Der Fall Deruga - Ricarda Huch - E-Book

Der Fall Deruga E-Book

Ricarda Huch

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Beschreibung

Eine exhumierte Leiche, ein Giftmord und ein geschiedener Arzt bilden das Gerüst für Ricarda Huchs 1917 erschienenen und später verfilmten Kriminalroman. Der Arzt Deruga steht vor Gericht. Er soll seine von ihm geschiedene Frau mit Curare ermordet haben. Als Alleinerbe des Opfers ist er natürlich verdächtig. Aber der Fall ist längst nicht so klar, wie er sich zunächst darstellen mag. Vor Gericht wird die Wahrheit Schicht für Schicht freigelegt. Und es scheint, als sei das Urteil der Gesellschaft gegen den Arzt vorschnell getroffen. Marcel Reich-Ranicki schrieb, dass "Der Fall Deruga" zu den literarisch beachtlichen Büchern gehörte, die ihn in seiner Jugend beeindruckt hätten. [Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3. Februar 2008] 1938 veröffentlichte die UFA eine Verfilmung des Romans. Franz Peter Wirth verfilmte den Roman unter dem Titel "… und nichts als die Wahrheit" im Jahr 1958 mit O. W. Fischer und Marianne Koch. "Der Roman ist bis heute lesenswert. ... Die Autorin gestaltet den Prozess als eine Folge von literarischen Kabinettstücken, mit glänzenden Personenbeschreibungen, sehr unterhaltsam." [Jürg Scheuzger, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag 07.12.2014] Null Papier Verlag

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Ricarda Huch

Der Fall Deruga

Kriminalroman

Ricarda Huch

Der Fall Deruga

Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Verlag Ullstein & Co, Berlin/Wien, 1917 1. Auflage, ISBN 978-3-962815-47-9

null-papier.de/640

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

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I

Wer ist der An­walt, der mit Jus­tiz­rat Fein her­ein­ge­kom­men ist?« frag­te eine Dame im Zuschau­er­raum ih­ren Mann, »und warum hat der An­ge­klag­te zwei An­wäl­te? Fein ist al­ler­dings wohl nur ein Schau­stück.«

»Wenn der Be­tref­fen­de ein An­walt wäre, lie­bes Kind, wür­de er einen Talar tra­gen«, ant­wor­te­te der Ge­frag­te vor­wurfs­voll. »Aber wer es ist, kann ich dir auch nicht sa­gen.« Ein vor dem Ehe­paar sit­zen­der Herr dreh­te sich um und er­klär­te, der frag­li­che Herr sei der An­ge­klag­te Dr. De­ru­ga.

»Ist das mög­lich?« rief die Dame leb­haft, »wis­sen Sie das be­stimmt?«

Der alte Herr lach­te ver­gnügt. »So be­stimmt wie ich weiß, dass ich der Mu­sik­in­stru­men­ten­ma­cher Reich­ardt vom Kat­zen­tritt bin; der Herr Dok­tor wohnt näm­lich bei mir.«

Die Dame mach­te große Au­gen. »Lässt man denn einen Mör­der frei her­um­lau­fen?« frag­te sie. »Ich dach­te, er wäre im Ge­fäng­nis. Ist es Ih­nen nicht un­heim­lich, einen sol­chen Men­schen in Ih­rer Woh­nung zu ha­ben?«

»Ja, se­hen Sie, gnä­di­ge Frau«, sag­te der alte Mann, »der Herr Jus­tiz­rat Fein hat ihn bei mir ein­ge­führt, weil er mich schon lan­ge kennt und sei­nen Kli­en­ten gut ver­sorgt wis­sen woll­te, und wenn der Herr Jus­tiz­rat so viel Ver­trau­en in mich setzt, dass er sei­ne Gei­gen und Flö­ten von mir re­pa­rie­ren und sein Töch­ter­chen Un­ter­richt im Zither­spie­len bei mir neh­men lässt, so schickt es sich, dass ich auch wie­der Ver­trau­en zu ihm habe. Und er hat mir sei­nen Kli­en­ten wärms­tens emp­foh­len, der sich bis jetzt als ein lie­ber, gut­ar­ti­ger Mensch ge­zeigt hat, wenn auch et­was wun­der­lich.«

»Du darfst nicht ver­ges­sen, lie­bes Kind«, sag­te der Ehe­mann, »dass ein An­ge­klag­ter noch kein Ver­ur­teil­ter ist.«

»Sehr rich­tig, sehr rich­tig«, sag­te der Mu­sik­in­stru­men­ten­ma­cher und woll­te eben al­ler­lei merk­wür­di­ge Fäl­le von Jus­tizirr­tü­mern er­zäh­len, als das Er­schei­nen der Ge­schwo­re­nen sei­ne Auf­merk­sam­keit ab­lenk­te.

Sie fin­de es doch un­ge­hö­rig, flüs­ter­te die jun­ge Dame ih­rem Man­ne zu, dass ein des Mor­des Ver­däch­ti­ger sich so frei be­we­gen dür­fe, noch dazu ei­ner, der so aus­se­he, als ob er zu je­dem Ver­bre­chen fä­hig wäre.

»Man soll sich hü­ten, nach dem Äu­ße­ren zu ur­tei­len, lie­bes Kind«, sag­te der Ehe­mann. »Aber ab­ge­se­hen da­von wür­de ich auch die­sem Men­schen nicht über den Weg trau­en. Es ist merk­wür­dig, wie leicht­gläu­big und wie un­ge­schickt im Aus­le­gen von Phy­sio­gno­mi­en1 das Volk ist.«

Die meis­ten Zuschau­er hat­ten den­sel­ben un­güns­ti­gen Ein­druck von Dr. De­ru­ga emp­fan­gen, der durch Nach­läs­sig­keit in Klei­dung und Hal­tung und mit sei­nen neu­gie­rig be­lus­tig­ten Bli­cken, die den Saal durch­wan­der­ten, der Ma­je­stät und Furcht­bar­keit des Or­tes zu spot­ten schi­en.

»Ich dach­te, er hät­te schwar­zes, krau­ses Haar und Feu­er­au­gen«, be­merk­te die jun­ge Frau ta­delnd ge­gen ih­ren Mann.

»Aber, Kind­chen«, ent­geg­ne­te die­ser, »wir ha­ben doch auch nicht alle blaue Au­gen und blon­des Haar.«

»Er stammt aus Ober­ita­li­en«, misch­te sich ein Herr ein, »wo der ger­ma­ni­sche Ein­schlag sich be­merk­bar macht.«

Ein an­de­rer füg­te hin­zu, er ver­tre­te doch einen durch­aus ita­lie­ni­schen Ty­pus, näm­lich den der ver­schla­ge­nen, heim­tücki­schen, rach­süch­ti­gen Wel­schen,2 wie er seit dem frü­hen Mit­tel­al­ter in der Vor­stel­lung der Deut­schen ge­lebt habe.

Un­ter­des­sen war ein Ge­richts­die­ner an den An­ge­klag­ten her­an­ge­tre­ten und hat­te ihn auf­ge­for­dert, sich auf der An­kla­ge­bank nie­der­zu­las­sen, was er folg­sam tat, um sein Ge­spräch mit dem Jus­tiz­rat Fein von dort aus fort­zu­set­zen.

»Se­hen Sie, da kommt der Jä­ger vor dem Herrn, Dr. Bern­bur­ger«, sag­te der Jus­tiz­rat, auf einen jun­gen An­walt bli­ckend, der eben den Zuschau­er­raum be­trat. »Den hat die Baro­nin Trusch­ko­witz auf Ihre Spu­ren ge­hef­tet, und eine gute Spür­na­se hat er, wie Sie se­hen. Er ist Ihr ge­fähr­lichs­ter Feind, der Staats­an­walt ist nur ein Po­panz.«

De­ru­ga be­trach­te­te Dr. Bern­bur­ger, der an­ge­le­gent­lichst in sei­ne Pa­pie­re ver­tieft schi­en.

»Ich glau­be, er ist Ih­nen eben­so ge­fähr­lich wie mir«, sag­te er dann mit freund­li­chem Spott, die große, be­que­me Ge­stalt des Jus­tiz­rats be­trach­tend. »Ei­gent­lich ge­fie­le mir der Bern­bur­ger ganz gut, wenn er nicht ein so ge­mei­ner Cha­rak­ter wäre.«

Der Jus­tiz­rat wen­de­te sich um und sag­te, den Arm auf das Ge­län­der stüt­zend, das die An­kla­ge­bank ab­schloss: »Brin­gen Sie mich jetzt nicht zum La­chen, Sie ver­zwei­fel­ter Ita­lie­ner! Wir ha­ben alle Ur­sa­che, uns ein Bei­spiel an sei­nen Gei­er­ma­nie­ren zu neh­men.«

»Er hat wirk­lich et­was von ei­nem Raub­vo­gel«, sag­te De­ru­ga, »ein fei­ner Kopf, so möch­te ich aus­se­hen. Sehe ich ihm nicht ähn­lich?«

»Be­neh­men Sie sich ähn­lich«, sag­te der Jus­tiz­rat, »und hal­ten Sie Ihre Ge­dan­ken zu­sam­men! Mensch, Ihre Sa­che ist nicht so si­cher, wie Sie glau­ben. Der Bern­bur­ger hat zwei­fel­los Ma­te­ri­al im Hin­ter­halt, mit dem er uns über­rum­peln will; also pas­sen Sie auf!«

»Aber ja«, sag­te De­ru­ga ein we­nig un­ge­dul­dig. »Ihren Kopf be­hal­ten Sie auf alle Fäl­le, und an mei­nem braucht Ih­nen nicht mehr zu lie­gen als mir.«

Jetzt flo­gen die Tü­ren im Hin­ter­grun­de des Saa­l­es auf, und der Vor­sit­zen­de des Ge­richts, Ober­lan­des­ge­richts­rat Dr. Zeu­ne­mann, trat ein, dem die bei­den Bei­sit­zer und der Staats­an­walt folg­ten. Der Luft­zug hob den Talar des rasch Vor­wärts­schrei­ten­den, so­dass sei­ne stram­me und statt­li­che Ge­stalt sicht­bar wur­de. Er grüß­te mit ei­ner Ge­bär­de, die we­der her­ab­las­send noch ver­trau­lich war und eine an­ge­mes­se­ne Mi­schung von Ehr­er­bie­tung und Zu­ver­sicht ein­flö­ßte. Sei­ne Per­sön­lich­keit er­füll­te den bäng­lich fei­er­li­chen Raum mit ei­ner ge­wis­sen Hei­ter­keit, in­so­fern man die Emp­fin­dung be­kam, es wer­de sich hier nichts er­eig­nen, was nicht durch­aus in der Ord­nung wäre. Er rieb, nach­dem er sich ge­setzt hat­te, sei­ne schö­nen, brei­ten, wei­ßen Hän­de leicht an­ein­an­der und ging dann an das Ge­schäft, in­dem er die Aus­wahl der Ge­schwo­re­nen be­sorg­te. Es ging glatt und flott vor­an, je­der fühl­te sich von ei­ner wohl­tä­ti­gen Macht an sei­nen Platz ge­scho­ben.

»Mei­ne Her­ren Ge­schwo­re­nen«, be­gann er, »es han­delt sich heu­te um einen et­was ver­wi­ckel­ten Fall, des­sen Vor­ge­schich­te ich Ih­nen kurz zu­sam­men­fas­send vor­füh­ren will.

Am 2. Ok­to­ber starb hier in Mün­chen, in­fol­ge ei­nes Krebs­lei­dens, wie man an­nahm, Frau Min­go Swie­ter, ge­schie­de­ne Frau De­ru­ga. Sie hat­te nach ih­rer vor sieb­zehn Jah­ren er­folg­ten Schei­dung von De­ru­ga ih­ren Mäd­chen­na­men wie­der­an­ge­nom­men. In ih­rem Te­sta­ment, das An­fang No­vem­ber er­öff­net wur­de, hat­te sie ih­ren ge­schie­de­nen Gat­ten, Dr. De­ru­ga, zum al­lei­ni­gen Er­ben ih­res auf etwa vier­hun­dert­tau­send Mark sich be­lau­fen­den Ver­mö­gens er­nannt, mit Bei­sei­te­set­zung ih­rer Ver­wand­ten, von de­nen die Guts­be­sit­zersgat­tin Baro­nin Trusch­ko­witz, eine Cou­si­ne, die nächs­te war. Auf das Be­trei­ben der Baro­nin Trusch­ko­witz und auf ge­wis­se zu­rei­chen­de Ver­dachts­grün­de hin, die Ih­nen be­kannt sind, ver­an­lass­te das Ge­richt die Ex­hu­mie­rung der Lei­che, und es wur­de fest­ge­stellt, dass die ver­stor­be­ne Frau Swie­ter nicht in­fol­ge ih­rer Krank­heit, son­dern ei­nes furcht­ba­ren Gif­tes, des Cu­ra­re, ge­stor­ben war.

Als dem seit sieb­zehn Jah­ren in Prag an­säs­si­gen Dr. De­ru­ga das Gerücht von ei­nem ge­gen ihn im Um­lauf be­find­li­chen Ver­dacht zu Ohren kam, reis­te er hier­her, um zu er­fah­ren, wer sei­ne Ver­leum­der, wie er sie nann­te, wä­ren, und sie zu ver­kla­gen. Es wur­de ihm mit­ge­teilt, dass das Ge­richt be­reits den Be­schluss ge­fasst habe, die An­kla­ge auf Mord ge­gen ihn zu er­he­ben, und dass er sei­ne An­kla­ge bis zur Been­di­gung des Pro­zes­ses ver­schie­ben müs­se. Un­ter die­sen be­son­de­ren Um­stän­den, da der An­ge­klag­te sich ge­wis­ser­ma­ßen selbst ge­stellt hat­te, wur­de an­ge­nom­men, dass Flucht­ver­dacht nicht vor­lie­ge, und von ei­ner Ver­haf­tung einst­wei­len ab­ge­se­hen. Ver­däch­tig mach­te den An­ge­klag­ten von vorn­her­ein, dass er sich in be­deu­ten­den fi­nan­zi­el­len Schwie­rig­kei­ten be­fand. Fer­ner be­las­te­te ihn die Tat­sa­che, dass er am Abend des 1. Ok­to­ber ver­gan­ge­nen Jah­res eine Fahr­kar­te nach Mün­chen lös­te und erst am Nach­mit­tag des 3. Ok­to­ber nach Prag in sei­ne Woh­nung zu­rück­kehr­te. Ei­nen ge­nü­gen­den Ali­bi­be­weis ver­moch­te der An­ge­klag­te nicht zu er­brin­gen.

Dies sind also die Haupt­grün­de, die das Ge­richt be­wo­gen ha­ben, die An­kla­ge auf Tot­schlag zu er­he­ben. Es wird an­ge­nom­men, dass De­ru­ga sei­ne ge­schie­de­ne Frau auf­such­te, um Geld von ihr zu er­bit­ten, be­zie­hungs­wei­se zu er­pres­sen, und dass er sie bei die­ser Ge­le­gen­heit, ir­gend­wie ge­reizt, viel­leicht durch eine Wei­ge­rung, tö­te­te. Al­ler­dings scheint der Um­stand, dass De­ru­ga Gift bei sich ge­habt ha­ben muss, für einen über­leg­ten Plan zu spre­chen. Al­lein das Ge­richt hat der Mög­lich­keit Raum ge­ge­ben, der ver­zwei­fel­te Spie­ler habe da­mit sich selbst ver­nich­ten wol­len, wenn sein letz­ter Ver­such miss­län­ge, und nur in ei­nem un­vor­ge­se­he­nen Au­gen­blick der Er­re­gung da­von Ge­brauch ge­macht.«

Wäh­rend des letz­ten Sat­zes hat­te der Staats­an­walt ver­ge­bens ver­sucht, durch Ver­dre­hun­gen sei­nes ha­ge­ren Kör­pers und Deu­tun­gen sei­nes kno­ti­gen Zei­ge­fin­gers die Auf­merk­sam­keit des Vor­sit­zen­den auf sich zu len­ken. »Ver­zei­hung«, sag­te er, in­dem er sei­nem lan­gen, wei­ßen Ge­sicht einen süß­li­chen Aus­druck zu ge­ben such­te, »ich möch­te gleich an die­ser Stel­le be­to­nen, dass ich per­sön­lich die­ser Mög­lich­keit nicht Raum gebe. Wa­rum hät­te der Mann es denn so ei­lig mit dem Selbst­mor­de ge­habt? Er amü­sier­te sich viel zu gut im Le­ben, um es so Hals über Kopf weg­zu­wer­fen.

Fer­ner möch­te ich dar­auf hin­wei­sen, dass der An­ge­klag­te auf das erst­ma­li­ge Be­fra­gen des Un­ter­su­chungs­rich­ters die ab­scheu­li­che Un­tat ein­ge­stand, oder, bes­ser ge­sagt, sich ih­rer rühm­te, um sie mit eben­so großer Dreis­tig­keit her­nach zu leug­nen.«

»Ja­wohl, ja­wohl, wir kom­men dar­auf zu­rück«, sag­te der Vor­sit­zen­de mit ei­ner Hand­be­we­gung ge­gen den Staats­an­walt, wie wenn ein Ka­pell­meis­ter etwa einen vor­lau­ten Blä­ser be­schwich­tigt. »Ich will zu­nächst den An­ge­klag­ten ver­neh­men.«

»Sie müs­sen auf­ste­hen«, flüs­ter­te der Jus­tiz­rat sei­nem Kli­en­ten zu, der mit schläf­ri­ger Mie­ne den Saal und das Pub­li­kum be­trach­te­te.

»Auf­ste­hen, ich?« ent­geg­ne­te die­ser er­staunt und bei­na­he ent­rüs­tet. »Nun also auch das. Ste­hen wir auf«, fuhr er fort, er­hob sich lang­sam und hef­te­te einen scharf durch­drin­gen­den Blick auf den Prä­si­den­ten; man hät­te mei­nen kön­nen, er sei ein Exa­mi­na­tor und Dr. Zeu­ne­mann ein zu prü­fen­der Kan­di­dat.

»Sie hei­ßen Si­gis­mondo Enea De­ru­ga«, be­gann der Vor­sit­zen­de das Ver­hör, die bei­den klang­vol­len Vor­na­men durch eine ganz ge­rin­ge Do­sis von Pa­thos her­vor­he­bend, die ge­nüg­te, die Zu­hö­rer zum La­chen zu brin­gen. De­ru­ga warf einen ste­chen­den Blick in die Run­de. »Ist es hier etwa ein Ver­bre­chen, nicht Jo­hann Schul­ze oder Karl Mül­ler zu hei­ßen?« sag­te er.

»Beant­wor­ten Sie bit­te schlecht­weg mei­ne Fra­gen«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann kühl. »Sie hei­ßen Si­gis­mondo Enea De­ru­ga, sind in Bo­lo­gna ge­bo­ren und sechs­und­vier­zig Jah­re alt. Stimmt das?«

»Ja­wohl.«

»Sie ha­ben in Bo­lo­gna, Pa­dua und Wien Me­di­zin stu­diert und sich erst in Linz, dann in Wien nie­der­ge­las­sen, nach­dem Sie dort das Hei­mat­recht er­wor­ben hat­ten. Stimmt das?«

»Es wäre wirk­lich eine Schan­de«, sag­te De­ru­ga, »wenn Sie nach vier Mo­na­ten nicht ein­mal das rich­tig her­aus­ge­bracht hät­ten.«

»Ich er­in­ne­re Sie noch­mals, An­ge­klag­ter«, sag­te der Vor­sit­zen­de, den das sich er­he­ben­de Ge­läch­ter ein we­nig är­ger­te, »dass Sie sich an die kur­ze und kla­re Beant­wor­tung der an Sie ge­rich­te­ten Fra­gen zu hal­ten ha­ben. Es ist Ihre Schuld, dass sich die Vor­un­ter­su­chung so lan­ge hin­ge­zo­gen hat. Ich er­grei­fe die Ge­le­gen­heit, Ih­nen einen ernst­li­chen Vor­halt zu ma­chen. Sie be­fol­gen au­gen­schein­lich den Grund­satz, das Ge­richt durch Un­ge­hö­rig­kei­ten und Wun­der­lich­kei­ten hin­zu­hal­ten und ir­re­zu­füh­ren. Sie ver­schlim­mern da­durch Ihre Lage, ohne Ihren Zweck zu er­rei­chen. Die Un­ter­su­chung nimmt ih­ren si­che­ren Gang trotz al­ler Stei­ne, die Sie auf ih­ren Weg wer­fen. Sie ste­hen un­ter ei­ner schwe­ren An­kla­ge und tä­ten bes­ser, an­statt die ge­gen Sie zeu­gen­den Mo­men­te durch un­ge­bär­di­ges und zü­gel­lo­ses Be­tra­gen zu ver­stär­ken, den Ge­richts­hof und die Her­ren Ge­schwo­re­nen durch Auf­rich­tig­keit in ih­rer dor­ni­gen Ar­beit zu un­ter­stüt­zen und für sich ein­zu­neh­men. Sie be­fin­den sich in ei­nem Lan­de, wo die Jus­tiz ih­res ver­ant­wor­tungs­vol­len Am­tes mit un­er­schüt­ter­li­cher Un­be­stech­lich­keit und Un­par­tei­lich­keit wal­tet. Der Höchs­te und der Nied­rigs­te fin­det bei uns nicht mehr und nicht we­ni­ger als Ge­rech­tig­keit. Wir er­war­ten da­ge­gen vom Höchs­ten wie vom Nied­rigs­ten die­je­ni­ge Ehr­furcht, die ei­ner so hei­li­gen und wür­di­gen In­sti­tu­ti­on zu­kommt. Der Ge­bil­de­te soll­te sie uns frei­wil­lig dar­brin­gen; aber im Not­fall wis­sen wir sie zu er­zwin­gen.«

»Ja, ja«, sag­te De­ru­ga gut­mü­tig, »nur zu, ich wer­de schon ant­wor­ten.«

Dr. Zeu­ne­mann hielt es für bes­ser, es da­bei be­wen­den zu las­sen, und fuhr fort: »Sie ver­hei­ra­te­ten sich im Jah­re 18.. mit Min­go Swie­ter aus Lü­beck, er­ziel­ten aus die­ser Ehe ein Kind, eine Toch­ter, die vier­jäh­rig starb, und kurz dar­auf, vor jetzt sieb­zehn Jah­ren, wur­de die Ehe ge­schie­den. Als Grund ist bös­wil­li­ge Ver­las­sung von sei­ten der Frau an­ge­ge­ben, und zwar hat Frau Swie­ter das Wie­ner Kli­ma vor­ge­schützt, wel­ches sie nicht ver­tra­gen kön­ne. In Wirk­lich­keit sol­len Ihr un­ver­träg­li­cher Cha­rak­ter und Ihr un­be­re­chen­ba­res Tem­pe­ra­ment, das zu Ge­walt­ta­ten neigt, Ihre Frau zu die­sem Schritt ver­an­lasst ha­ben.«

Da Dr. Zeu­ne­mann bei die­sen Wor­ten fra­gend zu Dr. De­ru­ga hin­über­sah, sag­te die­ser: »Es wird das bes­te sein, wenn Sie sich schlecht­weg an die in den Ak­ten be­find­li­chen An­ga­ben hal­ten.«

Der Vor­sit­zen­de un­ter­drück­te eine An­wand­lung zu la­chen und fuhr ge­las­sen fort: »Bald nach er­folg­ter Schei­dung zo­gen Sie von Wien nach Prag und üb­ten dort Ihre Pra­xis aus, wäh­rend Frau Swie­ter sich in Mün­chen nie­der­ließ, wo sie einen Teil ih­rer Ju­gend­jah­re ver­lebt hat­te. Auf wei­te­re Da­ten wer­den wir ge­le­gent­lich zu­rück­kom­men. Er­zäh­len Sie uns jetzt, was Sie am 1. Ok­to­ber des vo­ri­gen Jah­res ge­tan ha­ben.«

»Da ich kein Ta­ge­buch füh­re«, sag­te Dr. De­ru­ga laut, »noch mei­ne täg­li­chen Ver­rich­tun­gen durch einen Ki­ne­ma­to­gra­fen oder ein Gram­mo­phon auf­neh­men las­se, ist es mir lei­der un­mög­lich, Ih­nen den Ver­lauf des Ta­ges mit ma­the­ma­ti­scher Ge­nau­ig­keit wie­der­zu­ge­ben. Ich wer­de eben ge­früh­stückt, ei­ni­ge Pa­ti­en­ten be­sucht, zu Mit­tag ge­ges­sen und her­nach eine Stun­de im Café ge­ses­sen ha­ben. Dann wer­de ich in der Sprech­stun­de meh­re­re Exem­pla­re der mir sehr un­sym­pa­thi­schen Gat­tung Mensch un­ter­sucht ha­ben. Ge­gen Abend ging ich aus, um eine mir be­freun­de­te, hoch­an­stän­di­ge Dame zu be­su­chen. In der Nähe des Bahn­hofs be­geg­ne­te ich ei­nem Kol­le­gen, der mich frag­te, ob ich auch in den ärzt­li­chen Ve­rein gin­ge. Ich sag­te, ich kön­ne lei­der nicht, da ich ver­rei­sen müs­se. Worauf er mich bis zum Bahn­hof be­glei­te­te. Ich nahm aufs Ge­ra­te­wohl eine Kar­te nach Mün­chen, weil ich ja sonst mei­ne Lüge hät­te zu­ge­ste­hen müs­sen, und auch weil mir ein­ge­fal­len war, dass auf die­se Wei­se die mir be­freun­de­te Dame si­cher wäre, nicht kom­pro­mit­tiert zu wer­den.«

»Wei­gern Sie sich nach wie vor«, frag­te Dr. Zeu­ne­mann, »den Na­men die­ser hoch­an­stän­di­gen Dame zu nen­nen?«

»Ich habe ja schon ge­sagt, dass mir dar­an liegt, sie nicht zu kom­pro­mit­tie­ren«, ant­wor­te­te De­ru­ga.

»Ich gebe Ih­nen zu be­den­ken, Herr De­ru­ga«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann war­nend, »dass Ihre Rit­ter­lich­keit auf sehr wa­cke­li­gen Fü­ßen steht. Soll­te eine Dame zu­las­sen, dass sich ein Freund um ih­ret­wil­len in sol­che Ge­fahr be­gibt? Da möch­te man schon lie­ber an­neh­men, dass die­se Dame gar nicht exis­tiert. Die gan­ze Ge­schich­te, die Sie vor­brin­gen, ent­behrt der Wahr­schein­lich­keit. Dass Sie eine Dame be­such­ten und Tage und Näch­te bei ihr zu­brach­ten, wäre an sich bei Ih­rer Le­bens­füh­rung nicht un­glaub­lich. Auch das mag hin­ge­hen, dass Sie den Wunsch hat­ten, sie nicht zu kom­pro­mit­tie­ren, aber das Mit­tel, das Sie zu die­sem Zweck ge­wählt ha­ben wol­len, kann man nur als un­ge­eig­net und lä­cher­lich be­zeich­nen. Je­mand, der sich in so schlech­ter fi­nan­zi­el­ler Lage be­fin­det wie Sie, gibt nicht zwei­und­drei­ßig Mark für eine Fahr­kar­te aus, die er nicht braucht.«

»Ein­und­drei­ßig Mark fünf­und­sieb­zig Pfen­nig«, ver­bes­ser­te De­ru­ga.

»Die Kar­te von Prag nach Mün­chen kos­tet zwei­und­drei­ßig Mark«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann scharf.

»Der um­ge­kehr­te Weg ist fünf­und­zwan­zig Pfen­ni­ge bil­li­ger«, be­harr­te De­ru­ga.

»Las­sen wir den Wort­streit«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann. »Man wirft auch ein­und­drei­ßig Mark und fünf­und­sieb­zig Pfen­ni­ge nicht fort, wenn man in Geld­ver­le­gen­hei­ten ist.«

»Ein ver­stän­di­ger Deut­scher wohl nicht«, ent­geg­ne­te De­ru­ga, »aber ich habe grö­ße­re Dumm­hei­ten in mei­nem Le­ben ge­macht als die­se. Üb­ri­gens war ich nicht in Geld­ver­le­gen­heit, ich hat­te nur Schul­den.«

Der Staats­an­walt rang die Hän­de und wen­de­te die Bli­cke nach oben, wie wenn er den Him­mel zum Zeu­gen ei­ner sol­chen Ver­wil­de­rung an­ru­fen woll­te. Dann bat er um das Wort und frag­te, wie es zu­ge­he, dass der An­ge­klag­te ge­nug Geld für eine so un­vor­her­ge­se­he­ne Rei­se bei sich ge­habt hät­te.

Statt der Ant­wort griff De­ru­ga in sei­ne Wes­ten­ta­sche, zog eine Hand­voll Geld her­vor und zähl­te: »Sech­zig, drei­und­sech­zig, sieb­zig, vierund­sieb­zig Mark. Sie se­hen, ich könn­te auf der Stel­le nach Prag rei­sen, wenn ich es nicht vor­zö­ge, in Ih­rer an­ge­neh­men Va­ter­stadt zu blei­ben.«

»Wa­rum be­zahl­ten Sie Ihre Schul­den nicht, wenn Sie Geld hat­ten?« rief der Staats­an­walt, des­sen Stim­me, wenn er sich auf­reg­te, einen krei­schen­den Ton an­nahm.

»O, dazu reich­te es bei wei­tem nicht«, lach­te De­ru­ga. »Ich hat­te nur so viel, um mei­ne täg­li­chen Be­dürf­nis­se zu be­frie­di­gen.«

Der Vor­sit­zen­de er­klär­te die­se Zwi­schen­fra­gen durch eine Hand­be­we­gung für be­en­det. »Sie blei­ben also da­bei, An­ge­klag­ter«, frag­te er, »dass Sie zum Schein eine Fahr­kar­te nach Mün­chen lös­ten. Was brach­te Sie ge­ra­de auf Mün­chen?«

»Das ist eine schwie­ri­ge Fra­ge«, sag­te De­ru­ga. »Hät­te ich eine Kar­te nach Frank­furt oder Wien ge­nom­men, könn­ten Sie sie eben­so gut stel­len. Vi­el­leicht ist ein Psy­cho­ana­ly­ti­ker an­we­send und könn­te uns in­ter­essan­te Auf­schlüs­se über die Ge­dan­ken­as­so­zia­ti­on ge­ben, und ob sie ge­fühls­be­tont war oder nicht. Mei­ne Spe­zia­li­tät sind Na­sen-, Hals- und Ra­chen­krank­hei­ten.«

»Was ta­ten Sie, nach­dem Sie die Kar­te ge­löst hat­ten?« frag­te der Vor­sit­zen­de wei­ter.

»Ich stell­te mich an die Bar­rie­re«, er­zähl­te De­ru­ga, »ging, als sie ge­öff­net wur­de, an den Zug, stieg aber nicht ein, son­dern ging mit­tels ei­ner vor­her ge­lös­ten Per­ron­kar­te zu­rück. Dann such­te ich die schon öf­ters ge­nann­te Dame auf, bei der ich bis zum Nach­mit­tag des 3. Ok­to­ber blieb.«

»Die Un­wahr­schein­lich­kei­ten häu­fen sich«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann. »Wel­cher Arzt wird ohne zwin­gen­de Grün­de an­dert­halb Tage von sei­ner Pra­xis weg­blei­ben?«

»Ich bin der An­sicht«, sag­te De­ru­ga, »dass nicht ich für die Pra­xis da bin, son­dern dass die Pra­xis für mich da ist.«

»Ein be­denk­li­cher Grund­satz für einen Arzt«, mein­te Dr. Zeu­ne­mann.

»Wa­rum?« ant­wor­te­te De­ru­ga leicht­hin. »Die meis­ten Pa­ti­en­ten kön­nen sehr gut ein paar Tage war­ten, die üb­ri­gen brauch­ten über­haupt nicht zu kom­men. Wich­ti­ge Fäl­le hat­te ich da­mals nicht.«

»Ihre Pa­ti­en­ten wa­ren al­ler­dings nicht ver­wöhnt«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann. »In den letz­ten Jah­ren hat­ten Sie so­gar eine An­zahl ver­lo­ren, weil sie nach­läs­sig und un­auf­merk­sam in der Füh­rung Ih­rer Pra­xis wa­ren. Im­mer­hin war es selbst an Ih­nen auf­fal­lend, dass Sie au­ßer der Zeit, ohne Ab­mel­dung, zwei Tage ab­we­send wa­ren. Sie ka­men nach Ih­rer ei­ge­nen Aus­sa­ge, die von Ih­rer Haus­häl­te­rin be­stä­tigt wur­de, am 3. Ok­to­ber kurz vor vier Uhr wie­der in Ih­rer Woh­nung an. Bei­läu­fig sei be­merkt, dass der von hier kom­men­de Schnell­zug um drei Uhr zwan­zig Mi­nu­ten in Prag ein­trifft. Ihre Sprech­stun­de war noch nicht vor­über, und es war­te­ten zwei ge­dul­di­ge Pa­ti­en­ten, die sich von Ih­rer Haus­da­me mit der Aus­sicht auf Ihr bal­di­ges Er­schei­nen hat­ten ver­trös­ten las­sen. Sie wei­ger­ten sich aber, die­se gut­mü­ti­gen Herr­schaf­ten, die ei­ni­ger Rück­sicht wohl wert ge­we­sen wä­ren, an­zu­neh­men, weil Sie, so sag­ten Sie zu Ih­rer Haus­häl­te­rin, müde wä­ren und sich zu Bett le­gen woll­ten. Ihr Auf­ent­halt bei der in ih­rer Tu­gend so hei­klen Dame muss also sehr an­stren­gend ge­we­sen sein.«

»Ich fin­de Frau­en im­mer an­stren­gend«, sag­te De­ru­ga, »be­son­ders wenn sie dumm sind.«

»Neh­men wir also an«, sag­te der Vor­sit­zen­de, wäh­rend der Staats­an­walt die Hän­de rang und sei­ne un­ter dia­bo­lisch ge­schwänz­ten Brau­en fast ver­schwin­den­den Au­gen zum Him­mel rich­te­te, »dass die Ih­nen be­freun­de­te Dame eben­so dumm wie tu­gend­haft ist! Ge­hen wir nun zu ei­nem an­de­ren wich­ti­gen Punkt über! Wol­len Sie er­zäh­len, wann und wie Sie von dem In­halt des Te­sta­men­tes in Kennt­nis ge­setzt wur­den, durch wel­ches die ver­stor­be­ne Frau Swie­ter Sie zum Er­ben ih­res Ver­mö­gens ein­setz­te!«

»An­fang No­vem­ber«, sag­te De­ru­ga, »das Da­tum habe ich mir nicht ge­merkt, durch die zu­stän­di­ge Be­hör­de.«

»Sie sol­len«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann, »Ihr Er­stau­nen und Ihre Freu­de leb­haft ge­äu­ßert ha­ben. Ich be­mer­ke«, wie­der­hol­te er mit Nach­druck ge­gen die Ge­schwo­re­nen, »dass an­de­re Per­so­nen dies be­zeu­gen: Er­stau­nen und Freu­de.«

»O, ed­ler Rich­ter, wack’­rer Mann«, sag­te De­ru­ga lä­chelnd.

»Bit­te Zwi­schen­be­mer­kun­gen zu un­ter­las­sen«, sag­te der Vor­sit­zen­de. »Es ist be­reits halb zwölf Uhr, und ich möch­te bis zur Mit­tags­pau­se mit Ihrem Ver­hör zu ei­nem vor­läu­fi­gen Ende kom­men. Er­zäh­len Sie uns bit­te, wann und wie Ih­nen zu­erst et­was von dem ge­gen Sie er­ho­be­nen Ver­dacht zu Ohren kam!«

»Durch einen sehr an­stän­di­gen Men­schen«, be­gann De­ru­ga, »sehr an­stän­dig und ach­tungs­wert, ob­gleich er nur ein ro­her ita­lie­ni­scher Wein­händ­ler ist. Der Mann heißt Tom­ma­so Ver­zi­el­li und kam vor fünf­zehn Jah­ren als ein ar­mer Teu­fel zu mir, nach­dem er eine fünf­jäh­ri­ge Ge­fäng­niss­tra­fe ver­büßt hat­te. Er hat­te näm­lich einen Po­li­zis­ten nie­der­ge­sto­chen, der eine arme alte Frau ver­haf­ten woll­te, weil sie in ei­nem Bäcker­la­den ein Brot ge­nom­men hat­te. Er war sehr ver­zagt und woll­te nach Ita­li­en zu­rück, denn un­ter Deut­schen, sag­te er, wür­de er doch nicht aus dem Ge­fäng­nis her­aus­kom­men, weil er fort­wäh­rend Din­ge mit an­se­hen müss­te, wo­bei ihm das Blut zu Kop­fe stie­ge. Ich sag­te, das wür­de in Ita­li­en nicht an­ders sein, und re­de­te ihm zu, er soll­te die Men­schen sich un­ter­ein­an­der zer­rei­ßen las­sen, sie wä­ren ein­an­der wert, und es wäre um kei­nen scha­de. Er sol­le hei­ra­ten und nur noch für Frau und Kin­der ar­bei­ten und sor­gen, und au­ßer­dem gab ich ihm den Rat, einen Han­del mit ita­lie­ni­schen Wei­nen und an­de­ren Le­bens­mit­teln an­zu­fan­gen, und schoss ihm ein klei­nes Ka­pi­tal dazu vor. Das hat er mir längst zu­rück­ge­stellt, denn durch Fleiß und In­tel­li­genz brach­te er sich schnell in die Höhe, aber er wid­met mir im­mer noch eine Dank­bar­keit, als ob ich ihm täg­lich neu das Le­ben schenk­te.

Die­ser Ver­zi­el­li also kam Mit­te No­vem­ber am spä­ten Abend in vol­ler Auf­re­gung zu mir ge­lau­fen und er­zähl­te mir, der ita­lie­ni­sche Kon­sul, Ca­va­lie­re Fa­ra­men­go, ein gu­ter al­ter Herr, aber et­was schwach­sin­nig, sei bei ihm ge­we­sen — Ver­zi­el­li hat näm­lich jetzt ein sehr fei­nes Re­stau­rant — und habe sich un­ter der Hand nach mir er­kun­digt und als tiefs­tes Ge­heim­nis ver­ra­ten, dass ich als Mör­der mei­ner ge­schie­de­nen Frau ver­haf­tet wer­den soll­te. Der gute Mensch war au­ßer sich und bot mir sein gan­zes Ver­mö­gen an, wenn ich nach Ame­ri­ka flie­hen woll­te. ›De­ru­ga und flie­hen? Da kennst du De­ru­ga schlecht, gu­ter Freun­d‹, sag­te ich und lief so­fort, trotz Ver­zi­el­lis Fle­hen, zum ita­lie­ni­schen Kon­sul. Der arme alte Herr hat fast einen Schlag­an­fall be­kom­men, so hef­tig stell­te ich ihn zur Rede, und da ich von ihm kei­ne ge­nü­gen­de Aus­kunft be­kam, reis­te ich hier­her, um den Ur­sprung des in­fa­men Gerüch­tes ken­nen­zu­ler­nen.«

»Es muss­te Ih­nen mit­ge­teilt wer­den«, fiel Dr. Zeu­ne­mann ein, »dass das Ge­richt be­reits be­schlos­sen hät­te, die An­kla­ge auf Mord ge­gen Sie zu er­he­ben, und dass Sie eine et­wai­ge Be­lei­di­gungs­kla­ge bis zur Been­di­gung des Pro­zes­ses zu ver­schie­ben hät­ten. Wenn Ihr ers­tes Auf­tre­ten, wie ich nicht un­ter­las­sen will zu be­mer­ken, den Schein der Schuld­lo­sig­keit er­we­cken konn­te, so be­las­te­te Sie hin­ge­gen Ihr Ver­hal­ten dem Un­ter­su­chungs­rich­ter ge­gen­über in be­denk­li­cher­wei­se. So ha­ben Sie zu­erst auf die Fra­ge, wo Sie vom 1. bis 3. Ok­to­ber ge­we­sen wä­ren, die Ant­wort ver­wei­gert. Dann ha­ben Sie er­zählt, Sie wä­ren in der Ab­sicht, sich das Le­ben zu neh­men, fort­ge­fah­ren, an ei­nem be­lie­bi­gen Hal­te­punkt aus­ge­stie­gen und dann aufs Ge­ra­te­wohl quer­feld­ein ge­gan­gen, bis Sie in eine ganz ein­sa­me Ge­gend ge­kom­men wä­ren. An ei­nem Flus­se hät­ten Sie lan­ge ge­le­gen und mit sich ge­kämpft, bis Sie dar­über ein­ge­schla­fen wä­ren. Nach vie­len Stun­den fes­ten Schla­fes wä­ren Sie er­nüch­tert auf­ge­wacht, hät­ten sich noch eine Wei­le her­um­ge­trie­ben und wä­ren dann heim­ge­fah­ren. Schließ­lich tauch­te die Ge­schich­te von der ge­heim­nis­vol­len Dame auf. Der Born der Fan­ta­sie spru­delt sehr er­gie­big bei Ih­nen.«

»Nicht so wie Sie mei­nen«, sag­te De­ru­ga. »Ich woll­te nur den Un­ter­su­chungs­rich­ter är­gern und kann wohl sa­gen, dass mir das ge­lun­gen ist. Er hat bei­nah Ner­ven­krämp­fe be­kom­men.«

Dr. Zeu­ne­mann ließ eine Pau­se ver­strei­chen, bis das Ge­läch­ter im Pub­li­kum ver­stummt war, und sag­te dann: »Es wun­dert mich, dass ein Mann in Ih­rer Lage, in Ihrem Al­ter und von Ihrem Ver­stan­de sich so kin­disch be­neh­men mag — oder so tö­richt, denn viel­leicht wa­ren Ihre ver­schie­de­nen An­ga­ben auch nur ein Ver­fah­ren, dar­auf zu­ge­schnit­ten, un­si­cher zu ma­chen und ir­re­zu­füh­ren.«

»Sind Sie schon ein­mal von ei­nem täp­pi­schen Un­ter­su­chungs­rich­ter aus­ge­fragt wor­den?« frag­te De­ru­ga. »Nein, wahr­schein­lich nicht. Also kön­nen Sie nicht wis­sen, wie Sie sich in sol­cher Lage be­neh­men wür­den. Al­ler­dings ver­mut­lich ver­nünf­ti­ger als ich. Sie ha­ben eine be­nei­dens­wer­te Kon­sti­tu­ti­on. Sie sind so recht ein Mus­ter­bei­spiel, wie der ge­sun­de Mensch sein soll. Alle Er­schüt­te­run­gen durch häss­li­che Ein­drücke, Fra­gen, Zwei­fel und Lei­den­schaf­ten wer­den bei Ih­nen durch eine ta­del­lo­se Ver­dau­ung ge­re­gelt, so­dass Sie sich im­mer im sta­bi­len Gleich­ge­wicht be­fin­den; ich da­ge­gen bin un­end­lich reiz­bar.«

Dr. Zeu­ne­mann hat­te ver­sucht, den An­ge­klag­ten zu un­ter­bre­chen, aber ohne ge­nü­gen­den Nach­druck. »Sie ha­ben wohl auch mehr Ur­sa­che un­ru­hig zu sein als ich«, sag­te er jetzt mit leich­ter Iro­nie. »Vi­el­leicht wür­den Sie sich woh­ler füh­len, wenn Sie es ein­mal mit voll­kom­me­ner Of­fen­heit ver­such­ten, an­statt sich und uns durch Ihre Win­kel­zü­ge zu rei­zen.«

»Sie, Herr Prä­si­dent, will ich nicht är­gern, dar­auf kön­nen Sie sich ver­las­sen«, sag­te De­ru­ga mit ei­nem freund­lich be­schwich­ti­gen­den Tone, wie man ihn etwa ei­nem Kin­de ge­gen­über an­schlägt.

*

»War­ten Sie im Vor­saal des ers­ten Stockes auf mich«, flüs­ter­te Jus­tiz­rat Fein sei­nem Kli­en­ten zu, als gleich dar­auf die Sit­zung auf­ge­ho­ben wur­de. Von dort aus gin­gen sie zu­sam­men durch ein rück­wär­ti­ges Por­tal in die An­la­gen, die auf eine stil­le Stra­ße ohne Ge­schäfts­ver­kehr führ­ten. Vor ei­nem mit Ge­sträuch be­wach­se­nen Han­ge blieb der Jus­tiz­rat ste­hen, sto­cher­te mit der Spit­ze sei­nes Re­gen­schir­mes in der al­ten, feucht-ver­kleb­ten Blät­ter­de­cke und sag­te: »Da muss es bald Schnee­glöck­chen und Kro­kus ge­ben; ich will ih­nen den Weg ein we­nig frei ma­chen.«

»Kom­men Sie, kom­men Sie«, sag­te De­ru­ga, den Jus­tiz­rat am Arm zie­hend. »Die fin­den ih­ren Weg ohne Sie. Sa­gen Sie, kann ich heu­te Nach­mit­tag wäh­rend der Sit­zung nicht le­sen oder noch lie­ber schla­fen? Das Zeug lang­weilt mich un­be­schreib­lich, Sie könn­ten mir ja einen Stoß ge­ben, wenn ich mich be­tä­ti­gen muss.«

»Ma­chen Sie kei­ne Dumm­hei­ten«, sag­te der Jus­tiz­rat; »heu­te Nach­mit­tag wird wahr­schein­lich der Ho­frat von Mäul­chen ver­nom­men, der sehr schlecht für Sie aus­sa­gen wird. Sie müs­sen also auf­pas­sen, ob Sie ihm nicht Ih­rer­seits et­was am Zeu­ge fli­cken kön­nen.«

»Am Zeu­ge fli­cken!« rief De­ru­ga aus. »Um­brin­gen möch­te ich ihn. Ich has­se die­sen Men­schen, viel­mehr die­sen rosa Wachs­guss über ei­ner Kloa­ke.«

»Hö­ren Sie, De­ru­ga«, sag­te der Jus­tiz­rat. »Ich ver­ste­he Sie öf­ters nicht, doch das am we­nigs­ten, wie Sie ei­nem Men­schen Geld schul­dig blei­ben moch­ten, den Sie hass­ten. Sie hät­ten doch das Geld auch von an­de­rer Sei­te ha­ben kön­nen, zum Bei­spiel von dem gu­ten Ver­zi­el­li.«

»Wahr­schein­lich hät­te es Ihr Ehr­ge­fühl ver­letzt, ei­nem ver­hass­ten Men­schen Geld zu schul­den«, sag­te De­ru­ga. »Se­hen Sie, bei mir ist das an­ders. Mir mach­te es Ver­gnü­gen zu se­hen, was für Angst er um sei­ne Ta­ler hat­te, und wie er sich quäl­te, die Angst nicht mer­ken zu las­sen, son­dern den An­schein zu wah­ren, als wäre es ihm ganz gleich­gül­tig. Denn er will ers­tens für un­er­mess­lich reich und zwei­tens für sehr weit­her­zig in Geld­sa­chen gel­ten. Hät­te ich Geld im Über­fluss ge­habt, wür­de ich ihn wahr­schein­lich doch nicht aus­be­zahlt ha­ben, um ihn zap­peln zu se­hen.«

»Ich glau­be, Sie kön­nen fürch­ter­lich has­sen«, sag­te der Jus­tiz­rat nach­denk­lich, in­dem er den Dok­tor nicht ohne Be­wun­de­rung von der Sei­te be­trach­te­te.

Die­ser lach­te herz­haft und aus­gie­big wie ein Kind. »Das kann ich al­ler­dings«, sag­te er. »Ich möch­te manch­mal ei­nem ein Mes­ser im Her­zen her­um­dre­hen, nur weil mir sei­ne Mund­win­kel nicht ge­fal­len. Ich will mich aber heu­te Nach­mit­tag Ih­nen zu­lie­be zu­sam­men­neh­men, so gut ich kann.«

»Ja, dar­um bit­te ich«, sag­te der Jus­tiz­rat, »ich füh­le mich doch et­was ver­ant­wort­lich für Sie.«

*

Ho­frat von Mäul­chen er­schi­en in ge­wähl­ter Klei­dung, in einen an­ge­neh­men, mon­dä­nen Duft ge­taucht, mit dem leich­ten und si­che­ren Gang des­sen, den all­ge­mei­ne Be­liebt­heit trägt, im Schwur­ge­richts­saa­le. Die Ei­des­for­mel, die der Prä­si­dent ihm vor­sprach, wie­der­hol­te er mit lie­bens­wür­di­ger Ge­fäl­lig­keit und ei­nem leicht fra­gen­den Aus­klang, so, als wol­le er sich bei je­dem Satz ver­ge­wis­sern, ob es dem Vor­sit­zen­den und dem lie­ben Gott so auch recht wäre.

»Der An­ge­klag­te«, be­gann Dr. Zeu­ne­mann das Ver­hör, als alle Förm­lich­kei­ten ab­ge­tan wa­ren, »ist Ih­nen seit Mai 19.., also seit fünf Jah­ren, sechs­tau­send Mark schul­dig. Wol­len Sie, bit­te, er­zäh­len, wie Sie den An­ge­klag­ten ken­nen­lern­ten, und wie es kam, dass er das Geld von Ih­nen borg­te!«

»Bei­des ist schnell ge­tan«, sag­te der Ho­frat. »Ich lern­te De­ru­ga im ärzt­li­chen Ve­rein ken­nen, au­ßer­dem hat er mich ge­le­gent­lich ei­ner klei­nen Wu­che­rung in der Nase be­han­delt. Kol­le­gen emp­fah­len ihn mir, weil er eine be­son­ders leich­te Hand habe, was mei­ne ei­ge­ne Er­fah­rung be­stä­tigt hat. Es han­del­te sich bei mir al­ler­dings um einen sehr ein­fa­chen Fall, aber auch dar­in kann man ja sei­ne Fä­hig­kei­ten be­wei­sen. Ge­wis­se klei­ne Ori­gi­na­li­tä­ten und Wun­der­lich­kei­ten hat­te er an sich, zum Bei­spiel er­in­ne­re ich mich, dass er mich im­mer in der Er­war­tung hielt, als käme et­was au­ßer­or­dent­lich Schmerz­haf­tes, was doch gar nicht der Fall war. Ich habe sa­gen hö­ren, dass er nach Be­lie­ben, sa­gen wir nach Lau­ne, die Pa­ti­en­ten ganz schmerz­los oder sehr grob be­han­del­te. Aber das ge­hört ei­gent­lich nicht hier­her, und so weit mei­ne per­sön­li­che Er­fah­rung reicht, kann ich ihn als Arzt nur lo­ben. Als ich nun ge­le­gent­lich eine Be­mer­kung über die schä­bi­ge Aus­stat­tung sei­nes War­te­zim­mers mach­te, sag­te er mir, er habe kein Geld, um sich so ein­zu­rich­ten, wie er möch­te, wor­auf ich ihm, ei­nem au­gen­blick­li­chen Ge­fühl fol­gend, so viel an­bot, wie er brauch­te. Ich bin viel­leicht kein sehr be­son­ne­ner Rech­ner«, schal­te­te der Ho­frat mit ei­nem Lä­cheln ein, »aber in die­sem Fal­le, ei­nem Kol­le­gen und tüch­ti­gen Arzt ge­gen­über, glaub­te ich gar nichts zu ris­kie­ren.«

»Hat der An­ge­klag­te das Geld für eine neue Ein­rich­tung ver­wen­det?« frag­te der Vor­sit­zen­de.

»Dar­über kann ich aus ei­ge­ner An­schau­ung nichts sa­gen«, ant­wor­te­te der Ho­frat. »Es wur­de mir spä­ter ein­mal zu­ge­tra­gen, ge­schwatzt wird ja viel, die Ses­sel sei­nes War­te­zim­mers wür­den im­mer schä­bi­ger; be­greif­li­cher­wei­se habe ich es aber ver­mie­den, ihn auf­zu­su­chen und mich dar­über zu un­ter­rich­ten.«

»Wol­len Sie sich dazu äu­ßern?« wen­de­te sich der Vor­sit­zen­de ge­gen De­ru­ga. »Ha­ben Sie sich für das ge­lie­he­ne Geld Ihr War­te­zim­mer neu ein­ge­rich­tet?«

»Ge­hört das hier­her?« frag­te De­ru­ga. »Ich glaub­te im­mer, man kön­ne sein Geld ver­wen­den, wie man wol­le, ei­ner­lei, ob es ge­lie­hen oder ge­stoh­len ist.«

»Sie ver­wei­gern also die Ant­wort?«

»So­viel ich mich er­in­ne­re«, sag­te De­ru­ga mür­risch, »habe ich In­stru­men­te, mo­der­ne Ap­pa­ra­te, einen Ope­ra­ti­ons­stuhl und der­glei­chen da­für ge­kauft.«

»Sie ha­ben«, setz­te der Prä­si­dent die Zeu­gen­ver­neh­mung fort, »im Lau­fe der nächs­ten Jah­re den An­ge­klag­ten nie­mals ge­mahnt?«

»Be­wah­re«, er­wi­der­te der Ho­frat. »Ei­nen Kol­le­gen! Über­haupt wür­de ich das ohne ge­nü­gen­de Grün­de nie­mals tun. Ich hat­te das Geld ei­gent­lich schon ver­lo­ren ge­ge­ben, denn das Ge­re­de ging, als be­trie­be De­ru­ga sei­ne Pra­xis nur nach­läs­sig und füh­re ein sehr un­ge­re­gel­tes Le­ben. Ich habe üb­ri­gens, wie ich gleich vor­aus­schi­cken will, der Wahr­heit die­ses Ge­re­des nicht nach­ge­forscht und bit­te, kei­ne Schlüs­se dar­aus zu zie­hen.«

»So ge­hen wir ohne wei­te­res zu dem An­lass über«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann, »der Sie be­wog, das Geld zu­rück­zu­for­dern. Wol­len Sie den Vor­gang im Zu­sam­men­hang er­zäh­len!«

»Im Sep­tem­ber vo­ri­gen Jah­res«, be­rich­te­te der Ho­frat, »traf ich mit De­ru­ga in dem schon er­wähn­ten ärzt­li­chen Ve­rein zu­sam­men, nach­dem ich ihn fast ein Jahr lang nicht ge­se­hen und das Geld so­zu­sa­gen ver­ges­sen hat­te. Er rief mir über den Tisch hin­über in ziem­lich form­lo­ser Wei­se zu, er wol­le eine Pa­ti­en­tin, von der er glau­be, dass sie ein Un­ter­leibs­lei­den habe, zu mir schi­cken, ich sol­le sie un­ter­su­chen und nö­ti­gen­falls be­han­deln, aber um­sonst, zah­len kön­ne sie nicht. Mehr über sei­ne Art und Wei­se als über die Sa­che selbst ver­stimmt, er­wi­der­te ich, wie ich gern glau­ben will, ein we­nig kühl, ich sei mit Ar­beit sehr über­häuft, die Kran­ke kön­ne ja zu dem in Be­tracht kom­men­den Kas­sen­arzt ge­hen. Da­rauf wur­de De­ru­ga krei­de­weiß im Ge­sicht und über­häuf­te mich mit ei­nem Schwall von Be­lei­di­gun­gen, wie, dass ich es nur auf Geld­ma­che­rei ab­ge­se­hen hät­te, der Arzt für Kom­mer­zi­en­rä­tin­nen und fürst­li­che Ko­kot­ten wäre und der­glei­chen mehr, was ich nicht wie­der­ho­len will. Ich möch­te be­mer­ken, dass ich glau­be, wie un­ge­recht sei­ne Be­schul­di­gun­gen auch wa­ren und wie un­pas­send auch die Form war, wie er sie er­hob, er mach­te sie bo­na fi­de. Er hat­te die Mei­nung, ich sei ge­müt­los und streb­te nur nach klin­gen­dem Er­folg und äu­ße­rem Glanz, viel­leicht weil ihm in­fol­ge ei­ner ge­wis­sen volks­tüm­li­chen oder zi­geu­ner­haf­ten Ver­an­la­gung der Sinn für ge­re­gel­tes bür­ger­li­ches Le­ben mit sei­nen tra­di­tio­nel­len Be­grif­fen von An­stand und Ehre über­haupt ab­ge­ht. In je­nem Au­gen­blick ver­moch­te ich mich zu die­ser ob­jek­ti­ven An­sicht nicht zu er­he­ben, son­dern, ich ge­ste­he es, ich fühl­te mich ver­letzt und im In­ners­ten em­pört.«

»Bei­nah wäre der rosa Wachs­guss ge­schmol­zen«, flüs­ter­te De­ru­ga dem Jus­tiz­rat zu.

»Ohne mein ent­rüs­te­tes Ge­fühl zu zü­geln oder es nur zu wol­len, ant­wor­te­te ich hef­tig, er habe am we­nigs­ten Ur­sa­che, mir der­ar­ti­ge Vor­wür­fe zu ma­chen, da ich ihm be­reit­wil­lig aus­ge­hol­fen und den Ver­lust nicht nach­ge­tra­gen hät­te. Ich hät­te ihn da­mals für zah­lungs­fä­hig ge­hal­ten, sag­te er bos­haft, sonst wür­de ich ihm nichts ge­borgt ha­ben. Al­ler­dings, sag­te ich, hät­te ich einen Kol­le­gen für so eh­ren­haft ge­hal­ten, dass er sei­ne Schul­den be­zahl­te, und da er mich nun selbst her­aus­for­de­re, sol­le er es auch tun. Der Streit wur­de dann durch meh­re­re Kol­le­gen, die sich ins Mit­tel leg­ten, ge­schlich­tet. Be­vor wir uns trenn­ten, sag­te ich zu De­ru­ga, er sol­le das, was ich vor­hin in hef­ti­ger Auf­wal­lung ge­sagt hät­te, nicht so auf­fas­sen, als wol­le ich ihn drän­gen. Er­lau­ben Sie mir bit­te, fest­zu­stel­len, dass ich der gan­zen Sa­che aus frei­en Stücken nie­mals in der Öf­fent­lich­keit Er­wäh­nung ge­tan ha­ben wür­de!«

»Darf ich bit­ten«, sag­te Jus­tiz­rat Fein, sich an den Zeu­gen wen­dend, »Sie sind nach­her mit kei­nem Wort und mit kei­ner An­deu­tung auf die Geldan­ge­le­gen­heit zu­rück­ge­kom­men?«

»Nein, durch­aus nicht«, ant­wor­te­te der Ho­frat. »Es tat mir im Ge­gen­teil leid, dass ich mir in der Er­re­gung die Mah­nung hat­te ent­schlüp­fen las­sen.«

»Also«, sag­te der Jus­tiz­rat, »war die Lage für Dr. De­ru­ga nicht im min­des­ten ver­än­dert, und es liegt kein Grund zu der Be­haup­tung vor, er habe sich durch­aus Geld ver­schaf­fen müs­sen, um die fäl­li­ge Schuld zu be­zah­len.«

»Ich bit­te sehr«, rief der Staats­an­walt, »durch den Vor­fall im ärzt­li­chen Ve­rein war das Schuld­ver­hält­nis ei­ner gan­zen Rei­he von Kol­le­gen be­kannt ge­wor­den; das ist denn doch eine er­heb­li­che Ver­än­de­rung der Lage. So viel Ehr­ge­fühl dür­fen wir doch bei ei­nem je­den ge­bil­de­ten Man­ne vor­aus­set­zen, dass ihm das nicht gleich­gül­tig war.«

»Neh­men wir, bit­te, Dr. De­ru­ga wie er ist, und nicht, wie er nach der Mei­nung an­de­rer sein soll­te. Da es ihm nichts aus­mach­te, dem Ho­frat von Mäul­chen Geld schul­dig zu blei­ben, für den er au­gen­schein­lich kei­ne be­son­de­re Vor­lie­be hat­te, lag ihm wahr­schein­lich sehr we­nig dar­an, dass ein paar an­de­re Kol­le­gen, mit de­nen er, wie es scheint, ganz gut stand, da­von wuss­ten. Je­den­falls, wenn er frü­her so dick­fel­lig in die­sem Punkt war, wird er nicht plötz­lich so emp­find­lich ge­wor­den sein, dass er ein Ver­bre­chen be­ging, um sich aus der Klem­me zu zie­hen.«

Die ge­mäch­li­che Gran­dez­za, mit der der Jus­tiz­rat da­stand, die Wucht sei­ner mas­si­gen Ge­stalt und sei­nes groß­ge­form­ten, ru­hi­gen Ge­sich­tes über­zeug­ten noch wirk­sa­mer als sei­ne Wor­te und brach­ten sei­nen zap­pe­li­gen Geg­ner au­ßer Fas­sung.

»Ja, wenn der Mensch im­mer so fol­ge­rich­tig wäre!« sag­te er hef­tig. »Da­für, dass Män­ner lie­ber Ver­bre­chen be­ge­hen, als einen Fleck auf ih­rer so­ge­nann­ten bür­ger­li­chen Ehre dul­den, fin­den sich vie­le Bei­spie­le.«

Dr. Zeu­ne­mann hob Ruhe ge­bie­tend sei­ne Hand.

»Eine ver­bre­che­ri­sche Hand­lung wird dem An­ge­klag­ten zu­nächst noch gar nicht zu­ge­mu­tet«, sag­te er. »Wenn er sei­ne ge­schie­de­ne Frau um Geld an­ging, so war das höchs­tens takt­los, und es ist umso we­ni­ger auf­fal­lend, als wir aus vie­len Zeug­nis­sen wis­sen, dass er die­se Hilfs­quel­le öf­ters in Be­tracht zog. Hal­ten Sie«, wen­de­te er sich an den Ho­frat, »die Schuld für ein Mo­tiv, das stark ge­nug ge­we­sen wäre, den An­ge­klag­ten zu ver­an­las­sen, sich auf ir­gend­ei­ne un­ge­wöhn­li­che oder be­denk­li­che, etwa so­gar ver­bre­che­ri­sche Wei­se in den Be­sitz von Geld zu set­zen?«

»Ich muss sehr bit­ten«, wehr­te der Ho­frat ab, »mir die Ant­wort zu er­las­sen. Ich schre­cke umso mehr da­vor zu­rück, ein Ur­teil dar­über zu äu­ßern, als ich nicht in der Lage war, mir ei­nes zu bil­den. Ich bin mit der Psy­che De­ru­gas nicht ver­traut, könn­te mich nur in Fan­tasi­en er­ge­hen, aber selbst­ver­ständ­lich bin ich eher ge­neigt, Gu­tes als Schlech­tes von ei­nem Kol­le­gen zu den­ken.«

»Sie wa­ren«, fuhr der Vor­sit­zen­de fort, »der­je­ni­ge Kol­le­ge, dem der An­ge­klag­te am 1. Ok­to­ber zwi­schen sechs und sie­ben Uhr in der Nähe des Bahn­hofs be­geg­ne­te, und der ihn frag­te, ob er in den ärzt­li­chen Ve­rein wol­le?«

»Ja­wohl«, sag­te der Ho­frat. »Ich stell­te die Fra­ge, weil ich mich nach dem, was kürz­lich vor­ge­fal­len war, kol­le­gi­al zu ihm ver­hal­ten woll­te. Sei­ne Ant­wort, er wol­le ver­rei­sen, er­reg­te mir kei­ner­lei Zwei­fel, da wir ja in der Nähe des Bahn­hofs wa­ren und De­ru­ga ein Pa­ket trug. Das­sel­be fiel mir auf, weil es grö­ßer war, als Her­ren un­se­rer Ge­sell­schafts­krei­se sol­che zu tra­gen pfle­gen.«

Der Vor­sit­zen­de wand­te sich an De­ru­ga mit der Fra­ge, ob er zu­ge­be, ein Pa­ket ge­tra­gen zu ha­ben, und was dar­in ge­we­sen sei.

»Ich er­laub­te mir al­ler­dings«, sag­te De­ru­ga, »als ein ar­mer Teu­fel, der sich nicht er­dreis­tet, zu den Ge­sell­schafts­krei­sen des Herrn von Mäul­chen ge­hö­ren zu wol­len, ein Pa­ket zu tra­gen. Da­rin wird Wä­sche und der­glei­chen ge­we­sen sein, was man für die Nacht braucht.«

Der Staats­an­walt schnell­te von sei­nem Sitz auf und bat, dass fest­ge­stellt wer­de, ob De­ru­ga, als er am 3. Ok­to­ber in sei­ne Woh­nung zu­rück­kehr­te, ein Pa­ket bei sich ge­habt habe.

»Die Haus­häl­te­rin wird gleich ver­nom­men wer­den«, sag­te der Vor­sit­zen­de. »Der An­ge­klag­te ant­wor­te­te Ih­nen, Herr Ho­frat, er wol­le ver­rei­sen, und Sie be­glei­te­ten ihn bis zum Bahn­hof. Kön­nen Sie sonst et­was Sach­dien­li­ches mit­tei­len?«

»Nein, durch­aus nicht«, be­teu­er­te der Ho­frat. »Gerüch­te und Schwät­ze­rei­en zu wie­der­ho­len wer­den Sie mir er­las­sen, da der­glei­chen ja mehr oder we­ni­ger über je­den Men­schen in Um­lauf ist und in erns­ten Fäl­len nicht in Be­tracht ge­zo­gen wer­den soll­te.«

»Vi­el­leicht könn­ten Sie doch sa­gen«, frag­te der Vor­sit­zen­de, »was für einen Ruf Dr.