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Ricarda Huchs Werk ist eine philosophische Schrift, die sich mit den grundlegenden Gegensätzen der menschlichen Existenz auseinandersetzt. Sie ist stark von weltanschaulichen Reflexionen beeinflusst und vereinigt philosophische, religiöse, historische und politische Komponenten. Huchs Ziel war es, die das menschliche Schicksal und die Geschichte bestimmenden irrationalen Mächte und Ideen zu erkennen. Sie entwickelt dabei eine dualistische Betrachtung des Menschen, bei der sie die Polarität zwischen "Natur" und "Geist" als zentrale Spannungsfelder menschlicher Existenz analysiert. Das Buch beschäftigt sich mit Themen wie Selbstbewusstsein, Persönlichkeit, den Gegensätzen zwischen Mann und Frau, Religion, Kunst und den unbewussten Trieben des Menschen. Die Schrift ist charakteristisch für Huchs späteres Werk, das sich zunehmend philosophischen und weltanschaulichen Fragen widmete und nach tieferen Erkenntnissen über die menschliche Natur suchte.
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Seitenzahl: 94
Veröffentlichungsjahr: 2025
Vom Wesen des Menschen: Natur und Geist
RICARDA HUCH
Vom Wesen des Menschen: Natur und Geist, Ricarda Huch
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783988682192
Quelle: https://www.google.de/books/edition/Vom_Wesen_des_Menschen/HcNFAQAAMAAJ?hl=de&gbpv=1&dq=ricarda+huch+natur+und+geist&printsec=frontcover
www.jazzybee-verlag.de
ERSTES KAPITEL DIE WELT.. 1
ZWEITES KAPITEL. DER MENSCH.. 4
DAS LEBEN DES NORMALEN MENSCHEN... 10
DRITTES KAPITEL. DIE ERSCHEINUNG DES MENSCHEN.. 14
VIERTES KAPITEL. DER HELD... 20
FÜNFTES KAPITEL. DER SCHAFFENDE.. 23
SECHSTES KAPITEL. DER SELBSTBEWUSSTE, PERSÖNLICHE MENSCH28
SIEBTES KAPITEL. SELBSTVERNEINUNG.. 34
ACHTES KAPITEL. ÜBERBLICK ÜBER DIE WELTGESCHICHTE.. 47
NEUNTES KAPITEL. DIE ENTWICKLUNG DES MENSCHLICHEN GEISTES52
Kosmos ist eine Dreieinheit aus Geist, Natur und Seele; diese drei Wesensteile bestehen nur miteinander verbunden. Die Natur ist körperlich und erscheint in der Sphäre des Raumes, der Geist ist das Innere der Natur und ist zeit- und raumlos, die Seele ist das Verbindende und bewegt sich in der Sphäre der Zeit. Der gebräuchliche Ausdruck für Zeit- und Raumlosigkeit ist Ewigkeit; aber Innerlichkeit ist bezeichnender. Erinnern ist verewigen, und verewigen ist verinnerlichen. Da der Geist nichts anderes ist als die in die Innerlichkeit übertragene Natur oder die Natur nichts anderes als der in die Körperlichkeit übertragene Geist, so sind Geist und Natur dasselbe, und es besteht nur der Unterschied zwischen ihnen, dass die Natur im Raume erscheint und dadurch die Ganzheit des Geistes zerteilt. Man kann auch sagen, der einzige Unterschied zwischen Geist und Natur bestehe darin, dass die Natur sinnlich wahrnehmbar, der Geist innerlich ergreifbar ist.
Da Geist und Natur einander wesentlich gleich und nur durch die Erscheinungsweise verschieden sind, so ist nicht zu begreifen, wie die Einheit aufgehoben und aus Ruhe Bewegung werden konnte, und zwar können wir es deshalb nicht begreifen, weil das Wesen des Geistes, der Ewigkeit oder Innerlichkeit, uns unfassbar ist. Wir können nicht begreifen, dass etwas ohne Anfang und Ende sein kann, dass Natur Geist, dass Äußeres Inneres werden kann. Vorausgesetzt muss also werden, wenn es auch nicht begriffen werden kann, dass das Äußere innerlich werden, dass das Unbewusste wissend werden wollte; oder: vorausgesetzt muss werden, dass die Weltmasse wie das Urtier die Eigenschaft der Reizbarkeit (Irritabilität) besaßen, die Eigenschaft, auf Reiz durch Bewegung zu antworten, und dass dieser Reiz in dem Triebe der Natur Geist zu werden bestand. Mit dem unfehlbar richtigen Blick des Kindmenschen lehrten deshalb die Alten, dass der Streit der Vater aller Dinge, und dass die Liebe die Urgottheit, das erste Lebenszeichen gewissermaßen der Welt, gewesen sei. Bewegung ist nicht möglich ohne Abweichung und infolgedessen Gegensätzlichkeit, Spannung, Entzweiung, womit zugleich der Trieb, die Entzweiung auszugleichen, gegeben ist. Indem also Geist und Natur sich entzweiten, wurde die Natur von Liebe zum Geist ergriffen (das Unbewusste wollte wissend werden), und diese Liebe ist der Ursprung des Lebens. Denn wie jedem Ausgleich (jeder Bewegung) eine Entzweiung vorausgegangen sein muss, so muss jedem Ausgleich, der nie absolut ausgleicht, eine neue Entzweiung folgen, und die ewige Folge von Entzweiung und Ausgleich ist das, was wir Leben oder Entwicklung nennen. Leben ist eine Folge von Entzweiung und Ausgleich; den letzten Ausgleich nennen wir Tod.
Das Äußere, welches sich von der Natur losriss, weil es die Innerlichkeit liebte und innerlich bzw. wissend werden wollte, ist die Natur, die wir im Gegensatz zur unbewusst gebliebenen Natur Geist nennen; er verhält sich negativ zur positiven Natur.
In der anorganischen Natur erscheint der Geist als Element, in der organischen zuerst als Individuum, dann als Person.
Die Spaltung des Universums in negativen Geist und positive Natur erscheint in der organischen Natur als Mann und Weib bzw. als männliches und weibliches Prinzip.
Der Mann ist wesentlich Element, Individuum, Person, das Bewegte, das Vereinzelte, das Abweichende; er hat sich von der Natur losgerissen und steht ihr negativ gegenüber; das Weib ist allgemein und typisch, eins mit der Natur und positiv wie sie. Der Ausgleich der zwischen Mann und Weib bestehenden Spannung ist das von ihnen erzeugte Kind. Das Kind ist die Seele von Mann und Weib, sie zusammen bilden den ganzen Menschen, einen Kosmos.
Wie der Mensch in positiver und negativer Natur wurzelt, so wurzelt das Kind in Mutter und Vater; sie beide bilden seine Wesenshälften, welche sich in seinem Innern zu einem neuen Individuum bzw. einer neuen Person vereinigen. Der Ausgleich der Spannung der beiden Wesenshälften, der positiven und negativen, im Innern des Menschen ist das Kunstwerk oder die Tat. Der sich entwickelnde Mensch muss handeln oder gestalten.
Die Menschheit, der Mensch und das Kunstwerk (bzw. die Tat) sind demnach Ausgleiche von Spannungen zwischen positiver, unbewusster Natur und negativer, bewusster Natur oder zwischen Natur und Geist und also Abbilder des dreieinigen Kosmos. Auch diese Dreieinheiten sind unauflösbar und können getrennt nicht bestehen. Ihre drei Wesensteile sind unbewusste Natur, bewusste Natur oder Seele und selbstbewusste Natur oder Person oder Geist.
Die Entzweiung ist Wissendwerdenwollen, das ist Lieben; der Ablauf der Entwicklung ist daher mit zunehmendem Bewusstsein und zunehmender Liebe verbunden; Bewusstwerden und Liebe sind nebeneinander herlaufende Erscheinungen. Die Entwicklung geht vom Unbewusstsein bis zum vollständigen Selbstbewusstsein, von der sinnlichen Liebe oder Liebe des Gegensatzes bis zur vollkommenen Selbstliebe oder geistigen Liebe. Ist die Natur ganz Geist geworden, so tritt sie die rückläufige Bewegung an und entwickelt sich durch den Tod wieder zur Natur. Entsprechend den drei Sphären des Raumes, der Zeit und der Innerlichkeit wiederholt sich die Entwicklung der Geist-Natur dreifach: einmal räumlich-zeitlich in der Natur- und Menschengeschichte, zweitens zeitlich-räumlich in der Geschichte jedes Individuums, drittens geistig im Innern jedes Individuums, und zwar ist der dritte Ablauf analog dem zweiten, der sein Erscheinen hervorruft, und der zweite analog dem ersten, der sein Erscheinen hervorruft. Das heißt: im Innern jedes einzelnen wiederholt sich das Verhältnis der Eltern zueinander, und in der äußeren Geschichte jedes Individuums wiederholt sich das Verhältnis von Geist und Natur, wie es zur Zeit seines Entstehens in der Geschichte bestimmt ist. Diese Wiederholung des elterlichen bzw. geschichtlichen Verhältnisses geht, bis die Bildung der Person im Innern und Äußern des Individuums vollendet ist, von welchem Zeitpunkt an die Person ihre Entwicklung selbst bestimmen kann. Das geistige Leben des Individuums hängt also ab von der Beschaffenheit des Geistes seiner Zeit, d. h. es entspricht der Stufe, die die geistige Entwicklung des Menschen zur Zeit seiner Geburt erreicht hat, und sein natürliches Leben hängt ab von der Beschaffenheit der natürlichen Kraft seiner Zeitgenossen (insbesondere seines Volkes). Die Grundlage seines Handelns und Schaffens muss demnach der geistig-natürlichen Entwicklungsstufe seiner Zeit entsprechen, je nach seiner Persönlichkeit jedoch kann es aus dieser Grundlage Neues und Eigenes hervorbringen. Ebenso hängt das geistig-natürliche Einzelwesen von der geistig-natürlichen Beschaffenheit seiner Eltern ab, die sie mit der männlichen und weiblichen Keimzelle auf dasselbe übertragen; sind aber diese Keime in ihm zu einer neuen Person verschmolzen, so kann es sein Leben frei nach seiner Eigenart gestalten.
Bis zum Entstehen seiner Persönlichkeit hängt der Mensch mit seinem Tun und Schaffen wesentlich von der Natur ab; erst mit seiner Person beginnt sein eigenes Leben und sein Verdienst.
Die kosmische Dreieinheit, die sich dem erkennenden Menschen als Geist, Natur und Weltseele darstellt, erscheint dem religiösen Menschen als Dreieinigkeit von Gott-Vater, Gott-Sohn und Heiliger Geist.
Es geht nichts im Kosmos vor, was nicht in der Menschheit vorgeht (sich in ihr spiegelt); es geht nichts in der Menschheit vor, was nicht im Menschen vorgeht; es geht nichts im Leben des Menschen vor, was nicht in seinem Innern vorgeht. Das Innere des selbstbewussten Menschen ist das Innere der Welt. Der Kosmos ist nichts als die sich entwickelnde durchgeistigte Natur und ihre Idee im menschlichen Bewusstsein.
Die zunehmende Entfernung der negativen Natur von der positiven erscheint in der organischen Welt als Bewusstwerden. Die höchste Stufe des Bewusstseins ist das Selbstbewusstsein. Der Mensch ist zuerst vorwiegend unbewusst, d. h. er begreift die Welt durch Instinkt, angeborene Ideen, dann bewusst, d. h. erkennend, dann selbstbewusst, d. h. sich selbst erkennend. Das Unbewusste ist positiv, das Selbstbewusste negativ.
Das Weib ist hinter dem Manne um eine Entwicklungsstufe zurück. Jeder Mensch bzw. jede Familie soll den ganzen Kreis des Bewusstseins durchlaufen –– die Familie ist ein durch Zeit und Raum vervielfältigtes Individuum. Sowohl Mann wie Weib sind zuerst unbewusst, dann bewusst, dann selbstbewusst; aber der Mann ist wesentlich selbstbewusst, die Frau wesentlich bewusst. Die Frau kann nicht in dem Maße selbstbewusst werden wie der Mann, weil sie die Aufgabe hat, Kinder hervorzubringen und dadurch notwendig mit dem Raume, der Natur, verbunden ist; der Mensch kann sich aber nur auf Kosten der Natur zum Selbstbewusstsein entwickeln, und die Frau würde, wenn sie die höchste Spitze des Selbstbewusstseins erreichte, nicht mehr gebären können, also nicht mehr Frau sein. Mit anderen Worten: die Sphäre des Selbstbewusstseins ist das Innere, der Geist; der Mensch kann aber nicht zugleich ganz Geist und Natur, ganz innerlich und äußerlich sein. Die Natur des Weibes zeigt ihre Produktionskraft im Hervorbringen von Kindern; deshalb bringt sie, obwohl stark in der Natur, im Allgemeinen keine Geisteswerke hervor. Ihre selbstbewusste Seite entwickelt die Frau im Einzelleben erst im Alter, wenn das Werk des Gebärens vollbracht ist, im Völkerleben in der Rücklaufszeit (Dekadenz), wenn das Volk abstirbt. Ihr Selbstbewusstsein hat daher nur eine beschränkte Entwicklungsmöglichkeit. Dafür entfernt sich die Frau nie so weit von der Natur wie der Mann; fest gegründet auf die Natur, in der sie wurzelt, ist sie oft höherentwickelten Männern überlegen. Nur die allerhöchste Stufe des Geistes steht über der Natur. Man kann sagen, dass die Frau im Allgemeinen dem Geiste näher steht als der Mann, der zwischen primitiver, roher Natur und höchster Geistigkeit schwankt, dass ihr aber die höchste Spitze des Selbstbewusstseins im allgemeinen nicht zugänglich ist.
Der unbewusste, primitive Mensch sind Mann und Frau auf der untersten Stufe der Entwicklung, auf unteren Kulturstufen, in den unteren Schichten der Gesellschaft, und zwar ist der Mann wesentlich elementar, aktiv und produktiv, die Frau wesentlich ruhend. Auf höheren Stufen ist die Frau vorwiegend bewusst, der Mann entweder vorwiegend primitiv oder vorwiegend selbstbewusst. Der Bauer ist der vorwiegend unbewusste, natürliche, typische Mensch, daher auch der am meisten Unterdrückte, Leibeigene. An der Stellung des Bauern und der Frau unterscheidet man hauptsächlich den Grad der Kultur. Sind Bauer und Frau leibeigen, ist die Kultur noch sehr unentwickelt. Wenn die Frau bewusst geworden ist, so beginnt der Mann von selbst, sie zu ehren; nur selbstbewusst will er sie nicht leiden. Ihr Rat erscheint ihm wie göttliche Eingebung, der er sich unterwirft, er fühlt, dass ihre Einfälle adäquat sind, Weltbilder. Der Staat beraubt sich einer wesentlichen Stütze, wenn er die Frau als Beraterin ausschließt.
Durch die Natur ist das Weib unzertrennlich mit der Materie verbunden und insofern, durch die Materie (den Stoff oder die Masse), sterblich. Der Mann, dem der Stoff nicht wesentlich ist, ist an sich unsterblich, er stirbt nur mittelbar durch das Weib (in sich). Dicksein, Dickwerden ist immer ein Ausdruck von vorhandener Weiblichkeit.
Das Wesen des Mannes ist Bewegung, Erregung, das Wesen des Weibes ist, durch seine Verbindung mit dem Stoff, Ruhe.
Das Wesen des Mannes ist gegliederte Bewegung, Rhythmus, das Wesen des Weibes gestaltete Masse, d. i. Form.
Das Gliederungsprinzip des bewussten Mannes (bzw. der bewussten Frau) zeigt sich in der Zeit (im Seelischen) als Charakter, das Gestaltungsprinzip des Weibes im Raume als Ordnungs- und Schönheitssinn. Das Wesen des Mannes ist zeugend und erregend, das des Weibes empfangend und gebärend.
Das Wesen der männlichen Liebe ist Begierde, das der weiblichen Liebe Hingebung.
Der Mann hat Reizbarkeit (Irritabilität), die Frau Einbildungskraft (Phantasie). Reizbarkeit empfindet Reize und antwortet auf sie durch Bewegung, die Einbildungskraft nimmt Reize auf, bildet sie sich ein. Der Mann ist persönlich, das Weib typisch.
Die Schönheit des Mannes ist persönlich, d. h. sie beruht auf der Eigenart und Bewegung, die des Weibes ist typisch, d. h. sie beruht auf der Form.
Der persönliche Mann repräsentiert dem Weibe Gott, das unbewusste Weib repräsentiert dem Manne die Natur.
Die wesentlichen Eigenschaften des Weibes beruhen auf seiner unlöslichen Verbindung mit der Natur, daher mit der Masse.
Das Wesen des Mannes, als Bewegung, ist Leben, das Wesen des Weibes, als Stoff, ist Tod.