Der Engel von Warschau - Lea Kampe - E-Book
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Der Engel von Warschau E-Book

Lea Kampe

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Beschreibung

Die Geschichte des »weiblichen Oskar Schindler« Warschau, 1940: Die Nazis errichten das Ghetto. Die 29-jährige Sozialarbeiterin Irena versucht alles, um den jüdischen Menschen zu helfen. Sie versteckt ein kleines, von verzweifelten Eltern ausgesetztes Mädchen unter falschem Namen bei einer nicht-jüdischen Familie. Was als mutige Tat beginnt, wird zur groß angelegten Rettungsaktion. Irena schmuggelt immer mehr Kinder mit gefälschten »arischen« Identitäten aus dem Ghetto. Sie denkt nie ans Aufgeben, obwohl sie in ständiger Lebensgefahr schwebt. Aber Irena muss nicht nur um ihr eigenes Leben bangen. Denn Adam, ihre große Liebe, ist Jude. In dunkelster Zeit schenkte sie Hoffnung Historischer Hintergrund: Irena Sendler (1910-2008) rettete 2.500 jüdische Kinder vor dem sicheren Tod, indem sie sie aus dem Ghetto schmuggelte. Sie hoffte, die Kinder nach dem Krieg ihren Eltern zurückgeben zu können. Selbst als die Gestapo Irena Sendler unter Folter verhörte, soll »Die Mutter der Holocaust-Kinder« keine Informationen preisgegeben haben. 1965 würdigte Yad Vashem Irena Sendler als »Gerechte unter den Völkern«.

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Seitenzahl: 459

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Dr. Annika Krummacher

Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign

Covermotiv: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com und Mark Owen/trevillion.com

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Nachwort

Für Cläre MüllerImmer an meiner Seite

Kapitel 1

»Herein!«, rief Reichsminister Dr. Hans Frank und sah vom Schreibtisch seines Berliner Büros auf.

Ein junger SA-Mann trat ein. Auf den ersten Blick machte Ludwig Fischer mit seinem kräftigen Körper und dem vollen Gesicht den Eindruck eines gutmütigen Bauernjungen, doch in seinen kleinen Augen lauerte etwas Perfides.

»Kommen Sie, kommen Sie«, sagte Frank jovial. »Cognac? Brandy? Oder doch lieber einen Schnaps?«

Fischer zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

Frank lachte. »Unser heutiges Treffen ist erfreulicher Natur, setzen wir uns doch.« Er ging auf einen niedrigen Tisch mit Gläsern und Flaschen zu und schenkte ein, bevor er sich auf das Sofa sinken ließ und Fischer den Platz auf dem Sessel gegenüber anbot. Dann warf er einen kurzen Blick auf die Standuhr. »Jetzt ist es so weit. Wie ich eben erfahren habe, wurde unserem SS-Sturmbannführer Naujocks um Punkt sechzehn Uhr das Losungswort ausgegeben.« Er grinste. »›Großmutter gestorben‹. Wer sich das wohl ausgedacht hat? Na ja, jedenfalls werden Naujocks und seine Männer in ein paar Stunden als polnische Rebellen verkleidet unseren eigenen Rundfunksender in Gleiwitz angreifen. Eine unglaubliche Provokation, die wir Deutschen natürlich nicht hinnehmen können, weshalb wir uns gezwungen sehen, den Polen den Krieg zu erklären. Ich gehe davon aus, dass der Angriff in den frühen Morgenstunden erfolgen wird.«

Ludwig Fischer lachte. »Natürlich rechnen die Polen mit uns. Sie haben in aller Schnelle ein paar Truppen an der Grenze zusammengetrommelt. Alles ganz geheim, damit wir uns nicht provoziert fühlen. Und sie glauben tatsächlich, dass wir das nicht gemerkt hätten.«

»Ach ja, es heißt, sie hätten sogar berittene Truppen. Pferdchen, Fischer, Pferdchen. Was glauben Sie, was die sagen, wenn sie unseren Panzern gegenüberstehen. Ich hoffe, unsere Jungs richten kein Blutbad unter den armen Tieren an.« Er grinste wieder und legte den Arm auf die Sofalehne.

»Dazu werden sie gar keine Zeit haben«, erwiderte Ludwig Fischer. »Wir alle wissen, dass die ganze Farce höchstens ein paar Wochen dauern wird. Spätestens Ende September haben wir Polen in der Tasche, und Warschau gehört uns.«

»Das ist die richtige Einstellung, Fischer!«, rief Frank und beugte sich ein wenig vor. Seine breite Stirn mit den hohen Geheimratsecken glänzte in der tief stehenden Nachmittagssonne. Das glatte Leder des Sofas leuchtete rotbraun, wie der noch unberührte Brandy in seiner Hand. »Und genau deshalb habe ich Sie kommen lassen.« Er machte eine kurze Pause. »Sehen Sie, man hat mich zum Generalgouverneur des neu zu gründenden Generalgouvernements Polen ernannt. Und für die Stadt Warschau brauche ich einen besonders verlässlichen Mann.« Er sah Fischer mit wachen Augen an. »Ich hatte an Sie gedacht. Was meinen Sie? Gouverneur von Warschau? Na, wie klingt das?«

»Es wäre mir eine Ehre, Dr. Frank.«

Der nickte bedächtig. »Ehre, wem Ehre gebührt. Für Ihren Amtssitz hatten wir an das Brühlsche Palais gedacht. Am Piłsudski-Platz, den wir in Adolf-Hitler-Platz umbenennen werden. Wohnen können Sie in einer Villa im Nobelvorort Konstancin, den wir bei den Luftangriffen unbedingt aussparen müssen.« Er hob sein Glas. Fischer tat es ihm gleich. »Auf Warschau, die neue deutsche Stadt und ihren Gouverneur. Prost!«

Kapitel 2

Draußen auf dem Flur öffnete sich eine Tür und wurde leise wieder ins Schloss gedrückt. Irena hörte schnelle, leichte Schritte. Sie warf einen Blick auf die Uhr und lächelte. Halb fünf. Nach Elena konnte man die Uhr stellen. Alle im Warschauer Sozialamt wussten, dass sie regelmäßig eine halbe Stunde früher Feierabend machte, nur Elena selbst war felsenfest davon überzeugt, dass ihre tägliche Flucht aus dem Büro niemandem auffiel.

Irena lehnte sich auf dem Bürostuhl zurück, und während im Flur die Verbindungstür zum Treppenhaus zuklappte, schloss sie die Augen. Von draußen drangen Motorenlärm, Schritte und die hellen Stimmen zweier Frauen herein. Jetzt näherte sich ein Droschkengespann auf dem Kopfsteinpflaster. Der Kutscher stieß einen lang gezogenen Pfiff aus. Doch plötzlich drängte sich ein anderes Geräusch in den Vordergrund. Eine dicke Fliege schlug brummend ein ums andere Mal gegen die Scheibe. Irena machte die Augen auf. Einen Augenblick sah sie dem Insekt zu, das die unsichtbare Barriere mit reiner Willenskraft zu durchbrechen versuchte, dann erhob sie sich und öffnete das Fenster.

Zurück am Schreibtisch, schloss sie den letzten Bericht des Tages ab und überflog, was sie geschrieben hatte. Alles sah sehr ordentlich aus. Nichts lud dazu ein, genauer hinzusehen. Aber seit sie ihre kleinen Faktenberichtigungen nicht mehr alleine, sondern gemeinsam mit ihrer Kollegin Irka Schultz vornahm, fühlte sie sich ohnehin sicherer. Gewissensbisse hatte sie jedenfalls keine. Was sie tat, war richtig, denn vor ein paar Jahren hatte die polnische Regierung Sozialleistungen für jüdische Mitbürger stark eingeschränkt und an tausend unsinnige Bedingungen geknüpft, was die ärmeren Familien hart traf. Seitdem unterliefen Irena bei der Bearbeitung ihrer Fälle regelmäßig kleine Fehler. Manchmal wurde ein Kind auf dem Papier ein paar Monate jünger, um der ohnehin schon am Rand der Armutsgrenze lebenden Familie weiterhin Unterstützung zu gewähren. In anderen Fällen, so wie heute, verkleinerte sich der Wohnraum. Eigentlich war das nicht einmal gelogen, dachte Irena. Ihr Hausbesuch bei den Geremeks am Nachmittag hatte sie deprimiert. Angeblich lebte die sechsköpfige Familie in zwei Zimmern, tatsächlich aber war von dem schlitzohrigen Vermieter nur ein hölzerner Raumteiler eingezogen worden. Auf dem Formular hatte Irena sich genötigt gesehen, diese Illusion zu korrigieren, wodurch die Familie wieder Anspruch auf einen monatlichen Zuschuss bekam.

Sie zog das Blatt aus der Schreibmaschine und legte es zu den anderen. Draußen schlug die Uhr des nahe gelegenen Kirchturms fünf. Irena war dafür bekannt, so lange zu bleiben, bis auch die letzte Aufgabe erledigt war. Aber heute würde sie pünktlich Feierabend machen. Eine befreundete Kollegin wollte ihren Geburtstag mit einem Picknick im Park nachfeiern.

Draußen schlug ihr eine schwüle Hitze entgegen. Sie verstaute die Tasche und das Paket mit dem Kuchen in ihrem Fahrradkorb und radelte los. Der Ogród Saski, der Sächsische Garten, war ein herrlicher Park aus dem 18. Jahrhundert und nur einen Steinwurf von ihrem Büro in der Złotastraße entfernt. Irena trat in die Pedale, bis ihr der Fahrtwind in die blonden schulterlangen Haare fuhr. Auf der stark befahrenen Emilii-Plater-Allee musste sie über Kopfsteinpflaster fahren und versuchte mit der linken Hand das Kuchenpaket stabil zu halten. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, einen Babka zu backen, und Irena wollte das Hefegebäck nur ungern in Form von Krümeln zum Picknick bringen.

Schwungvoll umrundete sie eine Droschke, die unvermittelt vor ihr zum Stehen gekommen war, und bog kurz darauf durch das weit geöffnete schmiedeeiserne Tor des Parks. Durch die Kronen der hohen Linden und Buchen fiel das warme Nachmittagslicht. Kinder waren mit ihren Müttern und Gouvernanten unterwegs, und auf den Grünflächen saßen kleine Gruppen von Freunden und vereinzelte Pärchen. Je tiefer Irena in das Grün hineinfuhr, desto weiter entfernte sich der Lärm der Stadt. An seine Stelle traten Vogelstimmen und das Summen von Bienen, und ein Luftzug brachte die Blätter der alten Bäume zum Rascheln. Plötzlich sah Irena winkende Arme vor sich auf der Grünfläche. Automatisch fuhr auch ihr Arm nach oben.

»Na endlich!« Das Geburtstagskind stürmte auf sie zu, noch während Irena das Fahrrad gegen einen Baum lehnte.

Irena umarmte sie fest. Dann hielt sie sie prüfend vor sich. »Dass wir uns auch mal wieder sehen«, sagte sie halb vorwurfsvoll. Seit Ewa Rechtman einige Monate zuvor wegen ihrer jüdischen Abstammung aus dem Sozialamt entlassen worden war, hatten sie sich viel zu selten getroffen. Irena vermisste den unerschütterlichen Optimismus ihrer Freundin.

»Fass dich mal an die eigene Nase, Fräulein Vielbeschäftigt«, gab Ewa schlagfertig zurück. Sie löste sich von Irena, fuhr sich mit den Händen durch die hellen Haare und steuerte auf das Kuchenpaket zu.

»Hmm, Babka!«

Irena lachte und begrüßte die anderen. Die meisten von ihnen, darunter Irka Schultz, Jaga Piotrowska und Janka Grabowska, waren wie Irena im städtischen Sozialamt angestellt. Ala Gołąb-Grynberg dagegen, die wie Ewa Jüdin war, arbeitete im jüdischen Krankenhaus.

Auf der bunt karierten Decke lagen Teller und Schalen mit belegten Broten. Janka hatte selbst gemachte Zitronenlimonade mitgebracht. Ewa stellte Irenas Babka in die Mitte.

»Ich hoffe, nicht du hast ihn gebacken, sondern deine Mutter«, sagte sie schelmisch, während sie rote Kerzen in den Kuchen steckte.

»So deutlich musst du es nun auch wieder nicht sagen«, beschwerte sich Irena. Doch sie war Ewa nicht böse. Kochen und Backen lagen ihr tatsächlich nicht.

»Dafür hast du andere Stärken!« Jaga, die neben ihr saß, drückte ihr einen Kuss auf die Backe.

Als Ewa die Kerzen angezündet hatte, sangen sie Sto lat, das polnische Geburtstagslied, das Ewa »hundert Jahre« wünschte. Die Spaziergänger auf den Kieswegen drehten sich lächelnd nach ihnen um. Doch kaum hatte Ewa die Kerzen ausgepustet und die Kuchenstücke verteilt, trat Stille ein.

»Fast komme ich mir schuldig vor, dass wir hier sitzen und meinen Geburtstag nachfeiern, als wäre nichts«, sagte Ewa schließlich.

»Wann, wenn nicht jetzt?«, gab Janka trocken zurück. »Wenn Deutschland Polen tatsächlich angreifen sollte, wird uns das Feiern erst mal vergehen.«

»Mietek ist eingezogen worden. Ich habe ihn gestern zum Bahnhof gebracht«, sagte Irena.

Wieder entstand Schweigen. Seit Wochen waren die Spannungen zwischen Deutschland und Polen mit Händen zu greifen. Im Juli schon hatte es Gerüchte gegeben, dass Polen still und heimlich seine Streitkräfte mobilisiere, aber erst jetzt hatte es Irenas Mann getroffen. Dabei war Mietek ein durch und durch friedliebender, bodenständiger Familienmensch. Ein paar Jahre zuvor hatte er seine erste Stelle an der Universität in Poznań angenommen und war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Irena ihm dorthin folgen würde. Aber ihr waren die soziale Arbeit und das Studium in Warschau wichtiger gewesen. Wie unterschiedlich sie und Mietek waren, hatte sie sich erst da so recht bewusst gemacht. Er war ein ganz und gar unpolitischer Mensch, dessen Träume über seine Professur in Altphilologie und eine kleine Familie nicht hinausgingen. Sie hingegen wollte für andere da sein, mit ihren Freunden an der Uni und in der sozialistischen Partei Pläne schmieden, die Welt verbessern. Und wo ließ sich besser damit anfangen als unter Warschaus Armen und Benachteiligten?

Doch obwohl Mietek und sie nun schon seit Jahren getrennt lebten und ihre Ehe nur noch auf dem Papier existierte, war er ihr wichtig. Er war ihre Sandkastenliebe, der Freund, mit dem sie jeden Winter auf der gefrorenen Weichsel Schlittschuh gelaufen war. Und nun sollte Mietek mit seinen feingliedrigen Händen gegen die Deutschen kämpfen? Es war nur schwer vorstellbar. Da schon eher Adam, ein früherer Kommilitone von der Universität und ihr bester Freund. Unwillkürlich wurde Irena warm. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, von ihm zu sprechen, ihren Freundinnen zu erzählen, dass auch er eingezogen worden war. Und warum auch nicht? Alle kannten Adam, den Hitzkopf mit den revolutionären Ideen für ein neues, gerechteres, vor allem aber freies Polen. Adam, der von romantischen Gedichten bis hin zu Gesetzbüchern alles verschlang und mit dem sie oft bis spät in die Nacht in einem Café oder unter den Bäumen im Park träumte und diskutierte.

Doch sie sagte nichts und nahm stattdessen ein zweites Stück Kuchen. Irka tat es ihr gleich. Als sich ihre Hände über dem Kuchenteller berührten, trafen sich ihre Blicke.

»Es wird alles gut gehen«, meinte Irka. »Diesmal werden England und Frankreich Polen nicht im Stich lassen, ihr werdet sehen. Wir haben eine feste Zusage. Die Deutschen sollen bloß kommen. Ihr Vergnügen wird von kurzer Dauer sein. Und ehe man sichs versieht, sind Mietek und die anderen wieder zurück.«

»Das will ich hoffen«, erwiderte Ala, aber sie klang nicht überzeugt. »Wenn nicht, sehe ich schlimme Zeiten auf uns zukommen. Für ganz Polen, vor allem aber für Ewa und mich und die anderen polnischen Juden. Was die Deutschen mit ihren jüdischen Mitbürgern in Deutschland machen, ist schlimm genug, aber wenn ihr mich fragt, werden sie es hier weitab von zu Hause noch viel wilder treiben.«

Ewa griff nach Alas Hand. »Komm schon, jetzt sei nicht immer so pessimistisch. Außerdem feiere ich hier gerade Geburtstag … ich meine, rein theoretisch, falls ihr’s vergessen haben solltet. Also, wer hat Lust auf einen Themawechsel?«

Irka und Janka hoben lachend die Hände. Ala drückte Ewas Hand, doch ihr Lächeln wirkte gezwungen.

Es war schon dunkel geworden, als sie aufbrachen und sich auf den Heimweg machten. Irena liebte die langen Sommerabende, die ihr ein Gefühl von Freiheit gaben. Treffen im Park, in Cafés und Eisdielen. Auch heute hatten sich viele Menschen auf den Straßen getummelt. Alles war so wie immer. Oder doch nicht? Waren die Stimmen lauter gewesen? Ihr Lachen etwas zu schrill? Waren die Autos schneller gefahren? Irena hätte es nicht zu sagen vermocht.

Zu Hause angekommen, stellte sie ihr Fahrrad im Hof ab und schloss leise die Tür zur Wohnung auf, die sie mit ihrer Mutter teilte. Drinnen war es dunkel. Sie lauschte auf den Atem ihrer schlafenden Mutter. Er ging ganz ruhig. Irena war erleichtert. Ihre Mutter hatte Herzprobleme und atmete oft schwer. Ohne Licht zu machen, ging sie in die Küche und öffnete das Fenster. War es der Krupnik, der selbst gemachte Honiglikör, den Irka mitgebracht hatte, oder die Erinnerung an den gestrigen Tag, die keine Müdigkeit aufkommen ließ?

Die meisten Fenster der Ludwikistraße waren noch erleuchtet. Im Wohnzimmer auf der gegenüberliegenden Straßenseite konnte Irena die Nowaks um das Radio sitzen sehen. Ihre Gedanken wanderten zu Mietek. Sein Marschbefehl hatte von einer »geheimen Mobilisierung« gesprochen, aber bei der Ankunft auf dem Bahnhof war ihnen klar geworden, dass das einzig Geheime daran die fehlenden Nachrichten in Zeitung und Radio waren. Nur mit Mühe hatten sie sich ins Bahnhofsgebäude und zu Mieteks Gleis vorgearbeitet. Sämtliche jungen Männer Warschaus schienen gekommen zu sein, und zum ersten Mal hatte Irena eine reale Furcht beschlichen. Verheimlichte ihnen die Regierung etwas? Sie wusste, dass Polen ursprünglich eine vollständige Mobilisierung geplant hatte, aber England und Frankreich waren dagegen gewesen. Hitler sollte nicht unnötig provoziert werden. Irena hatte auf dem Bahnsteig nach bekannten Gesichtern Ausschau gehalten oder, besser gesagt, nach einem bekannten Gesicht. Adam hatte sie am Tag zuvor angerufen, um ihr mitzuteilen, dass auch er an die deutsch-polnische Grenze beordert worden war. Er musste hier irgendwo sein, aber bei diesem Andrang war die Suche aussichtslos.

Ihr Abschied von Mietek war kurz gewesen. Von allen Seiten hatten Soldaten sie angerempelt, und der sonst so wortgewandte Mietek wusste zum ersten Mal nicht, was er sagen sollte. Schließlich hatte Irena ihm die Aufgabe abgenommen. »Pass auf dich auf«, hatte sie geflüstert und ihm einen Kuss auf die Wange gegeben. Mietek hatte nur kurz genickt und sich dann abrupt umgedreht, um sich in den überfüllten Waggon zu zwängen. Wie aufgekratzt und voller Energie die jungen Männer gewesen waren, die überall aus den Zugfenstern hingen und anderen lautstark etwas zuriefen. Als würden sie in die Ferien fahren. Aber vielleicht war ja am Ende wirklich alles halb so schlimm? Mit Verbündeten wie England und Frankreich würde ein eventueller Krieg nicht lange dauern.

Oder war das nur eine Illusion, und Adam, der radikale Klarseher, hatte recht? »Sie wollen nicht, dass wir das erkennen«, hatte er gesagt. »Aber die Zimmer im europäischen Haus werden gerade in Windeseile neu verteilt, die Wände eingerissen und andere hochgezogen.« Sie hatte nicht gewusst, was sie darauf antworten sollte.

Die Wanduhr im Wohnzimmer schlug elf. Irena schloss das Fenster, legte sich aufs Bett und schlief ein.

Der Raum hinter Irenas Augen füllte sich mit einem hohen, schmerzhaften Ton. Ein Aufheulen, das an- und wieder abschwoll. Sie warf sich auf die andere Seite, doch sie wachte nicht auf, und der Ton blieb.

»Irena!« Eine Hand auf ihrer Schulter. »Irena, wach endlich auf!«

Irena riss die Augen auf. Das Heulen wurde lauter, bedrohlicher. »Mama, was ist los?«

»Luftschutzsirenen. Komm endlich, wir müssen aus dem Haus.« Ihre Mutter reichte ihr einen Bademantel, während Irena nach den Hausschuhen angelte. In der Küche warf sie einen Blick nach draußen. Auf der anderen Straßenseite saß Herr Nowak vor dem Radio, seine Frau zerrte an seinem Arm, doch er beachtete sie nicht. Irenas Mutter war bereits im Treppenhaus. Ihre rechte Hand umklammerte das Geländer, während sie mit unsicheren Schritten einen Fuß vor den anderen setzte. Fest griff Irena ihr von hinten unter den Arm und lotste sie, so schnell es ging, die Treppe hinunter. Die Tür zum Hof stand offen, er war voller Menschen. Warum waren sie nicht im Keller?

Erst jetzt fiel Irena auf, dass die Luftschutzsirenen das einzige Geräusch waren. Ansonsten herrschte Stille. Während sie ihrer Mutter in den Hof hinaushalf, lauschte sie auf Motorengeräusche, Einschläge. Nichts. Die im Hof versammelten Hausbewohner sahen die Neuankömmlinge stumm an. Sie wirkten ungläubig, desorientiert. Ihre Haare waren vom Schlaf zerzaust, die müden Augen blickten fragend. Später hätte Irena nicht mehr sagen können, wie lange sie so gestanden hatten. Über dem Hof begann das milchige Morgenlicht golden zu leuchten. Dann brachen die Luftschutzsirenen ab. Einige Sekunden war es totenstill. Ein Raunen ging durch die Gruppe, und plötzlich redeten alle durcheinander.

»Entwarnung, gehen Sie in Ihre Häuser zurück! Entwarnung …« Die Aufforderung aus einem Megafon vor dem Hoftor war wie aus dem Nichts gekommen und wurde leiser, je weiter der Wagen sich wieder entfernte. Wie eine Herde Schafe setzten sich alle in Bewegung. Irena half ihrer Mutter die Stufen zum zweiten Stock hinauf. Dann lief sie zum Radio. Wie alle anderen, dachte sie, während sie an dem Knopf drehte. Sie musste nicht suchen. Alle Sender brachten dieselbe Nachricht. Die Deutschen hatten bereits vor Stunden eine Offensive aus dem Norden, Süden und Westen begonnen. Die Luftwaffe war unbemerkt über die Grenze geflogen und hatte die Grenzregionen bombardiert. Gleichzeitig waren von Panzern unterstützte Infanteriedivisionen eingerückt. Die Nachrichtenstimme sprach davon, dass sich die polnischen Truppen neu formieren mussten, was immer das hieß.

»Warschau ist sicher«, behauptete die Stimme im Radio. »Bewahren Sie Ruhe! Alle Mitglieder der Regierung, alle Angestellten der Stadt sind aufgerufen, sich an ihren Arbeitsplatz zu begeben.«

Irena hastete in ihr Zimmer, um sich anzuziehen, während der Radiosender im Nebenzimmer dieselbe Nachricht endlos wiederholte.

»Wo willst du hin?«, rief ihre Mutter, als sie kurz darauf in die Küche stürmte.

»Zur Arbeit, du hast es doch gehört!«

Ihre Mutter fasste sie am Arm. »Es ist sieben Uhr. Setz dich, und trink deinen Kaffee. Das Büro ist doch noch gar nicht offen.«

Wortlos ließ sich Irena auf den Küchenstuhl drücken. Ihre Gedanken wanderten zu Mietek und Adam. Ging es ihnen gut? Waren ihre Regimenter in Kämpfe verwickelt? In die Gedanken an Adam mischte sich Bitterkeit. Er hatte Jura studiert, hatte seine Examina mit Auszeichnung bestanden und wollte Anwalt werden. Aber die antisemitischen Tendenzen der letzten Jahre schmälerten seine Karriereaussichten. »Wenn es um eine Anstellung als Anwalt geht, bin ich ein Jude und nicht erwünscht. Aber wenn es darum geht, mich an die Front zu schicken, bin ich plötzlich wieder Pole genug«, hatte er bei ihrem letzten Telefongespräch ironisch bemerkt.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ihre Mutter die Kaffeekanne vor sie hinsetzte, dazu Brot, Butter und Marmelade. »Iss«, sagte sie nur. Ihre Stimme ließ keinen Widerspruch zu.

Irena begann sich mechanisch ein Brot zu schmieren. Sie war ihrer Mutter dankbar, dass sie nicht versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Hastig schlang sie das Brot hinunter und trank den Kaffee. Dann sprang sie auf, drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Stirn und rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hinunter.

Falls Irena damit gerechnet hatte, menschenleere Straßen anzutreffen, hatte sie sich getäuscht. Ganz Warschau schien auf den Beinen zu sein, und alle waren in Eile. Männer auf Fahrrädern, Frauen, die ihre Kinder hinter sich herzogen. Die Trambahnen waren überfüllt. Trotz der frühen Stunde hatten die Läden geöffnet, und Frauen füllten ihre Einkaufstaschen mit Fleisch, Gemüse und Brot. Was der hektischen Betriebsamkeit eine unheimliche Note verlieh, war die Stille. Niemand sprach. Abgesehen von ein paar quengelnden Kindern waren nur die Geräusche der Bahn, der Autos und der Droschken zu hören. Irena trat in die Pedale.

Schon im Treppenhaus des Sozialamts schlugen ihr aufgeregte Stimmen entgegen. Der Gang war voller Menschen, die nach Sachbearbeitern riefen oder denen, die anwesend waren, ihre Forderungen vortrugen. Irena hatte den Gang kaum betreten, da bildete sich schon eine Menschentraube um sie.

»Augenblick! Einer nach dem anderen!«, rief sie, während sie sich mühsam zu ihrem Büro vorarbeitete. Plötzlich packte eine Hand sie am Arm und schob sie zu ihrer Tür. Die verdutzte Menge war stehen geblieben. Irka Schultz schloss die Bürotür hinter ihnen und drehte den Schlüssel im Schloss.

»Puh«, sagte sie nur und ließ sich auf den Besucherstuhl fallen. Beinahe hätte Irena laut lachen müssen. Irka war Abteilungsleiterin und legte großen Wert auf ein professionell adrettes Auftreten. Jetzt hing ihr die Bluse aus der Hose, und der Knoten ihrer dünnen Krawatte hatte sich gelockert. Mit ihren zerzausten blonden Haaren wirkte sie, als hätte sie die Nacht in einem Jazzclub durchgemacht.

Irena verkniff sich die Bemerkung und nickte stattdessen in Richtung Gang. »Was ist denn hier los?«

Irka rollte mit den Augen. »Was wohl? Alle wollen ihre monatliche Unterstützung sofort. Ihr Geld, ihre Lebensmittelmarken, die Bons für die Suppenküchen. Sie haben Angst, dass bald nichts mehr da sein wird. Viele wollen die Stadt verlassen. Sie haben Angst vor Luftangriffen. Dabei sind heute längst nicht alle Kollegen zur Arbeit gekommen.«

Irena setzte sich an ihren Schreibtisch. »Wie wär’s, wenn du deine Autorität spielen lässt und da draußen für Ordnung sorgst? Versuch einfach, uns die Leute einzeln reinzuschicken.«

Irka nickte ergeben. Ein paar Sekunden genoss sie noch die Ruhe in Irenas Büro, dann schloss sie die Tür auf und stürzte sich ins Getümmel.

Irena hatte eine gute Stunde gearbeitet und gerade überlegt, ob sie es schaffen würde, sich in der Büroküche einen Kaffee zu holen, als die Luftschutzsirenen erneut zu heulen begannen. Sofort hörte man auf dem Gang Dutzende von Füßen Richtung Ausgang hasten. Auch Irena trat aus dem Büro, da ging auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges die Tür auf. Statt eines Grußes deutete Jan Dobraczyński, der Chef des Sozialamts, nur Richtung Treppenhaus.

»Wer weiß, vielleicht bleibt es ja wieder bei einer Warnung, so wie heute Morgen«, stieß er hervor, während sie nach unten hasteten. Von draußen ertönte ein unbestimmtes Rauschen. Unvermittelt blieb Irena stehen, doch die von hinten Nachdrängenden schoben sie weiter. Aus dem Rauschen wurde ein Dröhnen. Als die Luft zu vibrieren begann, spürte Irena Panik in sich hochsteigen. Sie erreichte den Keller, als die erste Detonation die Wände des Gebäudes ins Wanken brachte. Eine Druckwelle ging durch ihren Körper und presste die Luft aus den Lungen, ihre Ohren fielen zu, Betonstaub rieselte wie Mehl von der Decke.

In der nächsten halben Stunde wiederholte sich immer wieder dieselbe Abfolge: ein Summen, das zu einem immer lauteren Dröhnen wurde, dann die Detonation, bevor der Lärm wieder abschwoll. Jedes Mal, wenn eine Bombe in der Nähe einschlug, war für ein paar Sekunden das Licht weg. Irenas Impuls war es, zu schreien, doch sie riss sich zusammen, genau wie die anderen.

Endlich kam die Entwarnung, und alle strömten auf die Straße. Irena hustete, als sie die graubraune Luft einatmete und sich Rauch und Schuttstaub auf ihre Lungen legten. Die Gebäude der Złotastraße waren alle intakt, doch ein Stück entfernt stiegen schwarze Rauchsäulen in den Himmel, und das Schrillen der Sirenen kam aus allen Richtungen.

Eine Hand legte sich von hinten auf Irenas Schulter, und sie drehte sich um.

»Jaga!« Impulsiv umarmte sie ihre Freundin und Kollegin.

»Kommen Sie?« Jan Dobraczyński war neben ihnen stehen geblieben. Der große, kräftig gebaute Mann sah aus, als wäre er geschrumpft, und sein sonst so streng nach hinten gekämmtes, dunkles Haar war weiß vom Betonstaub und völlig zerzaust. Jaga, seine Sekretärin, löste sich aus Irenas Umarmung und folgte ihrem Chef als Erste.

Als sich die Kollegen in Jan Dobraczyńskis Büro versammelt hatten, blickte der seine Mitarbeiter schweigend an. Er war ein Mann, dem es selten an Worten mangelte, doch in diesem Augenblick hatte es ihm die Sprache verschlagen. Fahrig versuchte er die gelösten Haarsträhnen nach hinten zu streifen, ließ es aber bleiben, als er den weißen Schuttstaub auf dem Kopf spürte. Beinahe tat er Irena leid. Er war ein ordentlicher Chef, der seine Arbeit gut machte. Daran ließ sich nicht rütteln, auch wenn er Irena persönlich nicht sympathisch war. Sie war überzeugte Sozialdemokratin, Dobraczyński dagegen in der konservativ nationalen Partei – und er machte keinen Hehl daraus, dass er Juden nicht besonders schätzte. Das Gute an ihm war, dass er seine Mitarbeiter eigenverantwortlich handeln ließ. Und das gab Irena die nötige Freiheit, die Dinge auf ihre Weise zu regeln.

Jetzt ergriff Dobraczyński das Wort.

»Frau Sendler ist bei uns unter anderem für die Suppenküchen in der Stadt verantwortlich.« Er machte eine kurze Pause und wandte sich an sie. »Ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass wir in den nächsten Tagen und Wochen einen wahren Ansturm erwarten müssen. Allein bei diesem ersten Angriff heute werden viele Menschen ihre Wohnung verloren haben. Außerdem sollten wir mit Flüchtlingen aus den umliegenden Regionen rechnen. Menschen, die wir unterbringen und versorgen müssen.« Er legte eine Pause ein und fuhr dann fort. »Ich möchte, dass Sie jetzt nach Hause zu Ihren Familien gehen und nach dem Rechten sehen. Wenn wir uns wieder treffen, will ich Vorschläge hören, wie wir dem Ansturm begegnen können.« Er sah in die Runde. Lauter ernste Gesichter. »Und seien Sie vorsichtig. Sie werden hier gebraucht. Jeder Einzelne von Ihnen, und mehr denn je!«

Kapitel 3

Die Worte hallten in Irena nach, als sie kurz darauf durch eine veränderte Stadt nach Hause fuhr. Warschau mit seinen bunten Häusern und unzähligen Cafés – hier lebte sie seit vielen Jahren, kannte jede Straße, jeden Platz. Und ebendiese Stadt lag nun vor ihr wie ein schwer atmendes, verwundetes Tier, verwirrt, ratlos. Ein Krankenwagen passierte sie mit einer solchen Geschwindigkeit, dass ihr Fahrrad ins Wanken kam.

Sie bog in eine Seitenstraße und bremste ruckartig ab. Vor ihr klaffte ein tiefer Krater. Das vierstöckige Wohnhaus dahinter war der Länge nach aufgerissen. Vereinzelte Möbelstücke standen auf halb eingestürzten Böden. Männer gruben mit Schaufeln und bloßen Händen im Schutt nach den Bewohnern. In einem Raum, der eine Küche gewesen war, hingen noch gehäkelte Topflappen an einem Haken. An der Decke darunter baumelte eine Lampe mit blumenbesticktem Stoffbezug.

Irena wandte den Blick ab und fuhr zurück auf die Hauptstraße. Vor dem Daszyńskiego-Platz standen zwei Trambahnen, die kurz vor ihren Haltestellen stehen geblieben waren, weil Teile des Stromnetzes nicht mehr funktionierten. Sie kamen Irena vor wie zwei große, leblose Raupen.

Irena fuhr schneller. Nach dem Luftangriff hatte sie nur daran gedacht, wie viel Arbeit nun auf sie zukam. So, als wäre die Zerstörung in der Stadt nur eine berufliche Herausforderung, die sie nicht persönlich betraf, und im ersten Augenblick war sie verblüfft gewesen, dass Dobraczyński sie nach Hause geschickt hatte. Nach Hause, wo es doch so viel zu tun gab! Erst jetzt wurde ihr klar, dass es dieses Zuhause vielleicht gar nicht mehr gab. Und ihre Mutter? Schweiß lief ihr in die Augen und verklebte die Staubschicht auf ihrem Gesicht. Als sie in die Ludwikistraße einbog und die unberührten Wohnhäuser sah, hielt sie an und schloss die Augen. Alles war gut. Ihr Haus stand, ihre Mutter lebte. Im gleichen Augenblick erschrak sie über ihren Egoismus, doch die Erleichterung hielt sich hartnäckig und wurde zum Glücksgefühl, als sie ihre Mutter wenige Minuten später fest an sich drückte.

In den darauffolgenden Tagen gab es viele weitere Luftangriffe. Zehntausende Menschen überfluteten die Straßen Warschaus. Sie waren vor der vorrückenden deutschen Armee geflohen und suchten in der Großstadt Schutz. Doch einmal angekommen, wussten die meisten nicht, wohin. Sie hatten alles zurückgelassen und waren tagelang zu Fuß unterwegs gewesen. Ausgehungert, schmutzig und völlig erschöpft baten sie Wildfremde um einen Schlafplatz oder ein Stück Brot. Eines Morgens fand Irena ihre Mutter in aller Herrgottsfrühe im Hofeingang ihres Wohnhauses, wo sie heißen Tee aus einer großen Schüssel verteilte.

»Die Flugzeuge schießen auf alle und jeden«, erklärte eine Frau unter Schluchzen. Ihre zitternden Hände konnten kaum die Tasse halten. »Sie fliegen tief und schießen auf die Flüchtlingstrecks, ja, sogar auf die Bauern auf dem Feld. Die meisten Dörfer stehen in Flammen. Und die deutschen Soldaten kommen in die Häuser und töten Juden, Lehrer, Ärzte und Anwälte.« Sie schluchzte erneut.

Später im Büro sprach Irena mit Jaga, Janka und Irka darüber. »Dass sie es auf die Juden abgesehen haben, wissen wir. Aber warum die Lehrer und die Ärzte?« Jaga wirkte ratlos.

Doch Irena kannte die Antwort. »Ist doch klar. Sie wollen die Intellektuellen auslöschen. Diejenigen, die die Bildung und das Selbstbewusstsein haben, ihnen entgegenzutreten und ihre Mitbürger gegen sie zu beeinflussen.«

Die anderen nickten stumm, dann gingen sie wieder an die Arbeit: neue Suppenküchen organisieren, Unterkünfte bereitstellen.

Eines Nachmittags klingelte in ihrem Büro das Telefon. Irena war im Begriff gewesen, einen Hausbesuch zu machen. Unschlüssig blieb sie an der Tür stehen und sah auf die Armbanduhr. Dann kehrte sie seufzend zum Schreibtisch zurück und hob ab.

»Irena?« Es war die Stimme ihrer Mutter.

»Was ist, Mama? Macht dein Herz …?« Weiter kam sie nicht.

»Du musst kommen. Die Polizei ist in unserer Straße. Sie sind schon bei den Nachbarn. Sie schleppen alle Möbel nach draußen oder werfen sie aus dem Fenster. Sie reden irgendwas von Barrikaden bauen.«

»Ich komme.« Irena ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Der Hausbesuch musste warten. In halsbrecherischen zehn Minuten erreichte sie die Ludwikistraße. Tatsächlich, überall waren Polizisten. Schreie, Weinen, empörte Rufe. Auf der Straße lagen Möbel, viele davon zerbrochen. Atemlos kam Irena im zweiten Stock an. Ihre Mutter stand weinend im Wohnzimmer, während zwei Polizisten die größeren Möbelstücke mit Kreide markierten. Irena wurde heiß.

»Was machen Sie da?«, stieß sie hervor.

Einer der Polizisten warf ihr einen desinteressierten Blick zu. »Anordnung von ganz oben. In der Ludwikistraße werden Barrikaden errichtet.«

»Aber doch nicht mit unseren Möbeln! Und wieso überhaupt? Werden die Deutschen … Gibt es eine Belagerung?«

Der Polizist sah sie mitleidig an, und Irena errötete. Natürlich würden die Deutschen nach Warschau kommen. Seit Tagen sprachen sie im Büro über nichts anderes mehr. Sie ärgerte sich über sich selbst.

»Sollen wir die Stadt verteidigen, oder nicht?« Der Mann lächelte herausfordernd.

Irenas Blick ging zum Bücherregal, vielleicht dem Kostbarsten, was sie besaß. Sie durchquerte den Raum und stellte sich davor. »Nehmen Sie alles, aber das Regal lassen Sie hier.« Ihre Stimme klang fest.

Der Mann wurde rot vor Wut. Mit zwei Schritten war er bei ihr, schubste sie grob beiseite und brachte das Regal mit einer einzigen Bewegung in Kipplage. Erst vereinzelt, dann in Gruppen klatschten die Bücher auf den Boden.

»Mit dem hier fangen wir an.« Er winkte seinen Kollegen zu sich. »Vielleicht versteht die junge Dame dann den Ernst der Lage. Ich würde ja gern wissen, ob sie noch Zeit zum Lesen findet, wenn die Deutschen mit uns fertig sind.«

Danach ging alles sehr schnell. Stumm sahen Irena und ihre Mutter zu, wie sich die Wohnung leerte. Nur wenige Stücke blieben zurück. Erst als es dunkel wurde, verebbte der Lärm von draußen, und eine lähmende Stille senkte sich über die Straße. Irena vermied es, aus dem Fenster zu sehen. Es reichte, wenn sie am Morgen an den Barrikaden vorbeigehen musste, die aus den Dingen bestanden, die bisher ihr Leben begleitet hatten. Und jetzt sollten diese Habseligkeiten die Panzer und das Waffenfeuer der Deutschen abwehren. Selbst mit ihren Büchern hatten die Männer noch kleine Lücken gestopft. Irena fühlte eine bleierne Schwere. Beim Abendessen sprach sie fast gar nichts und ging früh ins Bett.

Doch etwas weckte sie nur wenige Stunden später. War es das Licht im Nebenraum? Barfuß tappte sie in die Küche. An dem klapprigen Tisch, der noch auf dem Dachboden gestanden hatte, saß ihre Mutter, vor sich ein Fotoalbum. Irena erkannte es sofort.

»Das habe ich retten können.« Das Lächeln auf dem Gesicht der Mutter war beinahe verschmitzt. Irena setzte sich neben sie und betrachtete das vertraute Foto. Es zeigte ihre Mutter mit deren Schwester. Die Tante saß auf einem altmodischen Fahrrad. »Kazimiera«, sagte ihre Mutter schmunzelnd und wendete die Seite.

»Und Papa«, ergänzte Irena, als sie das nächste Bild sah. Es zeigte einen gut aussehenden jungen Mann mit dunklen Haaren und gezwirbeltem Schnurrbart. Er lag auf dem Boden ausgestreckt und gegen den Schoß seiner Frau gelehnt. Ihre Hand ruhte auf seiner Schulter.

»Ich vermisse ihn so.« Plötzlich glitzerten Tränen in den Augen ihrer Mutter. Irena wusste, warum die Erinnerung sie gerade heute so sehr schmerzte. Ihr Vater war Arzt gewesen und hatte allen geholfen, Arm und Reich, ganz gleich, ob sie bezahlen konnten oder nicht. In Otwock, dem Ort, an dem sie damals gelebt hatten, war er von allen Ärzten der einzige gewesen, der sich trotz der hohen Ansteckungsgefahr auch um Menschen kümmerte, die am Fleckfieber erkrankt waren. Das hatte ihn mit knapp vierzig Jahren das Leben gekostet. Nur wenige Tage später war Irena sieben geworden.

»Ich war noch so klein«, sagte sie leise. »Und trotzdem erinnere ich mich gut an ihn.«

»Wie auch nicht.« Ihre Mutter lächelte durch die Tränen hindurch. »Er hat dich schrecklich verwöhnt. Wenn deine Tanten kamen, sagten sie ständig zu ihm: ›Staś, wie kannst du nur? Du verdirbst noch das ganze Kind!‹, aber dein Vater lachte nur und erwiderte immer das Gleiche: ›Lasst mich doch. Wer weiß heute schon, wie es der Kleinen in ihrem späteren Leben ergehen wird. Vielleicht gehört unsere Liebe irgendwann mal zu ihren schönsten Erinnerungen.‹«

Irena schluckte. Sie kannte die Anekdote in- und auswendig, doch zum ersten Mal erschien sie ihr wie der Vorbote einer düsteren Wahrheit.

In den kommenden Wochen arbeitete Irena bis zur Erschöpfung. Sie verließ das Haus früh am Morgen und kam selten vor dem späten Abend heim. Immer wieder wurde die Arbeit im Sozialamt von Fliegeralarm unterbrochen, und auf ihren Fahrten durch die Stadt versuchte Irena sich die Häuser und Gebäude genau einzuprägen. Je nachdem, wie lange dieser Wahnsinn noch anhielt, würden viele von ihnen den Ansturm nicht überleben. Ihr geliebtes altes Warschau verschwand von Tag zu Tag mehr.

Dann kam der 25. September. Irena hatte nicht geglaubt, dass eine Steigerung möglich wäre, doch dieser Tag überbot alles bisher Dagewesene. Es war nicht einmal sieben Uhr. Die Nacht war erstaunlich ruhig gewesen, und Irena hatte ein paar Stunden Schlaf bekommen. Beinahe hoffnungsvoll fuhr sie mit dem Fahrrad zur Arbeit, als der erste Fliegeralarm aufheulte. Im selben Moment vernahm sie das Dröhnen am Himmel, das schnell lauter wurde. Verzweifelt trat sie in die Pedale. Wo sollte sie hin? Das Sozialamt war nicht mehr weit, sie musste es schaffen. Innerhalb von Sekunden war die Straße wie leer gefegt. Verlassene Autos standen mitten auf der Fahrbahn. Panisch radelte Irena weiter, doch sie hatte sich verschätzt. Völlig unvermittelt tauchte ein deutscher Flieger am entgegengesetzten Ende der langen Straße auf. Er flog so niedrig, dass sie fürchtete, er müsse abstürzen. Kopflos warf sie sich vom Rad, hastete hinter ein parkendes Auto und duckte sich. Wenn ich dich nicht sehe, siehst du mich auch nicht, dachte sie in einem Anflug von Selbstironie. Als das Dröhnen seinen Höhepunkt erreichte, hob sie den Kopf und blickte in das Gesicht eines blutjungen Piloten mit kurzen braunen Locken. Sah er sie ebenfalls?

Schon war er vorbei. »Er war höchstens Anfang zwanzig, nur ein paar Jahre jünger als ich«, flüsterte Irena. Dann begann sie zu zählen. Bei einundzwanzig ließ eine Detonation sie zusammenzucken. Irena tippte auf das Stadtviertel Praga.

Als sie sich kurz darauf im Keller des Sozialamts zitternd gegen die kühle Mauer lehnte, war sie schweißgebadet. Aus ein paar Metern Entfernung sahen Irka, Janka und Jaga sie mit erschrockenen Augen an, doch Irena wandte sich ab. Sie konnte jetzt nicht reden.

Die Stunden flossen ineinander. Erst am späten Abend konnten sie den Keller verlassen. Auf den letzten Stufen hinauf zum Erdgeschoss schimmerte ihnen durch die gläserne Eingangstür unnatürliches Licht entgegen. Ein ächzendes Dröhnen und Klirren schnitt durch die Luft. Als sie nach draußen traten, schlug ihnen sengende Hitze entgegen. Am Ende der Straße wälzte sich eine Feuerwand in den Himmel, die alles verschlang. Mit einem Laut, der wie ein Stöhnen klang, fiel das Dach des Hauses in sich zusammen.

Wie lange sie in der gleißenden Hitze und Helligkeit gestanden hatten, gebannt vom ohrenbetäubenden Fraß des Feuers, wusste Irena später nicht mehr. Noch in der Nacht verkündete das Radio, dass Warschau an diesem Tag von über tausend Fliegern angegriffen worden war. Und in den Tagen danach wurde es kaum besser. Vor allem das Viertel zwischen den Friedhöfen und der großen Synagoge, in dem viele jüdische Mitbürger lebten, wurde stark zerstört, aber auch der Rest der Stadt war kaum mehr wiederzuerkennen. Überall sah man zerbombte Häuser, brennende Autos und Trambahnen.

Mehrere Tage und Nächte dauerte der Vernichtungsangriff der deutschen Luftwaffe. Dann wurde es still.

»Donnerstag, 28. September 1939. Wir unterbrechen unser Programm für eine Eilnachricht.«

Irena hatte sich mit ihrer Mutter gerade zum Abendessen hingesetzt. Nun drehte sie das Radio lauter.

»Aufgrund der hohen Verluste unter der Zivilbevölkerung hat der Kommandant der Stadt Warschau, General Juliusz Rómmel, gestern die Kapitulation bekannt gegeben. Warschau ist in deutscher Hand. Sie hören nun eine Bekanntmachung des neuen Gouverneurs von Warschau, Dr. Ludwig Fischer.« Ein Marsch wurde gespielt. Dann ertönte eine schneidige deutsche Stimme. Jeder Satz wurde sofort ins Polnische übersetzt.

»Bürger Warschaus. Hier spricht Ihr neuer Gouverneur, Dr. Ludwig Fischer. Ihre Stadt hat kapituliert und befindet sich in deutscher Hand. In wenigen Tagen wird die deutsche Wehrmacht in Warschau einrücken. Die Stadt wird Teil des neu gegründeten Generalgouvernements unter Generalgouverneur Dr. Hans Frank. Allen Anweisungen und Bekanntmachungen ist strikt Folge zu leisten.«

Erneut Marschmusik. Dann brachte der polnische Sender weitere Erklärungen. Die Nachrichten waren vernichtend. Den freien Staat Polen gab es nicht mehr. Die Deutschen und die Russen hatten das Land freundschaftlich unter sich aufgeteilt, noch bevor der erste Schuss an der Grenze gefallen war. Auch die Zahlen waren schwindelerregend. Vierzigtausend Menschen waren während der Luftangriffe ums Leben gekommen, siebzigtausend an den verschiedenen Fronten, während Hunderttausende polnische Kriegsgefangene auf dem Weg nach Deutschland in die Zwangsarbeit waren. War Mietek unter ihnen? Und was war mit Adam?

Am nächsten Morgen sah Irena die Menschentraube schon aus einiger Entfernung. Gut zwanzig Männer und Frauen drängten sich vor einem Plakat an einer Straßenecke. Die erste Mitteilung an die eroberte Bevölkerung, dachte Irena verbittert. Mit bangem Herzen drängte sie sich an eine Stelle, von der aus sie das Blatt lesen konnte.

Bekanntmachung

Allen Polen werden ihre Bürgerrechte unter demdeutschen Reich garantiert.

Allen Juden werden ihre Rechte, einschließlich Besitzund Sicherheit, garantiert.

Ein Mühlstein fiel ihr vom Herzen. Vielleicht reichte es den Deutschen ja, sich einen Teil Polens einverleibt zu haben, und die Zerstörung der letzten Wochen war schon der Höhepunkt des Schreckens gewesen?

In den nächsten Stunden arbeitete Irena mit neuer Energie. Allein die Tatsache, sich wieder frei und ohne Angst vor Luftangriffen bewegen zu können, war ein ungewohnter Segen. Als sie am Nachmittag bei einer befreundeten jüdischen Familie vorbeischaute, die sich bereit erklärt hatte, einem Flüchtlingsehepaar aus dem Grenzgebiet eine Unterkunft zu gewähren, nahm die Frau sie zur Seite.

»Irena, du bist doch mit Adam Celnikier befreundet, oder?«

Irena wurde flau im Magen. Sie nickte nur.

»Hab ich mich doch richtig erinnert.« Ihre Bekannte lächelte warm. »Dann wird es dich vielleicht interessieren, dass ich ihn heute Morgen mit seiner Mutter in der Stadt getroffen habe. Er ist unversehrt zurückgekommen. Seine Truppe hat sich schon vor ein paar Wochen aufgelöst. Es muss chaotisch gewesen sein.«

»Oh, wie schön!«, brach es aus Irena hervor. Im nächsten Moment spürte sie, dass sie errötete, und setzte schnell hinzu: »Das freut mich aufrichtig. Ich werde ihn demnächst mal besuchen gehen.«

Demnächst?, dachte sie verschmitzt, als sie kurz darauf die Stufen im Treppenhaus hinuntersprang. Heute trifft es wohl eher.

Tatsächlich stellte sie wenig später ihr Fahrrad am vertrauten Hofeingang der Bałuckiegostraße 18 ab. Es war kurz nach sechs, die Sonne schien noch warm, und die Vorfreude auf ein Wiedersehen mit Adam machte Irena zittrig. Adams Mutter öffnete, kaum dass sie geklingelt hatte.

»Irena, du bist es! Wie schön, dich zu sehen. Adam ist in seinem Zimmer. Vielleicht kannst du ihn ja ein bisschen aufheitern.« Die Worte ließen Irena aufhorchen, aber sie fragte nicht nach.

Als sie den Kopf durch die Tür steckte, saß Adam auf seinem Bett. Er sah auf, und ein Lächeln huschte in seine Augen, verschwand aber so schnell, wie es gekommen war.

»Irena.« Er erhob sich. Einen Augenblick standen sie sich wortlos gegenüber. Als das Schweigen unerträglich wurde, sagte Irena: »Frau Kowak hat mir erzählt, dass sie dich getroffen hat. Ich bin so froh, dass du wieder da bist.«

Adam nickte nur. Dann erschien ein resigniertes Lächeln auf seinem Gesicht. »Ich sehe, wenigstens der Buschfunk klappt noch.«

»Zum Glück.« Irena lächelte ihn aufmunternd an, doch er schwieg. »Adam? Was ist los? Du bist traurig.«

»Du etwa nicht?«, fuhr er sie unerwartet scharf an. »Halb Warschau liegt in Trümmern. Unsere sogenannte Verteidigung an der Grenze war ein Witz. Die Deutschen haben uns buchstäblich in unseren Betten überrascht. Mein Regiment war auf ungeordnetem Rückzug, bevor wir auch nur einen einzigen Schuss abgefeuert hatten! Dann hat jeder für sich versucht, wieder hierher zurückzukommen. Ich bin so wütend. Nein, ich schäme mich.« Adams Gesicht war gerötet, trotzdem wirkte er gelöster als zuvor. Irena verstand seine Gefühle gut.

»Ich bin trotzdem froh, dich zu sehen. Ich hatte mir Sorgen gemacht«, sagte sie leise. Einen Augenblick trafen sich ihre Augen. Dann, wie auf eine wortlose Absprache hin, umarmten sie sich schnell und fest. Als Adam sich von ihr löste, trat er hastig zurück und sah auf den Boden. »Mietek?«

Irena schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts Neues von ihm. Ich hoffe, es geht ihm gut.« Sie verdrehte innerlich die Augen. Etwas Banaleres hätte ihr nicht einfallen können.

Adam war aufs geöffnete Fenster zugegangen und setzte sich auf den breiten Fenstersims. Ein Bein zog er an, das andere hing nach unten. Die abendliche Septembersonne warf Reflexe auf seine kurzen dunklen Haare, und Irena setzte sich ihm gegenüber, wie sie es schon unzählige Male getan hatte.

»Hast du die Bekanntmachung gelesen? Alle Rechte werden garantiert«, versuchte sie es nach einer Weile.

Adam sah sie an. In seinen Augen lag traurige Belustigung. »Aber du bist zu intelligent, um das zu glauben, oder?«

Irena wandte den Blick ab und zuckte trotzig mit den Schultern. »Ich bin einfach grundsätzlich optimistischer als du.«

Adam lachte bitter auf. »Glaub mir, ich würde auch gerne hoffen, aber was ich beim Rückzug gesehen habe … Wie die Deutschen die Leute aus den Häusern gezerrt und auf offener Straße erschossen haben. Vor allem die Juden und die Bildungsbürger. Ärzte, Anwälte, Lehrer. Die reine Willkür. Von garantierten Rechten keine Spur. Und denk nur mal an die Lage der Juden in Deutschland. Glaubst du wirklich, dass sie sich hier in Polen ziviler verhalten werden? Ausgerechnet hier, nachdem sie uns in weniger als einem Monat überrannt haben? Nein, glaub mir, die verachten uns. Die werden mit uns machen, was sie wollen.«

Irenas Herz sank. Sie kannte Adams Pessimismus. Häufig spornte er ihn zu energischem Handeln an und brachte ihn dazu, ebendem entgegenzuwirken, was er fürchtete oder kritisierte. Aber heute hatten seine Worte etwas Niedergeschlagenes, geradezu Fatalistisches, und Irenas eigene Befürchtungen machten es ihr schwer, dagegenzuhalten.

»Hast du schon gehört, dass unsere Regierung vielleicht ins Exil geht?«, fragte Adam in die Stille hinein.

»Was?«, rief Irena ungläubig.

Adam nickte. »Bisher sind es nur Gerüchte. Aber wenn, dann sind wir hier auf uns allein gestellt.« Wieder das spöttische Lächeln. »Die Ratten verlassen das sinkende Schiff.« Sein Lächeln verschwand. »Aber jetzt gehe ich wahrscheinlich zu weit. Wer weiß, vielleicht können unsere Politiker uns vom Ausland aus nützlicher sein, als wenn die Deutschen sie hier festsetzen oder umbringen.«

Adams Worte, seine traurigen Augen, die kurze, aber heftige Umarmung spukten noch lange in Irenas Kopf herum, als sie an diesem Abend einzuschlafen versuchte. Auch um Mietek machte sie sich Sorgen. Obwohl sie sich in den letzten Jahren nur noch sporadisch gesehen hatten, konnte sie sich nicht vorstellen, ihn nicht mehr wiederzusehen.

Kapitel 4

Zwei SA-Männer flankierten den Eingang des herrschaftlichen Hauses, als Ludwig Fischers Wagen vorfuhr. Zusammen mit seinem Adjutanten stieg er aus.

»Heil Hitler, Gouverneur!« Die Arme der beiden jungen Männer schnellten nach vorn, ihr Blick war geradeaus gerichtet. Fischer erwiderte den Gruß.

»Welches Stockwerk?«, fragte er seinen Adjutanten.

»Das oberste. Fahrstuhl. Ein wunderbarer Blick über die Stadt. Über zweihundertfünfzig Quadratmeter Wohnfläche. Erlesen eingerichtet. Gut ausgestattete Bibliothek, separate Räumlichkeiten für das Personal. Parknähe«, wiederholte der Adjutant. Es war die dritte auf der Liste möglicher Wohnungen. Auch die ersten beiden waren nicht schlecht gewesen, doch sie hatten Fischer nicht völlig überzeugen können.

»Die bisherigen Besitzer?«, fragte Fischer.

»Dr. Samuel Weintraub mit Ehefrau und drei Kindern. Chirurgenfamilie. Saßen gerade beim Abendessen. Wir haben sie im Salon versammelt.«

»Hm«, machte Fischer unwillig. Der Fahrstuhl glitt nach oben. Ein weiterer SA-Mann salutierte neben der Wohnungstür. Fischer trat ein.

»Nicht schlecht.« Er schritt über das glänzende Parkett durch den Flur und betrat die ersten Zimmer. Warmes Abendlicht fiel durch große Flügelfenster auf die Mahagonimöbel. Schwere Perserteppiche dämpften seine Schritte in den Wohnräumen. In der Küche stand das Personal in Livree in Reih und Glied, die Augen auf den Boden gerichtet. Es duftete nach Essen.

»Jüdisches Personal?«, fragte Fischer.

»Nein, polnisch.«

Fischer schnaubte. Natürlich. Das waren ihm die Liebsten. Die Geldjuden, die sich in angesehene Berufe schlichen, feine Anzüge trugen, in Palästen wie diesem lebten und sich von nicht jüdischem Personal bedienen ließen. Mit bloßem Auge kaum zu erkennen, wenn man ihnen auf der Straße begegnete. Die Täuschung war fast perfekt. Aber hinter der Fassade waren auch sie nichts anderes als dreckige Fratzen.

Fischer betrat den Salon. Da stand er, der Jude, ein weinrotes Seidentuch in der Jacketttasche, seine Frau trug eine Perlenkette, zwei der Kinder waren blond. Wie perfide konnte die Natur eigentlich sein? Alles nur Schein, dachte Fischer, eine dünne Hülle. In der Hölle, in die wir euch schicken, wird euer wahres Gesicht schnell wieder zum Vorschein kommen.

»Dr. Fischer? Mein Name ist Weintraub. Diese Wohnung ist mein Familienbesitz. Was geht hier vor? Ich protestiere …« Die Stimme gehörte dem Chirurgen, seine grauen Augen hinter der feinen Goldrandbrille waren verunsichert.

»Ruhe!«, fuhr der Adjutant ihn an.

Fischer sah über die fünf Menschen hinweg, als wären sie Inventar. Seine Augen blieben an der hohen Stuckdecke mit den Fresken in der Mitte hängen. Dann trat er durch die geöffnete Flügeltür auf den Balkon. Die Aussicht auf die roten Schindeldächer der Warschauer Altstadt war schön. Dazwischen steckten hohe Bäume ihre grünen Köpfe in den Himmel. Noch stiegen an vielen Stellen Rauchsäulen auf, aber das würde sich irgendwann legen, und die Gegend war auf jeden Fall die richtige. Hier gab es zwar die verhassten Geldjuden, aber zum Glück keine Orthodoxen mit ihren schwarzen Kaftanen, Hüten und den Schläfenlocken. Bisher hatte er sie nur aus den Karikaturen des Stürmers und der Wochenschau gekannt. In Deutschland gab es ja nur wenige davon. Aber hier in Warschau waren sie fast überall zu sehen. Auf jeder Straße krabbelten und krochen sie, aus jedem Hauseingang quollen sie hervor.

An seinem ersten Tag in der Stadt hatte er sich durch ihren Anblick beinahe beschmutzt gefühlt. Sie waren fremd. Bedrohlich. Abstoßend. Er ekelte sich vor ihren Bärten und vor ihren Körpern unter den schwarzen Kleidern, wo sich sicher Läuse tummelten, die Fleckfieber übertrugen. Er konnte nicht in ihre dunklen Augen sehen. Von seinem Amtssitz im Brühlschen Palais aus beobachtete er sie, wie sie mit ihren Großfamilien auf den Sächsischen Park zuliefen. Nicht mehr lange. Es wurde Zeit, dass die Parks wieder sauber wurden.

Ludwig Fischer winkte seinen Adjutanten zu sich heran. »Die Wohnung ist beschlagnahmt. Ich werde morgen hier einziehen. Veranlassen Sie alles Nötige. Und sehen Sie zu, dass die hier nichts rausschleppen. Jeder nur einen Koffer mit Kleidern.«

Der Adjutant nickte. »Sehr wohl, Dr. Fischer. Im Übrigen ist hier noch die Liste, auf die Sie gewartet haben. Sie wurde mir eben gebracht.«

Fischer nahm das Blatt und studierte es. Es enthielt mehrere Namen mit kurzen Kommentaren.

»Es sind die möglichen Kandidaten für den Vorsitzenden des geplanten Judenrates«, ergänzte der Adjutant und fügte etwas vorsichtiger hinzu: »Es hat schon ein erster Kontakt stattgefunden. Keiner der … äh … Herren möchte das Amt freiwillig übernehmen.«

»Ach ja?« Auf Fischers Gesicht erschien ein schlaues Lächeln. »Sind wohl weniger dumm, als ich dachte.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf den ersten Namen. »Der hier. Czerniaków. Der Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Schicken Sie Müller zu ihm. Er weiß, was zu tun ist. Um den Rest kümmere ich mich dann. So, und jetzt zurück ins Palais.«

Kapitel 5

Keine Stunde später kamen mehrere Wagen mit quietschenden Reifen vor dem Gebäude der jüdischen Gemeinde zum Stehen. Zehn junge Männer in pechschwarzer Gestapouniform sprangen heraus.

»Erster Stock, zweiter Stock. Auf!«, schrie ihr Anführer. Die Männer liefen in das Gebäude und verteilten sich. Aus dem Inneren waren Schreie zu hören und das Poltern umfallender Stühle.

Der Anführer folgte seinen Männern gemächlich. Mit ruhigen, fast gelangweilten Schritten trat er in das Büro des Gemeindevorstehers. Eine Sekretärin im blauen Kleid stand neben ihrem Schreibtisch und blickte verängstigt auf ihre Schuhe.

»Wo steckt Czerniaków?«, fragte der Gestapomann.

»Er ist eben in ein anderes Büro gegangen.«

»Was? Ich kann Sie nicht verstehen. Lauter!«

»In ein anderes Büro gegangen.« Die Stimme der jungen Frau zitterte. Auf dem Flur hallten schnelle Schritte. Zwei Gestapoleute kamen herein. Der Mann, den sie zwischen sich festhielten, überragte sie um einen Kopf. Er war etwa sechzig, seine Glatze glänzte, und die Augen hinter der kleinen runden Brille blickten nervös.

»Was geht hier vor?«, fragte er. Es sollte barsch klingen, doch die Stimme des großen Mannes schwankte.

Der Anführer betrachtete ihn von oben bis unten. »Noch so einer von den Drecksjuden, die sich für feine Leute halten«, sagte er dann und riss dem Gemeindevorstand die goldene Taschenuhr aus dem Jackett. Er drückte auf den Knopf. Mit einem Klick sprang die Uhr auf. »Schönes Stück.« Er ließ sie in seine Manteltasche gleiten. »Leider brauchen wir dich noch. Mitnehmen, abführen. Ins Hauptquartier.«

»Aber was …«, stammelte Czerniaków, während die Gestapoleute ihn nach draußen zerrten.

»Wo ist die Gemeindekasse?« Der Anführer wandte sich wieder an die Sekretärin, doch die schwieg.

»Die Gemeindekasse!«, brüllte er.

Völlig verängstigt lief die junge Frau zu ihrem Schreibtisch, zog einen Schlüssel heraus und nahm die Kasse aus dem Schrank.

Die nächsten Stunden verbrachte Czerniaków in einer Zelle im Gestapohauptquartier in der Szuchastraße. Seine Gedanken rasten, doch er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum man ihn verhaftet hatte. Immer wieder tupfte er sich mit dem Taschentuch das Gesicht. Er hatte höllischen Durst. Endlich klirrten die Schlüssel im Schloss.

»Mitkommen.«

Der Gestapomann führte ihn zu einem elegant eingerichteten Büro. Vor dem Fenster stand ein schwerer Schreibtisch aus Kirschholz, Ölgemälde hingen an den getäfelten Wänden. Ein Mann saß auf dem Sofa der Sitzgruppe, die Beine übereinandergeschlagen. Seine schwarzen Stiefel glänzten.

»Setzen Sie sich doch, Czerniaków.« Er zeigte auf einen Sessel.

»Gouverneur Fischer, ich …«

»Einen Cognac?«, unterbrach der ihn. »Ich muss mich bei Ihnen für meine Leute entschuldigen.« Er bedeutete dem Gestapomann, Czerniaków ein Glas einzuschenken. »Sie in eine Zelle zu stecken – da sind unsere Männer wohl etwas übers Ziel hinausgeschossen. Aber kommen wir zur Sache. Sie haben ja bereits gehört, dass wir einen Judenrat ins Leben rufen wollen. Oder besser gesagt: Sie werden ihn ins Leben rufen. Sie sind sein neuer Vorstand. Wählen Sie vierundzwanzig Männer aus. Das dürfte reichen.«

»Dr. Fischer, mir wäre lieber, wenn ich nicht …«

»Das ist nicht verhandelbar.« Gouverneur Fischer machte eine abschätzige Handbewegung. »Es geht hier nur um die Einzelheiten. Der Judenrat wird eine Art Mittlerfunktion haben zwischen uns und der jüdischen Gemeinde. Sie werden unser Sprachrohr sein und zugleich ausführendes Organ. Ihre Aufgaben sind vielfältig. Arbeit, Gesundheit, Fürsorge, Finanzen, einfach alles. Richten Sie Kommissionen ein. Sie sind für die Umsetzung und Einhaltung aller neuen Gesetze verantwortlich. Für Klagen und Probleme aus der jüdischen Bevölkerung ist der Judenrat von jetzt an alleinige Anlaufstelle.«

Czerniaków schwitzte. Was der Gouverneur von Warschau ihm hier anbot, klang harmlos genug, aber er machte sich keine Illusionen. Der sogenannte Judenrat würde ein Mittel zur Drangsalierung der jüdischen Bevölkerung werden.

»Sie schaffen einen Judenrat, der Ihre zukünftigen Gesetze gegen sein eigenes Volk ausführen soll«, sagte er gefasst.

Ende der Leseprobe