Der entfesselte Frankenstein - Brian W. Aldiss - E-Book

Der entfesselte Frankenstein E-Book

Brian W. Aldiss

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 2020. Mit der Erprobung neuer Waffen wurde das Raum-Zeit-Kontinuum zerstört. Sogenannte Zeitrutsche suche die Erde heim, bei denen ganze Stücke der Gegenwart in die Vergangenheit gerissen werden und die Zukunft verschwindet. Eines Tages entdeckt Joseph Bodenland auf dem Gebiet seiner Ranch in Texas unbekanntes Territorium, das nicht aus dem 21. Jahrhundert stammt. Beherzt erkundet er die Gegend – und findet sich am Genfer See im Jahr 1815! Dort trifft er auf Mary Wollstonecraft, die gerade mit Byron und Shelley Urlaub macht und dabei ihren Roman »Frankenstein« schreibt. Doch erst als Bodenland Dr. Frankenstein und dessen Monster begegnet, ahnt er, dass diese Vergangenheit nicht zu seiner Gegenwart gehören kann ...

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BRIAN W. ALDISS

 

 

 

DER ENTFESSELTE

FRANKENSTEIN

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Wir schreiben das Jahr 2020. Mit der Erprobung neuer Waffen wurde das Raum-Zeit-Kontinuum zerstört. Sogenannte Zeitrutsche suche die Erde heim, bei denen ganze Stücke der Gegenwart in die Vergangenheit gerissen werden und die Zukunft verschwindet. Eines Tages entdeckt Joseph Bodenland auf dem Gebiet seiner Ranch in Texas unbekanntes Territorium, das nicht aus dem 21. Jahrhundert stammt. Beherzt erkundet er die Gegend – und findet sich am Genfer See im Jahr 1815! Dort trifft er auf Mary Wollstonecraft, die gerade mit Byron und Shelley Urlaub macht und dabei ihren Roman »Frankenstein« schreibt. Doch erst als Bodenland Dr. Frankenstein und dessen Monster begegnet, ahnt er, dass diese Vergangenheit nicht zu seiner Gegenwart gehören kann ...

 

 

 

 

Der Autor

Brian Wilson Aldiss, OBE, wurde am 18. August 1925 in East Dereham, England, geboren. Nach seiner Ausbildung leistete er ab 1943 seinen Wehrdienst in Indien und Burma, und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieb er bis 1947 auf Sumatra, ehe er nach England zurückkehrte, wo er zunächst als Buchhändler arbeitete. Dort begann er mit dem Schreiben von Kurzgeschichten, anfangs noch unter Pseudonym. Seinen Durchbruch hatte er mit Fahrt ohne Ende, einem Roman über ein Generationenraumschiff. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Der lange Nachmittag der Erde, für das er 1962 mit dem Hugo Award ausgezeichnet wurde, und die Helliconia-Saga, mit der er den BSFA, den John W. Campbell Memorial Award und den Kurd Laßwitz Preis gewann. Brian Aldiss starb am 19. August 2017 im Alter von 92 Jahren in Oxford.

 

Erfahren Sie mehr über Brian W. Aldiss und seine Werke auf

www.diezukunft.de

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

 

 

 

Titel der Originalausgabe

 

FRANKENSTEIN UNBOUND

 

Aus dem Englischen von Irene Holicki

 

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

 

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Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1973 by Brian W. Aldiss

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Nele Schütz, München

Satz: Thomas Menne

 

ISBN 978-3-641-25655-5V001

 

 

 

Weh dir, verlor'ner Mensch! Was hast mit solchen Gästen

du zu schaffen? Um deinetwillen zitt're ich:

Was lenkt er seinen Blick auf dich und du auf ihn?

Ah, er entschleiert sich: auf seiner Stirn

sind eingebrannt die Donnernarben: aus seinem Auge

bricht wild herfür der Hölle Ewigkeit ...

George Byron, »Manfred«

 

 

Stellt die Geschlagenen und Besiegten bleich dar, die Brauen hoch und zusammengezogen, die Haut über den Brauen lasst voller Schmerzensfalten sein; zeigt, wie seitlich der Nase die Furchen in einem Bogen von den Nasenlöchern wegführen und da enden, wo das Auge beginnt, und zeigt die Weitung der Nasenlöcher, die die Ursache dieser Falten ist; und die Zähne lasst geöffnet sein nach dem Vorbild derer, die Klageschreie ausstoßen.

Leonardo da Vinci, »Abhandlung über die Malerei«

 

 

 

ERSTER TEIL

EINS

 

Brief von Joseph Bodenland an seine Frau Mina:

 

20. August 2020

New Houston

Meine liebste Mina,

 

ich werde diesen Brief der guten, alten Post anvertrauen, nachdem ich erfahren habe, dass das viel raffiniertere CompC durch die jüngsten Luftangriffe völlig durcheinandergeraten ist. Wo ist es anders? Die Schlagzeile des heutigen Bildschirmtexts lautet: RAUM/ZEIT ZERRISSEN, BEHAUPTEN WISSENSCHAFTLER.

Wir wollen nur hoffen, dass die Krise zu einer sofortigen Beendigung des Krieges führt, wer weiß, wo wir sonst in sechs Monaten alle sind!

Aber zu fröhlicheren Dingen. Im Haus ist inzwischen der Alltag wieder eingekehrt, obwohl wir alle dich immer noch schmerzlich vermissen (und ich am schmerzlichsten von allen). Am Abend höre ich deine Schritte in der Stille der leeren Räume. Aber untertags halten die Enkelkinder auch die kleinste Ecke ständig besetzt. Schwester Gregory kann sehr gut mit ihnen umgehen.

Sie waren so interessant heute morgen, als sie keine Ahnung hatten, dass ich sie beobachtete. Einer der Vorteile eines abgesetzten Präsidentenberaters besteht darin, dass man alle früheren Spionageeinrichtungen jetzt einfach zum Vergnügen benützen kann. Ich muss zugeben, dass ich auf meine alten Tage ein Voyeur werde; ich studiere die Kinder mit größter Aufmerksamkeit. Mir kommt es so vor, als habe in dieser Welt des Wahnsinns allein das noch Bedeutung, was sie tun.

Weder Tony noch Poll haben von ihren Eltern gesprochen, seit die arme Molly und der arme Dick umgekommen sind; vielleicht empfinden sie den Verlust zu tief, obwohl bei ihrem Spiel nichts davon zu bemerken ist. Wer weiß? Welcher Erwachsene versteht schon, was im Gehirn eines Kindes vorgeht? Heute morgen trat, glaube ich, ein wenig Morbidität zutage. Aber das Spiel wurde von Doreen, einem etwas älteren Mädchen angeregt, das zum Spielen herüberkam. Du kennst Doreen nicht. Sie gehört zu einer Flüchtlingsfamilie, sehr nette Leute, nach dem Wenigen zu urteilen, was ich von ihnen gesehen habe, sie sind nach deiner Abreise nach Indonesien nach Houston gekommen.

Doreen kam in ihrem Spähwagen herüber – sie ist gerade alt genug, dass sie einen fahren darf –, und die drei gingen in den Schwimmbeckenbereich. Es war ein herrlicher Morgen, und sie waren alle im Badeanzug.

Sogar die kleine Poll kann jetzt schwimmen. Wie du vorausgesagt hast, war das Delfinweibchen eine große Hilfe, und Poll und Tony lieben es beide heiß. Sie nennen es Smiley.

Die Kinder gingen mit Smiley schwimmen. Ich schaute eine Zeitlang zu, dann kämpfte ich mit meinen Memoiren. Aber ich war zu nervös, um mich konzentrieren zu können; Außenminister Dean Reede will mich heute Nachmittag besuchen, und ich freue mich offengestanden nicht auf die Begegnung. Alte Feinde bleiben alte Feinde, auch wenn man nicht mehr im Amt ist – und es bereitet mir kein Vergnügen mehr, höflich zu sein!

Als ich wieder nach den Kindern sah, waren sie sehr beschäftigt. Sie waren zum Sandbereich übergewechselt – sie nennen ihn den ›Strand‹. Du kannst es dir vorstellen: die graue Steinmauer, die den Freizeitbereich von der Ranch abtrennt, ist jetzt fast völlig verdeckt von großen, in voller Blüte stehenden Malven. Vor den Umkleidehütten sind die Salvienbeete, während die Jasminsträucher am Säulengang alle blühen und stark duften, außerdem surrt es dort nur so vor lauter Bienen.

Es ist ein idealer Platz für Kinder in einer schrecklichen Zeit wie der jetzigen.

Die Kinder begruben Doreens Spähwagen! Sie hatten ihre Spaten und Eimer herausgeholt, wühlten im Sand und errichteten einen Hügel über der Maschine. Sie waren sehr vertieft. Niemand schien Anweisungen zu geben. Sie arbeiteten im Gleichklang. Nur Poll plapperte, wie gewöhnlich.

Die Maschine war schließlich völlig vergraben, und sie gingen feierlich darum herum, um zu sehen, ob auch das letzte, glänzende Teil bedeckt war. Nach einem ganz kurzen Wortwechsel stürzten sie in verschiedene Richtungen des Bereichs davon, um etwas zu holen. Ich sah ihre flinken, braunen Körper vervielfacht auf den verschiedenen Bildschirmen, als ich immer mehr Kameras einschaltete. Es sah aus, als sei die ganze Welt von kleinen, wendigen Wilden besetzt – eine einfach entzückende Vorstellung!

Hin und wieder kamen sie zum Grab zurück. Manchmal brachten sie Zweige und kleine Äste mit, die sie von den schützenden Akazien abgebrochen hatten, häufiger Blütenköpfe. Beim Laufen riefen sie einander zu.

Schwester Gregory hatte an diesem Morgen frei, daher spielten sie ganz allein.

Du erinnerst dich vielleicht, dass die Kameras und Mikrophone hauptsächlich in den Säulen der Kolonnade versteckt sind. Ich konnte das, was die Kinder sagten, nicht sehr gut verstehen, weil die Bienen ständig im Jasmin summten – wie viele Staatsgeheimnisse wurden wohl von genau diesen Insekten gerettet? Aber Doreen sagte etwas von einer Feier. Was sie da machten, so wiederholte sie hartnäckig, war eine Feier. Die anderen zweifelten ihre Worte nicht an. Vielmehr wiederholten sie sie aufgeregt.

»Wir werden Massen von Blumen draufhäufen, und dann wird es eine riesengroße Feier«, hörte ich Poll sagen.

Ich hörte auf zu arbeiten, saß da und sah ihnen zu. Ich sage dir, was sie taten, schien als einziges in dieser verrückten, kriegführenden Welt sinnvoll zu sein. Und es war mir unverständlich.

Schließlich hatten sie das Grab mit Blumen zugedeckt. Einige Akazienzweige waren oben auf dem Hügel eingebettet, der ansonsten mit großen Malvenblüten gespickt war, karminrot, lila, braun, gelb, orange, hie und da mit einer vereinzelten, scharlachroten Salvienblüte und mit einem Strauß blauer Kornblumen, die Poll gepflückt hatte. Dann legten sie rings um das Grab kleinere Zweige.

Das alles war natürlich völlig formlos. Es sah schön aus.

Doreen ließ sich auf die Knie nieder und fing an zu beten. Sie veranlasste unsere beiden würdevollen Enkelkinder, es ihr gleichzutun.

»Gott segne dich, Jesus, an diesem schönen Tag!«, sagte sie. »Lass diese Feier gut werden, in Deinem Namen!«

Sie sagte noch viel mehr, was ich nicht hören konnte. Ich glaube wirklich, die Bienen versuchten, die Mikrophone zu bestäuben! Aber hauptsächlich sangen sie: »Lass diese Feier gut werden, in deinem Namen!« Dann veranstalteten sie eine Art Hüpftanz um das hübsche Grab herum.

Du wirst erstaunt sein über diesen unerwarteten Ausbruch von Christlichkeit in unserem agnostischen Haus. Ich muss sagen, dass ich zuerst ein wenig Bedauern empfand, weil ich meine eigenen, religiösen Gefühle mit Rücksicht auf den Rationalismus unserer Zeit so lange unterdrückt habe – vielleicht zum Teil auch mit Rücksicht auf dich, deren unschuldig heidnische Einstellung ich immer bewundert und die ich vergeblich angestrebt habe. Soweit ich weiß, haben Molly und Dick ihre Kinder nie ein Wort eines Gebets gelehrt. Vielleicht waren die traditionellen Tröstungen der Religion genau das, was diese Waisen brauchten. Was macht es schon, wenn diese Tröstungen nur Illusionen sind? Sogar die Wissenschaftler sagen, dass das Raum/Zeit-Gefüge zerrissen ist und die Realität – was immer das sein mag – zusammenstürzt.

Ich hätte mir keine allzu großen Sorgen zu machen brauchen. Die Zeremonie der Feier war im Grunde heidnisch, die christlichen Formeln nichts als Verzierung. Denn mit dem Tanz, den die Kinder zwischen den Blumen aufführten, die sie gepflückt hatten, wollten sie, da bin ich sicher, instinktiv ihre eigene, physische Gesundheit feiern. Rund um das Grab herum bewegten sie sich, immer wieder! Dann löste sich der Tanz ziemlich plötzlich auf und Tony ließ seinen Penis aus seiner Badehose hüpfen und zeigte ihn Doreen. Sie machte lächelnd eine Bemerkung, und das war alles. Dann liefen sie zum Schwimmbecken und sprangen wieder hinein.

Als der Gong zum Essen rief und wir uns alle auf der Veranda versammelten, bestand Poll darauf, dass ich mitkäme und mir das Grab ansähe.

»Grampy, komm mit und sieh dir unsere Feier an!«

Sie leben im Mythos. Unter dem Ansturm der Schule wird der Intellekt hereinbrechen – der primitive Räuber Intellekt – und der Mythos wird verdorren und absterben wie die bunten Blumen auf ihrem mysteriösen Grab.

Und doch ist das nicht wahr. Ist nicht der große, alles überschattende Glaube unserer Zeit – dass ständig steigende Produktion und Industrialisierung das größte Glück für die größte Zahl von Menschen überall auf dem Globus bringen – ein Mythos, dem die meisten Leute anhängen? Aber das ist ein Mythos des Intellekts, kein Mythos des Seins, wenn eine solche Unterscheidung zulässig ist.

Ich komme schon wieder ins Philosophieren. Einer der Gründe, warum man mich aus der Regierung geworfen hat.

Bald kommt Dean Reede. Meine gerechte Strafe, würden manche sagen ...

Schreibe bald!

Dein dich stets liebender Gatte Joe.

PS. Ich füge einen Abzug des Leitartikels der heutigen ›London Times‹ bei. Trotz der Vorsicht und Mäßigung des Tons ist viel Wahres an dem, was darin gesagt wird.

ZWEI

 

Erster Leitartikel der ›Times‹, vom 20. August 2020

 

TÖDLICHE BEZIEHUNGEN

 

Westliche Wissenschaftler sind sich nun allgemein, wenn auch nicht ausnahmslos, einig – denn selbst im Reich der Naturwissenschaft sind die Meinungen selten einhellig –, dass die Menschheit mit der schwersten Krise ihrer Existenz konfrontiert ist, und diese Krise nicht zu überleben, heißt überhaupt nicht zu überleben.

Krisen, die in der Vorausschau einmalig bedrohlich aussehen, haben im Rückblick oft die Angewohnheit, Familienähnlichkeit anzunehmen. Wir stellen fest, dass sie kritisch, aber nicht endgültig waren. Diese Aussage soll nicht etwa ein Witz sein. Professor James Ransomes Stellungnahme gestern in San Francisco brachte eine gewisse Größenordnung in die immer alarmierenderen Meldungen über die Instabilität der Infrastruktur des Raums – ein Gefühl für Größenordnung, das besonders jener großen, allgemeinen Öffentlichkeit willkommen ist, die bis vor vierzehn Tagen noch gar nicht wusste, dass es so etwas wie eine Infrastruktur des Raumes überhaupt gibt, ganz zu schweigen davon, dass nukleare Aktivitäten sie vielleicht instabil gemacht haben könnten. Die Bemerkung des Professors, dass die gegenwärtige Instabilität, nach seinen Worten ›die große, graue, allerletzte Stufe der Umweltverschmutzung‹ darstellt, sollte uns daran erinnern, dass die Welt seit mehr als fünfzig Jahren schwere Umweltverschmutzungsschrecken überlebt hat.

Es gibt jedoch triftige Gründe dafür, unsere gegenwärtige Krise als nichts weniger als einmalig anzusehen. Alle drei gegnerischen Seiten im Krieg, westliche, südamerikanische und Drittwelt-Mächte verwenden Atomwaffen immer stärkeren Kalibers in den Umlaufbahnen des Erde-Mond-Systems. Niemand hat bisher damit etwas gewonnen, es sei denn, man rechnet den zweifelhaften Vorzug mit, dass die zivilen Mondkolonien zerstört wurden, aber allgemein herrschte ein Gefühl der Erleichterung darüber, dass diese Waffen ober- und nicht unterhalb der Stratosphäre eingesetzt wurden.

Diese Erleichterung war, wie wir jetzt sehen, verfrüht. Wir müssen noch eine weitere, bittere Lektion über die Unteilbarkeit der Natur lernen. Seit langem haben wir eingesehen, dass Meer und Land eine miteinander in Wechselbeziehung stehende Einheit bilden. Jetzt – viel zu spät, laut Professor Ransome und seinen Mitarbeitern – erkennen wir eine bisher unbemerkte Beziehung zwischen unserem Planeten und der Infrastruktur des Raums, der ihn umgibt und stützt. Die Infrastruktur wurde so stark zerstört – oder wenigstens beschädigt –, dass sie unvorhersehbaren Störungen unterworfen ist, und wir haben nun die Folgen zu tragen. Die Zeit wie auch der Raum sind ›unbrauchbar‹ geworden, wie man sagt. Wir können uns inzwischen nicht einmal mehr auf das normale Nacheinander der zeitlichen Progression verlassen; morgen kann sich als letzte Woche erweisen oder als das letzte Jahrhundert oder als das Zeitalter der Pharaonen. Der Intellekt hat unseren Planeten für den Intellekt unsicher gemacht. Wir leiden unter dem Fluch, der auch Baron Frankenstein in Mary Shelleys Buch traf: indem wir zuviel beherrschen wollten, verloren wir die Herrschaft über uns selbst.

Ehe wir in Wahnsinn untergehen, muss dieser schrecklichste Krieg der Geschichte, ein großenteils irrationaler Krieg zwischen verschiedenen Hautfarben, sofort zum Stillstand gebracht werden. Wenn die Ebene der Zivilisation, die die Menschheit nach so langen Mühen erklommen hat, jetzt geräumt werden muss, so lasst uns wenigstens einen geordneten Rückzug in die Dunkelheit antreten. Wir sollten endlich begreifen können (und das Wort ›endlich‹ enthält jetzt sehr harte Untertöne), dass die Beziehungen zwischen dem Raum, den Planeten und der Zeit enger und komplizierter sind, als wir es uns fahrlässigerweise vorgestellt hatten, und dass das ebenso für die Beziehungen zwischen Schwarz, Weiß, Rot, Gelb und alle dazwischenliegenden Schattierungen gelten mag.

DREI

 

Brief von Joseph Bodenland an seine Frau Mina:

 

22. August 2020

New Houston

 

Meine liebste Mina,

 

ich wüsste gerne, wo du gestern warst! Die Ranch mit ihrer ganzen Menschenfracht – dieser Kategorie rechne ich auch jene übernatürlichen Wesen, unsere Enkel, zu – verbrachte den gestrigen und einen großen Teil des heutigen Tages in einer umnachteten Gegend, wie ich vermute, im mittelalterlichen Europa. Es war für uns die erste Kostprobe eines größeren Zeitrutsches. (Wie leicht man doch in diesen Schutzjargon verfällt – Zeitrutsch, das klingt nicht schlimmer als Erdrutsch. Aber du weißt, was ich meine – eine Störung in der räumlichen Infrastruktur.)

Jetzt sind wir alle wieder hier in ›Der Gegenwart‹. Dieser Ausdruck ›Die Gegenwart‹ ist mit ständig steigendem Argwohn zu betrachten, je häufiger die Zeitrutsche werden. Aber du wirst verstehen, dass ich das Datum und die Stunde meine, die der Kalender-Chronometer hier in meinem Arbeitszimmer unbeirrt zeigt. Hatten wir Glück, überhaupt zurückzukommen? Hätten wir auch weiter in der Zeit schweben können? Mit am meisten erschreckt es einen bei dieser erschreckenden Geschichte, dass man so wenig darüber weiß. Und dabei kann es in kürzester Zeit – diese Wendung habe ich hingeschrieben, ohne weiter darüber nachzudenken – so weit sein, dass Männer von Intellekt keine Gelegenheit mehr haben werden, ihre Aufzeichnungen miteinander zu vergleichen.

Ich kann nicht logisch denken. Erwarte keinen zusammenhängenden Brief. Es ist ein absoluter Schock. Der nachhaltigste Schock –, abgesehen vom Tod. Vielleicht hast du ihn schon erfahren ... Natürlich bin ich deinetwegen ganz verrückt vor Sorge. Komm sofort nach Hause, Mina! Dann können wir wenigstens gemeinsam bei den Inkas sein oder vor Napoleon fliehen! Die Wirklichkeit fällt auseinander. Eines ist unzweifelhaft – wir hatten die Realität nie so sicher im Griff, wie wir es uns vorstellten. Die einzigen Leute, die gegenwärtig etwas zum Lachen haben, sind die Verrückten von gestern, die Parapsychologen, die Junkies, die E.S.P.-Enthusiasten, die Reinkarnationisten, die SF-Autoren und alle, die nie so ganz an das homogene Dahinströmen der Zeit geglaubt haben.

Entschuldige. Ich will mich an Tatsachen halten.

Die Ranch geriet in einen Zeitrutsch. (Es gibt mehr als einen: der unsere verdient keinen bestimmten Artikel.) Plötzlich waren wir wieder da – wo auch immer.

Außenminister Dean Reede war zu der Zeit bei mir. Ich glaube, ich habe dir im letzten Brief geschrieben, dass er mich besuchen wollte. Natürlich hat ihn der Präsident sicher in der Tasche – er ist Glendales Mann vom Scheitel bis zur Sohle und genauso hart wie Glendale, aber das haben wir ja immer gewusst. Er sagt, sie werden nie mit dem Kampf aufhören; überall in der Geschichte finde man Fälle, an denen man nicht vorbeikomme, wo eine minderwertige Kultur einer höherwertigen unterliegen müsse. Als Beispiel führt er die Vernichtung von Polynesien und die Ausrottung der Amazonasindianer an.

Ich sagte ihm, es gäbe objektiv keine Möglichkeit zu beurteilen, welche Seite minderwertig sei und welche überlegen: die Polynesier schienen das Glück maximiert zu haben, und die Indianer des Amazonasgebiets lebten anscheinend in vollständiger, komplexer Harmonie mit ihrer Umwelt. Beides seien Ziele, die unsere Kultur bisher nicht erreicht hätte.

Darauf nannte Reede mich einen Schwachkopf, einen verräterischen Liberalen (natürlich habe ich unser Gespräch aufgezeichnet, da ich schon vorher wusste, dass es dazu kommen würde.) Er sagte, viele von den gegenwärtigen Schwierigkeiten der Westmächte könne man mir anlasten, weil ich in meiner Tätigkeit als Präsidentenberater einen so sentimentalen Kurs gesteuert hätte. Ich hätte wissen müssen, dass meine kleinen Reformen in den Bereichen Polizeiwesen, Wohnungsbau, Arbeitsbeschaffung und so weiter zum Aufstand der Schwarzen führen würden. In der Geschichte führten Reformen immer zu Aufständen. Und so weiter.

Ein höchst sinnloser und unangenehmer Streit, aber ich musste mich natürlich verteidigen. Und ich bin immer noch sicher, dass die Geschichte, falls es eine geben sollte, mich rechtfertigen wird. Über Glendale und seine Axtschwinger wird sie sicher nicht viel Gutes zu sagen haben. Er hatte sogar die Stirn, unsere private Bildergalerie als Beispiel für meine Querköpfigkeit anzuführen!

Wir waren gerade soweit, dass wir uns anschrien, als sich das Licht veränderte. Mehr als das – die Beschaffenheit der Atmosphäre veränderte sich. Der Himmel wechselte von seinem üblichen, verwaschenen Blau zu einem schmutzigen Grau. Es gab keinen Stoß, keine Erschütterung – nicht wie bei einem Erdbeben. Aber das Gefühl kam so plötzlich, dass Reede und ich beide zu den Fenstern rannten.

Es war erstaunlich. Über uns rollten Wolken heran. Über der Ebene, schnell näherkommend, lag dichter Nebel. Ein paar Augenblicke später quoll er über die Mauer wie Meeresbrandung und brach über den ganzen Garten und den Innenhof herein.

Und nicht nur das. Vor uns sah ich das Land, das sich wie üblich erstreckte, und die niedrigen Dächer der alten Ställe. Aber die Hügel hinter den Dächern waren fort! Und links waren Auffahrt und Pampasgras verschwunden. An ihre Stelle war ein welliges Gelände getreten, sehr grün, gelegentlich unterbrochen von grünen Bäumen – so etwas gab es nirgendwo in Texas.

»Bei allen Heiligen! Man hat uns zeitgerutscht!«, sagte Reede. So betäubt ich auch war, es fiel mir doch auf, wie charakteristisch es für ihn war, so zu sprechen, als sei das etwas, was man ihm persönlich angetan hatte. Zweifellos sah er es auch haargenau so.

»Ich muss zu meinen Enkelkindern«, sagte ich.

Schon rannten Poll und Tony mit schrillen Schreien nach draußen. Ich holte sie ein, nahm sie bei der Hand und hoffte, ich möge fähig sein, sie vor Gefahr zu bewahren. Aber es bestand keine Gefahr außer der heimtückischsten: der Bedrohung des menschlichen Verstandes. Wir standen da und starrten in den Dunst. Schwester Gregory kam heraus zu uns, sie nahm alles mit ihrer gewohnten, unerschütterlichen Ruhe hin.

Als ein paar Minuten vergangen waren und wir unseren ersten Schrecken überwunden hatten, machte ich ein paar Schritte nach vorn, dahin, wo die Auffahrt gewesen war.

»Ich würde bleiben, wo ich bin, wenn ich Sie wäre, Joe«, warnte Reede. »Sie wissen nicht, was Sie da draußen erwarten könnte.«

Ich achtete nicht auf ihn. Die Kinder drängten nach vorne.

Man sah eine deutliche Linie, an der unser Sand endete. Dahinter wuchs üppiges Gras, es reichte den Kindern bis an die Knie, und silberne Regentropfen hingen wie Perlen daran. Überall standen große, bizarre Eichen. Dazwischen war ein Pfad ausgetreten.

»Da drüben sehe ich eine Hütte, Grampy«, sagte Tony und deutete hinüber.

Es war ein armseliges Ding, aus Holz gebaut. Auf dem Dach hatte sie Holzschindeln. Dahinter stand ein Schuppen, ebenfalls aus Holz, und daneben ein Pfahlzaun und Büsche. Mit wachsendem Unbehagen sah ich, dass zwei Leute, ein Mann und eine Frau, wie ich glaubte, hinter dem Zaun standen und in unsere Richtung starrten. Ich wies die Kinder darauf hin.

»Kommen Sie lieber ins Haus zurück!«, warnte Reede. »Ich rufe die Polizei an und erkundige mich, was, zum Teufel, eigentlich los ist.« Er verschwand.

»Sie werden uns nichts tun, nicht wahr?«, fragte Tony und starrte zu den beiden Fremden hinüber.

»Nicht, solange wir sie nicht bedrohen«, sagte Schwester Gregory – was ich ein wenig optimistisch fand.

»Ich könnte mir denken, dass sie über uns genauso erschrocken sind, wie wir über sie.«

Plötzlich wandte sich der Mann am Zaun ab und verschwand hinter dem Haus. Als wir ihn wiedersahen, rannte er von uns weg, den Hügel hinauf. Die Frau schlüpfte ins Haus und war nicht mehr zu sehen.

»Machen wir doch einen Rundgang, Grampy, ja?«, fragte Tony. »Ich möchte so gerne auf diesen Hügel gehen und nachsehen, wo der Mann hingegangen ist. Vielleicht gibt es da drüben ein Schloss.«

Ich fand diesen Vorschlag einleuchtend, war aber zu unsicher, um den relativ geschützten Bereich unseres Hauses zu verlassen. Mir fiel ein, dass ich in meinem Schreibtisch einen altmodischen Colt .45 Automatik hatte, aber der Gedanke, ihn bei mir zu tragen, widerstrebte mir. Die Kinder hörten nicht auf zu betteln, ich solle mit ihnen nach vorne gehen. Schließlich gab ich nach: wir drei gingen zusammen zu den Bäumen und ließen Schwester Gregory auf der dem Haus zugewandten Seite der Gefahrenlinie stehen.

»Gehen Sie nicht zu weit weg!«, rief sie. Sie hatte also doch Angst.

»Uns wird nichts passieren«, erwiderte ich. Ich dachte, das würde uns alle beruhigen.

Nun, es passierte uns nichts, aber ich war ständig in Sorge. Angenommen, das Haus klappte wieder ins Jahr 2020 zurück und ließ uns in dem umnachteten Waldstück stecken, das wir gefunden hatten? Oder angenommen – ich schäme mich jetzt, diesen Gedanken zu Papier zu bringen –, etwas Schreckliches kam und griff uns an, etwas, wovon wir nichts wussten?

Und es gab noch eine dritte Sorge – schattenhaft, aber deshalb nicht angenehmer. Angenommen, das, was sich abspielte, war nichts als ein subjektives Phänomen, etwas, was sich lediglich in meinem eigenen Schädel ereignete? Es war schwer zu glauben, dass wir uns nicht in einem Traum befanden.

Die Kinder wollten zu dem Holzhaus gehen, um nach der Frau zu sehen. Ich brachte sie dazu, die andere Richtung einzuschlagen. Innerhalb des Holzzauns lag ein Hund. Ich scheute vor dem Versuch zurück, mit jemandem von ... von dieser Welt – oder wie du es nennen willst – zu sprechen.

Poll sah den Reiter als erste.

Er ritt gerade über die Kuppe eines der nahegelegenen Hügelchen, begleitet von einem Mann zu Fuß, der mit einer Hand den Steigbügel hielt und mit der anderen einen großen Hund an einer Leine führte. Sie näherten sich langsam, misstrauisch, und waren noch ein Stück weit entfernt. Trotzdem wirkten sie entschlossen; der Mann auf dem Pferd trug eine Tunika und enge Hosen, er hielt ein kurzes Schwert in der Hand und hatte einen gewölbten Helm auf dem Kopf.

»Tut so, als hättet ihr sie nicht gesehen, und dann gehen wir ins Haus zurück«, sagte ich.

Heuchler! Wenn es nicht wegen der lieben Kinder gewesen wäre, wäre ich ihm entgegengegangen.

Die Kinder kamen folgsam mit. Poll legte ihre kleine Hand in die meine. Keines von ihnen blickte zurück. Wir erreichten die Haustür, blieben auf der Schwelle stehen und drehten uns dann um.

Der Reiter und sein Gefährte kamen unentwegt näher. Der Hund zerrte an seiner Leine. Alle drei hielten die Augen fest auf uns gerichtet. Als sie die Linie erreichten, wo das Gras aufhörte und der texanische Boden anfing, hielten sie an.

Das Pferd war ein armseliges, lahmendes Geschöpf. Der Mann auf dem Pferd wirkte ziemlich vornehm. Er hatte einen Bart und ruhige, dunkle Augen. Sein Haar und seine Haut waren dunkel. Er saß locker im Sattel, seine Haltung drückte Entschlossenheit aus.

Der Mann an seiner Seite – ich nahm an, dass es der Bauer aus dem Holzhaus sein müsse – war ein untersetzter Bursche, dessen Körpersprache Beunruhigung verriet.

»Wer sind Sie? Sprechen Sie Englisch?«, rief ich.

Sie starrten uns nur an.

»Sind Sie aus New Houston?«, schrie Tony tapfer.

Sie antworteten nicht mit Worten. Stattdessen streckte der Mann auf dem Pferd sein Schwert hoch. Ein Gruß oder eine Drohung? Dann wendete er den Gaul und ritt, beinahe traurig, wie es mir vorkam, den Weg zurück, den er gekommen war.

»Ich sagte doch, dass sie uns nichts tun würden«, sagte Schwester Gregory und warf mir einen erleichterten Blick zu.

Tony rief noch einmal, aber sie drehten sich nicht um, und wir sahen ihnen nach, bis beide hinter der Kuppe des kleinen Hügels verschwunden waren.

Du wirst finden, dass diese spannende Erzählung mit einem entsetzlichen Spannungsabfall endet, meine Liebe, und du kannst froh sein, dass es so ist. Wir sahen diese Männer nie wieder. Wir blieben ungefähr fünfunddreißig Stunden in diesem Zeitrutsch, sahen aber niemanden mehr, der sich uns genähert hätte.

Ich hatte befürchtet, dass der Reiter weggeritten war, um Verstärkung zu holen. Vielleicht gab es in der Nähe wirklich eine Burg, wie Tony sofort angenommen hatte. Ich rief die drei Servos und programmierte sie auf Wachfunktion um. Glücklicherweise hatte ich ein Verteidigungsprogramm zur Hand. Reede und ich verstärkten die Wache von Zeit zu Zeit, besonders während der Nacht, dann setzten wir auch Haus und Grundstück unter Flutlicht. Ich sollte noch sagen, dass das Telefon zur Außenwelt nicht funktionierte, aber der Nuklearkern versorgte uns natürlich mit soviel Energie, wie wir brauchten.

Während der Nacht hörten wir in den Hügeln Hunde bellen und jaulen. Vielleicht gab es auch Schakale. Das war alles.

Heute morgen schnellten wir so leicht und geräuschlos in die Gegenwart zurück, wie wir sie verlassen hatten. Und nun sind wir hier wie vorher – nur ist das Gebiet, in das wir zurückgekommen sind, nicht ganz das gleiche, das verschwunden war. Ich bin heute morgen nach einem kurzen Schläfchen mit dem Buggy herumgefahren und habe mir den Schaden angesehen. Schwester Gregory nahm die Kinder mit und machte einen Ausflug daraus.

Du erinnerst dich an das grüne Häuschen – das Apfellager hinter der Garagenanlage. Es ist verschwunden. An seiner Stelle ist da eine grüne Wiese, die unter unserer texanischen Sonne bald verdorren wird. Und wo die Auffahrt war, haben wir jetzt eine Reihe massiver Eichen und Buchen. Die Roboter sind dabei, zwischen ihnen einen Weg zur Straße freizumachen. Glücklicherweise ist das Straßentor noch da – es ist die ganze Zeit im Jahr 2020 geblieben, das müssen wir jedenfalls annehmen.

Eine der Eichen lasse ich fällen und werde sie zusammen mit Bodenproben an die Universität zur Fakultät für historische Ökologie schicken. Sitgers könnte aus der Analyse vielleicht etwas über den ursprünglichen Standort herausfinden, aber wahrscheinlich war er noch nie mit einem derartigen Problem konfrontiert. Wo sind wir gewesen? In England? Europa? Auf dem Balkan?

Der Bursche auf dem Pferd war Kaukasier. Welche Zeit, welches Jahrhundert? Ich nehme an, dass es die Erde war. Oder war es eine alternative Erde? Bin ich mit den Kindern auf einer möglichen Erde gestanden, wo das Jahr 2020 hieß und nie eine industrielle Revolution stattgefunden hat? Bin ich schlicht und einfach verrückt, weil ich solche Fragen stelle?

Wann schlägt der nächste Zeitrutsch zu?

Du musst zurückkommen, meine liebe Mina, wenn du dich hierher durchschlagen kannst, Krieg oder nicht. Der Krieg muss unvermeidlich zusammenbrechen, wenn sich diese Risse im Raum/Zeit-Gefüge fortsetzen. Komm zurück! Die Kinder brauchen ihre Großmutter.

Zu so einer Zeit muss ich Gott beschwören und sagen, Gott weiß, ich brauche dich!

Dein dich stets liebender Gatte Joe.

VIER

 

CompC-Kabel von Schwester Gregory an Mrs. Mina Bodenland:

 

25. August 2020

New Houston

 

MUSS MIT GROSSEM BEDAUERN MELDEN DASS MR. JOSEPH BODENLAND HEUTE IN DER MORGENDÄMMERUNG WÄHREND EINES KURZEN ZEITRUTSCHES VERSCHWUNDEN. DAUER FÜNFUNDZWANZIG MINUTEN STOPP POLIZEI SUCHT OHNE ERGEBNIS GEGEND AB STOPP KINDER AUSSER SICH FRAGEN NACH IHNEN STOPP BITTE DRINGEND UM ANWEISUNGEN BITTE SCHNELLSTMÖGLICH NACH NEW HOUSTON ZURÜCKKEHREN STOPP SCHWESTER SHEILA GREGORY CMPC1535 0825 90IAA593 CI44

FÜNF

 

Auszug aus einer W. Central Telecable-Aufzeichnung eines Gesprächs auf offener Leitung zwischen Mrs. Mina Bodenland und Schwester Sheila Gregory:

 

»Ich hoffe, morgen um zehn Uhr dreißig bei Ihnen zu sein, nach Ihrer Zeit, wenn die Flüge keine Verspätung haben, was durchaus möglich ist. Können Sie mir jetzt bitte in Einzelheiten über das Verschwinden meines Mannes berichten, Schwester?«

»Sicher. Der Zeitrutsch ereignete sich heute morgen um sechs Uhr vierzig. Er weckte mich auf, und Mr. Bodenland auch, aber die Kinder schliefen weiter. Ich traf Mr. Bodenland im Korridor, und er sagte: ›Gleich draußen ist ein See mit Bergen dahinter.‹ Das hatte ich schon von meinem Zimmer aus gesehen. Schnee auf den Bergen, neben dem See eine Straße und eine Kutsche, die von zwei Pferden gezogen wurde.«

»Und mein Mann ist alleine hinausgegangen?«

»Er hat darauf bestanden, dass ich im Haus blieb. Ich ging ins Wohnzimmer und sah, wie er den Felder aus der Garage holte. Er fuhr in die neue Landschaft hinein. Es gab keine Straße, nur Weideland, und er fuhr sehr langsam. Dann konnte ich ihn nicht mehr sehen, wegen einer Baumgruppe – es war wohl eher ein Wald. Ich war nervös.«

»Hätten Sie ihn nicht überreden können, im Haus zu bleiben?«

»Er war nicht davon abzubringen, Mrs. Bodenland. Wissen Sie, ich stelle mir vor, er glaubte, dieser Zeitrutsch würde genauso lange dauern wie der letzte – eineinhalb Tage. Vielleicht wollte er nur zum See hinunterfahren, um festzustellen, wo er war – es sah viel hübscher aus als dieses andere Loch, wo der Bursche auf dem Pferd daherkam und uns anstarrte. Ich ging, um mir eine Tasse Kaffee zu machen, und gerade als ich zurückkam, ich trat eben ins Wohnzimmer – wumm!, da hörte der Zeitrutsch auf, einfach so, und alles wurde wieder normal. Ich rannte hinauf und rief nach Ihrem Mann, aber es nützte nichts.«

»Fünfundzwanzig Minuten, sagen Sie?«

»Mehr nicht. Ich kam wieder ins Haus und rief die Polizei an, und dann habe ich Ihnen telegrafiert. Tony und Polly waren schrecklich verängstigt, als sie es erfuhren. Sie weinen schon den ganzen Tag und fragen immer wieder nach Ihnen, nach ihrer Mami.«

»Sagen Sie ihnen, dass ich auf dem Weg nach Hause bin. Und bitte, lassen Sie sie nicht aus dem Haus! Sie haben wahrscheinlich gehört – die Organisation bricht zusammen. Die Welt wird schlicht verrückt. Lassen Sie die Roboter weiter auf Verteidigung programmiert!«

 

 

 

ZWEITER TEIL

 

 

 

Das Tonbandtagebuch

des

Joseph Bodenland

EINS

 

Ich muss Aufzeichnungen machen, um des Geisteszustands aller Beteiligten willen. Glücklicherweise legt man alte Gewohnheiten nur schwer ab, und so hatte ich meinen Recorder zusammen mit einem Haufen anderen Gerümpels im Wagen verstaut. Ich werde von dem Augenblick an beginnen, als die Dunkelheit einsetzte.

Es war mir gelungen, über die entsetzlichen Straßen bis zu einem Dorf oder einer kleinen Stadt zu fahren. Als ich Gebäude auftauchen sah, lenkte ich den Felder vom Weg herunter und fuhr hinter einen Felsvorsprung, wo er, wie ich hoffte, die Nacht über sicher sein und nicht auffallen würde. So sehr mich dieses Städtchen auch reizte, ich dachte mir, ich würde weniger Unruhe stiften, wenn ich zu Fuß hineinkam und nicht mit einem vierrädrigen, pferdelosen Fahrzeug. Solche Dinge hatte man hier nicht, soviel war sicher.

Ich hatte nichts zu essen, außer ein bisschen Schokolade, die Tony im Wagen hatte liegenlassen und die ich mit einer Dose Bier aus dem Kühlfach hinunterspülte. Meine Sehnsucht nach einer Mahlzeit und einem Bett wurde stärker als meine Befürchtungen.

Obwohl ich mich bisher von Menschen und Dörfern ferngehalten hatte, wusste ich, dass dieser Teil der Welt ziemlich dicht besiedelt war. Ich hatte in der Ferne viele Menschen gesehen. Die Landschaft war alpin – breite, grüne Täler, die von Berggipfeln überragt wurden. Weiter entfernt waren höhere Gipfel mit Schnee auf den Spitzen. Unten in den Tälern gab es Sturzbäche, gewundene Pfade und malerische, kleine Dörfer mit hübschen Holzhäusern, die sich eng aneinanderdrängten. Jedes Dorf hatte seinen Kirchturm; jede Stunde wurde von Glocken angezeigt, die in den Türmen schlugen; der Klang drang deutlich durch die Täler. Die Berghänge waren übersät mit Frühlingsblumen. Zwischen den hohen Gräsern weideten Kühe – Kühe mit würdevollen Glocken um den Hals, die bimmelten, wenn sie sich bewegten. Darüber kauerten auf höhergelegenen Wiesen kleine Holzhütten.

Es war schön und beruhigend hier. Nur war es kein Ort, wie man ihn in Texas finden konnte, auch nicht, wenn man eine Million Jahre vorwärts oder rückwärts ging. Aber er hatte eine mächtige Ähnlichkeit mit der Schweiz.

Die Schweiz kenne ich gut; jedenfalls kannte ich sie in meiner eigenen Zeitspur gut.

Meine Jahre in der amerikanischen Botschaft in Brüssel hatte ich gut genützt. Ich lernte fließend Französisch und Deutsch und verbrachte soviel Urlaub, wie ich nur konnte, mit Reisen durch Europa. Die Schweiz war mein Lieblingsland geworden. Einmal hatte ich mir gleich außerhalb von Interlaken ein Chalet gekauft.

Also betrat ich die Stadt. Ein Schild am Rand gab ihren Namen als Sécheron an und führte die Zeiten der heiligen Messe auf. Weit vorstehende Balkone, saubere Stapel Feuerholz an jeder Wand. Ein üppiger Duft nach Dung und Holzrauch, stechend für meine an Steriles gewöhnte Nase. Und ein ziemlich großer Gasthof, der sich in antiker Schrift als ›Hôtel Dejean‹ auswies. Die Außenseite war dicht mit Gemsengehörnen und Hirschgeweihen behängt.