Der lange Nachmittag der Erde - Brian W. Aldiss - E-Book

Der lange Nachmittag der Erde E-Book

Brian W. Aldiss

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Beschreibung

In ferner Zukunft hat die Erde aufgehört, sich zu drehen

Millionen Jahre in der Zukunft: Die Sonne ist auf das Hundertfache ihrer Größe angewachsen. Erde und Mond drehen sich nicht mehr und haben sich einander bis auf wenige Tausend Kilometer angenähert. Im immerwährenden Sonnenlicht der Tagseite hat sich ein gewaltiger Dschungel aus fleischfressenden Pflanzen entwickelt. Was auf der in ewige Dunkelheit getauchten Nachtseite ist, weiß niemand. Dies ist die Geschichte von Gren, der sich mit seiner Gefährtin aufmacht, dieses Rätsel zu lösen – und sich auf seiner Reise unzähligen Gefahren stellen muss …

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Das Buch

Millionen Jahre in der Zukunft: Die Sonne ist auf das Hundertfache ihrer Größe angewachsen. Erde und Mond drehen sich nicht mehr und haben sich einander bis auf wenige Tausend Kilometer angenähert. Im immerwährenden Sonnenlicht der Tagseite hat sich ein gewaltiger Dschungel gebildet, in dem Milliarden hochspezialisierter Pflanzen einen immerwährenden Kampf ums Überleben ausfechten. Mitten in dieser grünen Welt leben unsere Nachfahren in kleinen Gruppen. Sie haben sich an das Leben in den Bäumen perfekt angepasst – doch eines haben sie nicht verloren: ihre Neugierde. Dies ist die Geschichte von Gren, der sich mit seinen Gefährten aufmacht, die Wunder – und Schrecken – seiner Welt zu erkunden.

Der Autor

Brian Wilson Aldiss wurde am 18. August 1925 in East Dereham, England, geboren. Nach seiner Ausbildung leistete er ab 1943 seinen Wehrdienst in Indien und Burma, und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieb er bis 1947 auf Sumatra, ehe er nach England zurückkehrte, wo er zunächst als Buchhändler arbeitete. Dort begann er mit dem Schreiben von Kurzgeschichten, anfangs noch unter Pseudonym. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Der lange Nachmittag der Erde, für das er 1962 mit dem Hugo Award ausgezeichnet wurde, und die Helliconia-Saga, mit der er den BSFA, den John W. Campbell Memorial Award und den Kurd Laßwitz Preis gewann. Brian Aldiss starb am 19. August 2017 im Alter von 92 Jahren in Oxford.

Mehr über Brian W. Aldiss und sein Werke erfahren Sie auf:

Brian W. Aldiss

Der lange Nachmittag der Erde

Roman

Aus dem Englischen vonFrank Böhmert

Mit einem Vorwort von Neil Gaimanund einem Nachwort des Autors

Wilhelm Heyne VerlagMünchen

Titel der OriginalausgabeHOTHOUSEDas Vorwort von Neil Gaiman und das Nachwort von Brian W. Aldiss wurden aus dem Englischen übersetzt von Kristof KurzSollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Deutsche Ausgabe 02/2021Redaktion: Ralf-Oliver DürrCopyright © 1960, 2008 by Brian W. AldissCopyright des Vorworts: © 2008 by Neil GaimanCopyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.Covergestaltung: Nele Schütz, MünchenSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN978-3-641-25043-0V002www.heyne.de

Vorwort

von Neil Gaiman

Von allem bleibt nichts, einzig nurEin grüner Gedanke auf grüner Flur

Andrew Marvell: »Der Garten«

Brian Aldiss ist der bedeutendste englische Science-Fiction-Autor seiner Generation. Mit scheinbar unerschöpflicher Energie und ebensolchem Intellekt schrieb er über fünfzig Jahre lang nicht nur Paradebeispiele des Genres, sondern auch mainstreamtaugliche Literatur mit gelegentlichen Ausflügen ins Biografische, in den magischen Realismus und das Absurde. Als Herausgeber hatte er großen Einfluss darauf, welche Science-Fiction in den Sechziger- und Siebzigerjahren in Großbritannien goutiert und gelesen wurde. Auf literaturwissenschaftlichem Gebiet gelangen ihm mit Der Millionen-Jahre-Traum und später mit Der Milliarden-Jahre-Traum hervorragende Überblicksdarstellungen eines Genres, das Aldiss zufolge mit Mary Shelleys Frankenstein seinen Anfang nahm und das er einmal als »Nemesis schlägt Hybris« definierte. Im Lauf einer bemerkenswerten, von grimmigem Intellekt, Poesie, Extravaganz und Leidenschaft erfüllten Schriftstellerkarriere veränderte er nicht nur die britische SF von Grund auf – auch außerhalb des Genres wurden ihm die Aufmerksamkeit und der Respekt der literarischen Welt zuteil.

Brian Aldiss wollte sich nie auf ein Genre festlegen und nahm sich die Freiheit, Genregrenzen nach Belieben zu überschreiten. Insofern ist eine Einordnung seines Werkes problematisch; es in eine Schublade zu stecken unmöglich.

Als junger Mann war Aldiss als Soldat in Birma und Sumatra stationiert. Es ist wohl nicht völlig aus der Luft gegriffen, dass ihn diese fremdartige Dschungelwelt, die im grauen England so unvorstellbar schien, zu der in Der lange Nachmittag der Erde beschriebenen Welt inspiriert hat.

1948 kehrte er nach seiner Entlassung aus der Armee nach England zurück, arbeitete in einer Buchhandlung und schrieb nebenbei. Sein Debüt, eine Reihe von Vignetten zum Buchhandel, trug den Titel The Brightfount Diaries. Kurz darauf erschien seine erste Geschichtensammlung – Raum, Zeit und Nathaniel. Er wechselte ins Herausgeberfach, widmete sich der Literaturkritik und der Vermittlung der Science-Fiction als literarisches Medium.

Aldiss gehörte zur zweiten Generation der englischen SF-Autoren. Er wuchs mit amerikanischen Genre-Magazinen auf und beherrschte die Sprache des »Goldenen Zeitalters« der Science-Fiction, die er mit einer dezidiert britischen Perspektive verknüpfte. In diesem Sinne zählt Robert A. Heinlein ebenso zu seinen Einflüssen wie H.G. Wells. Dennoch – Aldiss war Schriftsteller und kein Ingenieur. Die Erzählung war ihm immer wichtiger als die Wissenschaft dahinter (der amerikanische Schriftsteller und Literaturkritiker James Blish machte Der lange Nachmittag der Erde den Vorwurf der wissenschaftlichen Unwahrscheinlichkeit; dabei sind diese Unwahrscheinlichkeiten und Unmöglichkeiten – das traumähnliche Bild eines durch ein Netz mit der Erde verbundenen Mondes ist ein schönes Beispiel dafür – eine Stärke und keine Schwäche des Romans).

Der lange Nachmittag der Erde, Aldiss’ nächstes größeres Prosawerk, erschien, wie damals in Amerika üblich, als Fortsetzungsroman in einem Magazin. Es bestand aus fünf zusammenhängenden Novellen, für die Aldiss 1962 mit dem Hugo Award in der Kategorie »Beste Kurzgeschichte« ausgezeichnet wurde (Robert A. Heinleins Fremder in einer fremden Welt gewann im selben Jahr den Hugo für den besten Roman).

Selbstverständlich hatten schon vorher bedeutende englische Science-Fiction-Autoren für den amerikanischen Markt geschrieben – man denke nur an Arthur C. Clarke oder Eric Frank Russell. Doch Aldiss betrat die Bildfläche, als das sogenannte Goldene Zeitalter vorüber war und die Science-Fiction in eine Phase der Selbstbetrachtung eintrat. Aldiss und seine Zeitgenossen, wie etwa J.G. Ballard oder John Brunner, traten einen Paradigmenwechsel los, aus dem sich in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre um das von Michael Moorcock herausgegebene Magazin New Worlds eine Bewegung formierte, die als »New Wave« bekannt wurde: Science-Fiction, die sich eher für Geistes- als für Naturwissenschaften, für Stilistik und das Experiment interessierte. Obwohl Der lange Nachmittag der Erde zeitlich noch nicht der New Wave zugerechnet werden kann, zählt es doch zu den Schlüsselwerken, die den Umbruch bereits vorwegnahmen oder ihn zumindest ankündigten.

Aldiss experimentierte weiter mit Form und Inhalt, schrieb humorvolle, psychedelische und literarische Prosa. Mit der zwischen 1971 und 1978 erschienenen dreibändigen Saga über Kindheit, Jugend und die südostasiatischen Kriegserlebnisse seines Alter Egos Horatio Stubbs machte Aldiss erste Bestsellererfahrungen. In den frühen Achtzigern kehrte er mit seiner Maßstäbe setzenden Helliconia-Trilogie zur klassischen Science-Fiction zurück. Selten wurde eine fantastische Welt so plausibel dargestellt wie der um zwei Sonnen kreisende Planet mit seinen extrem langen Jahreszeiten, den daran angepassten Lebensformen und biologischen Kreisläufen und ihren Auswirkungen auf die menschlichen Beobachter des Planeten.

Aldiss‘ Kreativität ist in ihrer Unerschöpflichkeit vergleichbar mit dem zum Treibhaus mutierten Planeten aus Der lange Nachmittag der Erde, der ständig neues, unberechenbares, faszinierendes und gefährliches Leben in allen erdenklichen Formen und Arten hervorbringt. Ob er nun mainstreamtaugliche Romane, Science-Fiction oder surreale Experimente wie Report über Probabilität A schrieb, die sich jeder Einordnung verweigern, stets geht es bei seinen Figuren und in seinen Welten um Leben und Tod.

Der lange Nachmittag der Erde war Aldiss’ zweiter wegweisender Science-Fiction-Roman. Ein kompromissloses Buch, das gleich mehreren Traditionslinien der Science-Fiction folgt (und es handelt sich um Science-Fiction, obwohl das zentrale Motiv von Mond und Erde, die sich nicht länger drehen, sondern durch eine Art riesiges Spinnennetz miteinander verbunden sind, im Grunde genommen in den Bereich der Fantasy gehört).

Der Roman spielt weit in der Zukunft, kurz vor dem Ende unseres Planeten, wenn unsere derzeitigen Nöte und Sorgen längst vergessen und unsere Städte zerstört und verlassen sind (wenn der Hübsche in den Ruinen einer Stadt, bei der es sich wahrscheinlich um Kalkutta handelt, lange vergessene politische Parolen rezitiert, die für uns noch in weiter Zukunft liegen, ist dies ein merkwürdige Erinnerung an eine vor Jahrmillionen aufgegebene, bedeutungslose Welt).

Grens Odyssee führt ihn durch eine Welt, in der unvorstellbare Gefahren lauern (während Lily-Yo, die Heldin des Romans, eine Reise von unten nach oben antritt). Als Bericht über unmögliche und wundersame Begebenheiten gehört der Roman zu einem Genre, das – wie die Odyssee – älter als die Science-Fiction ist und dessen Ursprünge vielmehr in den Reiseberichten von Sir John Mandeville und seiner Vorgänger zu suchen sind: Fantasieerzählungen voller unglaublicher Kreaturen, kopfloser Männer mit dem Gesicht auf der Brust, Hundemenschen und lammähnlicher Wesen, die eigentlich Früchte sind.

Doch in erster Linie geht es in Der lange Nachmittag der Erde um einen konzeptuellen Durchbruch im Sinne des Begriffes, wie ihn John Clute und Peter Nicholls in ihrer Enzyklopädie der Science-Fiction verwenden. Im Moment des konzeptuellen Durchbruchs wirft der Protagonist einen Blick über den Rand seiner Welt und auf die Maschinerie, die sie am Laufen hält: Protagonist und Leser begreifen die bisher verborgene, wahre Natur der Realität. Beispielsweise finden wir in Starship – Verloren im Weltraum, Aldiss’ erstem Science-Fiction-Roman, irgendwann heraus, dass sich der Dschungel in einem Raumschiff befindet, das seit vielen Generationen durchs Weltall reist – so lange, dass seine Passagiere vergessen haben, dass sie sich auf einem Schiff befinden. Der konzeptuelle Durchbruch in Der lange Nachmittag der Erde ist anders gelagert, da sich die Protagonisten hier in erster Linie um ihr Überleben Gedanken machen müssen und die Entdeckungen und Aha!-Momente uns Lesern überlassen: Wir begreifen den Lebenszyklus der Flugmenschen, die Rolle der Pilze in der menschlichen Evolution, die Natur der Welt an sich – und damit ändert sich auch unser Blick auf die Welt.

Die Dramaturgie von Der lange Nachmittag der Erde wird durch Schauplätze und Ereignisse bestimmt, die den Leser vor allem staunen machen sollen. Von einem Figurenroman kann man nicht sprechen: Aldiss sorgt absichtlich dafür, dass uns die Protagonisten fremd bleiben – selbst Gren, der einem sympathischen Helden noch am nächsten kommt, bezieht sein Wissen von Morchel und entfremdet sich von uns, zwingt uns dazu, seine Perspektive zu verlassen und die seiner Gefährtin (wenn man sie denn so nennen will) Yattmur einzunehmen. Wir haben Mitgefühl mit den letzten Menschen im Dschungel, doch ähnlich sind sie uns nicht.

Hin und wieder wird der Science-Fiction der Vorwurf gemacht, lediglich an Konzepten interessiert zu sein und die Figuren zu vernachlässigen. Dies kann man auch Der lange Nachmittag der Erde zu recht vorwerfen, obwohl Aldiss oft genug bewiesen hat, dass er es verstand, sich ausgezeichnete und glaubwürdige Figuren auszudenken, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Genres. Doch wer Der lange Nachmittag der Erde diesen Vorwurf macht, hat das Prinzip ebenso wenig verstanden wie jemand, der den Beatles vorwirft, drei Minuten lange Lieder mit sich ständig wiederholendem Refrain zu schreiben.

Der lange Nachmittag der Erde ist unaufhörliches Staunen und eine Meditation über den Kreislauf des Lebens, für den ein individuelles Leben, die Unterscheidung zwischen Tier und Pflanze, ja sogar ein Sonnensystem keine Rolle spielen. Letzten Endes zählt nur das Leben, das in Form winziger Partikel durch den Weltraum zu uns kam und nun wieder dorthin zurückkehrt.

Mir fällt kein anderer Science-Fiction-Roman ein, in dem der Vorgang des Kompostierens einen solchen Stellenwert hat. Etwas wächst, stirbt und verwest, damit etwas Neues daraus entstehen kann. Der Tod, der oft und unerwartet kommt und nur selten betrauert wird, ist eine Konstante, ebenso wie die Geburt, das Leben selbst – und das Wundersame daran. Selten war der sense of wonder, jenes Staunen über die von der Science-Fiction erdachten Welten und Konzepte, größer als in Der lange Nachmittag der Erde. Brian Aldiss selbst sollte erst dreißig Jahre später mit seiner Helliconia-Trilogie etwas Vergleichbares schaffen.

Die Welt von Der lange Nachmittag der Erde ist unser Planet in einer unvorstellbar weit entfernten Zukunft. Der Mond klebt mit spinnennetzartigen Fäden an der sich nicht länger drehenden Erde. Die Tagseite des Planeten ist von den zahllosen Ästen einer einzelnen Banyan-Feige bedeckt, zwischen denen sich Pflanzenwesen, Insekten und nicht zuletzt die Menschen tummeln. Letztere sind auf Affengröße geschrumpft und wie die Tiere überhaupt (von denen wir einige andere Spezies kennenlernen, darunter eine Säugetierart namens Sodale Ye) nicht mehr besonders zahlreich. Doch Tiere spielen keine große Rolle mehr: Der lange Nachmittag der Erde, der sich dem Ende zuneigt, gehört den Pflanzen, die die evolutionären Nischen ausgefüllt haben, die gegenwärtig noch Landtiere und Vögel besetzen – oder sich neue Nischen geschaffen haben wie die Querer, kilometerlange, spinnenähnliche Pflanzenwesen.

Diese mannigfachen Lebensformen – deren an Lewis Carroll erinnernde Kofferwortnamen klingen, als hätten sie sich ein paar neunmalkluge Kinder ausgedacht – bevölkern die Sonnenseite der Welt. Wenn wir dem Protagonisten Gren (wenn man ihn denn so bezeichnen will), dessen Name nicht zufällig an das Wort »grün« erinnert, zuerst begegnen, ist er noch ein Kind und mehr Tier als Mensch. Ein schlaues Tier, zugegeben, aber eben ein Tier, das auch genauso schnell altert wie viele Tiere. Seine Odyssee ist gleichzeitig ein Menschwerdungsprozess. Er begreift, dass es Dinge gibt, von denen er nichts weiß. Die meisten Annahmen, die er trifft, sind falsch – und das in einer Welt, in der jeder Fehler tödlich sein kann. Durch Zufall, Intelligenz und Glück gelingt es ihm, zu überleben und sich weiterzuentwickeln. Auf seinem Weg begegnet er vielen merkwürdigen Kreaturen, so zum Beispiel den lotusessenden Bauchmänner, ein zunächst komisches Element, das im Lauf des Buches zunehmend bedrohlicher wird. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Grens Begegnung mit der Morchel, einem intelligenten Pilz, der gleichzeitig die Rolle der Schlange im Paradies als auch die der Frucht vom Baum der Erkenntnis einnimmt. Sie ist eine Kreatur des reinen Intellekts, so wie Gren und die anderen Menschen Kreaturen des Instinkts sind.

Sodale Ye – der Nachfahre der Delfine, dem Gren gegen Ende seiner Reise begegnet – und die Morchel sind intelligente Kreaturen, die mehr über die Welt wissen als die Menschen und auf parasitische oder symbiotische Weise auf andere Lebewesen angewiesen sind, um sich darin bewegen und agieren zu können.

Im Nachhinein ist es nur zu verständlich, was Der lange Nachmittag der Erde so außergewöhnlich machte, warum der Roman vor über fünfzig Jahren Aldiss’ Ruhm begründete und weshalb ihm der Hugo Award dafür verliehen wurde. Man muss ihn nur mit dem ähnlich gelagerten, aber weitaus konservativeren Die Triffids (1951) von John Wyndham vergleichen. In diesem Roman über eine »gemütliche Katastrophe« (um eine Formulierung des Literaturkritikers Aldiss auszuborgen) wird die erblindete Menschheit von riesigen, wandelnden, tödlichen Pflanzen bedroht. Erst durch Zusammenarbeit gelingt es ihr, sich zur Wehr zu setzen und, so dürfen wir wohl annehmen, die Herrschaft über die Erde zurückzuerobern. In der Welt von Der lange Nachmittag der Erde sind wir Menschen den Pflanzen nicht nur unterlegen, auch die Triffids würden wohl kaum auffallen – im Vergleich mit so fantastischen Wesen wie den Mampfstrumpf, die Bauchbuche, Mordweiden, Steiger und so weiter sind sie einfach viel zu gewöhnlich.

Dennoch bleibt Der lange Nachmittag der Erde typisch britische Science-Fiction, da er sich kaum an die Konventionen der zeitgenössischen US-Genrewerke hält. In einem amerikanischen Roman aus den frühen Sechzigern hätte Gren wohl entweder ausgiebig das Universum erkundet, den Menschen ihren Verstand zurückgegeben oder die Fauna auf Erden wiederhergestellt – alles Möglichkeiten, die uns Aldiss in Aussicht stellt und dann zurückweist. In Der lange Nachmittag der Erde geht es nicht um den Triumph der Menschheit, sondern um die Natur des Lebens, sei es in gewaltigen Dimensionen oder auf zellulärer Ebene. Die Lebensform an sich ist unwichtig. Schon bald wird die Sonne die Erde verschlingen, doch das Leben, das diesen Planeten für eine kurze Zeitspanne besiedelte, wird weiter durchs Universum ziehen und neue, unvorstellbare Formen annehmen.

Der lange Nachmittag der Erde ist ein merkwürdiges, verstörendes und zutiefst exzentrisches Buch. Das Überleben hängt vom Wachsen, Sterben, Verwesen und erneuten Wachsen ab. Alles andere ist eitel, wie es nicht nur bei Brian Aldiss, sondern auch im Buch Prediger heißt, und selbst die Intelligenz stellt eine Belastung dar, eine parasitische und letztendlich belanglose Eigenschaft.

Erster Teil

1

Alles gehorchte einem unabdingbaren Gesetz und wuchs, wucherte zügellos und verstörend in seinem Wachstumsdrang.

Wärme, Licht, Feuchtigkeit – diese Größen blieben konstant, und das schon seit … doch niemand wusste, seit wann. Niemanden interessierten mehr große Fragen, die mit »Seit wann …?« oder »Warum …?« anfangen. Für den Verstand war hier kein Raum mehr. Für Wachstum, für Pflanzen war Raum. Wie in einem Treibhaus.

Im grünen Licht gingen einige Kinder spielen. Wachsam gegenüber Feinden liefen sie einen Ast entlang und riefen einander nur leise. Auf der einen Seite schob sich gerade eine schnell wachsende Huschbeere nach oben, deren klebrige purpurrote Beerenmasse glitzerte. Sie wollte sich eindeutig aussäen und stellte für die Kinder keine Gefahr dar. Sie wuselten an ihr vorbei. Außerhalb des Gruppenstreifens war während ihrer letzten Schlafperiode etwas Nesselmoos emporgeschossen. Es regte sich, als die Kinder näher kamen.

»Tötet es«, sagte Toy schlicht. Sie führte die Kinder der Gruppe an. Sie war zehn, sie hatte zehn Fruchtzeiten des Feigenbaums durchlebt. Die anderen gehorchten ihr, sogar Gren. Sie zogen ihre Stöcke, die sie in Nachahmung der Erwachsenen trugen, und kratzten das Nesselmoos damit. Sie kratzten und sie schlugen es. Immer aufgeregter hieben sie auf die Pflanze ein und zerquetschten ihre giftigen Spitzen.

Clat stürzte in ihrer Aufregung nach vorn. Sie war erst fünf, das jüngste Kind der Gruppe. Ihre Hände landeten mitten in dem giftigen Brei. Sie schrie laut auf und rollte sich zur Seite weg. Die anderen Kinder schrien ebenfalls auf, doch sie wagten sich nicht in das Nesselmoos, um Clat zu retten.

Die Kleine beeilte sich wegzukommen und schrie erneut auf. Ihre Finger krallten nach der rauen Borke – dann fiel sie sich überschlagend vom Ast hinunter.

Die Kinder sahen, wie sie ein ganzes Stück weiter unten auf einem großen, ausladenden Blatt landete, sich daran festklammerte und zitternd auf dem wogenden Grün lag. Sie hatte Angst zu rufen und sah angstvoll zu ihnen nach oben.

»Hol Lily-Yo«, sagte Toy zu Gren. Gren rannte den Ast entlang zurück, um Lily-Yo zu holen. Mit einem zornigen Brummen stürzte sich eine Tigerfliege aus der Luft auf ihn. Er schlug sie mit der Hand beiseite, ohne innezuhalten. Er war neun, ein seltenes Mannkind, schon sehr mutig und flink und stolz. Geschwind lief er zur Hütte der Chefin.

Unter dem Ast hingen achtzehn große Schlupfnüsse. Sie waren ausgehöhlt und mit dem Bindemittel, das die Gruppe aus Essigholz destillierte, an der Astunterseite befestigt. Hier wohnten ihre achtzehn Mitglieder, eines in jeder Schlupfnuss, die Chefin, ihre fünf Frauen, ihr Mann und die elf überlebenden Kinder.

Als sie Grens Rufen hörte, kam Lily-Yo aus ihrem Schlupf, kletterte eine Liane hinauf und trat zu ihm auf den Ast.

»Clat ist runtergefallen!«, rief Gren.

Lily-Yo trommelte mit ihrem Stock kräftig auf den Ast, dann lief sie mit dem Kind los.

Ihr Signal rief die anderen sechs Erwachsenen heraus, die Frauen Flor, Daphe, Hy Ivin und Jury sowie den Mann Haris. Sie eilten aus ihren Schlupfnüssen und zogen die Waffen, bereit zum Angriff oder zur Flucht.

Im Rennen pfiff Lily-Yo einen schrillen Mehrklang.

Sofort erschien aus dem dichten Laub ein Schwirrschirm und flog zu ihrer Schulter. Der flauschige Schirm rotierte und navigierte mit seinen einzelnen Speichen. Er passte seinen Flug Lily-Yos Bewegung an.

Kinder und Erwachsene sammelten sich um die Chefin, während sie zu Clat hinuntersah, die immer noch ein ganzes Stück weiter unten auf ihrem Blatt lag.

»Still liegen bleiben, Clat! Nicht bewegen!«, rief Lily-Yo. »Ich komme zu dir.« Clat gehorchte dieser Stimme trotz ihrer Angst und ihrer Schmerzen und starrte hoffnungsvoll zu dem Quell der Hoffnung nach oben.

Lily-Yo stieg rittlings auf den hakenförmigen Fuß des Schwirrschirms und pfiff leise zu ihm. Sie beherrschte als Einzige der Gruppe das Lenken der Schirme. Das waren die halb intelligenten Früchte der Pfeifdistel. Die Spitzen ihrer gefiederten Speichen trugen Samen von seltsamer Form; sie sahen aus wie Ohren, denen jeder Wind, jede leichte Brise von Vorteilen für ihre Verbreitung flüsterte. Menschen konnten diese kruden Ohren nach langen Jahren der Übung für ihre eigenen Zwecke benutzen, wie es Lily-Yo gerade tat.

Der Schirm trug sie abwärts, damit sie das hilflose Kind retten konnte. Clat lag auf dem Rücken und schaute mit stiller Hoffnung zu, wie sie kamen. Sie sah immer noch nach oben, als sich ringsum grüne Zähne durch das Blatt schoben.

»Spring, Clat!«, rief Lily-Yo.

Dem Kind blieb noch Zeit, auf die Knie zu kommen. Raubpflanzen sind nicht so schnell wie Menschen. Dann schnappten die grünen Zähne um ihre Taille zu.

Unten hatte ein Klappschnapper durch die eine Blattschicht seine Beute erspürt und sich herangeschoben. Beim Klappschnapper handelte es sich um eine Art verhornte Truhe, die aus zwei Kiefern mit vielen langen Zähnen bestand. Er wurde von einem sehr muskulösen Stängel getragen, der dicker als ein Mensch war und an einen Hals erinnerte. Nun bog der Stängel sich und trug Clat zum eigentlichen Maul hinunter, da die übrige Pflanze weit unten auf dem nicht sichtbaren Waldboden in Dunkelheit und Moder lebte.

Pfeifend dirigierte Lily-Yo den Schwirrschirm zum heimatlichen Ast zurück. Für Clat konnte niemand mehr etwas tun. So war es eben.

Schon zerstreute sich die übrige Gruppe. Auf einem Haufen zu stehen forderte Ärger heraus, Ärger mit den unzähligen Feinden im Wald. Außerdem war Clats Tod nicht der erste, den sie miterlebten.

Lily-Yos Gruppe hatte einmal aus sieben Unterfrauen und zwei Männern bestanden. Zwei Frauen und ein Mann waren ans Grün gefallen. Die acht Frauen hatten insgesamt zweiundzwanzig Kinder zur Welt gebracht, von denen fünf Mannkinder gewesen waren. Kinder starben häufig. Nun, mit Clat, waren über die Hälfte der Kinder ans Grün gefallen. Das war eine bestürzend hohe Sterberate, und Lily-Yo gab sich als Chefin die Schuld dafür. Im Geäst lauerten viele Gefahren, doch sie waren bekannt, und man konnte sich dagegen schützen. Umso mehr Vorwürfe machte Lily-Yo sich, weil nur noch drei Mannkinder übrig waren, Gren, Poas und Veggy. Und sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass Gren noch Ärger machen würde.

Lily-Yo ging im grünen Licht den Ast entlang zurück. Der Schwirrschirm trieb unbeachtet von ihr weg, gehorchte der stillen Anweisung der Waldluft und lauschte auf Nachricht von einer Stelle für den Anflug. Noch nie war die Welt so übervölkert gewesen. Es gab keine freien Stellen zum Keimen mehr. Manchmal trieben die Schwirrschirme für Jahrhunderte durch die Dschungel und warteten darauf, dass sie niedergehen konnten, ein Sinnbild pflanzlicher Einsamkeit.

Als Lily-Yo den Schlupf erreichte, ließ sie sich an der Ranke hinunter und hinein. Dies war Clats Schlupf gewesen. Die Chefin passte kaum hindurch, so klein war die Tür. Menschen machten ihre Zugänge so schmal wie möglich und vergrößerten sie nur, wenn sie wuchsen. Es half, ungebetenen Besuch draußen zu halten.

Clats Schlupf war sauber und ordentlich. In die weichen Fasern der Innenseite war ein Bett geschnitzt; hier hatte die Fünfjährige geschlafen, wenn ihr im unveränderlichen Waldgrün nach Schlafen zumute gewesen war. Auf der Pritsche lag Clats Seele. Lily-Yo hob sie auf und steckte sie in ihren Gürtel.

Sie kletterte hinaus auf die Ranke, nahm ihr Messer und hieb auf die Stelle ein, wo die Rinde des Baums entfernt und der Schlupf am lebendigen Holz befestigt worden war. Nach einigen Hieben gab das Bindemittel nach. Clats Behausung neigte sich, hing noch einen Moment lang da und stürzte hinab.

Als sie zwischen den riesigen derben Blättern verschwand, raschelte es im Blattwerk. Irgendetwas kämpfte um das Privileg, den großen Bissen zu verschlingen.

Lily-Yo kletterte zurück auf den Ast. Einen Moment lang stand sie da und verschnaufte. Das Atmen fiel ihr schwerer als früher. Sie war auf zu viele Jagden gegangen, hatte zu viele Kinder geboren, zu viele Kämpfe ausgefochten. Mit einem seltenen und flüchtigen Bewusstsein ihrer selbst sah sie auf ihre nackten grünen Brüste hinab. Sie waren nicht mehr so prall wie beim ersten Mal, als sie den Mann Haris zu sich genommen hatte; sie hingen tiefer. Ihre Form war weniger schön.

Instinktiv wusste sie, dass ihre Jugend vorbei war und dass es Zeit wurde hinaufzufahren.

Die Gruppe stand bei der Mulde und wartete auf sie. Sie lief zu ihnen, äußerlich so aktiv wie immer, doch ihr Herz fühlte sich tot an. Die Mulde war wie eine umgedrehte Achselhöhle und hatte sich dort gebildet, wo der Ast aus dem Stamm wuchs. In der Mulde sammelte sich Wasser.

Die Gruppe sah zu, wie eine Kolonne Termiezen den Stamm hinaufkletterte. Ab und zu signalisierte eine Termieze den Menschen einen Gruß. Die Menschen winkten zurück. Wenn sie überhaupt noch Verbündete besaßen, dann waren es die Termiezen. Nur fünf große Familien hielten im wuchernden grünen Leben noch durch; die Tigerfliegen, die Baumbienen sowie die Gärtnerameisen und die Termiezen als mächtige und unsichtbare staatenbildende Insekten. Die fünfte Familie war die der Menschen, klein, bescheiden und leicht zu töten, nicht so organisiert wie die Insekten und trotzdem nicht ausgestorben, die letzte Säugetierspezies in der alles erobernden Pflanzenwelt.

Lily-Yo trat zu der Gruppe. Sie sah die wandernde Kolonne der Termiezen entlang bis zu der Stelle, wo sie zwischen den grünen Schichten verschwand. Die Termiezen konnten auf jeder Etage des großen Waldes leben, in den Wipfeln oder unten am Boden. Sie waren die ersten und die letzten Insekten; solange es noch Leben gab, würden auch die Termiezen und die Tigerfliegen bestehen.

Lily-Yo senkte den Blick und grüßte die Gruppe.

Als sie herschauten, holte sie Clats Seele heraus und reckte sie empor.

»Clat ist ans Grün gefallen«, sagte sie. »Ihre Seele muss zu den Wipfeln gehen, wie es der Brauch verlangt. Flor und ich bringen sie jetzt gleich hinauf, dann können wir die Termiezen begleiten. Daphe, Hy, Ivin, Jury, ihr passt mir gut auf den Mann Haris und die Kinder auf, bis wir zurückkommen.«

Die Frauen nickten ernst. Dann kamen sie eine nach der anderen und berührten Clats Seele.

Bei der Seele handelte es sich um eine grob aus Holz geschnitzte Frauenfigur. Wenn ein Kind zur Welt kam, dann schnitzte ihm sein männlicher Elternteil rituell eine Seele, eine Puppe, eine Totemseele – denn wer im Wald ans Grün fiel, hinterließ kaum je auch nur einen Knochen zum Begraben. Die Seele überlebte für die Bestattung in den Wipfeln.

Während sie die Seele berührten, schlich Gren sich unternehmungslustig von der Gruppe weg. Er war fast so alt, aktiv und stark wie Toy. Er konnte klettern. Er konnte schwimmen. Außerdem besaß er seinen eigenen Willen. Ohne auf das Rufen seines Freundes Veggy zu achten, hüpfte er zur Mulde und machte einen Kopfsprung in den Tümpel.

Als er unter der Wasseroberfläche die Augen öffnete, sah er eine Welt der düsteren Klarheit. Bei seiner Annäherung wuchsen einige grüne Gebilde wie Kleeblätter empor und wollten sich um seine Beine wickeln. Gren wich ihnen mit Handbewegungen aus und schoss tiefer. Dann sah er den Mampfstrumpf – bevor der ihn sah.

Beim Mampfstrumpf handelte es sich um eine hemiparasitische Wasserpflanze. Er lebte in Mulden und sandte seine sägezahnbewehrten Saugorgane zum Saft des Baumes hinunter. Sein oberer Teil, der rau war und zungenförmig wie eine Socke, konnte ebenfalls Nahrung aufnehmen. Er entrollte sich und umschlang Grens linken Arm. Seine Fasern verschränkten sich prompt, um den Griff zu verstärken.

Gren war bereit. Mit einem Messerhieb trennte er den Mampfstrumpf mittendurch, und die untere Hälfte zuckte hilflos umher, während er davonschwamm.

Bevor er auftauchen konnte, war die erfahrene Jägerin Daphe neben ihm. Sie machte ein finsteres Gesicht, und Blasen schossen silbrig wie Fische zwischen ihren Zähnen hervor. Ihr Messer war bereit, ihn zu schützen.

Er grinste sie an, als er die Oberfläche durchbrach und auf den trockenen Rand kletterte. Lässig schüttelte er sich, als sie neben ihn stieg.

»Niemand läuft oder schwimmt allein«, rief Daphe und zitierte eines ihrer Gesetze. »Gren, kennst du keine Angst? Dein Kopf ist eine leere Klette!«

Die anderen Frauen zeigten sich ebenfalls verärgert. Und doch erhob keine ihre Hand gegen Gren. Er war ein Mannkind. Er war tabu. Er besaß die magischen Fähigkeiten, Seelen zu schnitzen und Kinder zu schenken – oder würde sie besitzen, sobald er voll ausgewachsen war, was nicht mehr lange dauern würde.

»Ich bin Gren, das Mannkind!«, prahlte er vor ihnen und schlug sich auf die Brust. Sein Blick suchte Haris’ Zustimmung. Haris sah einfach nur weg. Nun, da Gren so groß war, feuerte Haris ihn nicht mehr an wie früher, obwohl der Junge inzwischen noch mutiger handelte.

Einigermaßen ernüchtert, sprang Gren umher und schwenkte den linken Arm, um den sich immer noch der Mampfstrumpfstreifen schlang. Er tönte und prahlte vor den Frauen, um allen zu zeigen, wie egal sie ihm waren.

»Du bist immer noch ein Baby«, zischte Toy. Sie war zehn, ein Jahr älter als er. Gren verstummte. Nicht mehr lange, und er würde allen zeigen, dass er etwas Besonderes war.

Lily-Yo sagte mit missmutigem Blick: »Die Kinder sind langsam zu alt, um sie im Griff zu behalten. Sobald Flor und ich Clats Seele in den Wipfeln bestattet haben und zurückkehren, lösen wir die Gruppe auf. Es wird Zeit, uns zu trennen. Passt auf euch auf!«

Sie grüßte und schritt mit Flor davon.

Eine kleinlaute Gruppe sah ihrer Chefin nach. Alle wussten, dass die Gruppe geteilt werden musste; daran denken wollte niemand. Ihre Zeit der Zufriedenheit und Sicherheit – als solche erschien sie ihnen – war vorbei, vielleicht für immer. Den Kindern stand eine Zeit der einsamen Entbehrungen bevor, in der sie selbst für sich sorgen mussten, bis sie sich anderen Gruppen anschlossen. Die Erwachsenen ließen sich auf hohes Alter, Widrigkeit und Tod ein, wenn sie hinauffuhren ins Unbekannte.

2

Lily-Yo und Flor kletterten mühelos die raue Rinde hinauf. Das war für sie, als würden sie eine Folge mehr oder weniger gleichmäßig platzierter Steine hinaufgehen. Ab und zu liefen ihnen irgendwelche pflanzlichen Feinde über den Weg, ein Driftstift oder ein Fluppstrupp, aber die waren kleine Fische und ließen sich problemlos hinunter ins grüne Dämmerlicht schicken. Ihre Feinde waren auch die Feinde der Termiezen, und die wandernde Kolonne hatte sich bereits um die Widersacher auf ihrem Weg gekümmert. Lily-Yo und Flor waren heilfroh über die Gegenwart der Termiezen und blieben dicht hinter ihnen.

Sie kletterten für lange Zeit. Einmal machten sie Rast auf einem leeren Ast, fingen zwei Wanderkletten, spalteten sie und aßen ihr öliges weißes Fleisch. Auf dem Weg nach oben hatten sie auf anderen Ästen ein oder zwei Menschengruppen erblickt; manchmal winkten diese Gruppen scheu, manchmal nicht. Schließlich waren sie für Menschen zu weit oben.

Näher bei den Wipfeln drohten neue Gefahren. Auf den sichereren Mitteletagen des Waldes lebten die Menschen und hielten sich von den Risiken der Wipfel und des Bodens fern.

»Jetzt gehen wir weiter«, sagte Lily-Yo zu Flor und stand auf, als sie sich ausgeruht hatten. »Bald sind wir in den Wipfeln.«

Eine Bewegung ließ die beiden Frauen verstummen. Sie sahen nach oben und versteckten sich Schutz suchend am Stamm. Über ihren Köpfen raschelten Blätter, als der Tod zuschlug.

Eine Springliane peitschte die raue Rinde mit wilder Gier und griff die Termiezenkolonne an. Die Wurzeln und Triebe der Springliane dienten zugleich als Zungen und Peitschenschnüre. Sie schlug um den Stamm herum und stieß ihre klebrigen Zungen in die Termiezen.

Gegen diese ebenso flexible wie grausige Pflanze konnten die Insekten wenig ausrichten. Sie verteilten sich, stiegen aber beharrlich weiter empor, vielleicht weil eine jede ihr Überleben dem blinden Gesetz der großen Zahlen anvertraute.

Für die Menschen stellte die Pflanze keine so große Bedrohung dar – jedenfalls bei der Begegnung auf einem Ast. Vom Stamm konnte sie Menschen mühelos abreißen und sie hilflos ans Grün fallen lassen.

»Wir klettern einen anderen Stamm hinauf«, sagte Lily-Yo.

Flink rannte sie mit Flor den Ast entlang, sprang einmal über eine leuchtende, von Baumbienen umschwärmte parasitäre Blüte hinweg, eine Vorbotin der bunten Welt über ihnen.

Ein weit schlimmeres Hindernis lauerte in einem harmlos wirkenden Loch im Ast. Als Flor und Lily-Yo sich näherten, schoss eine Tigerfliege auf sie zu. Sie war genauso groß wie die Menschen, eine Schreckenskreatur, die sowohl über Bewaffnung als auch Intelligenz verfügte – und über Bösartigkeit. Gerade griff sie nur mit Tücke an, die Augen riesenhaft, die Mandibeln in Bewegung, die durchsichtigen Flügel ein Schwirren. Ihr Kopf war eine Mischung aus struppigen Haaren und Panzerplatten, während unterhalb ihrer schmalen Taille der große gelb-schwarze plattengeschützte Hinterleib lag, aus dessen Ende ein tödlicher Stachel fuhr.

Sie tauchte zwischen die beiden Frauen und versuchte, sie mit ihren Flügeln zu schlagen. Diese warfen sich auf den Bauch, als sie vorbeiraste. In ihrer Wut prallte die Tigerfliege bei der Wendung gegen den Ast, und ihr goldbrauner Stachel fuhr hinein und wieder hinaus.

»Ich schnapp sie mir!«, sagte Flor. Eine Tigerfliege hatte eines ihrer Kinder getötet.

Nun kam das Insekt schnell und tief heran. Flor duckte sich, packte es bei seinen Haarzotteln und brachte es aus der Flugbahn. Rasch hob sie ihr Schwert. In einem mächtigen Streich ließ sie es herunterfahren und trennte die schmale Chitintaille durch.

Die Tigerfliege taumelte halbiert nach unten. Die beiden Frauen rannten weiter.

Der Ast, ein Hauptast, wurde nicht dünner. Stattdessen lief er immer weiter und endete wieder in einem Stamm. Der unermesslich alte Baum, der langlebigste Organismus, der auf dieser kleinen Welt je gediehen war, besaß unzählige Stämme. Vor sehr langer Zeit – vor zweitausend Millionen Jahren – waren viele Baumarten gewachsen, abhängig von Boden, Klima und anderen Bedingungen. Mit steigenden Temperaturen wucherten die Bäume und kamen miteinander in Konkurrenz. Auf diesem Kontinent errang der in der Wärme prächtig gedeihende Banyan, ein Feigenbaum, mit seinem komplexen Netz Luftwurzeln ausbildender Äste allmählich die Vorherrschaft über die anderen Spezies. Unter Druck entwickelte er sich und passte sich an. Jeder Banyan breitete sich immer weiter aus und wuchs teilweise auch zur Sicherheit wieder in sich zurück. Immer höher und weiter strebte er, schützte seinen Ursprung, während seine Rivalen sich vermehrten, sandte Stützwurzel um Stützwurzel nach unten, streckte Ast um Ast aus, bis er zuletzt den Trick lernte, in seine Nachbarfeige hineinzuwachsen, und ein Dickicht bildete, in dem keine andere Baumart gedieh. Banyanbäume entwickelten sich zu unerreichter Komplexität und wurden unsterblich.

Auf dem Kontinent, wo die Menschen lebten, wuchs nun ein einziger Feigenbaum. Er war zunächst zum König des Waldes und dann zum eigentlichen Wald geworden. Wüsten, Gebirge und Sümpfe hatte er erobert. Die gesamte Landmasse erfüllte er mit seinem vernetzten Gerüst. Nur bis an breitere Flüsse oder ans Meer, wo ihn der tödliche Seetang angegriffen hätte, ging der Baum nicht.

Auch nicht bis an den Terminator, wo die Nacht begann und sämtliche Lebewesen innehielten.

Die Frauen stiegen jetzt langsamer hinauf, wachsam gegen Tigerfliegen, die manchmal in ihre Richtung flogen. Überall wuchsen Farbtupfen, am Baum, an Fäden, frei im Wind. Lianen und Pilze blühten. Schwirrschirme bewegten sich klagend durch das Gewirr. Während die Frauen an Höhe gewannen, wurde die Luft frischer, und die Farben explodierten, Azur- und Purpur-, Gelb- und Malventöne, all die wunderschön gefärbten Fallen der Natur.

Eine Drippellippe sandte ihren scharlachroten Leim den Stamm hinab. Mehrere Driftstifte schlichen sich mit pflanzlicher Kunstfertigkeit an die Tropfenfäden an, stürzten sich darauf und starben. Lily-Yo und Flor gingen auf der anderen Seite vorbei.

Haukraut begegnete ihnen. Sie hieben es entzwei und kletterten weiter.

Es gab eine Vielzahl fantastischer Pflanzenformen, einige wie Vögel, andere wie Schmetterlinge. Immer und immer wieder schossen Peitschen und Hände vor und fingen sie aus der Luft.

»Schau!«, flüsterte Flor. Sie zeigte über ihre Köpfe.

Die Borke des Baums war geringfügig eingerissen. Kaum sichtbar bewegte sich ein Teil davon. Flor reckte ihren Stock empor und streckte sich, bis Stock und Riss einander berührten. Dann drückte sie zu.

Ein Teil der Rinde klaffte weit auf und enthüllte ein bleiches, tödliches Maul. Ein hervorragend getarntes Austernmaul hatte sich in den Baum gegraben. Prompt stieß Flor ihren Stock in die Falle. Als die Kiefer sich schlossen, zog sie mit aller Kraft, während Lily-Yo sie festhielt. Das überraschte Austernmaul löste sich aus seiner Höhlung.

Geschockt öffnete es seine Kiefer und flog durch die Luft. Ein Egelsegel fing es im Vorbeiflug.

Lily-Yo und Flor kletterten weiter.

Die Wipfel waren eine fremde Welt für sich, das Königreich der Pflanzen in seiner prächtigsten und exotischsten Gestalt.

So wie der Banyan über den Wald herrschte, der Wald war, herrschten die Querer über die Wipfel. Die Querer hatten die typische Landschaft der Wipfel geformt. Ihnen gehörten die großen, sich überall ausdehnenden Netze und auch die Nester auf den Wipfeln der Bäume.

Wenn die Querer ihre Nester verließen, bauten dort andere Wesen, wuchsen dort andere Pflanzen und spreizten ihre leuchtenden Farben zum Himmel hin. Abfall und Kot verband diese Nester zu stabilen Plattformen. Hier wuchsen Brennsärge, und einen brauchte Lily-Yo für Clats Seele.

Kletternd und schiebend gelangten die beiden Frauen endlich auf eine solche Plattform. Sie suchten unter einem großen Blatt Schutz vor den Gefahren des Himmels und ruhten von ihren Anstrengungen aus. Selbst im Schatten und selbst für sie herrschte in den Wipfeln eine gewaltige Hitze. Über ihnen brannte eine große Sonne und lähmte das halbe Himmelreich. Sie brannte ohne Unterlass an der ewig gleichen Position und würde dort bis zu dem nicht mehr utopisch fernen Tag brennen, an dem sie erlosch.

Auf diese Sonne verließ sich die Brennsargblume, die hier in den Wipfeln über die ortsgebundenen Gewächse herrschte, für die ihr eigene Methode der Verteidigung. Schon teilten ihr ihre empfindungsfähigen Wurzeln mit, dass Eindringlinge in der Nähe waren. Lily-Yo und Flor sahen, wie ein Lichtfleck das Blatt über ihnen entlangwanderte, stehen blieb und sich zusammenzog. Das Blatt verschmorte und brach in Flammen aus. Indem sie einen Sarg auf die Frauen ausrichtete, bekämpfte die Blume sie mit ihrer schrecklichen Waffe – Feuer.

»Lauf!«, befahl Lily-Yo, und sie rannten bis hinter die Spitze einer Pfeifdistel, verbargen sich hinter ihren Dornen und spähten zur Blume hinüber.

Sie war ein prächtiger Anblick.

Hoch reckte sie sich empor und fächerte vielleicht ein halbes Dutzend kirschroter Blüten auf, jede Blüte mehr als menschengroß. Andere, bestäubte Blüten hatten sich vollständig geschlossen und bildeten sargartige Kapseln mit vielen Flächen. Ältere Särge verloren ihre Färbung, und in der Nähe des Stiels wuchsen Samen heran. Waren die Samen schließlich reif, wurde der jetzt hohle und enorm stabile Sarg durchsichtig wie Glas und ließ sich von der Blume als Hitzewaffe einsetzen, sobald die Samen verstreut waren.

Jede Pflanze und jedes Tier scheute vor dem Feuer zurück – nur die Menschen nicht. Sie allein kamen mit der Brennsargblume zurecht und machten sie sich zunutze.

Vorsichtig schlich Lily-Yo näher heran und schnitt ein großes Blatt ab, das durch die Plattform wuchs, auf der sie sich befanden. Es war größer als sie. Sie hielt es sich vor den Leib, rannte schnurgerade zu der Blume, warf sich zwischen ihre Blätter und kletterte hurtig bis ganz nach oben, bevor diese ihre sargförmigen Linsen auf sie ausrichten konnte.

»Jetzt!«, rief sie zu Flor.

Flor war schon unterwegs und sprintete auf sie zu.

Lily-Yo reckte das Blatt hoch und hielt es zwischen die Blume und die Sonne, sodass die bedrohlichen Särge sich im Schatten befanden. Als würde die Blume begreifen, dass ihre Methode der Verteidigung durchkreuzt war, erschlaffte sie im Schatten, mit ihren herabhängenden Blüten und Särgen ein Bild pflanzlicher Niedergeschlagenheit.

Flor grunzte anerkennend, sprang vor und schnitt einen der großen durchsichtigen Särge ab. Zusammen trugen sie den Sarg zurück in die Deckung der Pfeifdistel. Als das beschattende Blatt wegfiel, erwachte die Blume wieder zu aggressivem Leben und riss ihre Stängel hoch, damit die Särge erneut Licht fingen.

Die beiden Frauen erreichten gerade rechtzeitig die Deckung. Ein Pflanzvogel stürzte sich aus dem Himmel auf sie – und spießte sich auf einen Dorn.

Im Nu kämpften ein Dutzend Räuber um seinen Körper. Im Schutz des Durcheinanders machten Lily-Yo und Flor sich über den erbeuteten Sarg her. Mit ihren Messern und all ihrer Kraft zwängten sie eine Seite weit genug auf, dass sie Clats Seele hineinlegen konnten. Die Seite schnappte wieder zu und schloss luftdicht ab. Die Seele starrte hölzern durch die transparenten Facetten zu ihnen nach draußen.

»Mögest du hinauffahren und in den Himmel kommen«, sagte Lily-Yo.

Es war ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Seele wenigstens eine faire Chance hatte, das zu schaffen. Zusammen mit Flor trug sie den Sarg zu einem der Kabel hinüber, die ein Querer gesponnen hatte. Das obere Ende des Sargs, wo der Samen gewesen war, sonderte Saft ab und war sehr klebrig. Der Sarg blieb problemlos am Kabel haften und hing dort glitzernd im Sonnenlicht.

Wenn das nächste Mal ein Querer das Kabel hinaufkletterte, standen die Chancen gut, dass der Sarg wie eine Klette an einem seiner Beine kleben blieb. Und dann wurde er ins Himmelreich getragen.

Als die beiden Frauen mit ihrer Arbeit fertig waren, fiel ein Schatten über sie. Ein meilenlanger Körper schwebte in ihre Richtung nach unten. Ein Querer, diese groteske pflanzliche Entsprechung einer Spinne, senkte sich zu den Wipfeln herab.

Eilig wühlten die Frauen sich einen Weg durch die Plattform aus Blättern. Die letzten Riten für Clat waren ausgeführt worden; es wurde Zeit, zur Gruppe zurückzukehren.

Bevor sie wieder hinunter zu der grünen Welt der mittleren Etagen kletterten, sah Lily-Yo noch einmal zurück.

Der Querer schwebte langsam herab, eine große Blase mit Beinen und Kiefern und zum Großteil von faserigen Haaren bedeckt. Für Lily-Yo war er wie ein Gott mit den Kräften eines Gotts. Er schwebte gewandt an einem Kabel herab, das sich nach oben in den Himmel erstreckte.

Andere Kabel waren zu sehen, die sich nah oder fern aus dem Dschungel nach oben erstreckten. Alle ragten schräg empor, zeigten wie überstreckte Finger ins Himmelreich. Wo sie das Sonnenlicht einfingen, glänzten sie. Sie zogen sich erkennbar zu einer gemeinsamen Richtung hin. Dort schwebte fern und kalt eine silbrige Halbkugel, die selbst im Sonnenlicht deutlich sichtbar war.

Bewegungslos und fest blieb der Halbmond stets in diesem Himmelsabschnitt.

Über Äonen hinweg hatte die Anziehungskraft dieses Mondes die Erdrotation unmerklich zum Stillstand gebracht, während Tag und Nacht immer langsamer geworden und schließlich stehen geblieben waren: der eine auf der einen Seite des Planeten, die andere auf der anderen. Zugleich hatte ein umgekehrter Bremseffekt den scheinbaren Flug des Mondes beendet. Er hatte sich von der Erde entfernt, seine Rolle als Satellit hinter sich gelassen und bewegte sich nun in einer Trojaner-Position, ein eigener, unabhängiger Planet, der sich in eine Ecke des gewaltigen gleichseitigen Dreiecks schmiegte, das in seinen anderen Ecken die Erde und die Sonne hielt. Nun standen Erde und Mond einander für das, was vom Vorabend der Ewigkeit noch übrig war, in derselben relativen Position gegenüber. Sie wandten einander stets dieselbe Seite zu, und so würde es bleiben, bis der Sand der Zeit nicht mehr rieselte oder die Sonne nicht mehr schien.

Und die zahlreichen Kabelstränge erstreckten sich über dem Abgrund zwischen den Welten und verbanden sie miteinander. Zwischen ihnen reisten die Querer hin und her, wie es ihnen gefiel, gigantische Astronauten ohne Verstand, Erde und Luna in ihr gleichgültiges Netz eingesponnen.

Mit verblüffender Angemessenheit hatte sich die alte Erde in Spinnweben verfangen.

3

Die Wanderung zurück zur Gruppe verlief eher ereignislos. Lily-Yo und Flor schlugen ein entspanntes Tempo an und glitten zurück in die mittleren Etagen des Baums. Lily-Yo hatte es nicht so eilig wie üblich, weil sie sich nur ungern dem unausweichlichen Teilen der Gruppe stellen mochte.

Sie konnte ihre Gedanken nicht ausdrücken. In diesem grünen Jahrtausend gab es wenig Gedanken und noch weniger Worte.

»Bald müssen wir hinauffahren wie Clats Seele«, sagte sie zu Flor, während sie hinabkletterten.

»So ist es eben«, antwortete Flor, und Lily-Yo wusste, dass sie zu diesem Thema kein tiefsinnigeres Wort bekommen würde. Wie sie auch selbst keine tiefsinnigeren Worte zustande brachte; das menschliche Begreifen durchdrang nicht mehr viel. So war es eben.

Die Gruppe begrüßte sie bei ihrer Rückkehr verhalten. Lily-Yo war erschöpft, sie hob kurz die Hand und zog sich in ihren Schlupf zurück. Wenig später brachten Jury und Ivin ihr etwas zu essen, wobei sie nicht einmal ihre Fingerspitzen in die Nuss steckten, denn das war tabu. Nachdem Lily-Yo gegessen und geschlafen hatte, kletterte sie wieder auf den heimatlichen Streifen des Astes hinauf und versammelte die anderen um sich.

»Beeilt euch!«, rief sie und starrte Haris an, der sich nicht beeilte. Wie konnte er sie ärgern, wo er doch wusste, dass sie ihn am liebsten hatte! Wieso konnte jemand Schwieriges so kostbar sein – oder jemand Kostbares so schwierig?

In diesem Moment, da ihre Aufmerksamkeit geteilt war, leckte eine lange grüne Zunge hinter dem Baumstamm hervor. Die Zunge entrollte sich und hing für eine Sekunde anmutig in der Luft. Sie legte sich um Lily-Yos Taille, wobei sie auch die Arme mit einklemmte, und hob sie vom Ast herunter, während Lily-Yo schrie und strampelte, wütend, weil sie nicht besser aufgepasst hatte.

Haris zog ein Messer aus dem Gürtel, sprang mit schmalen Augen vor und schleuderte die Klinge. Singend durchbohrte sie die Zunge und nagelte sie an den rauen Baumstamm.

Haris wartete nach dem Wurf nicht ab. Noch als er zu der gefangenen Zunge lief, rannten Daphe und Jury hinterher, und Flor brachte eilig die Kinder in Sicherheit. Die Zunge lockerte in ihrem Schmerz den Griff um Lily-Yo.

Schon hatte auf der anderen Seite des Baumstamms ein schreckliches Rucken und Zucken eingesetzt: Es schien den ganzen Wald zu erschüttern. Lily-Yo pfiff zwei Schwirrschirme herbei, befreite sich von den grünen Schlingen und kehrte sicher auf den Ast zurück. Die sich vor Schmerzen windende Zunge peitschte sinnlos umher. Mit gezückten Waffen näherten sich die vier Menschen, um ihr den Rest zu geben.

Der Baum selbst rüttelte unter dem Zorn des Wesens mit der gefangenen Zunge. Vorsichtig umrundeten sie den Stamm und bekamen es zu sehen. Das große pflanzliche Maul aufgerissen, starrte sie ein Steiger mit der grausigen handförmigen Pupille seines einzigen Auges an. Wütend warf er sich immer wieder gegen den Baum und klappte das schäumende Maul auf und zu. Obwohl die Menschen schon Steigern begegnet waren, machte der Anblick sie zittern.

Bei seiner gegenwärtigen Ausdehnung besaß der Steiger den vielfachen Umfang des Baumstamms. Er hätte sich nötigenfalls bis hinauf in die Wipfel strecken können und wäre dabei immer länger und dünner geworden. Wie ein obszöner Springteufel schoss er auf der Suche nach Nahrung in die Höhe, armlos, hirnlos, und zerfurchte auf seiner Wanderung mit breiten Wurzelbeinen den Waldboden.

»Nagelt ihn fest!«, rief Lily-Yo. »Lasst das Monster nicht entkommen!«

Die Gruppe hatte für Notfälle entlang des ganzen Astes Verstecke mit spitzen Pfählen angelegt. Mit diesen stachen sie nach der Zunge, die noch immer wie eine Peitsche über ihren Köpfen knallte. Endlich hatten sie ein gutes Stück davon gesichert, an den Baum gepfählt. Wie sehr der Steiger sich auch wand, befreien konnte er sich nicht mehr.

»Nun müssen wir aufbrechen und nach oben gehen«, sagte Lily-Yo.

Kein Mensch konnte je einen Steiger töten, denn an seine lebenswichtigen Organe kam niemand heran. Sein Kampf lockte jedoch bereits Räuber an, die Driftstifte – diese hirnlosen Haie der mittleren Etagen – , Egelsegel, Klappschnapper, Fratzen und kleinere pflanzliche Schädlinge. Sie würden den Steiger lebendig in Stücke reißen, bis nichts mehr von ihm übrig war – und wenn ihnen ein Mensch dazwischengeriet … nun, so war es eben. Darum verschwand die Gruppe lieber rasch im Grün.

Lily-Yo war wütend. Sie hatte ihnen diesen Ärger eingebrockt. Weil sie nicht aufgepasst hatte. Wäre sie wachsam gewesen, hätte ein langsamer Steiger sie nie gekriegt. Ihre Gedanken hatten darum gekreist, was für eine schlechte Chefin sie war. Denn ihretwegen mussten zwei gefährliche Wanderungen zu den Wipfeln unternommen werden, obwohl eine genügt hätte. Hätte sie gleich die ganze Gruppe zur Verabschiedung von Clats Seele mitgenommen, wäre Flor und ihr der zweite Aufstieg erspart geblieben. Was plagte ihren Verstand, dass sie nicht vorher daran gedacht hatte?

Sie klatschte in die Hände. Im Schutz eines großen Blattes versammelte sie die Gruppe um sich. Sechzehn Augenpaare sahen sie vertrauensvoll an, erwarteten ihre Worte. Es machte sie wütend, wie sehr sie ihr vertrauten.

»Wir Erwachsenen werden alt«, erklärte sie. »Wir werden dumm. Ich werde dumm – lasse mich von einem langsamen Steiger fangen. Ich tauge nicht mehr zu eurer Chefin. Die Zeit ist gekommen, da die Erwachsenen hinauffahren und zu den Göttern zurückkehren, die uns geschaffen haben. Dann sind die Kinder auf sich allein gestellt. Sie sind dann die neue Gruppe. Toy wird die Gruppe anführen. Sobald ihr euch eurer Gruppe sicher seid, werden Gren und bald auch Veggy alt genug sein, um euch Kinder zu machen. Passt gut auf die Mannkinder auf. Lasst sie nicht ans Grün fallen, sonst stirbt die Gruppe. Besser ihr sterbt, als dass ihr die Gruppe sterben lasst.«

Eine so lange Rede hatte Lily-Yo noch nie gehalten, hatten die anderen noch nie gehört. Manche verstanden nicht alles. Was sollte das heißen, nicht ans Grün fallen lassen? Entweder man fiel, oder man fiel nicht: Da gab es nichts zu reden. Was auch geschah, so war es eben, daran änderten Worte nichts.

May, ein Fraukind, sagte frech: »Für uns allein können wir lustige Sachen machen.«

Flor versetzte ihr einen Klaps aufs Ohr.

»Erst macht ihr mal den schweren Aufstieg zu den Wipfeln«, sagte sie.

»Ja, bewegt euch«, sagte Lily-Yo. Sie gab den Befehl zum Aufbruch, bestimmte, wer vorn gehen und wer folgen sollte. Es gab keine weiteren Diskussionen, keine Neugierde; nur Gren wunderte sich: »Immer bestraft Lily-Yo uns für ihre eigenen Fehler.«

Ringsum pulsierte der Wald, grüne Wesen huschten und schnappten durchs Blattwerk, während der Steiger verschlungen wurde.

»Klettern ist anstrengend. Also los.« Lily-Yo sah sich ruhelos um und bedachte Gren mit einem besonders strengen Blick.

»Wieso denn klettern?«, fragte Gren rebellisch. »Mit Schwirrschirmen fliegen wir da ganz leicht rauf, ohne dass uns was wehtut.«

Es war zu kompliziert, ihm zu erklären, dass ein durch die Luft schwebender Mensch viel verletzlicher war als ein Mensch im Schutz eines Baumstamms, dessen raue Rinde gute Vertiefungen bot, in die er sich bei einem Angriff quetschen konnte.

»Solange ich eure Chefin bin, wird geklettert«, sagte Lily-Yo. »Du redest so viel, du musst eine Kröte im Kopf stecken haben.« Schlagen durfte sie Gren nicht, als Mannkind war er tabu.

Sie holten ihre Seelen aus den Schlupfnüssen. Der Abschied von ihrem alten Zuhause fiel nüchtern aus. Ihre Seelen kamen in die Gürtel, ihre Schwerter – die schärfsten und härtesten verfügbaren Dornen – in die Hände. Sie rannten hinter Lily-Yo her, fort von dem zerstückelten Steiger, fort von ihrer Vergangenheit.