mitte des Raumes stand ein alter, dunkelbrauner Holzschreibtisch, der kunstvoll mit Verzierungen beschnitzt war. Darauf stand, furchtbar klassisch, eine grüne Schreibtischlampe. Auf diesem edlen Tisch waren Akten verteilt. Sie schienen nicht sonderlich sortiert zu sein, Chaos konnte man diese Ordnung jedoch auch nicht gerade nennen. Ein schwarzer Ledersessel stand dahinter, ein großer Runder Aschenbecher links auf dem Tisch, eine Zigarre qualmte vor sich hin und erfüllte den Raum mit einem Tabakgeruch, den selbst konsequente Nichtraucher als angenehm betiteln würden. Der Boden war mit rotem Samt ausgelegt, jedenfalls machte die Farbe den Eindruck. Auf der anderen Seite des Zimmers loderte ein kleines Feuer in einem Kamin. Davor standen zwei Ohrensessel und in deren Mitte ein Tischchen, auf dem sich eine Zigarrenkiste befand. Auf dem Kaminsims stand eine eindrucksvolle Uhr. Sie schien vergoldet zu sein oder gänzlich aus Gold zu bestehen. Sie gab das regelmäßige Ticken ab, das die Stille im Raum durchbrach.

An der Tür, nicht weit entfernt vom Schreibtisch, klopfte es.

„Ja, bitte“, sagte Sir Fancis McAllister. Die Tür öffnete sich und eine streng gekleidete Dame betrat den Raum.

„Sir, ein Anruf von Mister Charly Farway”, sagte sie. Erst jetzt blickte der Anwalt auf.

„Na endlich“, sagte er. „Stellen Sie das Gespräch bitte auf meinen Apparat.” Er hatte den Satz noch nicht ganz beendet, da setzte er sich aus seinem Ohrensessel auf, legte eine Akte zur Seite und trat an seinen Schreibtisch, an dem wenige Sekunden später das Telefon klingelte.

„Mr. Farway“, sagte der Anwalt, nachdem er abgenommen hatte mit einer tiefen, alten Stimme. „Ich freue mich, dass Sie meinen Brief erhalten habe. Es war nicht einfach, Sie ausfindig zu machen, wissen Sie.” Eine kurze Stille erfüllte den Raum, die nur durch das gleichmäßige Uhrenticken unterbrochen wurde.

„Aber nein, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich bin Anwalt. Kein Staatsanwalt.“ McAllister lachte kurz. „Hören Sie, die Angelegenheit ist zu komplex, als dass ich sie am Telefon erörtern könnte. Ich würde Sie gerne auf eine Tasse guten Earl Grey in meine Kanzlei einladen, um die Situation zu besprechen.“ Nervös und ungeduldig klopfte McAllister mit einem Kugelschreiber auf einen Notizblock herum.

„Hervorragend. Dann kommen Sie doch morgen Vormittag um neun Uhr in meine Kanzlei. Gut. Ja, vielen Dank, dass Sie sich gemeldet haben. Bis morgen.” McAllister ließ den Hörer auf die Gabel fallen und sich selbst in den Ledersessel.

Es wurde auch Zeit, dass ich diesen Jungen endlich finde, dachte er.

„Marge!”, rief er laut. „Ich brauche einen Tee. Und bereiten Sie sämtliche Akten für Mr. Farway vor. Streichen Sie meine Termine für morgen Vormittag und verlegen Sie diese. Wir werden den gesamten Morgen brauchen, um die Sache zu erledigen.” McAllister wirkte zufrieden, erleichtert, gar glücklich.

Nun kann ich endlich in den Ruhestand gehen.

Nachdem Charly aufgelegt hatte, vermehrten sich die Fragen in seinen Gedanken von Sekunde zu Sekunde. Er konnte sich auch nach diesem kurzen Telefonat nicht erklären, wieso ein gutsituierter Anwalt mit ihm sprechen wollte. Sicher, ihm war wohl klar, dass es sich um eine Erbsache handeln würde. Aber wer sollte ihm schon etwas vererben? Seine Eltern lebten weit entfernt von London und würden sich sicherlich keinen Anwalt leisten können, der sich mit den Angelegenheiten des Adels befasste. Von weiteren Verwandten wusste er nicht.

Es brachte ihn aber auch nicht weiter, mehr Gedankenkraft daran zu verschwenden. Vor dem morgigen Tag würde er ohnehin nichts in Erfahrung bringen können und er musste sich nun erst einmal eine Fahrt nach London organisieren. Eine Stunde Zugfahrt lag vor ihm. Er beschloss, weitere Recherchen zu dem Auftrag des Professors vorzunehmen und die Zeit im Zug für das Schreiben der Arbeit zu nutzen.

Kapitel Drei

Um diese Zeit war am Bahnhof von Cambridge einiges los. Die meisten Menschen hier waren Pendler, die zur Arbeit wollten. Einige wollten sicherlich auch nach London, darunter vermutlich etliche Pendler. Manchmal wunderte Charly sich selbst über die Gedanken, die er im Laufe eines Tages sammelte und erklärte sich damit seine Unfähigkeit, soziale Kontakte einzugehen. Insgesamt war der Bahnhof modern. Nur die Außenfassade erinnerte an eine Zeit, die längst vergangen war. Charly war durch und durch Historiker und so wusste er, dass der Prozess, bis der Bahnhof endlich seinen Dienst aufnehmen konnte, fünfundzwanzig Jahre und mehrere Gesetze gedauert hatte. Kaum vorstellbar, dass für einen Bahnhof das Parlament jahrelang tagen musste. Andererseits könnte man sich so die Untätigkeit in anderen Bereichen erklären. Über diesen Gedanken musste Charly etwas schmunzeln.

Am Gleis tummelten sich viele Menschen, die auf die Einfahrt des Zuges warteten, der sie nach London, zum berühmten King's Cross bringen sollte. Wenn er schon einmal dort war, dachte er sich, könnte er ja gleich mal beim Gleis 9 3/4 vorbeischauen und Hogwarts besuchen. Wieder musste Charly über seine eigenen Gedanken schmunzeln.

„Verehrte Fahrgäste. Bitte halten Sie Abstand von der Bahnsteigkante. Der Zug nach London fährt jetzt ein.” Eine automatisierte Stimme holte Charly aus seinen Gedanken zurück in die Realität und kurze Zeit später hielt der Zug am Gleis.

Eine knappe Stunde später fuhr der Zug in den King's Cross ein. Geschäftiges Treiben war auf den Plattformen zu sehen. Die Menschen drängten sich aus den Zügen, gleichzeitig versuchten die wartenden Fahrgäste, in die Züge zu gelangen. Es war jedes Mal dasselbe Schauspiel. Niemand wollte warten, alle hatten sie scheinbar keine Zeit. Charly betrat das Gleis und blieb kurz stehen, um sich zu orientieren. Dabei wurde er unwirsch von einer Frau angerempelt, die den Zug verlassen wollte.

„Was stehen Sie hier so blöd herum? Es gibt Menschen, die haben es eilig!“, rief sie, während sie sich bereits von Charly entfernte.

Die Freundlichkeit scheint in London genauso zu sein wie das Wetter, dachte er, als er sich auf den Weg zum Ausgang machte. Nachdem er sich durch die Menschenmassen herausgearbeitet hatte, suchte er sich ein Taxi. Eine andere Möglichkeit hatte er nicht, in die Downing Street zu gelangen, denn er kannte sich überhaupt nicht aus. Im Gegenteil. Er war das erste Mal in London. Dass sich der Anwalt ausgerechnet in der bekannten Downing Street eine Kanzlei unterhielt, war wohl kaum ein Zufall. Seit ungefähr dreihundert Jahren residiert hier der Premierminister von England. Die Straße ist in London eine der bekanntesten und höchst gesichert. Charly fragte sich, ob er so einfach dort hineinfahren könnte. Der Taxifahrer wird es schon wissen, entschied er, als er auf eines der typisch schwarzen Taxen, die man aus jedem in London gedrehten Film kennt, zuging, die Hintertür öffnete und einstieg.

„Guten Tag, Sir. Ich würde gerne in die Downing Street“, sagte Charly leicht verunsichert. Der Taxifahrer drehte sich um und schaute ihn ungläubig an. Dann drehte er sich zurück zum Steuer und startete den Motor.

„Wohl einen Termin mit dem Premierminister, was?”, lachte er spöttisch.

„Nein, genau genommen habe ich einen Termin in der Kanzlei von Sir Francis McAllister. Kennen Sie die Kanzlei? Ich fürchte, ich habe die Hausnummer verlegt“, erklärte Charly. Nochmal drehte der Taxifahrer sich zu ihm um.

„Natürlich. Wer kennt den alten McAllister nicht? Er ist der Anwalt unserer Königin. Wie kommt es, dass ein einfacher Junge wie Sie einen Termin beim wichtigsten Anwalt des Landes hat?”, fragte der Taxifahrer neugierig, jedoch nicht mehr spöttisch.

„Über das genaue ‚Warum‘ bin ich mir selbst noch nicht wirklich im Klaren”, begann Charly zu erzählen. „Ich habe vorgestern diesen Brief von Sir McAllister erhalten.” Er kramte in seiner Tasche herum und hielt den Brief in die Luft, als müsse er sich vor dem Taxifahrer rechtfertigen, einen Termin beim königlichen Anwalt zu haben. „Nach einem kurzen Telefonat mit ihm habe ich keinerlei Informationen bekommen, nur einen Termin, um die Sache zu regeln”, endete er.

„Na, da haben Sie aber ein Glück. Ich vermute mal ganz stark, dass sie heute als armer Mann die Kanzlei betreten und als reicher Mann diese wieder verlassen. Beim alten McAllister dreht sich alles ausschließlich ums Geld. Einen Prozess hat er bereits seit Jahrzehnten nicht mehr geführt. Er konzentriert sich nur noch auf sein Notariat”, erklärte der Taxifahrer.

Als reicher Mann die Kanzlei verlassen? Das konnte Charly sich nicht vorstellen. Er hatte nie Geld gehabt und würde vermutlich auch nie wirklich viel davon besitzen. Allein die Studiengebühren kosteten ihn mehrere zehntausend Pfund im Jahr. Ohne ein kleines Stipendium und seinen Job in einem FastFood-Restaurant könnte er sich überhaupt nicht leisten, an einer Eliteuniversität zu studieren, ohne nach der Vorlesung unter einer Brücke zu lernen.

Himmel, dachte Charly. Er hatte bei der ganzen Aufregung vergessen, dass er heute eine Schicht im Restaurant hatte, die er nicht abgesagt hatte. Carl wird mich rausschmeißen, dachte er verzweifelt, als er sein Handy aus der Tasche holte, um seinen Chef anzurufen.

„Hey Carl, hier ist Charly, ich wollte“, weiter kam er nicht. „Nein, ich habe einen wichtigen Termin in London und habe vergessen … Carl … hör mir doch …“, Charly kam nicht dazu, sich zu erklären. Sein Chef hatte das Gespräch beendet und aufgelegt.

„Das lief wohl weniger gut, hm?”, meinte der Taxifahrer.

„Das kann man wohl sagen”, erwiderte Charly bedrückt. Nun musste er sich auch noch um einen neuen Job kümmern, ansonsten war es das mit einer Karriere als Historiker. Er starrte resigniert aus dem Fenster und ließ London an sich vorbeiziehen. Er wusste nicht, wie lange die Fahrt zur Downing Street dauern würde und wie lange er schon im Taxi saß. Ihm kamen Strecken, die er nicht kannte, immer unheimlich lang vor, selbst wenn sie nur zehn Minuten dauerten.