Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2 - Kersten Reich - E-Book

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2 E-Book

Kersten Reich

0,0
19,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

System der Unnachhaltigkeit: Wie Ökonomie und Politik Nachhaltigkeit verhindern Es sind vor allem unsere eigenen Verhaltens- und Denkmuster, die nachhaltiges Neudenken und Handeln verhindern. Der grassierende Klimawandel, die steigende Armut und der Ressourcenverzehr - um nur drei der größten Probleme des Planeten zu benennen - werden aber außerdem zunehmend durch die systemischen Eigenschaften der globalen Ökonomie und Politik vorangetrieben. Dieses nicht trennbare Zusammenspiel verursacht Nachhaltigkeitsfallen, die am Ende der dringend notwenigen Wende entschieden im Wege stehen. Kersten Reichs brillante Analyse legt diese scheinbar äußeren Nachhaltigkeitsfallen offen und klagt an, weist dabei aber zugleich auf unsere eigene Verantwortung und zeigt so die Chancen zur Veränderung auf. Denn: Wir alle haben dieses System mitkonstruiert - also sind wir es auch, die es wieder zerschlagen können! Kersten Reichs Literaturverzeichnis (Band I & II) soll unter dem Link www.westendverlag.de/nachhaltigkeit abrufbar sein.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



KERSTEN REICH

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde

Wie Ökonomie und Politik die Nachhaltigkeit verhindern

Prof. Dr. Kersten Reich ist als Lernforscher und Kulturtheoretiker im deutschen und englischen Sprachraum durch viele Veröffentlichungen bekannt. Mehr als 40 Jahre lang hat er sich an der Universität Köln umfassend mit Fragen zu Demokratie und Erziehung, sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit beschäftigt. Zudem hat er mit seinen Büchern zum Lernen und zur Didaktik den Grundstein für die Eröffnung der Inklusiven Universitätsschule der Stadt Köln gelegt und so auf praktische Weise an einer Veränderung der Lernkultur mitgewirkt.

Außerdem für die Ohren: Die Podcast-Reihe reich & nachhaltig: Gespräche mit Kersten Reich – überall da, wo es Podcasts gibt!

Mehr über unsere Autoren/Autorinnen und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2021

ISBN: 978-3-86489-319-3eISBN: 978-3-86489-824-2

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2021

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Lektorat: Lea Mara Eßer

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

IWie die Ökonomie die Nachhaltigkeit verhindert

I.1Die Vergangenheit: Ökonomische Nachhaltigkeitsfallen

I.1.1Produktivität und Gewinnmaximierung

I.1.1.1Fernand Braudel und die Zeitebenen zwischen Natur- und Ereignisgeschichte

I.1.1.2.Industrialisierung und die Hoffnung auf Wohlstand

I.1.1.3Die große Transformation und der Beginn der Nachhaltigkeitsfragen

I.1.1.4Intensivierung und Produktivität der Arbeit

I.1.1.5Kapitalistische Logik einer Nicht-Nachhaltigkeit

I.1.1.6Drei typische Denkweisen, die Nachhaltigkeit misslingen lassen

I.1.2Die soziale Nachhaltigkeit als Dauerthema des Kapitalismus

I.2.Die Gegenwart: Kaum Auswege aus den Nachhaltigkeitsfallen

I.2.1Neoliberale Vergesslichkeit

I.2.2Der Konsum & die Verflüssigung der Lebensweise

I.2.3Die überwiegende Kapitalisierung alles Nachhaltigen

I.2.4Die Ströme der Gewinne und die Tropfen der Nachhaltigkeit

IIWie die Politik die Nachhaltigkeit verhindert

II.1Die Vergangenheit: Der fehlende politische Wille zur Wahrheit

II.1.1Was ist der Wille zur Wahrheit?

II.1.2Der Wille zur Wahrheit und die Nachhaltigkeit

II.2Die Gegenwart: Der Kampf um die Wahrheit von Nachhaltigkeit

II.2.1Das politische Erbe fehlender Nachhaltigkeit

II.2.2Soziale Nachhaltigkeit bleibt ein offenes Problem

II.2.3Verantwortliche Faktoren für fehlende Nachhaltigkeit

II.2.4Im Konsum Kosmopolit, in der Verantwortung Nationalist

II.2.5Die Globalisierung verschärft fehlende Nachhaltigkeit

II.2.6Nachhaltigkeitsverlierer: Vertreibung, Flucht, Migration

II.3Grundkonflikt: Die Dominanz der Sehnsüchte vor den Verpflichtungen

II.3.1Der autoritäre Charakter lebt im Kampf gegen die Nachhaltigkeit auf

II.3.1.1Warum ist der autoritäre Charakter bis heute relevant?

II.3.1.2Wieso lehnen autoritäre Regime und Populisten die Nachhaltigkeit besonders scharf ab?

II.3.1.3Bestimmung des autoritären Charakters gegen die Nachhaltigkeit

II.3.1.4Antidemokratische Tendenzen werden in Demokratien oft unterschätzt

II.3.2Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Abnahme von Verpflichtungen

II.3.3Der autoritäre Kapitalismus ist neoliberal

II.3.4Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde

IIIDie Konsequenzen

III.1Die Grenzen des Wachstums in der Nachhaltigkeit

III.1.1Weshalb geht es mit der Nachhaltigkeit so zögerlich voran?

III.1.2Bepreisung fehlender Nachhaltigkeit

III.1.2.1Nachhaltigkeit durch Bepreisung

III.1.2.2Umverteilungen in der Nachhaltigkeit

III.1.3Begrenzung und Entschleunigung des Wachstums (degrowth)

III.1.4Grüne Wirtschaft als Wunsch und Illusion

III.2Die Grenzen der Demokratie und die Nachhaltigkeit

III.2.1Nationale Grenzen der Nachhaltigkeit

III.2.1.1Demokratisches Ideal gegen demokratische Realität

III.2.1.2Die Demokratie kommt an ihre Grenzen

III.2.2Internationale Grenzen der Nachhaltigkeit

III.2.3Die Grenzen der heute vorherrschenden bürokratischen Lösungen

III.2.3.1Der Kreislauf von Verpflichtung, Regulierung, Kontrolle

III.2.3.2Recht de jure und Verpflichtung de facto: Anwälte für und gegen die Nachhaltigkeit

IVWege aus den Nachhaltigkeitsfallen

IV.1Kann das auf Überfluss zielende menschliche Verhalten wirklich nachhaltiger werden?

IV.1.1Die Evolution hat den Menschen stark gemacht, sich die Welt zu unterwerfen

IV.1.2Können Katastrophen das menschliche Verhalten in Richtung Nachhaltigkeit verändern?

IV.1.2.1Forschungslinien über Verhaltensänderungen bei Katastrophen

IV.1.2.2Können wir aus der Corona-Pandemie etwas für die Bewältigung der Nachhaltigkeit lernen?

IV.1.2.3Lassen sich Menschen durch Risikoanalysen beeinflussen?

IV.1.2.4Lässt sich das Verhalten in Richtung Nachhaltigkeit steuern?

IV.1.2.5Kann den Menschen nachhaltiges Verhalten vorgeschrieben werden?

IV.1.3Warum ist der Überfluss Hindernis und Chance zugleich?

IV.2Gesellschaftliche Regeln zur Nachhaltigkeit

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Im ersten Band1 ging es vor allem darum, die wichtigsten Herausforderungen der Nachhaltigkeit in einer Übersicht und Zusammenfassung darzustellen und sie mit Vorstellungen und Denkweisen zu kontrastieren, die in der Geschichte entstanden sind und bis heute fortwirken. Dies sollte helfen, genauer ausloten zu können, inwieweit Menschen heute in der Lage sind, ihr Verhalten an die Erfordernisse der Nachhaltigkeit anzupassen. Dabei hatte ich mich auf den Verhaltens- und Erziehungsbereich konzentriert, um Chancen und Hindernisse zu analysieren, die bezüglich der Nachhaltigkeit bestehen. Im vorliegenden zweiten Band wende ich mich der Frage zu, warum Ökonomie und Politik es als Rahmenbedingungen des Handelns sogar verhindern können, dass die Menschheit national oder international die notwendigen Ziele – etwa im Klimawandel bei den Treibhausgasen, in der Müllvermeidung und Verseuchung des Wassers und der Meere, bei der Vernichtung von Ressourcen – erreichen kann, die ihr eine umfassende Forschung über die globalen Grenzen als notwendige Handlungsbereiche aufgegeben hat.

Dieser Band beschäftigt sich insbesondere mit den Bedingungen, die durch ökonomische Strukturen und Prozesse auf die Gesellschaft und die Individuen wirken und die zugleich auch stark das Handeln und den Spielraum der Politik bestimmen. Mir scheint es besonders wichtig, dabei erstens die ökonomischen Grundlagen insoweit zu analysieren, wie sie bestimmend auch auf die Nachhaltigkeit Einfluss nehmen, und zu erörtern, inwieweit hier überhaupt Veränderungsspielräume gegeben sind. Zweitens will ich die politischen Bedingungen zum Ausgangspunkt nehmen, um kritisch einschätzen zu können, wie weitreichend die Nachhaltigkeitsfallen das politische Handeln gegenwärtig überhaupt erreichen und eine neue Politik auslösen können. Als Konsequenz aus diesen Analysen will ich sowohl auf zukünftige Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums als auch auf Grenzen der bisherigen demokratisch-institutionellen Vorgehensweisen verweisen, die ein radikales Umdenken und Umsteuern erfordern, wenn Nachhaltigkeit hinreichend gelingen soll. Abschließend will ich im Schlussteil des Buches erörtern, welche Wege aus den Nachhaltigkeitsfallen möglich sind und zu welchen Regeln dies in der Nachhaltigkeit führen müsste.

Nachhaltigkeitsfallen, das sind, so hatte ich schon im ersten Band ausgeführt, Fallen, die dadurch entstehen, dass wir als Menschen in einen Konflikt mit unseren Vorstellungen und Theorien, unseren Wünschen und unserem Begehren in Bezug zu den nicht erkannten Folgen unserer Handlungen geraten, oft dadurch, dass wir das, was wir wünschen, bereits für die Wirklichkeit halten. Die meisten Menschen befürworten heute Nachhaltigkeit, weil und insofern sie informiert sind, dass beispielsweise der Klimawandel auch ihr Wohlbefinden in Zukunft stark gefährden wird. Sie wären sogar bereit, sich für begrenzte Aspekte der Nachhaltigkeit einzusetzen, aber im praktischen Leben gibt es eben auch andere Erwartungen, Wünsche und Gewohnheiten, die solchem Einsatz im Wege stehen. Das sind Konsumerwartungen, die nicht aufgeschoben werden sollen, Reisewünsche, die Freiheit ausdrücken, und viele andere mehr. Wenn diese mit der Nachhaltigkeit im Konflikt stehen, der vielfach dann noch nicht einmal offensichtlich und für alle erkennbar ist, dann entsteht eine Falle, das alte Verhalten zu bevorzugen und Veränderungen nach hinten zu schieben, wodurch aber letztlich das Überleben in Zukunft gefährdet wird.

Ein Beispiel, das ich schon im letzten Band herangezogen habe: Ich weiß, dass mein Auto CO2 ausstößt und dass dies für das Klima schädlich ist. Aber das Auto ist mir wichtig, es repräsentiert für mich Freiheit, Mobilität, sozialen Status, ich benötige es, um zur Arbeit zu kommen, weil alle anderen auch Auto fahren und der Nahverkehr eingeschränkt wurde. Und schwieriger noch: Ich lebe in einem Land, das sehr viele Autos produziert, in dem viele Arbeitsplätze und die Wirtschaftskraft von dieser Produktion abhängen, sodass ich sogar meinen Wohlstand riskiere, wenn ich auf das Auto verzichten würde. Hier wird die Falle konkret sichtbar.

Eine große, vielleicht die größte Nachhaltigkeitsfalle, besteht für mich heute darin, dass wir es ökonomisch und politisch schaffen, uns bereits glücklich und zufrieden zu wähnen, und deshalb meinen, uns nicht wirklich umfassend ändern zu müssen. Die Zufriedenheitsstudien, die dies messen, orientieren sich am erreichten Stand, so wie wir es auch in den meisten Selbstbeschreibungen tun, aber es fehlt dabei meist der kritische Blick auf das, was der Überfluss, in dem wir leben, für die Zukunft bedeuten wird. Wir können bei genauerem Hinsehen aber sehr genau wissen, dass wir uns in einer Umweltkrise befinden, dass wir trotzdem Ressourcen verschwenden und nachlässig gegenüber den Überlebenschancen in der Zukunft operieren, aber sehr viele Menschen glauben zugleich, dass es nie so schlimm kommen wird, wie es uns wissenschaftliche Forschungen vorhersagen.

Teil I dieses Bandes beschäftigt sich damit, warum und wie die Ökonomie bisher die Nachhaltigkeit verhindert. Dabei geht es darum, wie aus der Vergangenheit heraus Nachhaltigkeitsfallen entstanden sind und warum es kaum Auswege aus diesen gibt. Die kapitalistische Ökonomie, in der wir alle arbeiten und leben, setzt auf Gewinne, die aus allen Beschäftigungen und Handlungen entspringen sollen, aber sie scheut bisher überwiegend die Kosten der Nachhaltigkeit, weil sie Gewinne schmälern. Die Menschheit hat sich in diesem System in einem Spannungsfeld von Wohlstand und Luxus oder Hunger und Ausbeutung schon lange eingerichtet, aber je mehr Mehrheiten diesem Weg weiter ungebremst in allen Ekstasen des Konsums und der Mobilität folgen, je mehr sie dabei weiter auf Gewinnmaximierung und nicht Fürsorge für Menschen und die Umwelt setzen, desto stärker wachsen die Kosten und Nachteile für jene an, die nach uns kommen. Wahrscheinlicher ist es sogar, dass bereits wir die negativen Folgen eines gedankenlosen Handelns massiv spüren werden. Ich will möglichst umfassend an der Breite der kapitalistischen Entwicklung von der Moderne bis in die Gegenwart zeigen, in welche Nachhaltigkeitsfallen wir uns begeben haben und warum die Ökonomie eine so zentrale Dimension darstellt.

Zunächst wird in einem ersten Schritt verdeutlicht, dass die Nachhaltigkeit noch nie im Fokus der kapitalistischen Arbeits- und Produktionswelt stand. Im Gegenteil, die soziale Seite der Nachhaltigkeit musste in unendlichen Arbeitskämpfen immer erst erstritten werden, um das Überleben der Arbeitenden im kapitalistischen System zu sichern. Aus diesen Kämpfen erst sind Wohlstand und ein gewisser Überfluss bei breiten Massen entstanden, aber das Problem der sozialen Gerechtigkeit und einer steten Umverteilung des Reichtums auf wenige Reiche ist geblieben. Für die planetare Nachhaltigkeit sind dies denkbar ungünstige Voraussetzungen, denn der Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit, der in einem zweiten Schritt diskutiert wird, beherrscht immer noch den Kapitalismus, der Platz der Nachhaltigkeit geht dabei schnell verloren.

Im Folgenden wird erörtert, wie sich die schwere Moderne, der solide Kapitalismus mit seiner Industrialisierung, bis heute verflüssigt hat. Die Verflüssigung hat das ökonomische Leben flexibler, dynamischer und mobiler, aber auch unsicherer im Blick auf die eigenen Erwartungen gemacht. Der Konsum beherrscht das Zeitalter, und er ist zugleich Ausdruck dafür, die planetaren Grenzen in jeder Hinsicht zu überschreiten. Dies geht soweit, dass auch die Nachhaltigkeit selbst kapitalisiert wird, die Urheber von Schäden unsichtbar gemacht werden oder sich unsichtbar machen, die Gewinne ständig steigen und die Ausgaben für die Nachhaltigkeit im Verhältnis bescheiden bleiben. Nachhaltigkeit soll konform mit der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung gehen, dies ist Wunsch und Programm der Nationen und auch der Nachhaltigkeitsagenda der UN und der global goals. Immer mehr wird erkennbar, dass dies ein Widerspruch ist, weil jedes Wachstum im steigenden Wohlstand und Überfluss eine neue Herausforderung für die planetaren Grenzen setzt.

Teil II widmet sich der Politik, die meist im Einklang mit der Ökonomie die Nachhaltigkeit verhindert. Hierbei analysiere ich vor allem drei thematische Bereiche: Zu Beginn diskutiere ich kurz das politische Erbe fehlender Nachhaltigkeit. Der Politik fehlt in Fragen der Nachhaltigkeit ein umfassender Wille zur Wahrheit, um den Wahrscheinlichkeitsaussagen der Wissenschaft hinreichend Glauben zu schenken. Parteien in repräsentativen Demokratien wollen ihre Wählerinnen nicht verschrecken und ihre Wähler2 nicht verlieren, sie belügen sich und andere um der kurzfristigen Wahlgewinne willen und verschweigen notwendige Einschnitte und Verzicht im Verhalten. Aber die Wahrheit in der Anerkennung der Wahrscheinlichkeit der vorliegenden Forschungsergebnisse kommt auch dann an ihre Grenzen, wenn die Masse der Wahlberechtigten nicht auf einen Lebensstil mit großem Fußabdruck verzichten will.

Daraufhin wende ich mich dem politischen Kampf um Wahrheit in der Nachhaltigkeit zu. Dies ist eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen politischen Verhältnisse, soweit sie insbesondere für die Nachhaltigkeit relevant sind. Dabei will ich sowohl politische Faktoren fehlender Nachhaltigkeit herausstellen, aber auch das Zusammenwirken von Ökonomie, Politik und Lebensweise zwischen nationalen und globalen Herausforderungen diskutieren. In der Politik mischen sich die Kämpfe um mehr soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit ständig, aber eine nachhaltige Politik wird sich entscheiden müssen, wird Prioritäten setzen müssen. Hierbei ist die Globalisierung Antreiber etwa des Klimawandels, aber auch ein Krisenantreiber für die zunehmende Zahl an Menschen, die als Verlierer aus der fehlenden Nachhaltigkeit hervorgehen. Zunehmende soziale Ungerechtigkeit, Vertreibung, Flucht und Migration sind Ausdrücke hiervon, die zugleich mit politischen Folgewirklungen wie dem Populismus oder der Leugnung der Notwendigkeit von Nachhaltigkeit verbunden sind.

Abschließend diskutiere ich das Spannungsverhältnis der Sehnsüchte vieler Menschen nach immer mehr Wohlstand gegenüber den Verpflichtungen, die Menschen untereinander und in den planetaren Grenzen des Wachstums haben. Bei zunehmender Sehnsucht nach Freiheit und Individualismus im gegenwärtigen Kapitalismus entsteht die Frage, welche Autorität den Menschen überhaupt die Notwendigkeit der Nachhaltigkeit klarmachen und dann auch noch durchsetzen soll. Zwar mögen viele Menschen aus Einsicht nachhaltig handeln wollen, aber wie viele werden es am Ende sein? Wer kontrolliert dann jene, die auf Kosten aller schädliche Wirkungen erzeugen und daraus sogar Gewinne auf den Märkten ziehen? Bisher haben Gesellschaftsverträge aus Einsicht und Vernunft nur gewirkt, wenn sie mit Herrschaftsformen verbunden wurden. Aber welche Art der Herrschaft, der Autorität oder der Rechtsstaatlichkeit kann und will man sich bei notwendigem Verzicht noch leisten? Ich will deutlich machen, warum und inwieweit der autoritäre Charakter der Vergangenheit heute immer noch eine Relevanz hat. Dabei will ich erörtern, inwieweit im heutigen Kapitalismus dieser selbst zu einer Autorität, zu einer sachlichen und institutionellen Bedingung geworden ist, die für Menschen sehr intransparent wirkt und damit zu allerlei Verschwörungstheorien herausfordert.

Hier ist es einerseits schon interessant, dass der gegenwärtige Populismus in all seinen Facetten sowohl einen autoritären Charakter favorisiert als auch Nachhaltigkeit ablehnt. Populisten und menschliche Ignoranz sind wichtige Kräfte geworden, die die Wahrscheinlichkeit nachhaltiger Fakten vergessen machen. Die Populisten bedienen ihre eigene Macht und Großartigkeit, sie nehmen es weder mit der Wahrheit noch den Fakten genau, betonen aber die Wünsche und das Vergessen. Die breite Ignoranz gegenüber der Nachhaltigkeit besteht darin, dass es keine Verpflichtungen zum Handeln, aber viele Wünsche zum Mitreden gibt. Wenn alle mitreden, ganz gleich wie ahnungslos sie sein mögen, und dann auch noch von ebenso ahnungslosen Populisten angetrieben werden, dann wird die Kurzsichtigkeit im Wissen und die Dummheit im Handeln zum Beschleunigungsfaktor in jeder Krise.

Aber andererseits ist die Naivität, mit der der gegenwärtige Kapitalismus in seinen meist unsichtbaren autoritären und institutionellen Formen hingenommen wird, auch eine Vorbedingung dafür, dass Nachhaltigkeit wenig gelingt, denn je weniger die Menschen das autoritäre System durchschauen, desto weniger werden sie auch Handlungschancen erkennen, wie sich die Dinge ändern lassen.

In den politischen Einstellungen vieler Menschen gibt es heute viele Widersprüche, die von einem Wunsch nach mehr Freiheit, Individualisierung und Konsum auf der einen Seite, aber zugleich von einem Wunsch nach Zugehörigkeit und Anerkennung der persönlichen Lebenslage auf der anderen Seite getragen sind. Wie kann bei einer gleichzeitigen Abnahme der Bereitwilligkeit, Verpflichtungen zu übernehmen, die Freiheitsansprüche einschränken, Nachhaltigkeit überhaupt gelingen? Es kommt für mich darauf an, diese und weitere Fragen zu einer Politik der Nachhaltigkeit vor den größeren Problemlagen eines unsichtbar gewordenen autoritären Kapitalismus, vor einer stets wirkenden institutionalisierten Autorität zu erörtern. Der entgrenzte Mensch lebt dabei in den Entgrenzungen des Kapitalismus, aber die Grundpfeiler des kapitalistischen Systems mit seiner ständigen Suche nach Gewinnmaximierung kollidieren mit den Grenzen der Erde.

Teil III fokussiert auf zwei Grenzen, die sich im menschlichen Handeln als Konsequenz aus der vorliegenden Analyse ergeben:

Erstens gibt es sehr klare Grenzen des Wachstums. Allen müsste klar sein, dass die Menschheit nicht immer einfach so weitermachen kann wie bisher. Handlungen, die nicht nachhaltig oder gar für die Nachhaltigkeit schädlich sind, müssten bestraft werden. Insbesondere eine Bepreisung solcher Handlungen erscheint notwendig. Entweder ein Abbau des Wachstums (degrowth) oder eine ökologische Transformation bei Produktion und Konsumtion, dies wären notwendige und sinnvolle Wege.

Zweitens aber werden sowohl Begrenzungen des Wachstums als auch Transformationen die Demokratie an ihre Grenzen bringen. Eine Demokratie mit Mehrheits- und Verhältniswahlrechten ist solange gut, wie es darum geht, einen ständigen Fortschritt zum Wohl möglichst vieler, wenn auch nicht gleichermaßen aller, zu verwalten; sie wird sofort problematisch, wenn es um Abbau bestehenden Überflusses, um Begrenzung und Verzicht geht. Bisher ist die Wohlstandszunahme in den Demokratien der größte Garant dafür, dass diese Systeme nicht durch einen Aufstand der Bevölkerung überwunden werden. In allen Nationalstaaten wird der Wechsel in die Nachhaltigkeit für große Verstörungen sorgen, weil im Verzicht die bisher ungelösten sozialen Ungerechtigkeiten deutlicher hervortreten werden. Der ständig auf solche Verstörungen lauernde Populismus kann schnell allen Nachhaltigkeitsbemühungen den nationalen Todesstoß versetzen. Begleitet wird diese Verstörung und Unfähigkeit, sich der Nachhaltigkeit zu stellen, vor allem auch durch den Kampf der Nationen gegeneinander, den viele schon für überwunden gehalten haben. Auch wenn die Nachhaltigkeit in internationalen Gremien der UN anerkannt ist und verfolgt wird, so zeigt die Praxis und Wirkung dieser Institutionen das ganze Ausmaß des bisherigen Scheiterns. Die internationale Politik, wie sie sich national rückspiegelt, ist ein entscheidender Risikofaktor für die Nachhaltigkeit, weil im Vergleich untereinander jeder selbst noch im Verzicht gewinnen will. Aber in der Nachhaltigkeit geht es nicht mehr ums Gewinnen, sondern um eine gemeinsame Lösung, die für alle eine Abkehr von vertrauten Wegen bedeutet.

Als ein Ausweg zumindest im Nationalen erscheint die Bürokratie, die über die Interessensgegensätze hinweg einen scheinbar neutralen Weg weisen könnte, um die Nachhaltigkeit in Gesetzen und Verordnungen durchzusetzen, sie dann aber auch hinreichend im Erfolg zu kontrollieren. In der Politik wird heute sehr umfassend auf die Bürokratie gesetzt, die stets als ausführendes Organ der politisch bestimmten Wege gilt. In einem Exkurs in die Bürokratieforschung will ich verdeutlichen, dass Bürokratien zwar als institutionelle Autorität auch in der Nachhaltigkeit notwendig sind, aber ihrerseits die Lösungen dann verschlechtern, wenn sie so wie bisher arbeiten. Überregulierungen und Bürokratien sind Abkömmlinge der Moderne, die das Leben sicherer und gerechter machen sollten, aber letztlich dabei immer vorherrschende Praktiken und bestehende Ungerechtigkeiten abbilden. Sie folgen einem langsamen Gang, weil bei unterschiedlichen Auffassungen alle Parteien gehört und mehr oder minder geeignete Kompromisse gefunden werden müssen. Bis zum Katastrophenfall bieten solche Regulierungen und Bürokratien eine Garantie dafür, dass wir handlungsunfähig bleiben. Sie sind nicht für Krisen, sondern für Stabilisierungen auf einem erreichten Stand gemacht. Es soll deutlich werden, dass sich Nachhaltigkeit nicht wesentlich bürokratisch befördern lässt, sondern einen umfassenderen Ansatz benötigt.

In Teil IV wende ich mich möglichen Wegen aus den Nachhaltigkeitsfallen zu. Als ich mit diesem Forschungsprojekt begonnen habe, war ich voller Hoffnungen, sehr viele Wege zu finden und als realistisch nachweisen zu können. Im Laufe meiner Auseinandersetzungen hat sich aber herausgestellt, dass es ohne eine grundlegende Änderung der Ökonomie und Politik kaum Chancen für eine wirkliche Veränderung gibt.

Ich nehme hier die Idee noch einmal auf, dass die möglichen Lösungsansätze vielen zwar noch als unendlich groß erscheinen, diese aber – so vielfältig sie auch im individuellen Fall sein mögen – konzentriert und schnell im großen Maßstab werden erfolgen müssen, um nicht zu spät zu kommen. Die biologische Evolution hat es dem Menschen ermöglicht, eine kulturelle Geschichte zu errichten, die das gesamt Bild der Erde im Anthropozän prägt. An der heutigen Position angekommen, stellt sich die Frage, inwieweit die menschliche Vernunft, die sich in so vielen Bereichen des Fortschritts bewährt hat, ausreichen wird, die nahenden Katastrophen zu erkennen und Wege aus diesen zu suchen. Die aktuelle Forschung zur Wirkung von Risiken und Katastrophen auf das menschliche Verhalten mag im Einzelfall Hoffnung geben, dass sich Menschen neuen Herausforderungen schnell anpassen können, aber wenn diese dann mit deren Emotionen, Wünschen und Lebensstilen zusammentreffen, schwinden solche Hoffnungen schnell. Die Leserinnen und Leser mögen für sich beurteilen, inwieweit die zusammengetragenen Forschungen sie eher beruhigen oder beunruhigen.

Im ersten Band habe ich zum Schluss klare Forderungen an das individuelle Verhalten gestellt. Jede und jeder muss bei sich selbst anfangen, denn Nachhaltigkeit kann insbesondere in demokratischen Ländern nicht einfach verordnet und instruiert werden, sondern bedarf der individuellen Überzeugung und motivierten Handlung. Alle müssen sich Gedanken darüber machen, was gut funktioniert und was weniger gut gelingen wird. In diesem Sinne wird Nachhaltigkeit zu einer ersten Bildungspflicht, denn nur diejenigen, die wissen, was sie tun, werden auch bereit sein, ihr Tun zu überdenken und zu verändern.

Für die Ökonomie und Politik ist ebenso klar: Die große ökologische und nachhaltige Transformation wird nicht ohne Verzicht zu machen sein. Sie kann in begrenztem Maße durch Innovationen und neue Lebenskonzepte kompensiert werden, sie kann sogar die Menschheit sozial gerechter machen und sich vielfältig in neue Richtungen entwickeln lassen, aber sie bedeutet eine wesentliche Umstellung in sehr vielen Lebensbereichen. Eckpunkte hierfür will ich mit diesem Band bewusst machen.

Abschließend werden gesellschaftliche Regeln zur Nachhaltigkeit aufgestellt, auf die sich nicht nur einzelne Menschen, nicht nur einzelne Nationen, sondern die gesamte Menschheit im Sinne eines Nachhaltigkeitsvertrages einlassen müssten, um der gegenwärtigen Krise etwas entgegenzusetzen. Zusammen mit den individuellen Regeln aus dem ersten Band fassen sie in kurzer Form das zusammen, was sich aus der Vielzahl wissenschaftlicher Forschungen als essenziell zusammenfassen lässt: ein Manifest der Nachhaltigkeit.

Mein Dank gilt den vielen Forscherinnen und Forschern, die mir ihre Veröffentlichungen frei zugänglich gemacht haben. Die umfangreichen Referenzen finden sich im Literaturverzeichnis für beide Bände, das mit Links zu zugänglichen Quellen online unter www.westendverlag.de/nachhaltigkeit verfügbar ist. Es sind zu viele, die mich in meinem Vorhaben unterstützt haben, um sie hier einzeln zu nennen. Hervorheben will ich die Lektorin Lea Mara Eßer vom Westend Verlag, die durch ihre professionelle Überarbeitung zur Verbesserung des Textes beigetragen hat.

I

Wie die Ökonomie die Nachhaltigkeit verhindert

I.1Die Vergangenheit: Ökonomische Nachhaltigkeitsfallen

Mit der Moderne und ihrer Entwicklung ist keine konkrete Nation in ihrem Wandel, kein besonderes historisches Ereignis mit ganz eigenen und unverwechselbaren Kontexten gemeint (vgl. Beck 1986, 2002; Giddens 1990), sondern ein Übergang, der übergreifende Perspektiven und Mechanismen für alle einschließt (Bauman 2000 a). Es gibt hierbei einen globalen Wandel in den Grundlagen aller Gesellschaften. Ich will versuchen, die Mechanismen dieses Wandels und die Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit näher zu bestimmen und ihre Bedeutung für unterschiedliche Lebensfelder zu erörtern. Dabei werden ökonomische Veränderungen, die vor dem Hintergrund der immer globaler agierenden kapitalistischen Entwicklung stehen, als wesentlich angesehen, weshalb es auch sinnvoll ist, die Moderne aus ihrer ursprünglich eurozentrischen Orientierung heute auf eine kapitalistische und vom Neoliberalismus geprägte flüssige Weltmoderne zu beziehen.

Auch wenn es in Europa, Amerika, Lateinamerika, Afrika, Asien, der arabischen Welt oder anderen Regionen jeweils eigene Traditionen und historische Entwicklungen gibt, so wird in je spezifischer Weise der neoliberal operierende Kapitalismus auch in diesen Gebieten immer relevanter, indem er als Denk- und Handlungsweise in die bestehenden Traditionen assimiliert und in ihnen verankert wird. Dieser Teil der Globalisierung ist durchaus widersprüchlich und nicht einlinig zu verstehen. Und die Entwicklung ist auch nicht als ein Fortschrittsmodell anzusehen, das der Welt zeigt, wie Vernunft und Fortschritt sich durchsetzen – das ist das traditionelle Modell der eurozentrischen Politik3 –, sondern es ist ein stets ambivalentes Modell gesellschaftlicher Konstruktionen, das vor dem Hintergrund vielfältiger Veränderungen ambivalente Wirkungen entfaltet.4

I.1.1Produktivität und Gewinnmaximierung

In sechs Schritten soll die Ökonomie der Moderne5 hier einführend, ohne in die Details der historischen Entwicklung zu gehen, beschrieben und auf Fragen der Nachhaltigkeit bezogen werden:

Zunächst wird mit Fernand Braudel diskutiert, auf welcher Zeitebene die ökonomische Geschichte im Verhältnis zur Naturgeschichte wahrgenommen wird;

Dann wird das Zeitalter der Industrialisierung als »schwerer Kapitalismus« mit dem Ziel der Wohlstandsvermehrung verdeutlicht;

Anschließend wird die große Transformation kurz beschrieben, die Karl Polanyi als für den Kapitalismus typisches Spannungsverhältnis von freien Märkten und staatlichen Interventionen charakterisiert;

Insgesamt sind die Erhöhung der Intensität und Produktivität der Arbeit für die kapitalistische Ökonomie von Beginn an zwei treibende Kräfte, die unterschiedliche Wirkungen erzeugen;

Dabei ist die kapitalistische Logik der Gewinnmaximierung darauf ausgelegt, Kosten – wie etwa für mehr Nachhaltigkeit – zu vermeiden;

Abschließend werden drei typische ökonomische Denkweisen hervorgehoben, die Nachhaltigkeit verhindern.

I.1.1.1Fernand Braudel und die Zeitebenen zwischen Natur- und Ereignisgeschichte

Zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert, so analysiert Fernand Braudel (1985/86) in seinen drei Bänden zur Sozialgeschichte, verändern sich der Alltag, der Handel und es gibt einen Aufbruch zur Weltwirtschaft (Braudel 1992). Diese klassische Analyse unterscheidet drei Zeitebenen, die insbesondere auch für die Nachhaltigkeit interessante Perspektiven aufwerfen:

Eine unterste und in den Veränderungen weniger wahrnehmbare Zeitebene gibt eine quasi immobile Geschichte an, die er auch Geogeschichte nennt. In ihr sind Naturerscheinungen eingeschlossen, die sich als Wiederkehr der ewig gleichen Naturabläufe, als feststehende Gebirge und Täler, Küsten, Land- und Seewege, als Ozeane, langsam und stetig fließende Ströme, Klima oder andere Dinge mit langen Zeitspannen der Veränderung ausdrücken. Heute sehen wir mit dem Anthropozän, wie der Mensch durch sein Eingreifen in die Natur diese unterste und fundamentale Zeitebene berührt hat, wobei Moore (2016) oder Altvater (2016) davon sprechen, dass das »Capitalocene« die Natur in eine Anlageform verwandelt hat. »Die Natur wurde auf etwas reduziert, das wie jedes andere Gut bewertet und gehandelt und verbraucht werden kann: industrielles Kapital, Humankapital, Wissenskapital, finanzielle Ansprüche und so weiter.« (Ebd., 145)6 Das »Anthropocene« als »Capitalocene« soll beschreiben, von welcher Seite der Angriffspunkt auf die natürlichen Weltverhältnisse kommt: Es ist die Kapitalisierung auch der Natur, die Menschen dazu bringt, die gegenwärtige ökologische Krise immer weiter zu verschärfen.

Braudels Konstruktion dieser untersten Zeitebene kann schnell als etwas verstanden werden, was der Natur in ihrer »Eigenzeit« eine vom Menschen unabhängige Bedeutung verleiht. Die Geschichte der Welt ist Milliarden Jahre alt, Menschen rechnen mit tausenden von Jahren und in ihrer Lebenszeit nur mit Jahrzehnten. Das Reale dort draußen, das nicht vom Menschen Produzierte, ist immer mehr als die menschliche Konstruktion, aber als Menschen haben wir eben nur unsere Interpretationen, Deutungen, Konstruktionen über das, was für uns dort draußen ist oder was wir für ein solches »Dasein« in unserem beschränkten Zeitverständnis halten. So spricht Braudel von einer Zeitebene, die er nur durch Kontrast mit anderen von ihm konstruierten Zeitebenen verdeutlichen kann.

Wenn Menschen über Zeit und Raum, über die Natur und Umwelt oder über das Reale sprechen, dann ist dies immer Deutung und Interpretation über das, was sie wahrnehmen, interpretieren und konstruieren können und wollen, aber kein absolutes Ding dort draußen. Es wäre schön, wenn uns höhere Wesen von draußen zeigen könnten, wie es um die Ökologie tatsächlich steht, aber selbst dann wäre zu bezweifeln, ob wir ihnen glauben würden. Die Macht der menschlichen Konstruktion von Wirklichkeiten aller Art bedeutet aber nicht, dass es kein dort draußen oder Reales gibt. Im Erschrecken oder Erstaunen über die Wirkungen des Realen werden unsere menschlichen Konstruktionen immer wieder auf die Probe gestellt (vgl. zur Begründung des Realen im Konstruktivismus Reich 2009).

Die lange Dauer (longue durée) umfasst längere historische Zeiträume, wie die Pharaonenherrschaft oder das Feudalzeitalter des Mittelalters. Der Kapitalismus könnte auch in diese Zeitauffassung passen, es sei denn, er würde, wie es heute scheint, durch seine Tendenzen der Kapitalisierung das Anthropozän so nachhaltig bestimmen, dass die unterste Zeitebene grundsätzlich verändert wird. Solche Zuschreibungen werden allerdings immer erst im Nachhinein deutlich, und ohnehin ist zu bemerken, dass alle Einteilungen der Erdzeitalter rein menschliche Konstruktionen sind.

In der jüngsten Zeit, das zeigen die Studien Braudels, hat sich der Kapitalismus stufenweise entwickelt: zunächst lokal über Tausch und Märkte, dann über eine etablierte Marktwirtschaft mit Konkurrenz unter erst nationalen und später globalen Wettbewerbsbedingungen, schließlich als allumfassender Kapitalismus, der jeden Winkel der Erde erreicht und eine Weltwirtschaft errichtet hat.

Für die Nachhaltigkeit ist dieser Aufwärtstrend der Entwicklung die Ursache für die heutige Krise. Eine Umkehr scheint einigen nur dadurch möglich, wenn die Schritte rückwärtsgegangen werden: Eine Lokalökonomie mit kurzen Wegen und wenig Schadstoffen und Treibhausgasen, mit hoher Verantwortlichkeit und Zugehörigkeit in den Verpflichtungen kleiner und verbindlicher sozialer Gruppen könnte als Regionalpolitik Strukturen aufbauen, die nachhaltiger als die jetzige Produktions- und Lebensweise wirken. Nur wie sollen sich die Menschen davon überzeugen lassen, wenn ihnen gerade der allumfassende Kapitalismus mit weniger Zugehörigkeit und hoher Konkurrenz gegeneinander zugleich alle Vorteile im Wohlstand und einem längeren Leben beschwert haben?

In Anbetracht der langen Dauer von Kolonialismus und Benachteiligung vieler Regionen der Welt kann der Wandel ins regionale, ökologische Idyll vor dem Hintergrund einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft ohnehin nur eine Hoffnung in den reichen Ländern sein. Eine andere Hoffnung ist es, dass wissenschaftlich-technologische Revolutionen uns in einen ganz anderen Stand der Versöhnung von Wirtschaftswachstum und Umweltverträglichkeit versetzen könnten, obwohl sie das gegenwärtig noch nicht erreichen.

Die Gegenwart ist eher durch die Vielfalt der Bedürfnisse der Menschen in ihren aktuellen Ereignissen bestimmt, auch wenn eine mittlere Dauer die Konjunkturen ausdrückt, in denen dies geschieht. Einzelereignisse sind von eingeschränkter Dauer, sie bilden die Daten der Geschichte, die sich aneinanderreihen lassen, obwohl man allein aus ihnen diese Geschichte nicht verstehen kann. So betrachtet erscheinen menschliche Ereignisse wie Wellen auf der Oberfläche des Geschichtsflusses, ohne einen tieferen Grund zu erfassen.

Zur langen Dauer gehört heute die kapitalistische Entwicklung, die unsere Lage bestimmt. Für Altvater findet in Braudels »langer Zeit des 16. Jahrhunderts« eine Wende statt, in der die Märkte und der Mehrwert, der vor allem aus der Lohnarbeit gewonnen werden konnte, immer dominanter wurden, um dann im 18. Jahrhundert eine weitere Wende zu erfahren, in der eine »Verbindung von im Überfluss vorhandenen fossilen Brennstoffen und modernen Maschinen« stattfand, um dann »schnell Europa und Nordamerika und dann den Rest der Welt zu verändern. Weit entfernt von einer rein technischen Entwicklung, war diese industrielle Transformation ein Kind des europäischen Rationalismus, der Profitgier und der Dynamik von Geld und Markt. Der industrielle Kapitalismus, der von billigen fossilen Brennstoffen getragen wurde, wurde zum vorherrschenden Modell der modernen Wirtschaftsentwicklung. Nicht weniger wichtig, schuf er auch eine neue globale sozial-ökologische Realität.« (Altvater 2016, 146)

Die Vertreibung aus natürlichen Rhythmen in die Zeitkontrolle

Der Jahresablauf im Rhythmus der natürlichen Produktionsphasen einer Feudalgesellschaft verwandelt sich mit der Industrialisierung in ein neues Denken, in dem alles in Zeit gemessen und in Geld verwandelt wird. Die Zeit wird rationalisiert; Kalender, Uhren, Maßstäbe effektiv genutzter Zeit gegenüber einem Müßiggang verweisen darauf, dass die Zeit in einer Gegenwart mit beschränktem Ende gelebt und genutzt werden muss. Die Arbeit rückt ins Zentrum einer Schaffenskraft, die auf eine Vermehrung der materiellen Dinge und des Wohlstands setzt. Dabei entwickelt der Mensch eine Haltung, die gesamte Welt von sich aus, von seinen Bedürfnissen und dem wachsenden Wohlstand her zu denken, ohne Rücksicht auf Verluste bei ärmeren Klassen, in fremden Ländern oder für die Umwelt zu nehmen. Um die Ausbeutung des Menschen zu bremsen, entsteht eine Arbeiterbewegung als Gegenkraft. Um die Natur und Umwelt oder fremde Völker zu schützen, dazu fehlen nachhaltige Bewegungen von Anfang an.

Thompson (1967) zeigt etwa, wie Zeit und Macht innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft verschränkt eingesetzt werden. Die Kontrolle der Zeit steht dabei im Fokus in der Organisation der Industrie wie des Lebens. Er analysiert, wie die Arbeitsverhältnisse im Übergang von der Feudalzeit in die Industrialisierung durch mechanische, lineare Zeitmessungen ersetzt und wirksam gemacht wurden. Hierzu gehört insbesondere der Einsatz von Uhren und die genaue Bestimmung von kleinen und gut definierten Arbeitseinheiten. Die Leistungen werden von einer Bewertung in der Gesamtleistung eines längeren Zeitraums zunächst auf Wochen, dann Tage, schließlich Stunden und Minuten festgelegt. Die Kontrolle dieser Zeiten wird immer engmaschiger und subtiler, sie reicht von der persönlichen Überprüfung über die Stempelkarte bis hin zur elektronischen Erfassung der Zeiten. In der Erziehung der Menschen, früher vielfach noch religiös als Tugend zur Arbeitsamkeit und zum Fleiß inspiriert, um ein sittliches Leben zu führen, hat nach Max Weber (1934) insbesondere die protestantische Ethik dazu beigetragen, das Wirtschaftsleben zu effektivieren. Besonders drei Maßnahmen helfen hierbei: eine effektive Betriebsorganisation, die Trennung von Haushalt und Betrieb und eine rationale Buchführung. Diese Maßnahmen sind immer vor dem Hintergrund zu sehen, dass Zeit und Geld gegeneinander aufgerechnet werden.

Während die Landwirtschaft noch länger den Nutzungsmöglichkeiten in natürlichen Zeitabläufen folgte und erst nach und nach industrialisiert wird, so wird alle Waren produzierende Arbeit unter Zeitdruck gestellt, damit sich durch Zeitersparnis der Gewinn vergrößert. Je weniger Zeit nötig ist, um etwas herzustellen, desto kostengünstiger kann es produziert werden. Von vornherein steht eine Produktivitätsmaximierung im Vordergrund, eine Ressourcenschonung oder Umweltschonung, selbst eine Gesundheitsschonung sind zunächst kaum im Programm der Moderne.

Das absehbare Ende der eigenen Lebenszeit mag in der Unendlichkeit religiös nach einem »Jüngsten Gericht« enden, aber bis dahin scheint es genau die Erfolgsaufgabe dieser Lebenszeit zu sein, die Notwendigkeiten des Tages zu ergreifen und das eigene Leben abzusichern. Besonders die Entwicklung eines anwachsenden Privateigentums gilt als ein Königsweg der Zeitnutzung.

Die Ereignisgeschichte beschleunigt sich durch die neuen Möglichkeiten zur Zeitkontrolle: Ab jetzt erscheint die Vergangenheit im Rückblick als sehr langsam. Etwa die natürliche Geschwindigkeit von Menschen oder Pferden wird als langsam wahrgenommen, seit die Dampfkraft und die Motorisierung die Welt beherrschen. Die Jahreswechsel und Ernten, die ehernen Rituale der Geburt und Heirat, wie auch festgelegte Feste der Erinnerung bleiben zwar, spielen aber in den Städten und auf den Märkten eine zunehmend geringere Rolle. Früheren Zeiten selbst kultureller Hochentwicklung war diese neue Art Beschleunigung in der Ereignisgeschichte fremd, aber auf dem Boden der langen Zeit, der longue durée vor dem Hintergrund des Anwachsens der Produktion und der Mehrwerte, nimmt die Beschleunigung immer weiter zu.

Selbstzwänge und instrumentelle Rationalität

Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte des Kapitalismus geht mit einer veränderten Sozialisation der Menschen einher. Norbert Elias (1976, 1988) hat herausgearbeitet, dass Menschen Selbstzwänge gegenüber Fremdzwängen bevorzugen und in der kapitalistischen Lebensform auch benötigen. Hierbei ist es notwendig, die eigene Lebenszeit in ihren Phasen des Heranwachsens, der Ausbildung, der Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen in die eigene Hand zu nehmen, sich selbst zu motivieren, den eigenen Erfolg durch Ausdauer und Langsicht zu kontrollieren, Kooperation und Kommunikation mit anderen auf Zeit einzugehen. Vor allem das Zeitverständnis verändert sich:7 »Zeit wird unterschiedlich zum Raum gesehen, weil sie leichter verändert und manipuliert – und besonders bedeutsam verkürzt, weniger kostspielig und so produktiver – gestaltet werden kann. Benjamin Franklins berühmte Aussage lautet: ›Zeit ist Geld‹; er konnte diese Erklärung mit Überzeugung abgeben, weil er den Menschen zuvor bereits als ›werkzeugmachendes Tier‹ definiert hatte.« (Bauman 2000 b, 173)

Die instrumentelle Rationalität der Moderne sieht neben der Zeit auch den Raum als wichtig an. Er repräsentiert neben der Weite der Welt immer auch die Kostbarkeit des Privatbesitzes, der demonstrativ nach außen als solide und vermögend gebaut wird, nach innen jedoch zweckrational auf Verwertbarkeit der kostbaren Zeit und des knappen Raums durch Aufteilung in mehr oder minder luxuriös nutzbare Zimmer zu Hause oder produktive Stätten in Unternehmen gestaltet ist. Andere Räume, die etwa der Erziehung oder Krankheit dienen, werden dagegen eher sparsam und kostensparend ausgestattet; Natur- und Umwelträume scheinen einfachhin grenzenlos. Gern vergessen die kapitalistisch erfolgreichen Länder die Flächen, die für ihr Vorhaben eingenommen werden müssen. Es ist der äußere Raum der Eroberungen fremder Länder, der Gewinnung von Rohstoffen und Ressourcen, der Gefangennahme, Versklavung, Migration von Arbeitskräften, der Erschließung von Märkten, der Globalisierung. Es gibt eine enge Verbindung von zeitlicher Entwicklung in der Moderne und Flächenbedarf. Der Raum ist im Laufe der Moderne auf der Basis überkommener Besitzverhältnisse zunächst in den freien Flächen verknappt und in den Bebauungen verdichtet worden. Einerseits werden Räume durch kriegerische Handlungen von den Nationen erobert, verloren, auf die Gewinnung von Kolonien verschoben, andererseits führt das wachsende Privateigentum dazu, dass fast alle vorhandenen Flächen in Privatbesitz überführt werden. Der Raum der Welt wird nicht nur immer genauer in der Moderne kartografiert, er wird auch parzelliert und verrechtlicht. Inklusion und Exklusion nach Besitzregeln, nach Zugehörigkeit und Verweigerung des Eintritts, dies sind Grundmerkmale einer Raummacht, die eingezäunt und durch Besitzregeln überwacht wird. Dieser Teil wird in der Nachhaltigkeitsagenda fast immer verschwiegen. Wie sollen wir nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Zukunft hinterlassen, wenn diese bereits in die überkommenen Besitzverhältnisse so aufgeteilt ist, dass es kaum noch Spielraum für neue Verteilungen des Raums der Welt gibt?

Wachstum wird zur Leitfigur menschlicher Handlungen

Es dauerte einige Zeit in der Moderne, bis die Kraft der Beschleunigung verstanden werden konnte. Obwohl im Neuhumanismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Renaissance der Antike mit ihrer eher langsamen Zeit erschien, so blieb diese im Grunde oberflächlich. So machte es für die Olympischen Spiele in der griechischen Antike keinen Sinn, etwa Zeiten zu messen, Weiten zu bestimmen oder objektive Leistungslisten im Sinne von höher, weiter oder schneller zu führen, weil es in jedem Ereignis und Spiel nur um eine Situation mit einem konkreten Gewinner ging. Der griechische Begriff scholé, der heute in »Schule« erscheint, bedeutete Muße und war ein Konzept der Entschleunigung und des Gesprächs (vgl. Welskopf 1962), das war eine ganz andere Art der longue durée. Die Moderne transformierte solche Muße in eine strikte Ordnung von Kosten und Nutzen mit zunehmender Beschleunigung. In ihr beginnt schon seit dem 15. Jahrhundert mit vielen lokalen Unterschieden und etlichen Vorformen ein Zeitalter der Uhren, des Messens nicht nur von Zeiten in allen Formen, sondern auch eine Vermessung der Welt, die später dann auch den Makro- als auch den Mikrokosmos einschließt (vgl. Cipolla 1978). Dies führt nicht nur dazu, dass die Zeit immer effektiver genutzt und dabei in der Schnelligkeit der Verrichtungen beschleunigt werden soll (Whitrow 1988), sondern auch, dass die Räume verdichtet und schneller durch ein Netz von Verkehrswegen zugänglich werden. Die Natur, die entgegensteht, wird verändert und an die beschleunigten Bedürfnisse angepasst, die »schöne« Natur in die Zauberwerke der Gartenkunst verwandelt. Es ist kein Wunder, dass die Romantik genau dann als Sehnsucht auftrat, als der Kosten-Nutzen-Mechanismus dominanter wurde.

Zeit und Raum werden über Geschwindigkeit gekoppelt. Dieser Prozess wird als Wachstum verstanden: äußerlich als steigende Produktion, steigender Gewinn, Ausbreitung des Kapitalismus; innerlich als ein Zwang zur Selbstverwirklichung, Steigerung der Leistung, Durchsetzung. Der Planet Erde wird erkundet, erobert, vermessen, die Zeit erscheint wie ein gemeinsamer Plan, der alle Aktionen strukturiert und ihnen eine Bedeutung gibt. Die Geschichte der Zivilisationen, wie wir sie heute verstehen, ist ein Konstrukt aus diesem Wandel. Die Welt wird dichter und enger, die Zeit vergeht schneller und schneller, weil sie in Geld verwandelt werden kann und über kurz oder lang in das Muster »Zeit ist Geld« verdichtet wird.

In den historischen Beschreibungen über die Entwicklung der Moderne seit dem Zeitalter der Renaissance und mit Brücken in das Mittelalter haben zahlreiche Analysen gezeigt, wie die Beschleunigung von Zeit als Intensivierung der Zeitnutzung und der Einsatz von Maschinen als Produktivitätssteigerung alle Arbeitsprozesse ergreifen und gleichzeitig den Raum zergliedern, ordnen, in Manufakturen und später Fabriken verwandeln. Zeitgleich schreitet die Privatisierung der Eigentumsrechte als eine ursprüngliche Akkumulation der Reichtümer voran und teilt die Welt in eine besitzende Unternehmerschaft und eine relativ besitzlose Masse auf. Es entstehen Märkte, auf denen die Arbeit gegen Lohn und Geld gegen fast alles getauscht werden können

Beobachtbar wird dies äußerlich an der Flächennutzung der Umwelt. Zuerst werden die nationalen Flächen immer stärker als Gewerbe- und Privatflächen erobert und aufgeteilt, dann werden Übergriffe auf die restliche Welt und ihre Flächen und Ressourcen in Gang gesetzt, um den Hunger nach neuen Produktionsstätten, Rohstoffen, aber auch besseren Wohnlagen und statusbezogenen Bauten zu verwirklichen. Zu Beginn der Moderne und in der Entfaltungsphase der kapitalistischen Produktion erscheint die Welt als unendlich groß und frei verfügbar, die Zeit im individuellen Leben ist begrenzt und soll effektiv genutzt werden. Kriege und Konflikte eröffnen dies mit Gewalt und Eroberung, Märkte mit ungleichen und ungerechten Tauschhandlungen.

Aber auch innerlich wird erkennbar, wie die Ordnung in symbolischen Leistungen als Spiegelung des Wirtschaftens zunimmt. »Die Buchhaltung verwaltet Ereignisse, indem sie diese selektiv in verschiedenen Registern – Memorial, Journal, Hauptbuch – aufschreibt und nach Gewinn und Verlust sortiert. Aufgezeichnet werden die Ereignisse auf der Achse der Zeit und innerhalb von bestimmten, für alle Ereignisse gleichermaßen gültigen Zeiteinheiten. Eine solche Notationstechnik sichert Kontinuität und ist damit erst die Voraussetzung einer Wachstumserfahrung.« (Welzer 2011, 19)

Die Leitfigur des Wachstums ist der Wohlstand, ein zunehmender Überfluss, der sich als Reichtum darstellt. »Produktiv diesem neuen Verständnis nach ist ein Reichtum, der die Bedürfnisse aller übersteigt; und produktiv ist eine Arbeit, die nicht mit der Stillung eines Bedürfnisses endet.« (Vogl 2008, 338) Für Vogl (2010) entsteht hierdurch eine ständige Selbstüberschreitung aller Grenzen der Lebensweise, Streeck (2016) sieht Anzeichen, wie dadurch der Kapitalismus an sein eigenes Ende geführt wird; Welzer (2011, 24) folgert hieraus: »Und genau in dieser Gestalt geht Arbeit in die nationalökonomische Theoriebildung ein: als eine in sich unbegrenzte endlose Tätigkeit, die kein spezifisches, abgegrenztes, im Produkt aufgehobenes Ziel hat, sondern der unablässigen Schöpfung von Wert dient – mithin der nie endenden Produktion von ›Wachstum‹. Diesen Vorgang hat Marx mit dem Verschwinden der konkreten Arbeit im Tauschwert bezeichnet. So wie die Arbeit damit unaufhörlich wird, so wird jeder Augenblick im Leben, jede Stufe im Lebenslauf, jeder Euro auf dem Konto lediglich zur Vorstufe jedes nächsten Abschnitts, jedes weiteren Euro. Und das Selbst ist in jeder Biografie immer nur Vorstufe eines Selbst, das noch Weiteres zu erreichen hat.« Da die Gewinne in der Regel nicht mit der, sondern gegen die Nachhaltigkeit gemacht werden, führen die Steigerungen zu immer größeren Überschreitungen der planetaren Grenzen.

I.1.1.2. Industrialisierung und die Hoffnung auf Wohlstand

Die Zeit der schweren Moderne, die Industrialisierung, ist eine Zeit großer historischer Veränderungen, von Brüchen, Krisen, Reformen und Revolutionen. Die historische Lösung, so sagt Bauman (2000 b), kennt im Grunde nur zwei mögliche Antworten, um die dabei entstehenden Konflikte im Überleben der Menschen zu bewältigen: Revolutionen als grundsätzliche Veränderung der Ausgangspositionen oder die Entwicklung eines Wohlfahrtsstaates.

Der erste Weg wurde in lang andauernden sozialen Kämpfen bis hin zu den sozialistischen Ländern beschritten, wobei weder die hohen Ziele sozialer Gerechtigkeit noch zunehmenden Wohlstands für alle bisher erreicht werden konnten. Der zweite Weg wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für die Industrieländer erfolgreich und mündete in die Aufteilung der Welt nach Wohlstands- und Überflussgesellschaften und einen Rest, der große Teile der Menschheit in Armut und Not gelassen sieht.

Das Zeitalter der großen Industrie ist zugleich ein Zeitalter der Ordnungssuche, in dem kontinuierlich Fortschritt festgehalten und überprüft wird. Diese Ordnung ist nicht natürlich, sondern sie wird gesellschaftlich konstruiert und produziert, sie bildet wie selbstverständlich einen Lebenshintergrund, auf den die Menschen bewusst und intentional zurückgreifen (vgl. Bauman 1993, 4 ff.). Ordnungen entstehen dadurch, dass wir sprachlich in Regeln festhalten, wie wir leben und wie die Dinge unseres Lebens bewertet werden sollen. Sie gehen in die Vorstellungen der longue durée ein. Dabei gelten Ein- und Ausschlüsse, mit denen wir eine Ordnung erzeugen: Besitzend oder besitzlos, reich oder arm, privat oder öffentlich, effektiv genutzte oder verschwendete Zeit, geschützte Wohlstandsgegend oder unsicherer Vorort sind einige dieser Verständigungsleistungen, die etwa festhalten, was in einer Leistungsgesellschaft als Erfolg und was als Misserfolg zu bewerten ist. Als erfolgreich werden im Industriezeitalter allgemein Klarheit der Ziele, Transparenz der Wege, Kontrollierbarkeit der Handlungen, Voraussagbarkeit der Ergebnisse angesehen.

Der Fordismus als Prototyp kapitalistischen Erfolgs

Der Fordismus (abgeleitet vom Autofabrikanten Henry Ford), die schwere Industrie und ein »schwerer Kapitalismus«, in dem Kosten und Gewinne klar überprüft werden können, um wachsende Ergebnisse zu erzielen, sind Prototypen einer solchen Moderne. Ihre Bauruinen oder Baudenkmäler mahnen uns heute, dass man in solcher Industrie noch nicht an die Hinterlassenschaften der Produktion und des Konsums dachte: Schadstoffe, Verunreinigungen, Zerstörung ganzer Ökosysteme, das waren immer Begleiterscheinungen der schweren Industrie, wie sie heute im Ruhrgebiet oder im Rust Belt in den USA besichtigt werden können.

In der kapitalistischen Entwicklung bilden die maschinelle Produktion und der wissenschaftlich-technische Fortschritt Bedingungen, um eine schwere, solide und dynamische Moderne zu gestalten. Sie ist schwer, weil sie in Manufakturen und später Fabriken mit großer Maschinerie konstruiert wird, sie ist solide, weil ihre Materialien gebaut, verschraubt, meist unbeweglich und nur mit Aufwand zerstörbar sind, sie ist dynamisch, weil sie auf festem Boden und klaren Eigentumsverhältnissen basiert, und dennoch dynamisch nach Gewinn und Profit den Wohlstand steigert. Die maschinelle Produktion ermöglicht die wachsende Massenfertigung von Waren aller Art. Die Manufaktur verwandelt sich in eine Fabrik, die Fabriken werden zu komplexen Industrieunternehmen und Konzernen. Alles ist auf solidem Grund gebaut, immer mit privaten Anreizen auf Gewinne versehen, es drückt sich nach Größe der Anlagen, nach Volumen der Bauten aus und benutzt eindrucksvolle Fassaden, um die Gewinne und den wachsenden Reichtum nach außen zu präsentieren. Meist steht die Unternehmensvilla zu Beginn dieser Entwicklung noch in der Nähe der Fabrikgebäude, um die Zugehörigkeit zu demonstrieren. Dagegen sind die Arbeitersiedlungen in serieller und kasernenhafter Wohngestaltung eher ein Abbild der ökonomischen Nutzung und kulturellen Bedeutung der Arbeitskräfte, aber die Arbeitskräfte haben noch ein Bild der materiellen Produktion: Sie sehen den Wohlstand wachsen und entwickeln den Wunsch, an dem soliden Wohlstand teilzuhaben, wobei sie erwarten, dies nach und nach zu erreichen. Soziale Gerechtigkeit wird angesichts der ungleichen Verteilung des Wohlstands zur Dauerherausforderung.

Die Entwicklungen der Wissenschaften und Technik beschleunigen die Entfaltung der Industrie, dabei verändern sich die Anforderungen an die unterschiedlichen Teilarbeiten. Wiederkehrende Arbeiten, intensivierte Detailverrichtungen, Überwachung und Kontrolle, Erfindung und Qualitätssteigerung, Forschung und Leitung werden voneinander geschieden und wirken in zeitlicher Planung und räumlicher Anordnung dennoch zusammen. In gewissem Rahmen vollzieht sich innerhalb der Moderne mit der Steigerung der Produktivität und des gleichzeitigen gewerkschaftlichen Kampfes einer Begrenzung der Arbeitsintensität aber auch ein kontinuierlicher Wandel, der in einen flexiblen, disponiblen und auch mobilen Einsatz der Arbeitskräfte mit unterschiedlichen Kompetenzgraden mündet. Die Arbeitszeiten konnten dabei deutlich gesenkt und die Urlaubszeiten erweitert werden; soziale Gerechtigkeit wird hier in einen Verteilungskampfverwandelt. Aber der zunehmende Abstand zwischen Arm und Reich zeigt selbst in den reichen Ländern, dass die Gewinne sehr einseitig verteilt werden. Der Übergang in die flüssige Moderne, die sich durch Wanderungen des Kapitals an jene Orte auszeichnet, wo die Gewinne noch einfacher und höher zu erzielen sind, steigert diese Einseitigkeit bis heute immer mehr.

I.1.1.3Die große Transformation und der Beginn der Nachhaltigkeitsfragen

Karl Polanyis einflussreiches Buch The Great Transformation (1944) analysiert den gesellschaftlichen Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts. Er kann die bisherige Analyse, die von Braudel ihren Ausgang nahm, ergänzen helfen.

Karl Polanyi und die große Transformation

Am Beispiel der Industrialisierung Englands zeigt er zwei Entwicklungen, die seither die westliche Weltordnung prägen: einerseits das Anwachsen bestimmter Marktformen und ihre Ausweitung in alle Winkel der Erde, was letztlich bis in die Globalisierung führt, andererseits das Erstarken des Nationalen und der Nationalstaaten, die in Wechselwirkung mit den Markterfolgen eine Konkurrenz der Nationen und unterschiedliche nationale Profile des Erfolgs im Wohlstand der Nationen ausdrücken. Die Durchsetzung der Eigentumsmarktgesellschaft, die bereits bei Hobbes und Locke konzipiert wurde (Macpherson 1973), nennt Polanyi die Marktgesellschaft, in der alle natürlichen Substanzen und menschlichen Tätigkeiten in Waren verwandelt werden können. Das individuelle Streben nach Gewinn und Eigennutz in allen Handlungen nimmt auf allen Ebenen zu. Dabei entsteht diese Geschichte nicht im evolutionären Eigenlauf, sondern sie wird durch die Konkurrenz der Nationen ebenso angetrieben wie durch die Konkurrenz kapitalistische Strategien der Gewinnmaximierung. Die Marktwirtschaft führt zu einer Verselbstständigung ihrer Strukturen, die über die Zeit hinweg den wirtschaftlichen Fortschritt mit einer dauerhaften sozialen Ungleichheit verbindet. Zugleich wird von Anbeginn an verhindert, sich mit Fragen von Nachhaltigkeit außerhalb esoterischer Zuwendung zu beschäftigen.

Die Konkurrenz der Individuen in der Marktgesellschaft bietet auf der Ebene der Ereignisgeschichte genügend Beispiele für Erfolge und Misserfolge, wobei die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit und die Sehnsucht nach Gewinn als durchgehendes Motiv für alle sogar vor die sozialen Beziehungen rückt und diese immer stärker prägt. Um es in heutiger Terminologie auszudrücken, an die Stelle der moralischen Verpflichtung eines Ehebündnisses rückt der Ehevertrag, an die Stelle der moralischen Pflichten der Kinder rücken Erbverträge, da in den Marktverhältnissen auch mit dem Vertragsbruch engster sozialer Beziehungen zu rechnen ist. Ein Tausch mit ungleichen Ergebnissen ist nicht nur im ökonomischen Kapital möglich, sondern betrifft auch das soziale, kulturelle (Bourdieu 1986), das Lern- und Körperkapital (Reich 2018 a), das Naturkapital (Wackernagel et al. 1999). Die Verteilung der Kapitalformen unter den Menschen wirft immer die Frage nach sozialer Gerechtigkeit auf (Reich 2020). Der mit dieser Entwicklung ausufernde Materialismus zeigt sich für Polanyi weniger als materielle Verelendung oder als Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, sondern als grundsätzliche kulturelle und soziale Verwahrlosung. Menschen sprechen viel von Solidarität, aber ihre tatsächlichen gegenseitigen Hilfen und Unterstützungen bleiben stets auf ein überschaubares Maß begrenzt. Heute lässt sich hier nahtlos die nachhaltige Ignoranz anschließen. Sie spiegelt sich in einem Materialismus, der immer allumfassender das menschliche Leben durchdringt (Miller 1987, 2005) und wenig Raum für alternative Ideen lässt.

Polanyi wird heute von jenen gern zitiert, die den Staat in der Verantwortung sehen, die Märkte zu regulieren und die Nachhaltigkeit stärker durchzusetzen. »Die Wahrheit ist, dass die moderne Ungleichheit deshalb existiert, weil die Demokratie aus der ökonomischen Sphäre ausgeschlossen bleibt.« (Wilkinson & Pickett 2010, 264) Enden damit alle Nachhaltigkeitsfragen in der Ökonomie schon von Anbeginn an?

Thomas Robert Malthus und die Überbevölkerungsfalle

Immerhin gab es Ausnahmen in der Wirtschaftsgeschichte. Die Frage nach der Nachhaltigkeit wurde bereits für Thomas Robert Malthus angesichts der Überbevölkerung zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Anliegen. Die Malthusianische Falle, auch Bevölkerungsfalle genannt, besteht für ihn darin, dass die Bevölkerung exponentiell zunimmt, die Erträge aus der Landwirtschaft aber nur linear anwachsen. Je schneller die Menschheit anwächst, desto weniger wird sie zu essen haben, das ist die schlichte Formel.

Zunächst ist diese Falle nur regional eingetreten. Zwar zeigen Hungerkatastrophen immer wieder, wie eine solche Falle lokal wirken kann, aber die Industrialisierung der Landwirtschaft hat die Erträge aus landwirtschaftlichem Anbau so gewaltig steigen lassen, dass die kritische Grenze der Überbevölkerung im Grunde bis heute nicht erreicht wurde. Es müsste niemand verhungern, wenn die Lebensmittel fair verteilt werden würden. Aber genau diese oft fehlende Fairness macht den Überlebenskampf in bestimmten Regionen der Welt schwierig und für ein Siebtel der Menschheit heute zum Überlebensproblem.8

Weil die vorausgesagte Katastrophe in den Industrieländern ausblieb, wuchs der Optimismus und der ungebrochene Glaube an den technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt in der Moderne so an, dass die Menschen bei steigendem Wohlstand selbst Schattenseiten in Kauf zu nehmen bereit waren. Dies bedeutete schon früh ein Ende der Nachhaltigkeitsfragen. Das Denken und die Vorstellungen wurden auf Fortschritt hin konfiguriert, ein automatisch ablaufender Prozess, der durch die sichtbaren Erfolge des Fortschritts stets bestätigt werden konnte.

Erst nachdem Müll und Verschmutzung, Treibhausgase und Ressourcenverschwendung in dieser Erfolgsgeschichte offensichtlich wurden, reagierten die Menschen, wenn auch in bisher bescheidenem Ausmaß. Ein Bewusstsein für die Natur und Umwelt sind besonders abhängig vom Druck einer sozialen Gruppe. Das Bewusstsein darüber, dass etwas notwendig ist und gebraucht wird, ein Verständnis für ökologische Konsequenzen und davon abhängige soziale und subjektive Bezugsnormen, können menschliche Verhaltensmuster umso stärker bestimmen, je höher der soziale Druck durch Mehrheiten in der sozialen Gruppe anwächst. Wichtig ist dabei die soziale Bezugsnorm, die früh in der Kindheit gelernt und dann durch ständige Wiederholung, vor allem durch Gewohnheiten, sozial bestätigt wird. So lässt sich beispielsweise die Mülltrennung in Haushalten heute leichter einführen als die Vermeidung von Treibhausgasen in der Lebenswelt, weil sie sozial gewollter und besser kontrollierbar erscheint. Insgesamt lässt sich nachhaltiges Verhalten auf lange Sicht ohnehin nur hinreichend erwerben, wenn es in die Sozialisationsvorgänge mit Belohnungen oder Bestrafungen einbezogen wird. Der nachhaltig sozialisierte Mensch kann dann später leichter erinnern, was er tun sollte und zu unterlassen hat.

Für zukünftige Generationen ist die Welt zersiedelt, verdichtet, besetzt

Wer Privatbesitz an Raum und Immobilien hat, der kann, so lautet die Regel der Moderne bis heute, immer auf Zeit setzen. Die Erfahrung zeigt, dass durch die Verknappung des Raums weltweit, der durch die Zunahme der Bevölkerung entsteht, die Nachfrage steigt und das Angebot sinkt. Gewinne lassen sich heute durch Warten erzielen; die gegenwärtigen Immobilienblasen sind nur der letzte Ausdruck einer solchen Entwicklung. Für das Leben zukünftiger Generationen ist die Welt zersiedelt, verdichtet, besetzt. Dies verändert auch die Lebensräume von Tieren und Pflanzen, es führt zu einer Begrenzung der Artenvielfalt und problematischen Bodenverhältnissen, aber für den Menschen auch zu vererbtem Besitz und damit zu einer Vorverteilung von verfügbarer Welt und Lebenschancen.

Der persönliche Erfolg bestimmt sich durch den Raum, den eine Person, eine Familie im gesellschaftlichen Ganzen einnehmen kann. Der Raum, als Ertragsboden der Landwirtschaft zuvor durch feudale, ererbte Besitzverhältnisse aufgeteilt, wird in eine Ware verwandelt, was nach und nach eine Umverteilung ermöglicht. Der Raum wird zum Grundstück, der Besitz zur Immobilie, das Privateigentum führt in eine Raumaufteilung nach privat und öffentlich. Wer in der ursprünglichen Akkumulation solchen Besitz, der sich durch Beleihung immer auch in Kapital, etwa für die Errichtung von Produktionsstätten, verwandeln ließ, zu eigen wusste, der kann über Generationen hinweg – so zeigt es Piketty (2014) – einen Reichtum anhäufen, den man im späteren Kapitalismus aus eigener Kraft nur selten übertreffen kann. Dies bedingt insgesamt eine Parzellierung der Welt, eine Unzugänglichkeit vieler Orte, der Errichtung von Barrieren und Mobilitätsschranken, vor allem auch die Errichtung sozialer Schranken und Grenzen, die heute verteilungsgerechten Konzepten nach Besitz und gemeinschaftlichen Flächen entgegenstehen.

Der öffentliche Raum, der die Macht und Herrschaft einer Nation bebildern hilft, zeigt sich in der Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft besonders anschaulich in großen Plätzen und monumentalen Bauten, die nicht mehr solitäre Schlösser und Festungen bleiben, sondern ein Ensemble des Erfolgs der verschiedenen Akteure präsentieren. Die moderne Stadt entsteht mit Gebäuden der Administration, Geschäften, Wohnhäusern. Die größten und attraktivsten dieser Städte werden zu den global cities der flüssigen Moderne (vgl. Sassen 2001), in denen die Regierungen sitzen, die Gesellschaft verwaltet wird, das Kapital an die Börse geht, die Ideen und Konzepte der Innovation, der Werbung, des Entertainments entstehen,und wo alle Trends gesetzt werden.

I.1.1.4Intensivierung und Produktivität der Arbeit

Die Arbeitsverhältnisse bilden immer einen Kern der ökonomischen Bedingungen und Entwicklungen. Die Arbeitsverhältnisse sind besonders prägend für die Bewusstseinsbildung der Menschen und damit auch bestimmend für die Möglichkeiten von Nachhaltigkeit. Dabei sind die Arbeitsverhältnisse der Gegenwart mit zahlreichen Lasten aus der Vergangenheit beschwert, wie ich näher im Blick auch auf die Nachhaltigkeit zeigen will.

Arbeitsverhältnisse als Kern der Lebensverhältnisse

Im Alltag der Menschen, in ihrer Lebenswelt, in der Kultur, in den Familien, der Erziehung und Bildung, beim Lernen wie allen Praktiken, Routinen und Institutionen des gesellschaftlichen und individuellen Lebens, gelten eine Irreversibilität der Zeit und ein zunehmend erschlossener Wirtschafts- und Lebensraum, der sich von den kleinen lokalen Einheiten des täglichen Lebens und Arbeitens bis in die fernen globalen und teils auch nur imaginierten Räume einer Fremde öffnen. Die Vorstellungen einer linearen Zeit mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bei gleichzeitiger Möglichkeit, eine allgemeine Zeitrechnung für die Koordination der menschlichen Handlungen durch die Routinen der Zeitabläufe und die Messungen der Zeit mittels Uhren und Zeitplänen zu ermöglichen, sind Grundbedingungen für die Nutzungsmöglichkeiten der Arbeit im Kapitalismus.

Wie war es vorher? Die Arbeitsverhältnisse in den feudalen Strukturen organisierten alle Arbeitszeiten saisonal nach den nutzbaren Tagen, wobei Zeiten frei von Arbeit religiös und ritualisiert legitimiert waren. Das Überleben hing sowohl von den Naturgewalten, der Fruchtbarkeit der Böden, der eigenen Gesundheit und Leistungsfähigkeit als auch von den zu leistenden Abgaben in den feudalen Herrschaftsverhältnissen ab. Obwohl der Mensch nicht im Einklang mit seiner sozialen Lage leben konnte, obwohl Not, Unterdrückung und Fremdbestimmung dominierten, so lebte er halbwegs im Einklang mit der Natur. Er war nur bedingt mächtig, in sie einzugreifen.

Mit der Moderne beginnt sich nach und nach ein neues Natur-, Zeit- und Raumverständnis zu etablieren. Dazu gehören zunächst vor allem folgende Aspekte:

Das aufstrebende Bürgertum hatte im 19. Jahrhundert steigende Bildungsbedürfnisse, die über elementare religiöse Disziplinierung und Einordnung in die Pflichten des Lebens hinausgingen. Nicht nur die Erhöhung der Produktivität der Arbeit bedurfte der Innovationen, sondern auch die Verwaltung der expandierenden Aufgaben eines Warenverkehrs, einer Administration der gesellschaftlichen Organisation auch im Rahmen der Zunahme der Bevölkerung und der Verdichtung der Arbeit in wachsenden Städten, der Entstehung und Entwicklung eines Gesundheits- und Erziehungssystems, dem Aufbau einer Finanzverwaltung, der Polizei und des Militärs. Zugleich entstanden geistige Bedürfnisse, an der Entwicklung eines modernen, aufgeklärten Zeitalters teilzunehmen, wie sie etwa von Wilhelm von Humboldt als Bildungstheorie thematisiert wurden. Dabei blieben die allgemeinen Bildungsvorstellungen allerdings klar klassenbezogen, und es setzte eine Bildungsgeschichte ein, die seither gebildete und bildungsbenachteiligte Gruppen von Menschen unterscheidet.

Zunehmender Wohlstand erzeugt zunehmende Unterschiede

Die Arbeit als Antrieb schafft nicht nur den Reichtum der Gesellschaften, sie erzeugt auch wesentliche Unterschiede. Es setzt ein gesellschaftlicher Differenzierungsprozess ein, der zunächst sowohl die Zeiten nach den Geschlechtern in die Arbeitszeit der Männer und die Familien- und Erziehungszeit der Frauen scheidet, sofern das Überleben nicht beide Geschlechter in einer Arbeit zum Überleben gefangen hält. Zugleich wird die körperliche von der geistigen Arbeit unterschieden: Der körperlichen Arbeit werden die eher einfachen, leichter zu intensivierenden Tätigkeiten zugeordnet, der geistigen Arbeit eine Fülle an qualitätvoll unterschiedlichen Tätigkeiten, deren Wertigkeiten abgestuft werden. Hier wirken vor allem Angebot und Nachfrage mit Erwartungen an die Qualität der Arbeit zusammen.

Begleitet wird die verstärkte Unterscheidung von körperlicher und geistiger, von Männer-, Frauen- und Kinderarbeit mit einer in der Moderne zunehmenden Arbeitsteilung in verschiedene Berufsbilder. Das Berufsbild der Nachhaltigkeit fehlt von vornherein und lässt sich auch bis heute eher als Tätigkeit finden, die die Produktivitätsgrenzen weiter ausreizen soll und die Folgen für die Menschen und die Umwelt eher zurückhaltend erfasst, weil Nachhaltigkeit für eine ferne Zukunft stets sehr unproduktive Kosten in einer auf Gewinne orientierten Gegenwart erzeugt.

Die positiven Erzählungen gehen anders. Sie lauten so: Mit dem Erstarken eines Bürgertums, mit Handwerk, ersten Manufakturen und später Fabriken in einer zunehmenden Industrialisierung entsteht eine Lohnarbeit, die – wie Marx es in seiner Schrift über das Kapital herausarbeitete – doppelt freigesetzt wurde: Einerseits entstammte sie den feudalen Banden einer Herrschaft und Abhängigkeit, andererseits eröffnete sie aber damit auch mehr Teilhabe an der Gesellschaft in dieser neuen Freiheit bis hin zu demokratischen Lebensverhältnissen, wobei die Freiheitsgrade in langen gesellschaftlichen Kämpfen erstritten werden mussten. Die Freiheit wurde zu einem höchsten Wert dieser gesellschaftlichen Entwicklung.

Aber zugleich wurden die nun freien Lohnarbeiter auch von ihrem (meist sehr kleinem) Besitz an Land oder aus ihrer Zugehörigkeit zu Familien, Orten oder Gemeinden »befreit«. Damit standen sie für Arbeiten zur freien Verfügung, die mit einem Vertrag für eine bestimmte Zeit gegen Lohn angeboten wurden. Diese Freiheit war von Beginn an schwierig: Einerseits konnte auf dem nun entstehenden Arbeitsmarkt die Arbeit wie eine Ware angeboten werden, andererseits war es eine Frage von Angebot und Nachfrage, wer diese Arbeit nutzen und dadurch das Überleben der Arbeitenden unter dem Vorbehalt einer Aussicht auf eigene Gewinne sichern wollte.

Ein Gewinn entsteht für den Kapitalisten, wenn er die Lohnarbeit kauft, sie auf seinem Land, in einer Werkstatt oder Fabrik mit Arbeitsmitteln aller Art beschäftigt, um bestimmte Waren herzustellen, und dabei am Ende mehr auf dem Markt, wiederum abhängig von Angebot und Nachfrage, einnimmt, als die Räume und Arbeitsmittel und die Lohnarbeit kosten. Das Bestreben dieses Kapitalisten geht dabei bis heute dahin, diese Kosten möglichst zu senken. Kosten für Nachhaltigkeit gehören stets zu den für die nähere Zukunft unproduktiven Kosten, und es liegt daher nie im Interesse des Kapitalisten, nachhaltig vorzugehen. Sein Interesse richtet sich auf die Kosten, die er gezielt senken kann. Der Gewinn für die Lohnarbeiterinnen muss immer erst erkämpft werden, der erhoffte Aufstieg kann erst dann ansatzweise befriedigt werden, wenn der Wohlstand anwächst und der Staat eine soziale Sicherung übernimmt.

Gewinnmaximierung durch eine Vielfalt von Mehrwerten

Der Kapitalismus setzt auf Kapitalverwertung, wo etwas ist, da soll mehr entstehen. Mehrwerte sind das ständige Ziel, auch wenn sich unterschiedliche ökonomische Theorien fundamental darüber streiten, wie solche Mehrwerte gewonnen werden. Im Ergebnis bleibt für alle ungeachtet der Interpretationen immer ein Resultat übrig: Einige Menschen, die bereits etwas besitzen, lassen anscheinend ihr Geld »arbeiten« oder »anwachsen«. Sie erwirtschaften auf scheinbar geheimnisvolle Weise Gewinne, die sich ständig vermehren. Die Logik kann unterschiedlich rekonstruiert werden, die Welt der ökonomischen Beziehungen durchdringt in der gegenwärtigen longue durée alle Lebensverhältnisse. Für Marx entspringt der Mehrwert aus dem Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital, aber heute gibt es Konstruktionen, die eine Vielfalt der Mehrwertproduktion auch durch Angebot und Nachfrage, Illusionierung, Täuschung und Betrug oder parasitäre Gewinne zulassen (so Reich 2018 a). Hornborg (2019) erklärt sie schlicht zu einer allgemeinen Wirkung des Geldes.

Im Zeitalter der Börsen und Aktienmärkte, der Blasen und Spekulationen, vermehren sich Kapital und Geld deutlich schneller als die materiellen Besitztümer, in die sie verwandelt werden können. Zwischen Geld und Kapital auf der einen und der Natur und materiellen Welt auf der anderen Seite wachsen Widersprüche an. »Die physische Funktionsweise des Energiesystems, zum Beispiel – von der Förderung bis zur Emission von Treibhausgasen –, folgt einer Logik, die ganz anders als die des Kapitals ist. Die Zirkulation von Werten und die Transformation von Gebrauchswerten sind zwei Seiten des doppelten Charakters des kapitalistischen Reproduktionsprozesses. Aber sie sind verschieden. Die eine ist immateriell, die andere materiell und substanziell. Die eine folgt der Logik der Zirkularität (das Kapital muss zum Kapital zurückkehren), die andere hat kumulative Effekte – so ist beispielsweise das CO2 in der Atmosphäre seit dem 19. Jahrhundert rapide angestiegen … Im Bergbau hat die Rohstoffgewinnung einen ›negativen Kumulationseffekt‹: Zuerst kommt der Höhepunkt der Förderung, aber schließlich bleibt nur ein ›schwarzes Loch‹ übrig.« (Altvater 2016, 148)