Der Sternenschwarm - Brian W. Aldiss - E-Book

Der Sternenschwarm E-Book

Brian W. Aldiss

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Beschreibung

Eine Menschheitschronik aus der fernen Zukunft

Vor Äonen verließen die Menschen ihren Heimatplaneten, eine kleine Welt in den Randbezirken unserer Galaxis, und brachen ins All auf. Ihre Nachfahren leben im Sternenschwarm, einem kosmischen Cluster mit zehntausenden Welten. Die Erde haben sie schon lange vergessen, doch das Erbe der Menschheit bewahren sie bis in die ferne Zukunft ...

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BRIAN W. ALDISS

 

 

 

DER STERNENSCHWARM

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Vor Äonen verließen die Menschen ihren Heimatplaneten, eine kleine Welt in den Randbezirken unserer Galaxis, und brachen ins All auf. Ihre Nachfahren leben im Sternenschwarm, einem kosmischen Cluster mit zehntausenden Welten. Die Erde haben sie schon lange vergessen, doch das Erbe der Menschheit bewahren sie bis in die ferne Zukunft …

 

 

 

 

Der Autor

Brian Wilson Aldiss, OBE, wurde am 18. August 1925 in East Dereham, England, geboren. Nach seiner Ausbildung leistete er ab 1943 seinen Wehrdienst in Indien und Burma, und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieb er bis 1947 auf Sumatra, ehe er nach England zurückkehrte, wo er zunächst als Buchhändler arbeitete. Dort begann er mit dem Schreiben von Kurzgeschichten, anfangs noch unter Pseudonym. Seinen Durchbruch hatte er mit Fahrt ohne Ende, einem Roman über ein Generationenraumschiff. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Der lange Nachmittag der Erde, für das er 1962 mit dem Hugo Award ausgezeichnet wurde, und die Helliconia-Saga, mit der er den BSFA, den John W. Campbell Memorial Award und den Kurd Laßwitz Preis gewann. Brian Aldiss starb am 19. August 2017 im Alter von 92 Jahren in Oxford.

 

Erfahren Sie mehr über Brian W. Aldiss und seine Werke auf

www.diezukunft.de

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

 

 

Titel der Originalausgabe

 

STARSWARM

 

Aus dem Englischen von Wulf H. Bergner

 

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

 

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Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1964 by Brian W. Aldiss

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Nele Schütz, München

Satz: Thomas Menne

 

ISBN 978-3-641-25660-9V001

1

 

Eine Art von Kunstfertigkeit

 

I

 

Es ist besser, beizeiten in der Erde auszuruhen, als lange aufzubleiben.

W. S. Landor

 

 

Ein Riese, der aus den grauen Wassern des Fjords aufgetaucht wäre, hätte über die steilen Klippen hinwegsehen können und Endehabven entdecken müssen, das sich unmittelbar am Rand der Insel erstreckte.

Derek Flamifew/Ende hatte von seinem hohen Fenster aus einen ähnlichen Blick; seine wachsende Unruhe bewirkte sogar, dass er alle Einzelheiten besonders deutlich sah, wie es oft vor Gewittern der Fall ist, wenn die Landschaft unnatürlich klar erscheint. Obwohl er mit dem Gesicht warmsah, betrachtete er seinen Besitz auch mit den Augen.

In Endehabven war alles eintönig ordentlich – das kann ich am besten beurteilen, denn ich bin für diese Ordnung verantwortlich. Im Park stehen Büsche und Bäume, die niemals blühen; so ist es Myladys Wunsch, denn auch der Park soll eintönig streng wie die Landschaft am Meer sein. Das Gebäude, Endehabven selbst, ist riesig und kalt und streng; in früheren Jahrhunderten wäre seine Konstruktion unmöglich gewesen: Tausende eingebaute Schwerkraftreduktoren sorgen dafür, dass Mauern, Gewölbe, Bogen und Säulen nur einen Bruchteil des scheinbaren Gewichts zu tragen haben.

Zwischen Gebäude und Fjord, wo sich der Park in seiner unterdrückten Pracht ausbreitete, standen Myladys Laboratorium und die Stallungen für Myladys Tiere – und diesmal auch Mylady selbst. Ihre langen Hände beschäftigten sich mit dem Minicoypu und den quietschenden Atoshkies. Ich stand neben ihr, versorgte die Tiere in den Käfigen oder reichte ihr Instrumente oder bewegte die Tanks und führte jeden ihrer Befehle aus. Und Derek Endes Augen sahen auf uns herab; nein – sie blickten nur auf sie herab.

Derek Flamifew/Ende stand über der Empfängerschale und nahm die Botschaft von Stern Eins auf. Sie spielte leicht über seine starren Züge und die ausgeprägten Höcker seiner Stirn. Obwohl er draußen die nur allzu vertrauten Kulissen seines Lebens betrachtete, warmsah er die Nachricht trotzdem klar genug. Als sie zu Ende war, schaltete er den Empfänger um, drückte das Gesicht in die Schale und sandte seine Antwort.

»Ich werde tun, was du verlangt hast, Stern Eins. Ich begebe mich sofort nach Festi XV im Schleiernebel und nehme dort Verbindung mit einem Wesen auf, das du ›Klippe‹ nennst. Nach Möglichkeit werde ich auch deinen Wunsch erfüllen und eine Probe der Klippe nach Pyrylyn bringen. Ich danke dir für deine Grüße und Wünsche; ich erwidere sie gleichermaßen.«

Er richtete sich auf und massierte sein Gesicht: Über größere Entfernungen warmzusehen war stets ermüdend, als wüssten die empfindlichen Gesichtsmuskeln, dass ihre winzigen elektrostatischen Entladungen das Vakuum zwischen den Sternen zu überwinden hatten, und als erschreckten sie davor. Sein Gesicht entspannte sich allmählich, als er gewissenhaft seine Ausrüstung zusammensuchte. Der Flug zum Schleiernebel würde lange dauern, und die dort gestellte Aufgabe genügte, um das tapferste Herz zu ängstigen. Aber er zögerte auch aus einem anderen Grund: Bevor er starten konnte, musste er sich von seiner Herrin verabschieden.

Er trat in den Korridor hinaus, schritt über den Mosaikfußboden, dessen Muster er seit seiner Kindheit im Gedächtnis hatte, und erreichte den Antischwerkraftschacht. Minuten später verließ er den großen Saal und näherte sich Mylady, hinter der der Vatya Jokatt bis zu den niedrigen Wolken aufragte, in denen sein Gipfel verschwand.

»Geh hinein und hol mir die Schachtel mit Namensringen, Hols«, hatte sie zu mir gesagt; ich ging also an Mylord vorbei, als er sich ihr näherte. Er beachtete mich ebenso wenig wie jeden anderen Partheno, denn er hatte nur Augen für Mylady.

Als ich zurückkam, drehte sie ihm noch immer den Rücken zu, obwohl er eindringlich mit ihr sprach.

»Du weißt, dass ich meine Pflicht erfüllen muss, Herrin«, hörte ich ihn sagen. »Nur ein normalgeborener Abrogunnaner kann mit dieser Art Aufgabe betreut werden.«

»Schöne Aufgaben! Die Galaxis steckt voller Aufgaben dieser Art! Du kannst dich immer wieder damit herausreden.«

»So darfst du nicht davon sprechen«, mahnte er. »Du kennst die Eigenschaften der Klippe – ich habe dir alles darüber erzählt. Du weißt, dass es sich nicht um einen Vergnügungsausflug handelt; das Unternehmen erfordert meinen ganzen Mut. Und du weißt, dass in unserem Sektor aus irgendeinem Grund nur Abrogunnaner diesen Mut besitzen … Habe ich nicht recht, Herrin?«

Obwohl ich inzwischen näher getreten war und zwischen Käfig und Tank wartete, nahmen sie nicht einmal genug Notiz von mir, um leiser zu sprechen. Mylady starrte die grauen Felswände landeinwärts an, wobei ihr Gesichtsausdruck nicht minder abweisend und streng war; eine Augenbraue zuckte, als sie fragte: »Du hältst dich also für tapfer und stark, nicht wahr?«

Sie erwähnte nie seinen Namen, wenn sie zornig war; darin drückte sich vielleicht der unbewusste Wunsch aus, er möge verschwinden.

»Das ist es nicht«, antwortete er unterwürfig. »Bitte sei vernünftig, Herrin; du weißt, dass ich fortmuss – kein Mann kann immer zu Hause sein. Ich bitte dich, sei nicht länger zornig.«

Endlich drehte sie sich zu ihm um.

Ihr Gesicht war verschlossen und streng; es war abweisend und empfing nicht. Ihre Warmvision wurde nur selten benützt und war beschränkt. Und trotzdem besaß sie eine Art Schönheit, die ich nicht schildern kann, als ob die Vermengung von Müdigkeit und Wissen Schönheit hervorbringen könnte. Ihre Augen waren so grau und entfernt wie der schneebedeckte Vulkan weit hinter ihr. Sie war hundert Jahre älter als Derek, aber der Unterschied zeigte sich nicht in ihrer Haut, die noch ein Jahrtausend lang glatt und faltenlos bleiben würde, sondern in ihrer Autorität.

»Ich bin nicht zornig. Ich bin nur verletzt. Du weißt, dass es in deiner Macht steht, mich zu verletzen.«

»Herrin …«, sagte er und trat einen Schritt auf sie zu.

»Rühr mich nicht an«, wehrte sie ab. »Geh, wenn es sein muss, aber verspotte mich nicht, indem du mich berührst.«

Er fasste sie an den Ellbogen. Sie hielt einen Minicoypu in der Armbeuge – alle Tiere hielten unter ihrer Hand still – und drückte ihn etwas fester an sich.

»Ich wollte dich nicht verletzen, Herrin. Du weißt, dass wir Stern Eins zu Lehensdiensten verpflichtet sind; ich muss diese Aufträge durchführen, sonst ist unser Besitz gefährdet. Verabschiede mich bitte diesmal liebevoll.«

»Liebevoll! Du gehst fort und lässt mich mit einer Horde jämmerlicher Parthenos zurück – wie kannst du da noch einen liebevollen Abschied verlangen? Gib dir keine Mühe, deine Freude über diese Trennung zu verbergen. Du hast mich satt, nicht wahr?«

»Das ist es nicht …«, begann er langsam.

»Siehst du! Du bemühst dich nicht einmal, mich zu überzeugen. Warum gehst du nicht endlich? Was aus mir wird, spielt doch keine Rolle.«

»Oh, wenn du nur hören könntest, wie erbärmlich dieses Selbstmitleid klingt!«

Nun rollte eine einzelne Träne über ihre Wange. Sie drehte den Kopf, damit er sie sehen musste.

»Wer würde mich sonst bemitleiden? Du nicht, denn in diesem Fall würdest du nicht immer wieder fortgehen. Was wird aus mir, wenn dich diese Klippe ermordet?«

»Ich komme wieder, Herrin«, versicherte er ihr. »Darauf kannst du dich verlassen.«

»Das ist leicht zu sagen. Warum hast du nicht den Mut, endlich zuzugeben, dass du mich freudigen Herzens verlässt?«

»Weil ich mich nicht zu einem Streit provozieren lassen will.«

»Pah! Du redest wieder kindisches Zeug. Warum antwortest du nicht klar und deutlich? Stattdessen läufst du fort und weichst deiner Verantwortung aus.«

»Ich laufe nicht fort!«

»Natürlich tust du das, selbst wenn du etwas anderes vorgibst. Du bist einfach noch zu unreif.«

»Das bin ich nicht! Und ich laufe nicht fort! Meine Aufgabe erfordert sogar viel Mut!«

»Du überschätzt dich und deine Fähigkeiten!«

Mürrisch wandte er sich ab und ging auf die Landeplattform zu. Er begann zu rennen.

»Derek!«, rief sie.

Er antwortete nicht.

Sie nahm den Minicoypu am Nackenfell und schleuderte ihn wütend in den nächsten Wassertank. Er verwandelte sich in einen Fisch und sank in die Tiefe.

 

 

II

 

Derek flog in seinem schnellen Protonenschiff zum Schleiernebel. Das Schiff hatte hier im Raum seine halbkreisförmigen Segmente ausgefahren, die dicht an dicht mit Fotozellen besetzt waren; auf diese Weise nahm es die Energie auf, die es für seinen raschen Flug brauchte. Derek lag in seiner Kabine und erlebte nur winzige Bruchteile der langen Reise bei vollem Bewusstsein.

Er wachte in dem therapeutischen Bett auf, als behutsame Maschinen seinen Körper massierten, um die steif gewordenen Muskeln geschmeidig zu machen. Nährflüssigkeit brodelte in einer Retorte und stieg blasig zu einem Mundstück vor seinem Gesicht auf. Er trank. Er schlief wieder, weil ihn die lange Untätigkeit ermüdet hatte.

Als er das nächste Mal erwachte, stand er langsam auf und bewegte seinen erstarrten Körper. Dann ging er nach vorn in den Kontrollraum. Mein Freund Jon saß dort.

»Wie steht es?«, fragte Derek ihn.

»Alles in bester Ordnung, Mylord«, erwiderte Jon. »Wir schwenken jetzt in eine Kreisbahn um Festi XV ein.« Er gab Derek die Koordinaten und zog sich zurück, um zu essen. Jons Arbeit war die einsamste, die man sich für einen Partheno vorstellen kann. Wir werden alle nach dem gleichen Verfahren gezüchtet, das zuverlässig bewirkt, dass uns die erstaunliche Langlebigkeit echter Abrogunnaner fehlt; noch fünf lange Reisen dieser Art, dann ist Jon alt und verbraucht und taugt nur noch für den Transmuter.

Derek saß im Kontrollraum. Erkannte er auf dem Antlitz von Festi das Gesicht, das er liebte und fürchtete? Ich glaube, dass er es sah. Ich glaube, dass er daran dachte, wie ihre Mienen sich umwölkt hatten, als er jetzt die Wolkendecke betrachtete.

Jedenfalls steuerte er sein Schiff in eine niedrige Kreisbahn um den toten Planeten. Die Sonne Festi war kaum mehr als ein glühender Punkt in neunhundert Millionen Kilometer Entfernung. Ihr Licht erlosch mit einem Schlag, als sie durch die Wolkendecke nach unten stießen; hier herrschte nur ein ungewisses Halbdunkel.

Derek saß lange über die Empfängerschale gebeugt und nahm die Bodenwärme auf. Da er es mit Temperaturen zu tun hatte, die sich dem absoluten Nullpunkt näherten, war seine Aufgabe nicht leicht; als die Klippe sich jedoch genau unter ihnen befand, war kein Irrtum möglich: ihre Masse zeichnete sich vor seinem inneren Auge so deutlich ab, als erscheine sie auf einem Radarschirm.

»Das ist sie!«, rief Derek aus.

Jon war wieder hereingekommen. Er gab dem Elektronenrechner einige Werte ein, ließ ihn anlaufen und las von einem Streifen ab, wann die Klippe sich wieder unter ihnen befinden würde.

Derek nickte ihm zu und machte sich sprungbereit. Er legte seinen Schutzanzug ohne besondere Eile an, überprüfte jedes Teil, schaltete die Schwerkraftreduktoren ein und wieder aus, probierte sämtliche Funktionen durch und ließ erst dann die Verschlüsse zuschnappen.

»Dreihundertneunzig Sekunden bis zum nächsten Zenit, Mylord«, sagte Jon.

»Du weißt, wie und wann du mich an Bord nehmen sollst?«

»Ja, Mylord.«

»Ich schalte den Sender erst ein, wenn ich mich wieder in der Kreisbahn befinde.«

»Selbstverständlich, Mylord.«

»Schön, ich gehe jetzt.«

Er bewegte sich in seinem massiven Panzer langsam auf die Luftschleuse zu.

Drei Minuten bevor das Raumschiff wieder die Klippe überflog, öffnete Derek die äußere Tür der Luftschleuse und tauchte ins Wolkenmeer hinab. Die Anzugdüsen arbeiteten kurz, um ihn aus dem Gefahrenbereich des Raumschiffs zu bringen. Dann sah er nur noch Wolken um sich.

Die zwanzig unwirtlichen Planeten, die um Festi kreisten, enthielten nur einen Bruchteil aller Geheimnisse des Sternenschwarms. Jeder Himmelskörper des Universums barg andere, die er eifersüchtig für sich zu bewahren versuchte. Aber die Menschheit unternahm immer wieder Anstrengungen, diesen Geheimnissen auf den Grund zu kommen, um neues Wissen zu sammeln.

Dieses Wissen hatte seine Einflüsse. In den Jahrtausenden bemannter Raumfahrt war die Menschheit von ihren eigenen Erkenntnissen unmerklich verändert worden; mit dieser verlorenen Unschuld war auch die genetische Stabilität verschwunden. Während der Mensch Tausende von Planeten besiedelte, passten sich Denkweise, Gefühle … und Körperformen neuen Verhältnissen an. Der Mann im Sektor Rot, der sich kopfüber in ein Wolkenmeer stürzte, um einem Wesen zu begegnen, das er als »Klippe« kannte, war der Abstammung, aber kaum der Erscheinung nach ein Mensch.

Die Klippe hatte die wenigen Raumschiffe zerstört, die bisher auf dem trostlosen Planeten gelandet waren. Nach langwierigen Untersuchungen in sicheren Kreisbahnen hatten die Weisen auf Stern Eins die Theorie aufgestellt, die Klippe greife jede größere Energiequelle an – wie ein Mann nach einer summenden Fliege schlägt. Dieser Theorie zufolge war Derek ungefährdet, solange er allein kam und nur die Triebwerke seines Anzugs benützte.

Langsam sank er auf den dunklen Planeten herab. Die Wolkendecke blieb über ihm zurück, und ein starker Wind pfiff um die Stützen seines Anzugs. Dann kam der Boden näher. Um nicht fortgeweht zu werden, sank er rascher; im nächsten Augenblick lag er der Länge nach auf Festi XV. Eine Zeit lang rührte er sich nicht, ruhte sich aus und ließ den Anzug abkühlen.

Die Dunkelheit war nicht undurchdringlich. Das Sonnenlicht wirkte sich hier unten fast nicht mehr aus, aber an verschiedenen Stellen flammten grüne Fackeln und beleuchteten eine kahle Landschaft. Da er sich an das Halbdunkel gewöhnen wollte, schaltete er keinen der Anzugscheinwerfer ein.

Eine Art feuriger Strom floss zu seiner Linken. Da er nur diffuses Licht ausstrahlte, vermischte es sich mit Rauch und Schatten, sodass die Rauchschwaden, die unter vier g dicht über dem Boden blieben, seinem Lauf folgten und wie brennendes Schilf aussahen. Etwas weiter entfernt stiegen Flammensäulen auf – vermutlich unreines Methan, das als brennender Gasstrahl aus der Erde schoss. An einer anderen Stelle stieg ein feuriger Geysir fast bis zu den Wolken auf und umgab sich dabei mit einer dichten Rauchwand. Weiter rechts von Derek brannte eine weiße Feuersäule ohne Bewegung und ohne Rauch wie ein Flammenschwert.

Er nickte zufrieden. Er war an der richtigen Stelle gelandet. Dies war die Feuerregion, in der die Klippe lebte.

Zunächst war er noch damit zufrieden, die Landschaft zu betrachten, die vor ihm noch kein menschliches Auge gesehen hatte – bis ihm auffiel, dass ein großer Teil des Horizonts nicht im Geringsten beleuchtet war. Er untersuchte ihn mit seiner durchdringenden Warmsicht und stellte fest, dass sich dort die Klippe befand.

Dieser Anblick genügte, um Dereks zwei Herzen rascher schlagen zu lassen. Er blieb bei ein g ausgestreckt auf dem Boden liegen, schluckte mehrmals trocken und versuchte das ungewisse Halbdunkel mit allen Sinnen zu durchdringen, um die Klippe zu definieren.

Eines stand jedenfalls fest: Das Ding war riesig! Derek verfluchte die Tatsache, dass das unaufhörliche Feuerwerk dort draußen seine Warmsicht beeinträchtigte. In einem Augenblick guter Sicht gelang es ihm endlich, die Entfernung festzustellen: Die Klippe war noch weit von ihm entfernt! Er hatte zuerst gedacht, er hätte sich ihr auf einige Hundert Schritte genähert.

Jetzt erkannte er, wie groß die Klippe war. Sie war gigantisch!

Derek war zuerst begeistert. Nur unmöglich erscheinende Aufgaben lohnten sich wirklich. Die Astrophysiker von Stern Eins waren der Überzeugung, die Klippe verfüge über ein gewisses Bewusstsein; sie hatten Derek angewiesen, eine Probe ihrer Substanz zurückzubringen. Aber wie sollte er ein Stück dieses kleinen Mondes abtrennen?

Während er dort lag, summten die Stützen seines Anzugs im Wind. Derek fiel allmählich auf, dass die Vibrationen sich veränderten. Sie waren jetzt niedriger und kräftiger. Er sah sich um und legte eine behandschuhte Hand auf den Boden.

Der Wind war nicht die Ursache dieser Vibrationen. Der Boden selbst zitterte. Die Klippe bewegte sich!

Als er wieder aufsah, erkannte er die Bewegungsrichtung. Die Klippe näherte sich ihm …

»Ist sie intelligent, wird sie zu dem Schluss kommen – falls sie mich überhaupt wahrgenommen hat –, dass ich zu klein bin, um ihr gefährlich zu werden? Deshalb wird sie mir nichts tun, und ich kann ganz unbesorgt sein«, überlegte Derek sich. Trotzdem war ihm äußerst unbehaglich zumute.

Seine Sicht war noch immer sehr beschränkt. Derek spürte die Vorwärtsbewegung der Klippe, anstatt sie optisch wahrzunehmen. Das unheimliche Ding ragte bis zu den Wolken auf und löschte nacheinander die Feuersäulen, die unter seiner Masse verschwanden. Der Boden vibrierte so heftig, dass Derek die Schwingungen in seinen Knochen zu spüren glaubte.

Dann reagierte etwas anderes.

Die Beine von Dereks Anzug begannen sich zu bewegen. Die Arme bewegten sich. Der Körper bäumte sich auf.

Verwirrt streckte Derek die Beine aus. Die Knie des Anzugs beugten sich unwiderstehlich und zwangen seine zu der gleichen Bewegung. Und nicht nur seine Knie, sondern auch die Arme bewegten sich selbstständig wie der Anzug. Er konnte sie nicht stillhalten, ohne sich die Knochen zu brechen.

Er lag wehrlos in seinem Anzug, führte nacheinander alle nur vorstellbaren Bewegungen aus. Dann kroch der Anzug plötzlich vorwärts, als habe er diese Bewegungsart eben erlernt.

Derek folgte gezwungenermaßen und überlegte dabei, dass in diesem Fall nicht nur der Berg zu Mohammed, sondern auch der Prophet zum Berge ging …

 

 

III

 

Der Fortgang war durch nichts aufzuhalten; Derek war nicht mehr Herr seiner selbst, denn jede Willensanstrengung war vergebens. Diese Erkenntnis brachte eine gewisse Erleichterung – sollte ihm nun etwas zustoßen, konnte seine Herrin ihn kaum deswegen tadeln.

Er tastete sich weiter durch die Dunkelheit, kroch auf Händen und Knien auf die Klippe zu und war nicht mehr als ein Gefangener in einem sich selbst bewegenden Gefängnis. Die Klippe hatte sich irgendwie seines Anzugs bemächtigt; wie das möglich war, konnte er nicht einmal vermuten. Er kroch langsam weiter und brauchte sich dabei nicht anzustrengen. Seine Glieder folgten automatisch den Bewegungen des Anzugs.

Rauchschwaden hüllten ihn ein. Die Vibrationen hörten plötzlich auf, als die Klippe reglos verharrte. Derek hob den Kopf und sah nur Rauch vor sich – wahrscheinlich war er entstanden, als die ungeheure Masse der Klippe über den Boden rutschte. Dann teilte sich der Rauch, und Derek hatte nur finstere Nacht vor sich. Das Ding war unmittelbar vor ihm!

Der Anzug kroch weiter, begann zu klettern und zwang Derek, jede Bewegung mitzumachen. Unter ihm befand sich eine teigige Masse – zäh, aber doch nachgiebig. Der Anzug arbeitete sich mühsam in die Höhe; die Stützen knarrten, die Schwerkraftreduktoren summten laut. Er erklomm die Klippe.

Derek war unterdessen davon überzeugt, dass dieses Ding nicht nur einen Willen, sondern sogar ein Bewusstsein entwickelt hatte. Es verfügte auch über eine Fähigkeit, die kein Mensch besaß: es konnte leblosen Objekten seinen Willen aufzwingen – zum Beispiel seinem Anzug. Allerdings schienen dieser Fähigkeit gewisse Grenzen gesetzt zu sein, denn sonst hätte die Klippe sich bestimmt nicht selbst bewegt, sondern hätte den Anzug gezwungen, zu ihr zu kommen. Falls diese Überlegung zutraf, war das Raumschiff in seiner Kreisbahn ungefährdet.

Seine Arme bewegten sich jetzt anders. Der Anzug grub einen Tunnel. Derek blieb unbeteiligt, während seine Hände Schwimmbewegungen machten. Dass er ins Innere der Klippe vordrang, konnte nur bedeuten, dass er verdaut werden sollte; trotzdem beherrschte er sich, weil er wusste, dass jede Gegenwehr sinnlos war.

Der Anzug verschwand allmählich in der teigigen Masse. Dann blieb er ruhig liegen, sobald Derek wirksam von der Außenwelt abgeschnitten war. Um gegen seine zunehmende Klaustrophobie anzukämpfen, versuchte er den Helmscheinwerfer einzuschalten; die Arme des Anzugs blieben jedoch so steif, dass er den Schalter nicht erreichen konnte. Er konnte nur in seinem Panzer auf dem Rücken liegen und die formlose Dunkelheit im Innern der Klippe betrachten. Aber die Dunkelheit war nicht gänzlich formlos, denn er erkannte mit seiner Warmsicht bedeutungslose Farbmuster, die weder Zweck noch Symmetrie zu besitzen schienen …

Sein Körper reagierte jedoch unbewusst darauf. Derek spürte, dass er am ganzen Leib heftig zitterte und dass seine beiden Herzen ungewöhnlich und fast schmerzhaft rasch schlugen. Unter diesen Umständen lag die Vermutung nahe, dass er mit Kräften in Berührung stand, von denen er nichts wusste; andererseits schien auch dieses Wesen, mit dem er Verbindung hatte, nichts von seinen Kräften zu wissen.

Derek hatte plötzlich das Gefühl unendlicher Schwere und spürte die gigantischen Massen der Klippe deutlicher als zuvor. Festi XV war selbstverständlich erheblich größer, aber die Klippe entsprach trotzdem einem mittelgroßen Asteroiden … Er konnte sich vorstellen, wie ein solches Gebilde durch eine Gasexplosion entstanden war. Die Materie war halb fest, halb flüssig und beschrieb eine exzentrische Kreisbahn um die Sonne, von der sie stammte, kühlte allmählich ab, wobei Kräfte verschiedenster Art entstanden und sich auswirkten, und bildete im Kern des Gebildes einzigartige Kristallformen. So schwebte es viele Millionen Jahre durch den Raum und sammelte allmählich eine elektrostatische Ladung … und erzeugte die Lebenssäuren in seinem kristallinen Innern.

Festi war ein stabiles System, aber einmal in ungezählten Millionen Jahren geschah es, dass die riesigen drei ersten Planeten die größte Sonnennähe und die größte Nähe zueinander erreichten. Zum gleichen Zeitpunkt war auch der Asteroid Festi am nächsten; er wurde aus der Bahn gerissen und hätte fast die drei Planeten gestreift. Unvorstellbare Kräfte wurden nun frei. Der Asteroid glühte und erwachte zu einer Art Bewusstsein; das Leben wurde nicht auf ihm geboren – er wurde zum Leben geboren!

Bevor er die Möglichkeiten seines Bewusstseins ausgekostet hatte, geriet er auf seiner neuen Bahn ins Schwerefeld von Festi XV. Die Schwerkraft bestimmte sein Leben und war für ihn so wichtig wie Sauerstoff für Menschen; obwohl er seine Freiheit nicht opfern wollte, war er zu gierig, um in diesem Fall zu widerstehen. Nun wurde ihm erstmals klar, dass sein Bewusstsein auch nützlich sein konnte, denn es beeinflusste in gewissem Ausmaß seine Lebensumstände. Anstatt in einer Kreisbahn um Festi XV zu bleiben und dort vielleicht zu zerbrechen, vollbrachte der Asteroid seinen ersten Willensakt und erreichte die Oberfläche des Planeten durchgeschüttelt, aber unbeschädigt.

Dort lag der Asteroid, der sich nun in die Klippe verwandelt hatte, unendlich lange in dem Krater, den der Aufprall erzeugt hatte, und spielte mit Gedanken. Die Klippe war nur mit anorganischen Stoffen vertraut und erfasste deshalb rasch ihre Umwelt. Da sie der Schwerkraft ihre Existenz verdankte, machte sie unbefangen davon Gebrauch; sie begann andere Dinge zu bewegen und bewegte sich schließlich auch selbst.

Es war der Klippe nie eingefallen, dass es außer ihr noch andere Lebewesen im Universum geben könnte. Da sie nun einen Beweis dafür hatte, akzeptierte sie die Tatsache; dass dieses andere Leben unterschiedlich funktionierte und nur unter anderen Bedingungen möglich war, akzeptierte sie ebenfalls. Sie kannte weder Fragen noch Zweifel.

Derek Endes Anzug bewegte sich wieder, ohne dass er den Anstoß dazu gegeben hätte. Diesmal bewegte er sich rückwärts, verließ die Klippe und verharrte reglos.

Derek war kaum bei Bewusstsein. Halb betäubt überlegte er, was geschehen sein musste.

Die Klippe hatte mit ihm gesprochen. Daran war kein Zweifel möglich, denn er hielt den Beweis dafür in der rechten Armbeuge.

»Und trotzdem hat sie nicht … trotzdem konnte sie nicht mit mir sprechen!«, murmelte er vor sich hin. Aber eine Verständigung hatte stattgefunden: er war noch immer erschöpft davon.

Die Klippe besaß selbst kein Gehirn. Sie hatte Dereks Gehirn nicht als Sitz der Intelligenz erkannt. Stattdessen hatte sie sich mit dem Teil seines Körpers in Verbindung gesetzt, der ihr bekannt erschien – mit seinen Zellen. Dereks Gehirn war übergangen worden, aber die Zellen seines Körpers hatten die dargebotenen Informationen aufgenommen.

Derek erkannte, weshalb er so geschwächt war. Die Klippe hatte seine Kraftreserven erschöpft. Trotzdem wusste er, dass er einen Sieg errungen hatte, denn die Klippe hatte Informationen aufgenommen, während sie selbst welche abgab. Die Klippe wusste jetzt, dass es in anderen Teilen des Universums Leben gab. Und sie hatte ihm ohne zu zögern ein Fragment ihrer selbst überlassen, das er in diese anderen Teile des Universums mitnehmen durfte. Dereks Auftrag war erfüllt.

Mühsam erhob er sich, sah sich um und stellte fest, dass er in der Feuerregion allein war. Hier und dort leuchteten Feuersäulen, aber die Klippe war verschwunden. Offenbar hatte er länger als erwartet gebraucht, um sich von seinem Schock zu erholen. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass das Rendezvous mit dem Raumschiff bevorstand. Die Schwerkraftreduktoren summten auf, dann schoss er senkrecht nach oben, durchstieß die Wolkenschicht und verlor die Oberfläche von Festi XV aus den Augen.

Unter Jons Führung steuerte das Raumschiff sein Funksignal an. Minuten später war der Geschwindigkeitsunterschied ausgeglichen, und Derek konnte an Bord gehen.

»Alles in Ordnung, Mylord?«, fragte der Partheno besorgt, als sein Herr aus der Luftschleuse taumelte.

»Ja … ich bin nur müde. Ich erzähle dir später alles, wenn ich den Bericht für Pyrylyn auf Band spreche. Sie haben allen Grund, mit uns zufrieden zu sein.«

Er wog den gelb-grauen Klumpen, der sich inzwischen beträchtlich ausgedehnt hatte, in der offenen Hand und hielt ihn Jon entgegen.

»Auf keinen Fall ohne Handschuhe berühren und bei niedriger Temperatur unter vier g lagern. Das ist ein kleines Andenken an Festi XV.«

 

 

IV

 

Der Kristallpalast in Pynnati, einer der Hauptstädte von Pyrylyn, war unbestritten die eleganteste und teuerste Vergnügungsstätte des Planeten. Derek Ende war auf Einladung seiner Gastgeber hier, während Jon geduldig am Eingang wartete.

Sie lagen in einem Privatraum auf weichen Liegen und beobachteten ähnliche Gesellschaften in anderen Räumen. Die Wände waren durchsichtig; der Anblick veränderte sich ständig, während der Raum auf unberechenbaren Bahnen durchs Innere des großen Kristallpalastes glitt. Zuerst befanden sie sich an der Außenseite des Gebäudes und sahen die Lichter von Pynnati unter sich aufblitzen; dann sanken sie tiefer ins Innere hinab und hatten dabei eine ständig wechselnde Szene vor Augen.

Derek lag unbehaglich auf seiner Couch. Er sah das Antlitz seiner Herrin vor sich und glaubte zu wissen, wie sie auf diese harmlose Fröhlichkeit reagieren würde: mit eisiger Verachtung. Deshalb fand er selbst kein Vergnügen daran.

»Wahrscheinlich wollen Sie möglichst bald nach Abrogunnan zurück?«

»Was?«, murmelte Derek.

»Ich habe gesagt, dass Sie wahrscheinlich bald wieder nach Hause wollen«, wiederholte der andere. Er war Belix Ix Sappose, Oberstverwalter von Stern Eins; als Dereks Gastgeber lag er auf der Couch neben ihm.

»Tut mir leid, Belix – aber ich muss.«

»Von ›müssen‹ kann nicht die Rede sein. Sie haben eine völlig neue Lebensform entdeckt, wie ich bereits der Zentrale von Sternenschwarm gemeldet habe; wir können nun Verbindung mit dem Wesen auf Festi XV aufnehmen und unser Wissen vermutlich erheblich vermehren. Die Regierung hätte genügend Anlass, Ihnen ihre Dankbarkeit durch Überlassung jedes Postens zu erweisen, der Ihnen in den Sinn kommt; ich habe auf Entscheidungen dieser Art gewissen Einfluss, was Ihnen nicht entgangen sein dürfte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mann Ihres Kalibers auf Abrogunnan glücklich ist, solange die politischen Verhältnisse sich dort nicht entscheidend ändern. Das Matriarchat auf Ihrem Planeten hat viel zu dieser Erstarrung beigetragen.«