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»Dies ist kein Buch darüber, wie es ist, Mutter zu sein. Es ist ein Buch darüber, wie es sein könnte, ein Neugeborenes zu sein.« Nach der Geburt ihres Kindes ist die französische Kulturjournalistin Clémentine Goldszal fassungslos: Wieso wissen wir so wenig über den Zustand, mit dem alles beginnt, in dem wir alle uns einst befanden und von dem doch niemand berichten kann? Monatelang beobachtet sie die Frühchen in einem Pariser Kinderkrankenhaus, befragt Expert:innen, begleitet Familien, gräbt sich durch die Kulturgeschichte. Dieses Buch stellt die unerlässlichen existenziellen und ethischen Fragen, die am Anfang des Lebens stehen. »Ein tief beeindruckendes Buch, das mit seiner Analyse eine Wende einleiten kann.« Libération »Eine bemerkenswerte literarische Reportage, die lange nachhallt.« Le Nouvel Obs
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Seitenzahl: 330
Veröffentlichungsjahr: 2025
»Dies ist kein Buch darüber, wie es ist, Mutter zu sein. Es ist ein Buch darüber, wie es sein könnte, ein Neugeborenes zu sein.«
Nach der Geburt ihres Kindes ist die französische Kulturjournalistin Clémentine Goldszal fassungslos: Wieso wissen wir so wenig über den Zustand, mit dem alles beginnt, in dem wir alle uns einst befanden und von dem doch niemand berichten kann? Monatelang beobachtet sie die Frühchen in einem Pariser Kinderkrankenhaus, befragt Expert:innen, begleitet Familien, gräbt sich durch die Kulturgeschichte. Dieses Buch stellt die unerlässlichen existenziellen und ethischen Fragen, die am Anfang des Lebens stehen.
»Ein tief beeindruckendes Buch, das mit seiner Analyse eine Wende einleiten kann.«
Libération
»Eine bemerkenswerte literarische Reportage, die lange nachhallt.«
Le Nouvel Obs
Clémentine Goldszal
Über das rätselhafte Wesen des Neugeborenen
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Für Lucien
»Dass Kinder sterblich sein sollen, das erträgt das Abendland nicht. Das ist das letzte Skandalon.«
Marie Darrieussecq, ›Das Baby‹
»… weil mit jeder neuen Geburt ein neuer Anfang, eine neue Freiheit, eine neue Welt anhebt.«
Hannah Arendt, ›Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft‹
»In den ersten Sekunden war mir, als sei sie unendlich alt. Sie hatte die ganze Menschheit hinter sich, sie war wie eine ägyptische Skulptur, geschliffen vom Strom der Zeit. Und innerhalb von ein paar Sekunden war sie plötzlich sehr jung.«
J.G. Ballard, Interview im ›Sunday Times Magazine‹, 20. März 1988
Lebend geboren zu werden, vollkommen lebend, unbestreitbar lebend, ist nicht allen Menschen gegeben. Manche schwangeren Frauen haben diese Intuition: Die Geburt ist eine Gefahr, Neugeborene sind fragil. Andere Eltern schauen lieber nicht auf die mögliche Komplikation, wahrscheinlich aus Angst, den Schatten eines Dramas auf das im Prinzip freudige Szenario zu werfen.
»Weißt du, ich bin tot geboren«, sagte mir eines Hochzeitsabends mein Freund Zen. Er ist vor dreißig Jahren in Korsika zur Welt gekommen, im sechsten Schwangerschaftsmonat. Ein extrem Frühgeborenes, das mit dem Hubschrauber allein nach Marseille geschickt wurde, von seinen Eltern schon begraben war, wie er sagt, aber überlebt hat. Das Neugeborene, das in jedem von uns steckt, dieses ganz frische Wesen, dieses Inbild von Verletzlichkeit, das wir alle gewesen sind – was hat es erlebt, als es zur Welt kam? Was lebt von dieser Erfahrung in uns weiter? Wo verbirgt sich das Neugeborene, das wir gewesen sind?
Als vor drei Jahren mein Sohn zur Welt kam, wurde er kurz gesäubert und dann seinem Vater auf die Brust gelegt, Haut an Haut. Wir staunten beide verzückt, wie klein und niedlich er war. »Hörst du, er maunzt wie ein Kätzchen!« Beim Ausatmen gab das Baby kleine Laute von sich, die wir nicht als schmerzvoll oder klagend wahrnahmen, sondern eher als erste Zeichen der Kommunikation mit uns. Doch als die Hebamme ein paar Minuten später in den Kreißsaal zurückkam, nahm sie uns das Neugeborene sanft weg. Dieses so anrührende Quietschen war ein »Giemen«, in der Neonatologie ein Zeichen von Atemnot: Beim Ausatmen kommt die Luft nicht gut durch, die Stimmritze verengt sich reflexartig, und das bringt diese allerliebsten Töne hervor. Diese grundlegende Fehldeutung gleich zu Beginn, diese falsche Lektüre eines von meinem eigenen neugeborenen Baby ausgesandten Signals, hat mich geprägt. Es ist nicht so, dass sein Vater und ich dieses Geräusch nicht bemerkt hätten. Wir haben es nur völlig falsch interpretiert.
Mein Sohn ist gewachsen, und mit ihm sind Fragen in mir größer geworden. Wo sollte ich nach den Zeichen suchen, die auf dem Weg vom Neugeborenen zu uns verloren gehen? Denn zuerst sprach mein Baby nicht (und hätte es gesprochen, wäre es dann in der Lage gewesen, einen Erfahrungsbericht zu formulieren?), und als es dann zwei Jahre später zu einem sprechenden Wesen geworden war, schien es schon alles vergessen zu haben von seinem Zur-Welt-Kommen. An seine Geschichte in der ersten Person war nicht heranzukommen. Ich wollte mich von der großen Lücke dieser fehlenden Erzählung nicht geschlagen geben und begann, meine Aufmerksamkeit denjenigen zuzuwenden, die beruflich mit der frühen Kindheit befasst waren und Dinge über das Baby zu wissen schienen, von denen ich nichts ahnte. Sie beherrschten, wie ich bald begriff, diese Hermeneutik des Neugeborenen, die aus einem engmaschigen Netz von klinischen und anderen, feineren, für das unausgebildete Auge noch unsichtbareren Zeichen besteht. Die Kinderärztin, eine Osteopathin, eine Psychomotorikerin, ein befreundeter Kinderpsychiater, sie alle haben irgendwann meinen Sohn angeschaut und es verstanden, in ihm zu lesen, sodass sie Informationen an mich weitergeben konnten, die mir selbst nicht zugänglich waren, aus dem einfachen Grund, dass ich sie nicht wahrnahm.
Was also hat das Neugeborene uns zu »sagen«, wenn man sein Leben damit zubringt, es zu beobachten, es zu pflegen und zu behandeln? Um Antworten auf diese drängenden Fragen zu finden, beschloss ich im Jahr 2023, einige Zeit auf der Neonatologie-Abteilung des Pariser Kinderkrankenhauses HôpitalNecker – Enfants malades zu verbringen, an der Seite extremer Fälle. Sechs Monate lang habe ich die Menschen dort beobachtet, befragt und auch bewundert. An diesem Ort sind die Babys schwer krank und das Personal ist ganz besonders kompetent. Von Anfang an wusste ich, dass ich den Gegenstand all dieser Aufmerksamkeit, das Baby, betrachten wollte, und die Blicke beobachten, die sich auf dieses gerade erst begonnene Leben richteten, auf diese Existenzen, die manchmal in so kleinen, so zarten Körpern konzentriert waren, dass selbst die Eltern bisweilen am Menschsein ihres Kindes zweifeln mochten.
Manche Blicke sind besonders aufmerksam, vor allem die der Krankenschwestern, die mehrmals am Tag mit den Neugeborenen in Berührung sind, sie anfassen, pflegen, und ihre Beobachtungen an das ärztliche Team weitergeben. Die Blicke der Ärzt:innen sind präzise und berücksichtigen sowohl den Körper des Babys als auch die Gesamtheit der durch Laboruntersuchungen, Messungen, Konstanten erhaltenen klinischen Befunde, die jederzeit über seinen Zustand Auskunft geben. Die Blicke der Eltern sind manchmal sehr konzentriert und präsent, manchmal von Angst getrübt, manchmal abgelenkt von den Dingen des Lebens oder der emotionalen Überlastung, Mutter und Vater eines Babys zu werden, das nur so schwach mit dem Leben verbunden ist. In bestimmten Momenten richten auf der Station auch Reinigungskräfte, eine Sozialarbeiterin, eine Psychotherapeutin, Seelsorger:innen verschiedener Religionen, Spezialist:innen aller Art ihre Augen auf diese Babys, die durchgängig in transparenten Bettchen liegen. Diese Blicke sind ihnen aufgezwungen, auferlegt, sie überragen, umhüllen, bedecken und erdrücken die Neugeborenen, ohne dass sie sich ihnen entziehen könnten. Ständig sind diese Neugeborenen zur Schau gestellt. Und was das kranke Neugeborene erlebt, dessen war ich mir sicher, erlaubt Rückschlüsse auf das Erleben seines gesunden Alter Egos. Indem die Neonatologie die Grenzen immer weiter verschiebt und die absolute Verletzlichkeit aus edlen Gründen der Therapie und des Überlebens auf unvorstellbare Spitzen treibt, zeigt sie uns das Neugeborene so, wie es ist: stark und mitleiderregend, Ehrfurcht gebietend, doch leicht zu übersehen, widerstandsfähig, aber noch sehr unzureichend gewappnet für das Leben.
Für meine Untersuchung bin ich all diesen auf das Baby gerichteten Blicke gefolgt, ich habe sie befragt, um zu verstehen, was sie bedeuten, was sie in sich tragen, was sie wissen über das kranke Neugeborene. Von dem Ozean aus, den das Baby darstellt, bin ich Flüssen und Wasserläufen gefolgt, großen Strömen und bloßen Bächen. Das alles, um wieder und wieder, doch jedes Mal mit neuem Wissen, zu diesem gerade erst geborenen Menschen zurückzukehren, um den sich schon eine unglaubliche Vielzahl von Affekten und Äußerungen bündelt.
Sie ist durch die Lüfte auf der Station angekommen, mit dem Hubschrauber aus dem Krankenhaus von Saint-Étienne eingeflogen. Wie ein Ehrengast wird Fiona[1] von einer vierköpfigen Eskorte begleitet, in der jede Person eine Funktion hat: Eine schiebt den Ständer mit den Infusionen, eine andere kümmert sich darum, dass der Monitor (auf dem in Kurven und Zahlen die Vitalparameter angezeigt werden) Schritt hält, eine Dritte bewegt sich im Krebsgang vorwärts, beide Hände in den runden Fenstern des Inkubators, um die Beatmungsmaske auf Fionas Gesicht festzuhalten. Auf dem Dach des durchsichtigen Plastikkastens schirmt eine Decke das Baby vor den grellen Lichtern in den Fluren ab und schützt es zugleich vor fremden Blicken. Obendrauf liegen Akten. In großen braunen Papierumschlägen und farbigen Hüllen ist die ganze Geschichte ihres jungen Lebens festgehalten. Die Milch ihrer Mutter, in Flaschen mit Skalierung und gelbem Deckel abgefüllt, begleitet sie in einer Kühltasche. Ihre persönlichen Sachen – ein Kuscheltier, ein Nachtlicht, ein mit dem Geruch ihrer Mutter imprägniertes T-Shirt – sind am Fußende ihrer kleinen Matratze zusammengerollt. Auf die Intensivstation eingelieferte Neugeborene reisen nicht mit leichtem Gepäck.
Seit der Ankündigung ihrer Aufnahme früher am Morgen wird Fiona erwartet. Wie für den Gast eines Luxushotels wurde ihr Zimmer »gemacht«: gründliche Reinigung, Auffüllen des Pflegewagens der Krankenschwester … Aber bevor sie tatsächlich ankommt, ist Fiona noch nicht Fiona. In der Liste der potenziellen Patienten, für die in der Neonatologie-Abteilung des Hôpital Necker – Enfants malades ein Platz beantragt wurde – die »TGA aus Arpajon«, der »offene Duktus aus Senlis«, die »fünfundzwanzigste Woche aus dem Saint Joseph«, die »Kardiopathie aus dem Kreißsaal« –, ist Fiona die »Retinopathie aus Saint-Étienne«. Mit neunundsiebzig Lebenstagen kommt Fiona zu einer Augenoperation ins Necker. Natacha, die Krankenschwester, die sie in Empfang nimmt, schnieft hinter ihrer Maske und hustet in die Ellenbeuge. Ihre Augen glänzen fiebrig, ihre Stimme ist heiser. Sie will aber das Intensiv-Team nicht hängen lassen, das schon am Anschlag arbeitet.
Natacha ist fünfunddreißig und vor drei Jahren aus Lyon hergezogen, um im Necker zu arbeiten. Ihre Mutter brach das Medizinstudium im dritten Jahr ab, als sie mit ihr schwanger wurde, und studierte schließlich Jura, aber Natacha wollte schon immer »Menschen helfen«. Ihr gefällt die doppelte Aufgabe, Eltern und Babys zu betreuen, die im Zentrum ihrer Arbeit steht. Sie mag die technische Pflege, den schnellen Rhythmus der Intensivstation, wo alles sich von jetzt auf gleich ändern kann, das wenig hierarchische Verhältnis zu den Ärzt:innen, die sich hier, mehr als anderswo, stark auf die Krankenschwestern verlassen, die sie über den Zustand der Babys und ihrer Familien auf dem Laufenden halten. Sie ermuntert die Mütter und Väter, sich so weit wie möglich an der Pflege ihres Kindes zu beteiligen, stellt sich in ihrem Kittel neben den Brutkasten, »um sie zu animieren«, lässt sie die Windel wechseln, das Baby waschen … Lauter banale Handlungen, die jedoch einschüchternd sein können, wenn ein Kind mit Maschinen verbunden ist, die lospiepen, sobald ein Sensor verrutscht. Das Verantwortungsbewusstsein von Natacha und dem ganzen Team ist das Lebenselixier, das die Abteilung am Laufen hält. Alle hier machen Überstunden, aus Pflichtgefühl den Patienten wie auch den Kolleginnen gegenüber. Die Arbeitslast ist hoch, doch das ist der Dringlichkeit der Situationen geschuldet. Was hier geschieht, rührt an grundlegende Fragen des Menschseins. Der deutsche Philosoph Hans Jonas unterstrich in Das Prinzip Verantwortung die »archetypische Evidenz des Säuglings für das Wesen der Verantwortung«. Er schrieb über das Neugeborene, dass sein »bloßes Atmen unwidersprechlich ein Soll an die Umwelt richtet, nämlich: sich seiner anzunehmen«.[2] Und Fiona atmet.
Bevor Fiona auf der Station ankommt, sind nur wenige Informationen verfügbar: Atmet sie alleine oder braucht sie einen Respirator? Trinkt sie die Milch ihrer Mutter oder muss man ihr in der Milchbank Frauenmilch anreichern lassen? Wie viel wiegt sie, wie groß ist sie? Welche Pflege wird sie brauchen? Im Zweifel wird ihr Platz für alle Eventualitäten eingerichtet. Die Vorbereitung nimmt über eine halbe Stunde in Anspruch, und alle verfügbaren Krankenschwestern gehen der zuständigen Kollegin zur Hand. Es werden jeden Tag mehrere neue Patienten aufgenommen, aber es ist jedes Mal ein Ereignis, eine riskante Etappe in ihrem jungen Leben.
Vor ihrer Aufnahme ist alles in der Schwebe. Dann sind sie da. Noch in der Geborgenheit des Inkubators, vor fremden Blicken geschützt, doch schon im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit. Im Zuge der Übergabe tauscht sich die Ärztin, die die Patientin übernehmen wird, mit ihrem Kollegen vom Transportdienst aus.
Fiona ist das, was man hier ein »Extremfrühchen« nennt: Ihre Geburt im sechsten Schwangerschaftsmonat, also drei Monate vor dem errechneten Termin, macht eine lange, aufwendige medizinische Betreuung erforderlich. Neun Monate, das ist die Zeit, die es braucht, um ein Baby »fertigzustellen«. Das entspricht vierzig Wochen ab dem ersten Tag der letzten Regelblutung. Üblicherweise werden die beiden Wochen zwischen der letzten Menstruation und der Befruchtung in die Schwangerschaftsdauer miteingerechnet. Das genaue Schwangerschaftsalter wird durch eine Ultraschalluntersuchung zwischen der zehnten und zwölften Schwangerschaftswoche bestimmt, bei der ihr Beginn exakt datiert werden kann. Ab der 37. Woche nach der letzten Regel wird der Fötus als »reif« betrachtet: Der Reifungsprozess seiner Organe gilt als abgeschlossen, auch wenn er noch weitergeht (die Lunge etwa entwickelt sich bis zum Alter von zwei Jahren fort). Ab der 35. Woche spricht man von einer »späten Frühgeburt«. Von der 32. bis zur 34. Woche ist es eine »mäßige Frühgeburt«. Von der 28. bis zur 31. Woche plus sechs Tage handelt es sich um eine »frühe Frühgeburt«, von der 26. bis zur 28. plus sechs Tage um eine »sehr frühe Frühgeburt«. Bei den Babys, die vor dem sechsten Schwangerschaftsmonat geboren werden (also vor der 25. Woche plus sechs Tage), ist man im Bereich des »Extremen«. Das französische Gesetz setzt die Grenze der Lebensfähigkeit bei 22 Wochen und einem Geburtsgewicht von 500 Gramm an, aber die Ärzt:innen halten es für »vernunftwidrig«, Babys von unter 23 Wochen zu reanimieren. In den Vereinigten Staaten sind schon Frühgeborene mit 22 Wochen reanimiert worden. Japan hat die höchste Wiederbelebungs- und Überlebensrate mit 22 Wochen, und 2021 konnte ein Baby, das bei der Geburt 268 Gramm wog, nach fünf Monaten aus dem Krankenhaus entlassen werden. Seinem Arzt zufolge ist es das »kleinste Neugeborene der Welt, das je nach Hause geschickt wurde«.[3]
In Frankreich gilt die Periode zwischen der 23. und Anfang der 25. Schwangerschaftswoche in der Regel als »Grauzone«. Die Vorgehensweise richtet sich dann nach den Bedingungen der Geburt (der Klinik, in der die Geburt stattfindet, der medizinischen Vorgeschichte der Mutter, dem infektiösen Kontext, den Gründen der vorzeitigen Wehentätigkeit …), nach dem fetalen Wachstum (Babys, die für ihr Schwangerschaftsalter zu klein sind, haben eine ungünstigere Prognose). Die Behandlung kann »aktiv« sein oder »palliativ« (von der Académie nationale de médecine definiert als Gesamtheit der »aktiven, kontinuierlichen Pflegemaßnahmen zur physischen, psychologischen, spirituellen und sozialen Begleitung der Patienten und ihres Umfelds«[4]). Statistiken haben gezeigt, dass frühgeborene Mädchen sich in der Regel besser schlagen als Jungen, ebenso wie frühgeborene Babys afrikanischer Herkunft. Seit ein paar Jahrzehnten hat sich die Medizin fast zu schnell entwickelt und Unvorstellbares denkbar gemacht. Indem sie die bis vor Kurzem allgemein anerkannten äußersten Grenzen des Lebens herausfordert, stellen sich bei der Behandlung der Neugeborenen tiefgreifende technische und metaphysische Fragen: zu den grundsätzlichen Grenzen der Wissenschaft natürlich, aber auch zu dem oft notfallmäßig einzuschätzenden Nutzen der Wiederbelebung eines so kleinen Babys im Verhältnis zu dem – bis heute immensen – Risiko, dass es mit schweren Behinderungen überlebt. Oder auch zu der Spannung zwischen dem Auftrag der Ärzt:innen, »alles zu tun, was sie können«, und dem Gebot, ihre Macht im Zaum zu halten, wenn die Ethik es erfordert.
Nachdem Fiona seit ihrer Geburt in einem Krankenhaus in der Loire gelegen hatte, wurde sie zu einer heiklen, hier jedoch recht banalen Operation ins Hôpital Necker verlegt. Die Frühgeborenenretinopathie ist eine direkte Folge der Frühgeburtlichkeit, und alle vor der 31. Schwangerschaftswoche oder mit einem Gewicht von unter 1250 Gramm geborenen Babys werden systematisch darauf hin untersucht. So wurde auch Fiona in Saint-Étienne einer Augenspiegelung unterzogen, einer Untersuchung des Augenhintergrunds, um eventuelle Netzhautveränderungen festzustellen, die auf eine übermäßige Gefäßbildung zurückgehen und zu einer Netzhautablösung führen können. Die Untersuchung ist invasiv, unangenehm und für die instabilen Organismen der winzigen Babys nicht ohne Risiken. Zur Vorbereitung müssen mittels Augentropfen die Pupillen geweitet werden, was die Neugeborenen vorübergehend besonders lichtempfindlich werden lässt. Diese einleitende Maßnahme kann für sich allein schon »einen Stress bewirken, der genügt, um schwerwiegende Komplikationen nach sich zu ziehen«, wie 2020 eine Studie der französischen Gesellschaft für Augenheilkunde nachwies.[5] Auf der Station bedeckt eine Maske die Augen der »geweiteten« Patienten, während die Augenärzte von Zimmer zu Zimmer gehen, um die angeordnete Untersuchung durchzuführen. Die Behandlung richtet sich dann nach der genauen Lokalisation der Netzhautschäden und dem Allgemeinzustand des Babys. Die intravitreale Injektion eines Antikörpers direkt ins Auge kann das übermäßige Wachstum dieser schädlichen kleinen Gefäße stoppen. Sie wird für die respiratorisch instabilsten Kinder bevorzugt, da sie ohne Vollnarkose durchgeführt wird und diesen Babys die damit einhergehende Belastung erspart. In den schwersten Fällen, wie bei Fiona, muss das Auge operiert werden, das Kind muss betäubt und dem physiologischen Stress einer Narkose, einer Intubation und gegebenenfalls einer Verlegung in ein Krankenhaus mit den entsprechenden Kompetenzen ausgesetzt werden. Etwa 30 % der vor der 31. Schwangerschaftswoche geborenen Babys entwickeln eine Retinopathie und etwa 5 % benötigen einen Eingriff. Das Hôpital Necker ist ein Kompetenzzentrum für die Behandlung dieser Erkrankung.
Die wegen einer schwerwiegenden Retinopathie operierten Kinder werden manchmal ihr Leben lang wie durch einen Tunnel sehen. Wenn diese direkte Folge der extremen Frühgeburtlichkeit jedoch nicht behandelt wird, kann sie noch viel schlimmere Probleme nach sich ziehen, bis hin zur Erblindung. »Es stimmt, dass wir das Risiko eingehen, die Babys zu strapazieren«, räumt Olivier ein, einer der jungen Ärzte der Station. Ein paar Wochen zuvor hatte ich dem Chefarzt eine einfache Frage gestellt: »Lohnt sich das?« Er sah mich ehrlich verblüfft an, fassungslos darüber, dass ich nach mehreren Wochen hier noch nicht verstanden hatte, wofür er und sein Team Tag und Nacht kämpfen: dafür, dass diese Kinder leben, ja, aber dass sie gut leben. »Die Retinopathie ist etwas sehr Ernstes. Sie können blind werden!«, antwortete er mir. Stevie Wonder und der französische Sänger Gilbert Montagné wurden Anfang der 1950er Jahre zu früh geboren und verloren aufgrund einer Neugeborenenretinopathie ihr Augenlicht – der Sauerstoff, der in zu hoher Konzentration in ihren Brutkasten geleitet wurde, beschädigte die kleinen Gefäße ihrer Netzhaut. Wären sie heute geboren worden, hätte ihr Schicksal anders ausgesehen. Jahraus, jahrein schreitet die Wissenschaft voran; der Fortschritt ist ein Pfeil, der viele Probleme löst, auf seinem Weg jedoch Kollateralschäden verursacht.
Jede medizinische Maßnahme bedeutet ein Risiko. Medikamente können Allergien, unerwartete Reaktionen und Nebenwirkungen auslösen, sogenannte iatrogene Störungen, wenn die therapeutischen Maßnahmen in die Organismen eingreifen, um sie neu zu ordnen. Noch mehr als anderswo geht in der Neonatologie jede Verordnung mit einer ganzen Reihe von Vorsichtsmaßnahmen und Gegengiften einher. Das Prostaglandin, das man Neugeborenen mit Herzproblemen intravenös verabreicht, wird mit einer Paracetamol-Dauergabe kombiniert, um seine schmerzhaften Nebenwirkungen zu lindern. Das Paracetamol greift wiederum die Leber an. Das Ketamin, mit dem etwa intubierte Kinder betäubt werden, versetzt sie manchmal in so tiefen Schlaf, dass sie vergessen zu atmen oder ihr Herzschlag sich bedrohlich verlangsamt. Deshalb kombiniert man es mit Koffein, um sie anzuregen. Während der Intubation können die Zahnknospen beschädigt werden, die sich beim Fötus ab dem zweiten Schwangerschaftsmonat bilden, und in der Kindheit kieferorthopädische Probleme nach sich ziehen.
Beim Legen eines Venenkatheters, bei den verschiedenen Blutproben, die entnommen werden, um dieses oder jenes richtig zu dosieren, bei den Operationen, für die kleine Hautgefäße durchtrennt werden, um an die zu reparierende Zone zu gelangen, fließt Blut. All diese kostbaren roten Tropfen, die Mulltupfer und ärztliche Hände beflecken, wenn die zarte Haut durchstochen wird, bedeuten auch einen Verlust des so knappen Blutes. Die wiederholten Blutentnahmen, die unverzichtbar sind, um den Zustand der Neugeborenen zu beurteilen, ziehen Anämien nach sich, denen man entgegenwirkt, indem man ihnen Eisen oder Transfusionen verabreicht. Das Blutvolumen eines frühgeborenen Babys beträgt etwa 100 Milliliter pro Kilogramm (gegen etwa 80 Milliliter beim reifen Neugeborenen). Das ist der Inhalt einer kleinen Kaffeetasse.
Pflasterstreifen reißen bei Frühgeborenen leicht die Haut ab (deshalb zieht man auf der Station selbsthaftende Fixierbinden vor), der Stress, den die Krankenhausumgebung verursacht, prägt ihr im Aufbau begriffenes Gehirn, der Schmerz bewirkt Entwicklungsschäden, die mit der Unreife der Hirnstrukturen zusammenhängen. Auch die verabreichten Medikamente können die Nervenverbindungen verändern. Eine Krankenschwester erzählt mir von einem fünf- oder sechsjährigen Kind, das nach seiner Geburt viele Wochen lang Adrenalin verabreicht bekommen hatte, um sein Herz zu stimulieren. Später habe es nicht anders gekonnt, als sich immer wieder in Gefahr zu bringen. Es sei so lange von Stühlen und Tischen gesprungen, bis es sich den Fuß oder den Arm gebrochen habe – mit der Folge, dass seine Eltern der Misshandlung verdächtigt worden seien.
1970 landete der amerikanische Psychologe Arthur Janov mit seinem Buch Der Urschei einen Millionenerfolg und inspirierte damit Unmengen von Fans, darunter John Lennon, die sich seiner »Urschreitherapie« unterzogen. Er brachte darin unter anderem vor, dass ein Baby, das unter der Geburt zu sehr gelitten hat oder in der postnatalen Phase nicht angemessen versorgt wurde, ein höheres Risiko aufweise, im Erwachsenenalter verschiedene Störungen auszubilden: Schizophrenie, Suchtverhalten, Schuppenflechte, sexuelle Probleme und … Homosexualität (!).[6] Diese abstruse Interpretation der Langzeitfolgen dessen, was dem Baby bei der Geburt »angetan« wird, deckt sich jedoch teilweise mit durch Studien belegten Daten über das erhöhte Vorkommen von Verhaltensauffälligkeiten zum Beispiel bei ehemaligen Frühgeborenen.
Was also tun? Es sein lassen? Oder es trotzdem versuchen? Abgesehen von dem Neugeborenen selbst belastet die medizinische Behandlung auch das Umfeld, die Bindung zu seiner Mutter, seinem Vater, seinen Geschwistern und seiner erweiterten Familie. Eine vom französischen Forschungsinstitut Inserm durchgeführte Studie über »verdächtige Todesfälle von Säuglingen im ersten Lebensjahr« zeigte, dass 22 % der Babys mit Schütteltrauma zu früh geboren worden waren (während die Frühgeborenenrate in Frankreich insgesamt 7,2 % beträgt). »Die Frühgeburtlichkeit ist aufgrund der daraus resultierenden Krankenhausaufenthalte der Neugeborenen und der möglichen narzisstischen Kränkung der Eltern einer der Hauptrisikofaktoren für Kindesmisshandlungen. Sie gehört zu den wichtigen Ursachen von Bindungsschwierigkeiten«, ist in dem Bericht zu lesen.[7]
In der Wissenschaft wird alles immer wieder abgewogen, infrage gestellt, die Praxis weiterentwickelt. In der harten Wirklichkeit eines Krankenhauszimmers, einem gefährdeten Leben gegenüber, das es zu unterstützen gilt, muss man sich entschließen. Man versucht sein Bestes und sieht dann zu, wie man die Dinge zurechtrückt. Die Ärzt:innen bringen ihr Berufsleben damit zu, Schichten zu schieben, nachts und am Wochenende, um sich dem Rhythmus ihrer Patienten anzupassen, die alle drei Stunden aufwachen. Die Krankenschwestern schmieren sich ihre vom Desinfektionsmittel ausgetrockneten Hände mit Feuchtigkeitscreme ein. Sie gehen zu Physiotherapeuten und Osteopathen, weil ihr Rücken steif und ihre Beine angeschwollen sind vom stundenlangen Auf-der-Stelle-Treten an den Inkubatoren. Ihre Widerstandsfähigkeit beeindruckt mich. Eines Tages betrete ich ein Zimmer und finde zwei Krankenschwestern über ein Baby gebeugt vor. Die Dritte sitzt mit angezogenen Beinen auf dem Boden, den Kopf zwischen den Knien. Alizia ist erst seit Kurzem aus dem Mutterschutz zurück, sie hat ihr drittes Kind bekommen (das sie noch stillt) und ist »zusammengeklappt«. Ihre Kolleginnen lachen darüber. Ich weniger. Eine Viertelstunde später hat sie einen Happen gegessen und ist wieder auf den Beinen. Dieser Arbeitsalltag, in dem sie tags schlafen, zwölf Stunden durcharbeiten, unermessliche Verantwortung auf den Schultern tragen, hinterlässt Spuren. Diese hoch spezialisierten Krankenschwestern haben ein besonderes Temperament, voller Elan, sorgfältig, tatkräftig. »In der Neonatologie gibt es viele technische Pflegehandlungen, man muss die ganze Zeit hellwach sein, denn eine Situation kann in jedem Moment umschlagen. Es kommt vor, dass ein Baby sehr schnell abbaut«, erklärt mir Natacha. Keine macht einen Hehl aus ihrer Adrenalinsucht, auch wenn die ständige Wachsamkeit sie auch ermüdet und verschleißt. Die Intensivpflege ist ein Bereich der Medizin, in dem die Widerstandskraft des Körpers und des Herzens ständig auf die Probe gestellt wird. Manche halten einfach nicht durch, auch wenn es auf der Station eine Psychologin gibt, die für das geistige Wohl der Pflegenden zuständig ist – diese können sie jederzeit ansprechen, sei es in ihrem Büro, sei es auf dem Flur zwischen zwei Pflegerunden oder im Ruheraum, wenn der Tag oder die Nacht ruhig ist. Der Arbeitsrhythmus, die Größe der Aufgabe, die Tatsache, dass sie unter manchmal schwierigen Bedingungen arbeiten müssen, die sie zwingen, Dinge zu tun, von denen sie wissen, dass sie die Babys verletzen … Wer nicht dafür geschaffen ist, geht schnell wieder. Der Krankenstand ist hoch, Kündigungen sind häufig. Auch diesen Frauen möchte ich Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie nicht als »Heldinnen« beschreiben, was sie nicht sind, nicht sein wollen und was zu sein man auch nicht von ihnen verlangen sollte, sondern sie so zeigen, wie sie sind: zumeist junge Frauen, die jeden Tag beginnende Leben in den Händen halten und stets ein tröstendes Wort auf den Lippen haben, um die verzagten Eltern aufzurichten.
An ihrer Seite, auf ihren Spuren, suche auch ich nach meinem Platz. Ich bemühe mich, so diskret zu sein wie »eine Fliege an der Wand«, wie die Angelsachsen sagen. Eine Fliege an der Wand sieht man nicht, doch sobald sie losfliegt, stört sie, zieht die Blicke auf sich, und man ist versucht, sie zu verscheuchen. Auf dieser engen Station, wo von den Eltern bis zu den Pflegenden alle über Platzmangel klagen, ist mir der Raum, den mein Körper einnimmt, wohl bewusst. In den Zimmern stelle ich mich in der Regel in eine Ecke, zwischen Waschbecken und Pflegewagen. Ich bin ständig auf der Hut, um nicht im Weg zu sein, nicht mit dem Ellenbogen gegen ein Beatmungsgerät zu stoßen, das rege Hin und Her der Pflegenden nicht aufzuhalten, und gleichzeitig darum bemüht, gut sehen und hören zu können. Es gelingt mir ganz gut, ich störe nicht allzu sehr, glaube ich.
Mein wichtigstes Werkzeug ist mein Blick, aber das Leid der Krankenschwestern ist, ein bisschen wie das der Babys, mit bloßem Auge schwer auszumachen. Sie teilen es untereinander, sind jedoch Meisterinnen darin, sich nichts anmerken zu lassen. Von ihren Durchhängern erzählen sie mir erst, wenn sie vorbei sind. Sie sind stolz und zurückhaltend. Sie beklagen sich nicht oft über das, was sie wirklich verletzt.
Eines Tages erklärt mir der Chefarzt, dass die schmerzhaften Pflegemaßnahmen, die etwas eiligen Bewegungen, der allgemeine Geräuschpegel der Station viel zu laut sind für diese hochsensiblen Patienten, dass all diese »Angriffe«, die ich sehe oder zu sehen glaube, nur den sichtbaren Teil dessen bilden, was die Pflege ist. Die Umgebung ist äußerst wichtig, doch die Angriffe, die ihn am meisten beunruhigen, sind anderer Art: »Die Infektionen, die Entzündungen, die toxischen Wirkungen von fehldosierten Medikamenten – die Konsequenzen für die Entwicklung der Babys sind bekannt. Man muss jeden Augenblick auf der Hut sein vor einer Hyperoxie (weswegen die Sauerstoffsättigung kontinuierlich überwacht wird), muss Unterernährung, aber auch Überernährung vorbeugen, weder zu viel noch zu wenig beatmen …« Eine kürzlich auf der Station durchgeführte Studie hat ergeben, dass 10 % der termingerecht geborenen Kinder, die in der Neugeborenenperiode einer Operation am Verdauungstrakt oder am Thorax unterzogen wurden, mit zwei Jahren eine Entwicklungsstörung aufweisen. Ist es für die Ärzt:innen der Station deprimierend, mit den Konsequenzen ihrer Handlungen konfrontiert zu werden? »Nein, es ist wichtig, sie zu kennen, um sich verbessern zu können«, sagt er. »Und 90 % geht es sehr gut, das ist beruhigend.«
Während Fionas Geschichte mündlich weitergegeben wird – parallel zur Übergabe der Dokumente, eines bereits dicken Stapels für dieses etwas über zwei Monate alte kleine Mädchen (dessen »korrigiertes« Alter jedoch noch im negativen Bereich liegt, wenn man es vom ursprünglich vorgesehenen Geburtstermin her betrachtet) –, wird schließlich der Plexiglaskasten geöffnet, von dem man fast vergessen hatte, dass er ein Baby enthielt, ein Kind, ein kleines Mädchen, einen Menschen. Fiona wirkt wohlgenährt, auf ihren Wangen zeichnen sich die Spuren der Sauerstoffmaske ab, die mit Bändern auf ihrem Gesicht befestigt war. Was sie gerade hinter sich hat, ist keine Reise. Es ist eine Verlegung, ein Umzug, ein Hubschraubertransport, eine Überführung. Die Krankenschwestern bemerken sofort ihr »Frühchengesicht«: Extrem Frühgeborene werden wochen- oder monatelang parenteral (per Infusion) ernährt, sie bekommen eine reichhaltige Nahrung, was den Extremfrühchen ein wiedererkennbares Aussehen verleiht, wie man mir erklärt, einen birnenförmigen Kopf und etwas hervorstehende Augen. Manche werden diese Pausbacken mehrere Jahre nach ihrer Entlassung behalten. Die Abdrücke auf Fionas Gesicht werden sofort als Anzeichen eines Ödems gedeutet. Man macht sich Gedanken über ihren »dicken Bauch«. Ich hatte ihren rundlichen Körper als Zeichen eines eher robusten kleinen Mädchens gesehen, da es fülliger war als andere. Das Pflegeteam wertet ihn als Alarmzeichen. Die Welt der Neonatologie ist für Nichteingeweihte unlesbar. Wenn ich mich freue, ein Kind zappeln zu sehen (es ist lebendig!), machen sie sich Gedanken über seine Hypertonie (möglicher Hinweis auf neurologische Störungen) oder sein Unbehagen. Und ein Baby, das scheinbar friedlich schläft, ist manchmal in Wirklichkeit hypoton und leidet an einer schweren genetischen Krankheit.
Ich werde den Moment nie vergessen, als Saeed, aus seinem Inkubator heraus, seine mit langen schwarzen Wimpern gesäumten Augen in meine versenkte. Ich dachte spontan, dass es ihm gut genug gehen musste, um einen Kontakt herzustellen. Doch seine weitere Geschichte, durchsetzt von Besuchen der mobilen Einheit für Schmerz und Palliativpflege, die mit den Ärzt:innen der Station über die Möglichkeiten beratschlagte, sein »Unbehagen« zu lindern, lässt mich denken, dass er vielleicht in einer solchen Notlage war, dass er »sich aufspaltete« – ein Abwehrmechanismus, der der von Traumaopfern beschriebenen Dissoziation ähnelt. Ohne zeitliche Orientierungspunkte, ohne das Wissen, dass all das vorübergehen wird, weil es eine Zukunft gibt, leidet das Baby in einer unendlichen, absoluten Gegenwart. »Die Aufspaltung [Dismantling] setzt die Intensität der Reize herab, indem sie die verschiedenen Sinnesempfindungen voneinander trennt und aufsplittert«, schreibt die Psychoanalytikerin Annik Beaulieu. »Klinisch kann sich das zum Beispiel in einem visuellen Festklammern durch den Blick ausdrücken.«[8] Anfang Oktober hatte Julie, die Krankenschwester, die sich um Saeed kümmerte, Guillaume herbeigerufen, den Assistenzarzt. »Es geht ihm überhaupt nicht gut. Er ist steif und fühlt sich unwohl, sobald man ihn abdeckt, er ist reizbar, sein Po ist wund. Er weint und ist unruhig. Er reißt sich die Maske ab, und dann fällt seine Sättigung, er hat nicht mehr genug Sauerstoff im Blut.« Saeed war seit zehn Wochen auf der Station. Er war fünf Mal intubiert (also für diese Maßnahme betäubt und wieder geweckt) worden, er litt wegen der Schmerzmittel, die ihm über einen längeren Zeitraum gespritzt worden waren, unter schweren Entzugserscheinungen. Saeed war ein schrecklich liebenswertes Baby, dessen Eltern kein Französisch sprachen. Er verbrachte lange Wochen auf der Station, bis er dort starb. Wenn sein verzweifeltes Weinen unerträglich wurde, kam es vor, dass die Krankenschwestern sich vor Mitleid (oder Zuneigung) erweichen ließen und ihn auf den Arm nahmen.
Nach ein paar Tagen mit »wundem Po« war Saeeds Gesäß so rot und offen, dass gehandelt werden musste: In seinem Brutkasten wurde er mit nacktem Hintern auf den Bauch gelegt, die untere Körperhälfte von einer Art Tunnel mit einem blassblauen Tuch darüber bedeckt. »Um seine Intimsphäre zu wahren«, erklärte mir seine Krankenschwester. Im Bericht über Kinderrechte, den die französische Instanz für Bürgerrechte Défenseur des droits2022 unter dem Titel Privatleben: ein Recht für das Kind herausgegeben hat, lese ich, dass »das Privatleben alles umfasst, was mit der Intimsphäre jedes Einzelnen zu tun hat, was man nicht fremden Blicken auszusetzen wünscht, was nur einem selbst gehören sollte, auch wenn man ein Kind ist«.[9] Bei der Lektüre dieser Zeilen brennen mir die Augen, und ich frage mich, inwieweit mein eigenes Vorgehen übergriffig ist. Ich muss akzeptieren, dass mein naturgemäß forschender Blick noch hinzukommt zu all denen, die aus löblichen Gründen bereits versuchen, das Geheimnis der Babys auf der Neonatologie-Abteilung zu durchdringen. Durchdringen im wörtlichen Sinne: Jeden Tag wird ihr Aussehen auf der Suche nach klinischen Zeichen begutachtet, aber auch ihr Körperinneres wird ohne größere Skrupel unter die Lupe genommen. Das medizinische Auge durchbohrt sie, ohne sie auch nur vom Fleck bewegen zu müssen. Die Ärzt:innen fahren das Ultraschallgerät bis in ihr Zimmer, um sich zu vergewissern, dass der Katheter, den sie gerade gelegt haben, gut in den Gefäßen positioniert ist, der Röntgenassistent kommt mit dem mobilen Gerät, um Aufnahmen zu machen. Und wenn eine Krankenschwester Mühe hat, für eine Blutabnahme eine Vene zu finden, greift sie manchmal zum Diaphanoskop, dem kleinen Gerät, mit dem eine Hand oder ein Handgelenk durchleuchtet werden kann, um die zarten Venen des Babys sichtbar zu machen.
Drei, zwei, eins, Fiona ist fast bereit für den großen Sprung, den der Wechsel vom Transportinkubator in den ihrer neuen Station darstellt. Für diese so fragilen Babys ist jede Veränderung destabilisierend, gefährlich. Zusammen mit Fiona müssen alle Plastikschläuche bewegt werden, die sie mit Medikamenten versorgen, ernähren, beatmen. Dafür braucht es vier, sechs, acht Hände. Als das Beatmungsgerät abgenommen wird, macht das Ventil der Sauerstoffflasche, die die Sanitäter wieder mitnehmen werden, ein lautes »Paff«, das mich jedes Mal zusammenzucken lässt. Der noch nicht angeschlossene Schlauch pustet mehrere Sekunden lang Druckluft auf den unteren Teil des Inkubators. Nach der eines Hotels würdigen Sorgfalt geht es nun an die grobe Arbeit der Verlegung: von den Luxuskabinen auf dem Oberdeck ist man in den Maschinenraum der Titanic hinabgestiegen, von der gedämpften Atmosphäre zum Dröhnen der Technik, vom Sanften zum Groben. Der untere Teil der Inkubatoren auf der Station besteht aus dem gleichen körnigen grauen Plastik wie die Klapptische von Flugzeugsitzen. Die Wände des oberen Teils sind aus transparentem Plastik, doch im Bauch dieser Maschinen verbirgt sich Spitzentechnologie. Eine eingebaute Turbine erlaubt es, die Temperatur gleichmäßig zu verteilen, wenn die Heizfunktion eingeschaltet ist. Der Radiologe, der sein mobiles Gerät von Zimmer zu Zimmer rollt, um Bilder vom Körperinneren der Babys zu machen, kann seinen Detektor in eine Lade unter dem Bett schieben; die schwarze Platte erzeugt direkt digitale Bilder statt der klassischen, negativen Röntgenaufnahmen, die platzraubend und nur im Gegenlicht lesbar sind. An den drei zugänglichen Seiten der durchsichtigen Kammer befinden sich kleine runde Fenster, durch die man das Baby erreichen kann. Frühgeborene werden in der Regel, zumindest für ein paar Wochen, in diesem technisierten, seelenlosen Uterusersatz weiter »ausgebrütet«. Übrigens wurde der Inkubator lange auch als »Isolette« bezeichnet, wobei das verniedlichende Suffix die fatale Kehrseite der rettenden Apparatur kaum verbergen kann: Für Erwachsene ist die Isolation im Gefängnis eine Strafe und wird auch als solche erlebt. Die Pflegenden überwachen und kontrollieren mithilfe von Reglern, die sich an der Rückseite der Einheit befinden, Lufttemperatur und -feuchtigkeit. Es kommt vor, dass die feuchte Luft, in der die winzigen Babys liegen, die Wände beschlagen lässt und eine zusätzliche Sichtbarriere bildet, die man, um das Kind sehen zu können, mit der Hand oder einem Lappen wegwischen muss, so wie man es frühmorgens mit der Windschutzscheibe eines Autos tut. »Das Beste nach dem Mutterleib«, wirbt der deutsche Inkubatoren-Hersteller auf seiner französischen Webseite.
Für Fiona kann das Aufnahmeritual beginnen. Der Arzt verschwindet, die Krankenschwestern legen ihr eine neue Magensonde. Der dünne Plastikschlauch wird zwischen die zarten Lippen geschoben, die sich eigentlich um eine Brustwarze schließen sollten, aber seit ihrem ersten Luftkontakt nichts anderes kennen als die unvermeidliche Grobheit des medizinischen Materials, und weiter bis in den Magen hinab. Dann muss die richtige Maskengröße für die Sauerstoffzufuhr gefunden werden. Diese winzigen Masken aus weichem Plastik sind wie Supermarktschnuller verpackt, in bunten Plastikschalen mit kindlichen Motiven, grüne Schildkröte oder lila Schmetterling. Um wem zu gefallen? Um was zu beschönigen? Es mutet ungeheuerlich und absurd an, diesen technischen Hilfsmitteln die Bilderwelt der frühen Kindheit aufzustülpen. Etwas, über das man weinen könnte, so sehr erinnert es an all das, was Fiona vorerst entbehren muss.
Als schließlich alles eingerichtet ist, streckt sich Fiona und zappelt mit Armen und Beinen. Ihre Mutter, die nicht mit ihr in den Hubschrauber steigen durfte, kommt vom Bahnhof an. Mit ihrer großen Metallbrille und ihren kurzen sommerlichen Shorts muss sie im Zug als eine junge Reisende wie jede andere durchgegangen sein. Sofort steckt sie die Hände durch die Fenster des Inkubators und legt sie auf ihr Kind, es ist eine geradezu sakrale Geste. »Es muss doch jemand da sein, um ihr beizustehen«, sagt sie. Sie ist fünfundzwanzig, hat im September geheiratet, ist im Februar mit Zwillingen schwanger geworden und sollte am 25. November entbinden. Wir haben den 20. Oktober, und sie ist schon seit zweieinhalb Monaten Mutter zweier Mädchen. Während der Schwangerschaft ging erst alles gut, und dann nichts mehr. Ein Riss in der Fruchtblase, ein Besuch in der Notaufnahme der Geburtsklinik zu einem Zeitpunkt, als die Kinder sich noch fast im Projektstadium befinden. In Frankreich sind 22 Wochen nach der letzten Regelblutung die gesetzliche Grenze, unter der man Neugeborene nicht reanimiert. Die Hälfte der Neonatologie-Abteilungen schlagen die Intensivbehandlung ab der 23. Schwangerschaftswoche vor. Die paar Tage dazwischen bilden die »Grauzone«, die den Fötus vom Baby trennen, die Fehlgeburt von der Entbindung. Ein paar Tage, die von einem ungewissen Befruchtungstermin abhängen, für die sich die Medizin mehr denn je mit Spitzentechnologien wappnet, sich aber auch mit einer nebulösen Wunderaura umgibt. Doch Fiona ist tatsächlich da. Sie hätte erst in einem Monat geboren werden sollen, ist aber schon seit zehn Wochen auf der Welt, belegt ein Bett, verlangt nach Pflege und Aufmerksamkeit, bereitet ihren Eltern und ihrer erweiterten Familie Sorgen. Sie hat ihre Zwillingsschwester und ihren Vater in Saint-Étienne zurückgelassen. »Man hat uns gesagt, es sei fast unmöglich, dass sie beide … Man hat uns gesagt, die Chancen in der 24. Woche seien verschwindend gering«, erzählt ihre Mutter. Und doch ist sie da. Mit ihrer Krankenschwester und ihrer Ärztin, ihrer Mutter und ihrer Krankenakte, ihrem Inkubator und ihrer Sonde, ihrem Bettlaken, ihren Windeln und ihrem Vornamen auf der weißen Tafel am Eingang ihres Zimmers. Wie die Psychoanalytikerin Françoise Dolto schrieb: »Dem Kind einen Namen geben bedeutet schon, ihm einen Platz, auch als Mitglied der Gesellschaft, einzuräumen. Der Name integriert es. Es ist der Laut, den es jedes Mal hören wird, wenn eine Handlung mit ihm zu tun hat, schließlich identifiziert es sich an dieser Stelle und erkennt sich dort als unteilbares Wesen wieder.«[10]
Natacha, die Krankenschwester mit den warmen schwarzen Augen und der samtigen Stimme, sagt mir, sie würde die Vornamen all der Babys, um die sie sich kümmert, vergessen. Mit Ausnahme derer, die sie »wirklich«, fast gewaltsam geprägt hätten. Sie legt großen Wert darauf, diese Distanz zu wahren.
Wenn sie von den Neugeborenen spricht, für die sie verantwortlich ist, sagt sie »Baby«. Auf der Station werden die Patienten mit ihrem Vornamen geführt, aber wenn die Ärzt:innen ihren Fall den Kollegen vorstellen, sagen sie auch oft »ein Kleines«, »ein Baby«, »ein Kind«. »Fiona ist ein Kind, das aus Saint-Étienne zu uns gekommen ist«, »Léo ist ein Baby, das in der 33. Woche mit einer Ösophagusatresie geboren wurde« … Offiziell sind die Altersgruppen in den ersten Lebensjahren klar unterteilt: Die Pädiatrie betrifft Menschen von ihrer Geburt bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag. Innerhalb dieser Gruppe spricht man bis zum 28. Tag nach der Geburt von Neugeborenen, vom 29. Lebenstag bis zum ersten Geburtstag von Säuglingen, vom zweiten bis dritten Lebensjahr von Kleinkindern, vom vierten bis zwölften von Kindern oder Schulkindern und schließlich vom dreizehnten bis siebzehnten Jahr von Jugendlichen. Die Pflege mancher Neugeborenen zieht sich über Monate nach ihrer Geburt hin, bis sie zu Säuglingen geworden sind. Sie müssen irgendwann von der Neonatologie-Abteilung auf die allgemeine Kinderstation oder auf die Kinderintensivstation verlegt werden. Über einem Gewicht von etwa fünf Kilogramm – nach sechs, manchmal sieben Monaten – werden sie »zu groß« für die Station: Das Material passt nicht mehr ganz, sie kommen in Gitterbettchen, ihre Verlegung naht. Wie immer man diese kranken Babys auch benennt, die im Krankenhaus geboren werden und dort bleiben müssen, als würden sie von ihrem schlecht funktionierenden Organismus festgehalten, es ist schwierig, sich ein sachliches Vokabular vorzustellen. Die Katastrophe, die ihre Anwesenheit hier darstellt, der absolute Widersinn, den der Ausdruck »kranke Kinder« in sich birgt, ist dem Namen des Krankenhauses eingeschrieben und läuft durch die Adern des Hôpital Necker – Enfants malades.
Am Computer der Station füllt Natacha Fionas Aufnahmeformulare aus. Im Dienstzimmer löscht man von der großen Tafel, auf der jedes Bett und sein Patient verzeichnet sind, die »Retinopathie aus Saint-Étienne« aus der langen Liste der erwarteten Zugänge und trägt im Zimmer 262 »Fiona« ein. Auf dem Kontrollmonitor, der die Konstanten aller Babys der Station anzeigt, zeugen drei Kurven von ihrer Realität. Fiona, geboren in der 24. Schwangerschaftswoche, lebt.
