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Epische High Fantasy mit dem besonderen Etwas: »Der Fluch der Kraken« ist der dritte Band von Kevin Hearnes süchtig machender episch-düsterer Fantasy-Trilogie »Fintans Sage« Im Krieg zerbrochen, doch nicht verloren: Auf dem Kontinent Teldwen kämpfen wahre Helden um eine neue Zukunft. Die Kapitänin Koesha ist jenseits der Ränder der Welt in den Besitz eines Artefakts gelangt, das der Schlüssel zur Magie des mächtigen Siebten Kenning sein könnte. Um sein Geheimnis zu ergründen, muss sie auf See erneut alles riskieren. Abhis Macht, mit Tieren zu sprechen, hat die Welt verändert. Doch bevor er endlich zu seiner großen Liebe heimkehren kann, muss er eine letzte Mission erfüllen und dorthin reisen, wo die Ozeane am gefährlichsten sind – zu den gewaltigen Kraken. Währenddessen erhält die junge Pen die Chance, ein neues Zeitalter einzuläuten. Falls es ihr gelingt, den Samen des magischen Vierten Baumes zu pflanzen … Das atemraubende Finale der epischen Dark-Fantasy-Saga Actionreich und herzzerreißend – das ist Fantasy, die süchtig macht! Der New York Times-Bestseller-Autor Kevin Hearne entführt ein drittes Mal in die Welt von Teldwen: ebenso verführerisch wie gefährlich, voller wilder Magie und seltsamer Wunder, politischer Intrigen und epischer Schlachten. Hearne bietet beste Unterhaltung für Fans von George R. R. Martin, Patrick Rothfuss oder Bernhard Hennen. »Kevin Hearne beweist immer wieder, dass er seinen Ruf als Geschichtenerzähler auf höchstem Niveau verdient hat.« SFF World zu »Der Ruf des Kriegers« Die Fantasy-Serie für Erwachsene »Fintans Sage« ist in folgender Reihenfolge erschienen: - »Das Spiel des Barden« - »Der Ruf des Kriegers« - »Der Fluch der Kraken«
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Seitenzahl: 1089
Veröffentlichungsjahr: 2025
Kevin Hearne
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Urban Hofstetter
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Im Krieg zerbrochen, doch nicht verloren: Auf dem Kontinent Teldwen kämpfen wahre Helden um eine neue Zukunft. Die Kapitänin Koesha ist jenseits der Ränder der Welt in den Besitz eines Artefakts gelangt, das der Schlüssel zur Magie des mächtigen Siebten Kenning sein könnte. Um sein Geheimnis zu ergründen, muss sie auf See erneut alles riskieren. Abhis Macht, mit Tieren zu sprechen, hat die Welt verändert. Doch bevor er endlich zu seiner großen Liebe heimkehren kann, muss er eine letzte Mission erfüllen und dorthin reisen, wo die Ozeane am gefährlichsten sind – zu den gewaltigen Kraken.
Währenddessen erhält die junge Pen die Chance, ein neues Zeitalter einzuläuten. Falls es ihr gelingt, den Samen des magischen Vierten Baumes zu pflanzen …
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Karte von Ecula, Joabei und Omesh
Dramatis Personae
Vierzigster Tag
Pen
Daryck
Einundvierzigster Tag
Pen
Daryck
Zweiundvierzigster Tag
Pen
Gondel
Daryck
Dreiundvierzigster Tag
Hanima
Pen
Gondel
Vierundvierzigster Tag
Koesha
Gondel
Pen
Fünfundvierzigster Tag
Abhinava
Fintan
Sechsundvierzigster Tag
Nara
Koesha
Siebenundvierzigster Tag
Tallynd
Abhinava
Achtundvierzigster Tag
Hanima
Pen
Neunundvierzigster Tag
Hanima
Fintan
Fünfzigster Tag
Pen
Hanima
Einundfünfzigster Tag
Abhinava
Tallynd
Koesha
Zweiundfünfzigster Tag
Koesha
Gondel
Dreiundfünfzigster Tag
Daryck
Nara
Vierundfünfzigster Tag
Abhinava
Gondel
Hollit
Dervan
Fanje
Abhinava
Tallynd
Nara
Gondel
Koesha
Hollit
Tallynd
Daryck
Hollit
Gondel
Fanje
Fintan
Karte von Sveto Selo
Tallynd
Nara du Fesset
Koesha
Fanje
Hollit
Gondel
Koesha
Abhinava
Pen
Fintan
Dervan
Anhang
Fintans Sage in chronologischer Reihenfolge
Kaurischer Kalender
Danksagung
Fintan, Barde der Dichtergöttin Kaelin: raelischer Barde, der im Auftrag des Triunischen Konzils bis zum Gegenangriff der Alliierten Pelemyn unterhält.
Dervan du Alöbar: bryntischer Historiker, der die Geschichten des raelischen Barden niederschreibt und auch andere Quellen in die Chronik der Sieben Kennings einfließen lässt.
Pen Yas ben Min: fornischer Grünärmel. Will unbedingt aus dem Schatten ihrer berühmten Cousine, Nel Kit ben Sah, heraustreten.
Daryck du Löngren: bryntischer Anführer eines Söldnertrupps namens die Grynekjäger, der sich unbedingt für die Zerstörung seiner Stadt rächen will.
Gondel Vedd: kaurischer Linguist. Verheiratet, mag gern Senf, Bechars Fischlokal und alte Geschichten über den Riss.
Hanima Bhandury: nentianische Bienenstockmeisterin, die eine Revolution angeführt hat und nun damit hadert, dass die Bewohner von Khul Bashab sie dafür bewundern.
Abhinava Khose: ein Plagenbringer des Sechsten Kennings, der zusammen mit seinen tierischen Begleitern Murr und Iep die Welt bereist. Er hofft, eines Tages in seine Heimat zurückzukehren, in der seine große Liebe lebt.
Nara du Fesset: bryntische Gerstad, eine dem Pelenauten loyal ergebene Schnelle und Lebensgefährtin von Mynstad du Möcher.
Koesha Gansu: joabeirische Zephyr und Kapitänin der Nentianischer Herold. Sie ist fest entschlossen, ihre geschichtsträchtige Umrundung des Erdballs zu vollenden.
Tallynd du Böll: Tidenhüterin und Zweite Könstad der bryntischen Armee. Sie sorgt sich, dass ihre Pflichten sie dazu zwingen könnten, ihr Leben zu opfern, was ihre beiden Söhne zu Vollwaisen machen würde.
Hollit Panevik: Feuerlord aus Hathrim und Chefköchin des Gerösteten Suntschuck in Pelemyn. Die Umstände zwingen sie dazu, ihr Kenning zu kriegerischen Zwecken einzusetzen.
Fanje: ekulanisches Mitglied von Šest, einer Widerstandsgruppe, die Žalosts Sekte zu Fall bringen will.
Salbei und Spross
Anders als sonst traf ich mich schon morgens mit dem Barden, um seine Geschichten des Vortages niederzuschreiben. Fintan hatte von einem Lokal gehört, das uns beiden neu war, ein Gasthaus im Norden der Stadt, das laut dem Schild über der Tür Die keuchenden Kiemen hieß. Bei seinem Anblick fragte ich mich misstrauisch, wie gut die Luft dort drinnen wohl sein mochte, doch da ich niemanden heraustaumeln, husten oder gar keuchen sah, wagte ich, es zu betreten.
Die Räumlichkeiten waren viel angenehmer, als ich erwartet hatte. Nirgends lagen Fischköpfe herum, und es war auch kein Erbrochenes auszumachen. Tatsächlich war der Boden makellos sauber, und die Tische waren mit kleinen Vasen dekoriert. Die Feldblumen darin wiegten sich in einer sanften Brise, da das Gebäude nicht nur mit einem brennenden Kamin, sondern auch mit einer kaurischen Belüftungsanlage ausgestattet war, was ihn zum vielleicht besten Ort in der ganzen Stadt während der noch immer kühlen Vormittagsstunden machte.
Fintan saß an einem Tisch an der Wand, genau in der Mitte zwischen dem Kamin und der Tür. Man musste sich hier auf lange Bänke quetschen, was mir wegen meines kaputten Knies nicht gerade leichtfiel. Als ich mich unter einigen Verrenkungen endlich stöhnend auf meinem Platz niederließ, entschuldigte Fintan sich und versprach, dass wir uns hier nicht noch einmal treffen würden.
»Es muss wirklich nicht sein, dass Ihr Euch solchen Unannehmlichkeiten aussetzt, Dervan«, sagte er. »Schließlich gibt es jede Menge andere Gaststätten, die schon mal von Stühlen gehört haben.«
Eine junge Frau kam mit Tee aus der Küche und strahlte uns an, während sie die Kanne mitsamt Tassen und Untertassen vor uns abstellte. »Guten Morgen, Männer. Wie wäre es mit einem Frühstück?«
»Klingt fabelhaft«, erwiderte ich. »Was gibt es denn?«
»Was ich gerade gesagt habe, mein Lieber. Wir haben Frühstück im Angebot. Dieser Tage servieren wir nur, was der Küchenchef empfiehlt. Und der kann leider nicht aus dem Vollen schöpfen. Wir nehmen, was wir kriegen.«
»Na gut.« Ich sah Fintan an. »Dann würde ich sagen, wir nehmen ein Frühstück, oder was meint Ihr?«
Fintan nickte enthusiastisch. »Ich kann es gar nicht erwarten. Vielen Dank.«
Das Lächeln der Frau wurde noch breiter. »Wie, ganz ohne Gemecker? Ich mag euch beide. Das Essen kommt gleich.«
»Die Versorgungslage wird allmählich beunruhigend«, sagte Fintan, als sie weg war. »Andererseits finde ich es eigentlich ganz unterhaltsam, mich überraschen zu lassen. Vielleicht ist das Frühstück ja geradezu brillant.«
»Oder eine Kelle scheußlicher Haferschleim.«
»Das ist wahr, aber ein bisschen hoffnungsvolle Erwartung erscheint mir ganz nahrhaft.« Fintan schenkte uns Tee ein und fragte mich, während ich die hübschen Dampfwölkchen betrachtete, die von unseren Tassen aufstiegen, ob ich mich gleich an die Arbeit machen oder erst noch ein bisschen entspannen wolle.
»Nein, von mir aus können wir sofort loslegen«, erwiderte ich. Doch kaum hatte ich meinen Federkiel und die Tinte herausgeholt, da wurden wir auch schon von einer raelischen Kurierin und einer Frau gestört, bei der es sich laut den Steinen an ihrem Jereh-Band um eine Bardin handelte. Bei ihrem Anblick wurde mir bewusst, dass ich noch nie zwei Barden zusammen gesehen hatte.
Sie stellte sich als Eimear vor und sagte, sie sei gekommen, um Fintan über zahlreiche neue Entwicklungen in Ghurana Nent zu informieren.
Fintan riss entzückt die Augen auf. »Habt Ihr Neuigkeiten über Hanima Bhandury und Tamhan Khatri?«
»Ja, aber was noch wichtiger ist, auch über Pen Yas ben Min.«
»Pen? Die Cousine von Nel Kit ben Sah?«
»Genau die. Wenn ich mich nicht irre, wird sie als eine der berühmtesten Fornerinnen aller Zeiten in die Geschichte eingehen.«
»Wirklich? Sie war doch noch so jung und gerade erst gesegnet.«
»Aye, aber ein Grünärmel. Das werdet Ihr sicher hören wollen.«
»Absolut.« Fintan wandte sich zu mir um. »Entschuldigt bitte, Dervan, aber das klingt nach etwas, das ich so schnell wie möglich hören sollte. Wir machen ein andermal weiter, in Ordnung?«
»Natürlich, aber ich habe eine Frage«, sagte ich und sah Eimear an. »Weshalb seid Ihr hier?«
Ein wenig verdattert zeigte sie mit dem Finger auf ihren Landsmann. »Um Fintan zu informieren.«
»Ja, aber wieso?«
»Das Triunische Konzil hat es so befohlen. Ich war eine Zeit lang in Talala Fouz, wo einiges passiert ist. Als ich kürzlich nach Rael zurückgekehrt bin, um den Mitgliedern des Konzils davon zu berichten, sagten die, Brynlön müsse das alles auch erfahren, und ich solle es noch mal Fintan erzählen, damit er es in seine Geschichte der Gigantenkriege einflechten könne.«
»Seine … Moment mal … Seine Erzählung ist dem Triunischen Konzil so wichtig, dass sie Euch eigens mit einer Kurierin hergeschickt haben, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen?«
»So ist es.«
»Noch einmal: wieso? Das kommt mir absolut unverhältnismäßig vor.«
»Wir beide, Ihr und ich«, antwortete Fintan anstelle der Bardin, »sind noch nicht zu der Stelle gelangt, an der das Konzil mich hierher beordert hat. Aber das werden wir bald. Bis dahin kann ich Euch nur sagen, dass diese Geschichte nach Meinung der Triunen für unsere beiden Nationen sehr wichtig ist und dass wir Raeler Brynlön damit erheblich unterstützen.«
Eimear nickte. »Und natürlich ist ihnen bewusst, dass Ihr, Meister du Alöbar, sie aufschreibt und dabei Eure eigenen historischen Anmerkungen hinzufügt. Sie hoffen, die fertige Version dieses Gemeinschaftsprojekts zweier verbündeter Nationen eines Tages lesen zu können.«
Ich war mir nicht sicher, ob sie von meinen Ergänzungen begeistert sein würden, in denen ich beschrieb, wie ich Fintan als Spion entlarven sollte, während jahrelang ein Knochengigant das Amt unseres Meisterspions bekleidet hatte. Er hatte mir eingeredet, Clodagh hätte die Ermordung meiner Frau veranlasst, und gehofft, dass ich versuchen würde, mich an ihr zu rächen. Inzwischen wusste ich natürlich, dass der Geist mich nach Strich und Faden angelogen hatte, doch das änderte nichts daran, dass vieles, was ich in diesen Abschnitten notiert hatte, für Brynlön und für mich persönlich unglaublich peinlich sein könnte.
Vielleicht wäre es aber auch eine wunderbare Gelegenheit für einen offenen Dialog, der es uns ermöglichen würde, in Zukunft produktiver zusammenzuarbeiten. Wer konnte das schon sagen? So oder so würde Pelenaut Röllend mir und vor allem Rael jedoch früher oder später für ein paar fragwürdige Entscheidungen Rede und Antwort stehen müssen, die er in diesem Zusammenhang getroffen hatte.
»Also gut«, erwiderte ich. »Damit werdet Ihr wahrscheinlich eine Zeit lang beschäftigt sein, oder?«
»Ja, es gibt viel zu erzählen.«
»Dann lasse ich Euch jetzt mal allein, Fintan, und wir sehen uns später auf der Mauer. Ihr könnt mein Frühstück haben, Eimear. Ich werde mir woanders etwas besorgen.«
Damit hatte ich einen freien Vormittag, den ich dazu nutzen wollte, Rölly oder seine Lunge, Föstyr du Bertrum, abzupassen und mir von ihnen näher erklären zu lassen, was ich am Vortag von Nyssa du Valas erfahren hatte – nämlich, dass Sarena vom nentianischen Botschafter, Jasindur Torghala, umgebracht worden war, den Rölly des Landes verwiesen hatte. Und dass der Giftmord an ihr von niemand anderem als der Schietschlange Melishev Lohmet befohlen worden war, dem ehemaligen Vizekönig von Hashan Khek und derzeitigen Monarchen von Ghurana Nent. Rölly hatte beides gewusst und mir nichts davon gesagt. Er hatte sogar vor Kurzem eine Hygienikerin nach Ghurana Nent entsandt, die diesen abscheulichen Mörder möglicherweise von seiner tödlichen Krankheit kurieren würde.
Nyssa hatte mir gesagt, dass der Botschafter aus einem anderen Grund ausgewiesen werden musste, um ihre Rolle in der Botschaft geheim zu halten, doch das erklärte nicht, weshalb mir das alles verheimlicht worden war. Rölly hätte einen Monat lang Gelegenheit gehabt, mich einzuweihen, doch stattdessen hatte er mich die Lüge des Geists glauben lassen, Clodagh hätte irgendetwas mit dem Tod meiner Frau zu tun gehabt.
Außer Nyssa war nicht, wer sie zu sein vorgab, und alles, was sie mir erzählt hatte, nur ausgedacht. Ihre Behauptungen wirkten zwar plausibel, wohingegen alle Informationen, die vom Geist stammten, verdächtig waren, aber nur der Pelenaut oder die Lunge konnten mir sagen, ob ihre Geschichte wirklich stimmte.
Meine Gesuche um Audienzen wurden jedoch brüsk abgeschmettert. Die beiden Männer seien unfassbar beschäftigt, beschied mir ein Matrose im Palast, und egal, wie wichtig mir meine Neuigkeiten auch vorkamen, sie könnten schlicht und einfach keine Zeit für mich erübrigen. Wenn ich wollte, könne ich bei ihm jedoch eine Nachricht für sie hinterlassen.
So hatte ich mir das nun wirklich nicht vorgestellt. Ich sagte dem Mann lediglich, er solle Rölly ausrichten, dass ich ihn dringend sehen müsse, und stolzierte so schnell davon, wie es mein lädiertes Knie zuließ, um in der Flüchtlingsküche vor der Stadtmauer auszuhelfen. Dort würde ich meine Rachegelüste an unschuldigem Gemüse ausleben können, und außerdem schien die Küche der Ort zu sein, wo ich derzeit meine besten Informationen herbekam.
Als ich meinen kleinen Berg trauriger Kartoffeln halb abgearbeitet hatte, wurde mir auf einmal klar, dass Eimear, die bis vor Kurzem in Talala Fouz gewesen war, sicher wusste, ob Melishev Lohmet noch lebte oder nicht. Dummerweise war ich zu abgelenkt gewesen, um sie danach zu fragen.
Es waren bei Weitem nicht genug Kartoffeln, um meine Wut an ihnen abzureagieren. Ich fragte mich, ob der Köchin heute der Sinn nach einer dünnen Suppe stand oder ob unsere Vorräte zur Neige gingen.
»Sie gehen zur Neige«, bestätigte Höna du Rödal meine Befürchtung. »Ich teile unsere wenigen Reste so gut wie möglich ein. Soweit ich gehört habe, werden eine ganze Weile keine Schiffe mehr kommen. Wir werden den Gürtel also enger schnallen müssen. Viel enger.«
Das war eine verstörende Neuigkeit. Morgen früh würde ich die letzte Scheibe meines derzeitigen Brots toasten. Mir wurde bewusst, dass es möglicherweise auch mein letzter Laib sein würde. Ein Abstecher zur Bäckerei ergab, dass es tatsächlich, zumindest vorläufig, keine weiteren geben würde.
»Tut mir leid, wir haben kein Mehl mehr«, sagte der Bäcker. »Sobald wir neues Korn reinbekommen, fangen wir sofort wieder an zu backen.«
Als ich an diesem Nachmittag zur Mauer ging, hatte ich gute Gründe, finster dreinzublicken, und damit war ich gewiss nicht der Einzige. Mittlerweile ahnten vermutlich alle, die noch nicht hungrig waren, dass sie es bald sein würden. Und Vorahnungen dieser Art schlagen jedem aufs Gemüt.
Fintan tat sein Bestes, um alle aufzumuntern. Bevor er mit seiner täglichen Erzählung begann, stellte er Eimear vor und sang mit ihr ein Duett. Ich muss zugeben, dass es herrlich war, ihre ausgebildeten Stimmen im Gleichklang zu hören. Es war ein schnelles Lied, zu dem wir einen Partner an den Händen fassen und uns miteinander so rasch wie möglich im Kreis drehen sollten, bis uns so schwindlig wurde, dass wir hinfielen. Das war eine Aktivität, an der ich mich wegen meines kaputten Knies nicht beteiligen konnte, aber es war höchst amüsant, allen anderen dabei zuzusehen. Fintan und Eimear sangen im Grunde immer den gleichen Text, doch ihre Harmonien waren sehr abwechslungsreich. Es war einfach großartig.
Rund und rund und rundherum
Genießen wir den Schwindel
Und fallen alle um
Aber wir lachen nur und stehen wieder auuuuf
Und dann …
Drehen!
Wir!
Uns!
Wieder!
Rund und rund und rundherum
Mann, ist mir schwindlig
Und wieder fallen alle um
Aber wir lachen nur und stehen wieder auuuuf!
»Meine Freundinnen und Freunde, Eimear hat mir bemerkenswerte Neuigkeiten aus dem Westen überbracht. Ich weiß, dass viele von euch neugierig sind, was dort gerade geschieht. Aber bevor ich es euch erzähle, muss ich erst ein Stück in der Zeit zurückspringen, um uns auf den aktuellen Stand zu bringen. Bis zum Monat Bernsteingelb, um genau zu sein. In den folgenden Geschichten werden ein paar Ereignisse geschildert, von denen ich bereits erzählt habe, zum Teil jedoch aus einer neuen Perspektive, nämlich der von Pen Yas ben Min. Erinnert ihr euch noch an sie? Sie ist ein fornischer Grünärmel. Am zweiten Tag habe ich euch von ihrer Suche berichtet. Ihr Bruder, Yar Tup Min, wurde von einem Hundereiter der Hathrim getötet, als die Forner Gorin Mogens illegale Siedlung in Baghra Khek entdeckten.«
Fintan warf eine seiner schwarzen Kugeln zu Boden – seinem vollen Beutel nach zu urteilen, hatte Eimear ihm neue mitgebracht – und verwandelte sich in eine junge, blasse Fornerin. Ihre blonden Haare hatte sie zu zahlreichen Zöpfen geflochten und mit blauen und weißen Blumen hochgesteckt, die zu ihrem Wams passten, das weder braun noch grün wie die Bekleidung der meisten Grünärmel war, sondern ebenfalls blau-weiß. Ihre Verwandtschaft mit Nel war unverkennbar, doch sie war sichtlich um Eigenständigkeit bemüht.
Die Geschichten über die alten fornischen Helden sind von der Vorstellung geprägt, dass es nur eines gibt, was einen größeren Schatten wirft als der Wald, und das ist das eigene Vermächtnis. Das beste Beispiel hierfür ist das berühmte Rätsel aus dem Blattlied des Grasgleiter-Poeten Nat Huf ben Zon: Salbei und Spross gehen durch einen Haselnusshain. Dabei lächelt Salbei sanft und deutet um sich herum.
– Sag mir, Spross: Was gedeiht und wächst immer weiter, ganz ohne Wasser, Erde oder Sonnenlicht?
– Legenden, Salbei, können mit jeder Neuerzählung immer größer werden.
Ich habe diese Passage immer geliebt, weil es eines von nur vier Malen ist, dass Spross bereits im ersten Anlauf die richtige Antwort gibt. Früher dachte ich, es wäre eine Ermahnung, nicht alles zu glauben, was man hört, oder dass man sich nicht über andere erheben solle. Doch nun erkenne ich die unverblümte Wahrheit, die aus diesen Worten spricht: Meine Cousine, Nel Kit ben Sah, ist im Tod viel weiter über sich hinausgewachsen, als es ihr im Leben je möglich gewesen wäre.
Als ich erfuhr, dass sie sich geopfert hatte, um das Herdfeuer Gorin Mogen unschädlich zu machen, war ich natürlich welk vor Trauer über ihren Verlust und – auch wenn man mir befohlen hatte, in Forn zu bleiben – voller Schuldgefühle, weil ich nicht an ihrer Seite gekämpft hatte. Sie hatte mich zu meiner Suche begleitet und als frisch gesegneten und von Schmerzen geplagten Grünärmel über den Wald gebracht, damit ich mich das erste Mal in der Sonne aalen konnte. Nel war freundlich, verwegen und ehrenhaft – ein Vorbild, dem man nacheifern wollte. Außerdem war sie meine liebste Cousine.
Später war ich dankbar für die hochverdiente Anerkennung, die sie für ihre Verdienste um den Wald erhielt. Nel hatte sich von Anfang an als würdig erwiesen, als der Erste Baum sie zu seiner Vorkämpferin erkor. Ich hätte nicht stolzer auf sie sein können. Und ich war dankbar für das Prestige und die Ehre, die sie dem Clan der Spinnfäden einbrachte.
Doch obwohl das alles noch immer gilt, gebe ich zu, dass ich mich mittlerweile wie ein klitzekleiner Trieb fühle, der sich aus einer Silberrinde zu winden versucht. Ich gelte nicht mehr als Pen Yas ben Min, sondern als die Cousine von Nel Kit ben Sah. Die Leute, die mir begegnen, sind ehrfürchtig und respektvoll, und ihre Augen glitzern vor Tau, aber nicht wegen meines scharfen Verstandes oder meiner Schönheit oder irgendetwas, das ich getan habe … Ich bin eine Blutsverwandte von Forns neuester großer Heldin, mehr nicht.
Das hat zu viel mehr romantischen Avancen geführt, als ich bislang gewohnt war, doch sie reizen mich nicht. Ist es kleinlich oder egoistisch, wenn ich mir wünsche, dass man mich schätzt, weil ich Pen bin, und nicht als Nels Cousine? Ich habe das Gefühl, dass ich immer bestenfalls als beides wahrgenommen werde. Und außerdem kann ich niemandem außerhalb meines Clans vertrauen, weil ich mir keine Gefälligkeit oder Ehrerbietung, die mir entgegengebracht wird, selbst verdient habe. Ihr Lächeln gilt nicht mir, sondern ihr. Die Luft, die ich atme, ist mit fast sichtbarer Täuschung geschwängert, wie Pollen, die im Frühling im Sonnenlicht schweben.
Irgendwann wurde mir klar: Um aus Nels Schatten herauszutreten, der größer als der Wald selbst zu sein schien, musste ich als Allererstes Forn verlassen. Also bat ich, als ich jüngst am Schwank am Zweiten Baum in Pont teilnahm, um einen Auftrag, der mich aus Forn hinausführen würde. Natürlich müsste er vor allem dem Wald dienen – vielleicht eine Mission, die seinen Einfluss nördlich der Grenze ausweiten würde. Die Idee wurde grundsätzlich wohlwollend aufgenommen, aber es erfolgte kein unmittelbarer Vorschlag, und so kehrte ich zurück, um weiter in Nels altem Revier zu patrouillieren. Eine Woche später kam eine Nachricht durch Wurzel und Stamm: Ich sollte mich von meiner Familie verabschieden und in Pont mit Vet Mof ben Tam aus dem Clan der Grauen Eichhörnchen treffen. Er würde mir einen Auftrag im Norden zuweisen.
Meine Eltern waren traurig und stolz. Meine Freunde freuten sich für mich, doch sie waren auch ein bisschen neidisch. Sie würden sich ebenfalls gern beweisen.
Ich zitterte wie ein vom Wind geschüttelter Zweig, als ich zu ben Tam ging. Er befand sich im Teebaumhaus der Grauen Eichhörnchen, auf einem den Clanmitgliedern vorbehaltenen Stockwerk, wo er abwechselnd an einer Hartholzpfeife paffte und Tee aus einer mit Honig beträufelten Porzellantasse trank. Über seinem Kopf kräuselten sich weiße Rauchfäden. Als ich mich vorstellte, deutete er auf ein Kissen neben seinem und lud mich ein, darauf Platz zu nehmen.
Er war ein Züchter im Ruhestand, der sich auf Heilmittel gegen Pflanzenkrankheiten spezialisiert hatte. Sein Gesicht war nach vielen Jahren in der Sonne braun und wettergegerbt. Dem silbern und golden schillernden Seidengewand nach zu urteilen, das er über seinem Waffenrock trug, war er damit reich geworden. Es war stellenweise mit Spinnenseide aus meinem Clan bestickt.
Er grinste um seinen Pfeifenstiel herum und wackelte mit den buschigen Augenbrauen. »Aaah, ich kann die Abenteuer, die auf dich warten, förmlich riechen«, sagte er. »Lass uns Tee trinken und über angenehme Belanglosigkeiten plaudern. Über Knoten und Rillen sprechen wir, sobald wir sicher sein können, dass niemand uns unterbricht.«
»Angenehme Belanglosigkeiten also? Wir könnten uns über Poesie unterhalten, die angenehm, aber ohne Belang ist.«
Sein Grinsen wurde breiter. »Ich habe schon gehört, dass du ben Zon zitieren kannst. Magst du Salbei und Spross?« Als ich nickte, lachte er leise und begann zu husten. Er bat mich um Verzeihung und griff nach seiner Teetasse. Nach ein paar tiefen Schlucken stellte er sie mit einem gedämpften Klirren auf die Untertasse zurück. »Wollen mal sehen, ob ich mich noch an irgendetwas erinnern kann. Sag mir, Spross: Wie kann ein weicher und stumpfer Verstand geschärft werden?«
Lächelnd erwiderte ich: »Lass das Vertraute zurück, Salbei, und suche nach dem Ungesehenen.«
»Aaah, ganz richtig. Das ist etwas, das man vor allem im fortgeschrittenen Alter nicht vergessen sollte. Um ehrlich zu sein, lasse ich mich viel zu sehr verhätscheln und bin bequem geworden.« Eine Kellnerin erschien mit zwei frisch gebrühten Kannen Tee und fragte mich, wie ich meinen mochte. Als ich sagte, ich nähme ihn gern wie ben Tam, schöpfte sie Honig aus einem Krug, malte damit Striche in unsere Tassen und goss sie mit heißem Tee auf. Wir dankten ihr. Sobald sie weg war, schob sich das Laub um das Stockwerk zu einem undurchdringlichen Dickicht zusammen, durch das wir weder gesehen noch gehört werden konnten, solange wir unsere Stimmen nicht erhoben.
»Siehst du, wie verwöhnt ich bin?«, fragte ben Tam.
»Ich danke dir und allen Grauen Eichhörnchen für diese Chance, ben Tam«, sagte ich. »Ich bin bereit, euch so gut wie möglich zu dienen.«
»Das sehe ich, ben Min. Doch dieser Auftrag hat nichts mit mir oder meinem Clan zu tun. Ich bin nur der Bote. Er kommt vom Ersten Baum.«
Ich sah ihn entgeistert an, was ihn offensichtlich amüsierte. Er paffte erneut an seiner Pfeife, und sein Grinsen wurde zum Teil von einer Rauchwolke verdeckt. »Wieso trinkst du nicht noch etwas Tee, bis dir eine Antwort einfällt?«
»Ich werde natürlich alles tun, was der Erste Baum von mir verlangt«, gab ich schnell zurück.
»Ha! Gute Antwort. Wie lange kannst du dem Wald fernbleiben?«
Ich zuckte die Achseln. »So lange, wie es erforderlich ist.«
»Noch eine gute Antwort. Es kann ein paar Wochen, vielleicht aber auch mehrere Jahre dauern.« Ben Tam griff in eine Tasche seines Seidenmantels und zog einen kleinen, mit einem Lederriemen verschnürten Beutel heraus. Er beugte sich vor und legt ihn ganz sanft zwischen uns auf den Tisch, als enthielte er etwas sehr Kostbares und Zerbrechliches.
»Was ist darin?«
»Das möchte ich dich gern erst mal raten lassen, muss allerdings zugeben, dass ich im umgekehrten Fall niemals darauf gekommen wäre.«
»Ist es eine geschnitzte Miniatur, ein Kunstwerk, das ich irgendjemand Wichtigem im Norden übergeben soll?«
»Nicht schlecht. So etwas hätte ich auch vermutet. Es ist aber leider falsch. Versuch es noch mal.«
»Du bist ein Züchter. Es könnte also hybrides Saatgut für eine neue Nutzpflanze sein, die der Erste Baum im Norden kultivieren möchte.«
Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Das ist überraschend nah an der Wahrheit, jedoch nur zur Hälfte richtig. Der Erste Baum möchte tatsächlich, dass du es im Norden anpflanzt. Aber es ist keine Nutzpflanze, meine Liebe. Nein, in diesem Beutel befindet sich eine Eichel. Eine sehr seltene, äußerst spezielle Silberrindeneichel.«
Mir klappte der Mund auf. »Doch nicht etwa eine Eichel vom Ersten Baum?«
»Genau das. Und der Erste Baum will, dass du, ben Min, diese Eichel irgendwo nördlich des Waldes in die Erde setzt. Du hast den Auftrag, nichts Geringeres als den Vierten Baum zu pflanzen.«
»Ich bin doch noch nicht mal richtig erwachsen.«
Der alte Mann zuckte die Achseln. »Da der Erste Baum dich gesegnet hat, ist ihm das vermutlich durchaus bewusst.«
»Und wo soll ich ihn pflanzen?«
»Das bleibt dir überlassen, Spross. Suche das Ungesehene.«
»Du machst wohl Witze. Etwas so Bedeutsames kann unmöglich meine Entscheidung sein.«
»O doch, es ist mein Ernst. Wir Grauen Eichhörnchen haben natürlich genau die gleiche Frage gestellt. Der Erste Baum sagte, du würdest die richtige Stelle schon erkennen, wenn es so weit ist.«
»Kannst du mir denn gar keinen Hinweis geben?«
»Doch, klar. Geh nach Norden.«
»Aber wohin? Nach Ghurana Nent, Rael oder Brynlön?« Da Forn den gesamten Kontinent überspannte, war Norden eine extrem vage Richtungsangabe.
»Das liegt, wie gesagt, ganz in deinem Ermessen.«
»Wieso in meinem? Und wieso jetzt?«
»Diese Fragen haben wir ebenfalls gestellt. Der Erste Baum hat nicht darauf geantwortet. Du weißt jetzt genauso viel wie ich. Und es muss ein Geheimnis bleiben. Denk dir irgendeinen Grund für deine Reisen aus und sage niemandem, dass du im Auftrag des Ersten Baums unterwegs bist.«
Bei dem Gedanken, was sich in dem kleinen Beutel befand, wurde ich immer nervöser. »Ben Tam … Was ist, wenn ich ihn verliere?«
»Mach das besser nicht.« Er lachte wieder, lauter diesmal und zum Glück, ohne zu husten. »Ist dir eigentlich die historische Tragweite dieses Moments bewusst? Ich schicke eine junge Frau los, um den Vierten Baum zu pflanzen, und ich werde niemandem davon erzählen können, bis du deine Aufgabe erledigt hast.«
»Das ist mir ein schöner historischer Moment. Ich weiß noch nicht einmal, womit ich anfangen soll.«
»Morgen früh geht ein Schiff nach Norden. Das solltest du nehmen.«
»Und wie stelle ich das an?«
Ben Tam klemmte sich die Pfeife zwischen die Zähne und griff in die andere Tasche seines Mantels, aus der er einen viel schwereren Beutel holte. Als er ihn, merklich weniger behutsam als den ersten, auf den Tisch legte, klimperten darin Münzen.
»Die meisten Probleme lassen sich mit Geld lösen. Der Clan der Roten Fasane transportiert Personal nach Batana Mar Din und anschließend nach Talala Fouz, für die neuen Teehäuser, die sie gerade im ganzen Land errichten. Sie haben sicher eine Koje für dich. Geh von Bord, wo immer du willst. Wenn dir danach ist, kannst du flussaufwärts bis nach Rael fahren.«
Ich deutete auf den Beutel. »Ist das ein Darlehen?«
»Nein, das ist für deine Reisespesen und dazu dein Lohn, den übrigens die Regierung von Forn und nicht dein Clan bezahlt. Solltest du mehr Geld benötigen, kannst du es – innerhalb vernünftiger Grenzen, versteht sich – bei unseren Landesvertretungen aufstocken. Wir werden die Botschafter im Norden verständigen, dass sie dich mit allem versorgen sollen, was du brauchst. Du musst dich einfach nur an sie wenden.«
Da ich nicht wusste, was ich dazu sagen sollte, griff ich nach meiner Teetasse.
Ben Tam nickte anerkennend. »Es ist meistens besser, zuzuhören, als etwas zu sagen. Welche Sprachen beherrschst du außer Fornisch noch?«
»Nentianisch und ein bisschen Hathrim, wie viele aus dem Westen.«
Wieder nickte er. »Damit wirst du gut zurechtkommen. Sieh zu, dass du noch ein bisschen schläfst. Das Boot legt im Morgengrauen ab, aber ich würde an deiner Stelle jetzt schon mal zum Hafen gehen und mir eine Passage sichern.«
»Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht«, erwiderte ich. »Wenn dies tatsächlich ein historischer Moment ist, möchte ich gern kurz innehalten und ihn genießen.« Ich beugte mich vor und füllte unsere Tassen. »Sag mir, Spross: Was kann man nicht festhalten, aber man muss es sich immer nehmen?«
Vet Mof ben Tams Gesichtszüge hellten sich auf. »Eine Herausforderung!« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Das sollte ich eigentlich wissen. Warte mal … Ach ja. Das ist wohl die Zeit, Salbei, die wir uns nehmen müssen, um unsere Lebensfreude nicht zu trüben.«
Nun nickte ich anerkennend. »Du kennst deinen ben Zon.«
»Sein Blattlied ist ein Meisterwerk, und das nicht nur für die Jungen. Ben Zons Worte rühren auch ältere Semester wie mich. Tatsächlich verändern sie sich wie Herbstlaub und gewinnen mit wachsendem Verständnis und zunehmender Erfahrung immer mehr Nuancen hinzu.«
Anschließend saßen wir eine halbe Stunde lang schweigend beieinander, genossen unseren Tee und meditierten einträchtig, wie Salbei und Spross es im Blattlied häufig tun. Ben Tam und ich würden uns in diesem Leben wahrscheinlich nie wiedersehen – es war bemerkenswert, dass sich unsere Zweige überhaupt miteinander verflochten hatten. Deswegen konnte ich die Tradition der gemeinsamen Teestunde inzwischen schätzen, auch wenn ich sie als Kind kaum ertragen hatte. Damals war mir noch nicht bewusst gewesen, wie flüchtig unser Leben sein kann, und ich hatte nicht würdigen können, wie überragend komplex ein lebendiger Wald und die Kreaturen darin waren, die allesamt unter dem Blätterdach zu gedeihen versuchten. Doch nun halte ich es für äußerst sinnvoll, mir für andere Zeit zu nehmen, denn ich weiß, wie wichtig jeder Einzelne von uns für unser gemeinsames Leben ist.
Während wir so saßen, prägten sich die zahlreichen Gerüche, die sich im Laufe der Jahre in dem Baumhaus entwickelt hatten, tief in mein Gedächtnis ein. Denn mir war tatsächlich klar, wie bedeutsam dieser Moment für mich persönlich und vielleicht sogar für den Lauf der Geschichte war. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich bald – oder überhaupt je – in den Wald zurückkehren würde, war sehr gering. Auf keinen Fall würde ich mich einfach davonmachen und den Vierten Baum sich selbst überlassen, nachdem ich die Eichel des Ersten Baums eingepflanzt hatte. Und obwohl der Clan der Roten Fasane möglicherweise Teebaumhäuser in Ghurana Nent wachsen lassen würde, wären sie nicht wie dieses, das bereits seit Jahrhunderten im Wald lebte. Denn ganz egal, wie alt ein Teebaumhaus in Ghurana Nent auch wäre, es gäbe dort auf keinen Fall einen freundlichen Züchter im Ruhestand vom Clan der Grauen Eichhörnchen, der bereit sein würde, sich mit mir über die Verse meines Lieblingsgedichtes zu unterhalten. Ich hatte mir gewünscht, aus Nels Schatten treten zu können, und dieser Wunsch war mir auf höchst unerwartete Weise erfüllt worden.
Aus Angst vor dem Unbekannten und dem Ungesehenen zögerte ich zu gehen. Doch ich hatte bereits entschieden, dass ich hier nicht mehr wachsen konnte. Es war Zeit, mir meinen eigenen Platz an der Sonne zu suchen.
Seufzend bedeutete ich ben Tam, dass ich bereit war, ihm Lebewohl zu sagen. Er beendete seine stille Meditation, schlug die Augen auf und bedachte mich mit einem Nicken und einem winzigen Lächeln.
Ich erwiderte es und nahm die beiden Beutel, die er vor mir auf den Tisch gelegt hatte. »Ich werde dir ewig dankbar sein, ben Tam. Möget ihr, du und dein Clan, stets mit einer reichen Ernte gesegnet sein.«
»Wachse stark und stabil, ben Min«, erwiderte er. »Vielen Dank, dass du diese Aufgabe für das Wohl des Waldes auf dich nimmst.«
Ich erhob mich von meinem Kissen und verbeugte mich tief, wie vor einem angesehenen Ältesten.
»Dann geh, Spross«, sagte er glucksend. »Und werde zu einer Legende, die es wert ist, immer wieder erzählt zu werden. Wie deine Cousine.«
Auf dem Weg zum Ausgang traten mir Tränen in die Augen. Ich streckte mein Kenning aus, bat die Blätterwand, sich für mich zu teilen, und bedankte mich bei allen Angestellten des Teehauses, bevor ich hindurchtrat. Anschließend begab ich mich zu meiner Unterkunft, um mein Reisebündel zu holen und gleich zum Hafen weiterzugehen, da ich ohnehin kein Auge zumachen würde.
Das Schiff der Roten Fasane war nicht schwer zu finden. Verzauberte Feuerschalen tauchten das dunkle Holzdeck, auf dem trotz der späten Stunde noch einiges los war, in ein warmes Licht. Der Kapitän erwartete mich bereits, und wir wurden uns schnell einig. Ich ließ mein Bündel auf meine Schlafkoje fallen und machte mich nützlich – auch wenn es ein bisschen dauerte, bis ich alle davon überzeugt hatte, dass ich nicht nur höflich sein, sondern tatsächlich mit anpacken wollte.
Die meisten Leute an Bord waren so jung wie ich. Die Fracht bestand größtenteils aus Tee für die Baumhäuser. Und nachdem wir den Hafen verlassen hatten, wurden fast alle von uns schon bald schrecklich seekrank.
Da ich aus einem Clan stammte, in dem niemand zur See fuhr oder auch nur Kontakt mit Matrosen pflegte, hatte ich gar nicht gewusst, dass es so etwas wie Seekrankheit überhaupt gibt. Während ich mich mit mehreren anderen an der Reling aufreihte und in den Ozean kotzte, fand ich heraus, dass die Forner sogar außergewöhnlich anfällig dafür waren. Die erfahrenen Seeleute gaben uns kleine Pillen gegen die Übelkeit. Ein paar wenige Glückliche benötigten keine, und der Kapitän erklärte uns entschuldigend, dass er die Vorräte schonen und daher wissen müsse, wem schlecht werden würde und wem nicht. Er versprach uns, dass sich unser Körper nach ein paar Tagen an den Wellengang angepasst haben würde, sodass wir keine Medizin mehr brauchten. Bis dahin würden wir uns jedoch mehr oder weniger unwohl fühlen.
Mein Respekt vor Seeleuten wuchs in dieser Zeit ins Unermessliche, da allein an Bord eines Schiffes zu existieren äußerst erschöpfend war, ganz zu schweigen davon, auf einem zu arbeiten.
Als wir den Ort passierten, an dem Nel zu Tode gekommen war, wühlte ich in meinem Bündel nach einem Beutel ganz spezieller Erde. Ich hatte Mohnsamen darin eingepflanzt und ließ nun den Wind die Blumen davontragen, zur Erinnerung an sie und all die anderen Forner, die zum Schutz des Waldes ihr Leben gelassen hatten. Da auch ein paar Mitglieder des Clans der Roten Fasane bei diesem Einsatz gefallen waren, erwähnte ich ihre Namen ebenfalls.
Einige Tage später erreichten wir Batana Mar Din, wo wir ein paar Passagiere und ziemlich viel Tee ausluden und im Gegenzug einen einzelnen neuen Passagier und Frachtgut für Talala Fouz an Bord nahmen. Ich musste mich entscheiden, ob ich hier an Land gehen oder weiterfahren würde. Letztlich war es der Neuankömmling, der mich davon überzeugte, an Bord zu bleiben. Mak Fin ben Fos war ein Grünärmel aus dem Clan der Roten Fasane. Ich begegnete ihm in einer Schenke in der Nähe des Hafens, wo die Besatzung ihren Landgang genoss. Er lud mich ein, mich zu ihm zu setzen, und gab mir ein Bier aus. Wie sich herausstellte, wusste er einiges über das Sechste Kenning zu berichten.
Mak war ein erstaunlich gutaussehender Mann, versuchte zu meiner Erleichterung aber nicht, mit mir zu flirten. Er war in die Botschafterin Mai Bet Ken verliebt. Von ihr stammte die Idee mit den Teebaumhäusern, die von Mak gepflanzt und von seinem Clan betrieben wurden. Auf diese Weise wollte die Botschafterin Ken den Einfluss des Waldes in Ghurana Nent vergrößern, denn sie war der Überzeugung, dass es für Forn in der derzeitigen Situation einiges zu tun gab.
»In wirtschaftlicher Hinsicht meinst du, oder?«, fragte ich.
»Natürlich. Auf beiden Seiten der Grenze. Eine Kombination aus dem Fünften und dem Sechsten Kenning wäre enorm vielversprechend. Aber davor müssen wir noch ein paar Sicherheitsprobleme lösen, meinst du nicht auch?«
Ich war erstaunt, dass er über diese Themen so offen mit mir sprach, doch dann wurde mir wieder bewusst, dass ich ein Grünärmel des neuerdings sehr renommierten Clans der Spinnfäden war und dass demzufolge mein Wort im Schwank ein gewisses Gewicht haben würde, falls er eine Fürsprecherin brauchte.
»Das hört sich plausibel an«, sagte ich, »aber ich muss zugeben, dass ich mich im Wurzelwerk der nentianischen Politik nicht sehr gut auskenne. Bitte vergib mir meine Unwissenheit, ben Fos.«
Er winkte ab. »Unsinn. Ich spreche mit dir, als wärest du schon lange hier und hättest gesehen, was ich sah. Was führt dich in dieses Land, wenn ich so neugierig sein darf? Kann ich dir in irgendeiner Weise behilflich sein?«
»Clangeschäfte«, erwiderte ich und dachte an Tams Mahnung, meine wahre Aufgabe geheim zu halten. »Aber keine, die mit euren kollidieren würden«, fügte ich rasch hinzu. »Die Spinnfäden haben mit Tee nichts zu schaffen. Bei uns gibt es nur ein einziges Teebaumhaus, das unseres Clans, und jetzt, da ich darüber nachdenke, glaube ich, dass wir unseren gesamten Tee von deinem Clan beziehen.« Mehr sagte ich nicht, und er hakte nicht nach. »Ich glaube, es wäre gut, wenn ich besser über unsere hiesigen Sicherheitsprobleme Bescheid wüsste. Wärest du so gut, sie mir genauer zu erläutern?«
»Sehr gern«, erwiderte er und erklärte mir, dass der politische Aufruhr weitergehen würde, solange das Sechste Kenning sich ausbreitete, und dass noch nicht feststand, ob die derzeitige Monarchie an der Macht bleiben oder durch etwas Neues ersetzt werden würde. Egal, wer Ghurana Nent in Zukunft führen würde, wir wollten sicherstellen, dass diejenigen keinen Grund hatten, den Wald zu bedrohen. Und so baumelten wir im Moment an sehr zerbrechlichen Zweigen.
»Ich bin gerade aus Khul Bashab zurückgekehrt, wo eine veritable Armee von nur einer Handvoll Wildrufer zurückgeschlagen wurde. Das hat mich mit Hoffnung erfüllt, da diesen Wildrufern sowohl die Interessen des Volkes als auch die Natur am Herzen liegen. Doch derzeit ist ein riesiges Heer dorthin unterwegs, und ich weiß nicht, ob sie dem ebenfalls standhalten werden.«
»Marschiert es auf Geheiß des Königs?«
»Richtig. König Kalaad der Ungesunde hat es geschickt.«
»Und wirst du dich mit ihm treffen?«
»Nicht mit ihm persönlich. Ich bin auf dem Weg zur Hauptstadt. Du hast ja sicher gehört, dass Winthir Kanek sie niedergebrannt hat, oder?«
»Ja.«
»Wir sind dabei, die fornische Botschaft wieder zu errichten, und ich muss noch die Teebaumhäuser oben am Fluss wachsen lassen, zu denen all die Arbeiter auf diesem Schiff unterwegs sind. Außerdem möchte Botschafterin Ken gern erfahren, was in Khul Bashab vor sich geht, und ich hoffe, irgendwann den Grabwald ein wenig erkunden zu können.«
»Du hast den Grabwald gesehen? Wie ist er so?«
»Ganz anders als unser Wald. Es gibt dort vor allem wunderschöne Nadelbäume sowie Pflanzen und Tiere, die viel giftiger und gefährlicher sind als alles, was wir kennen. Ich würde in der Nähe des Flusses bleiben, um zumindest einen kleinen Eindruck von Wurzel und Stamm zu gewinnen. Nach all den weiten Ebenen hier wird der Anblick der Baumstämme sicher tröstlich für mich sein.«
»Ich glaube, die möchte ich auch sehen.«
»Hervorragend! Es wäre schön, sich mit einem anderen Grünärmel unterhalten zu können. Dabei fällt mir ein, dass Nel Kit ben Sah auch aus dem Clan der Spinnfäden stammte. Hast du sie zufällig mal kennengelernt?«
Ich lachte ihm ins Gesicht, wofür ich mich sofort aufrichtig entschuldigte. Doch ich hatte nicht über ihn, sondern über mich selbst gelacht, weil ich so naiv gewesen war zu glauben, ich könnte je aus dem Schatten einer Legende entkommen.
Was für eine entzückende Person, dachte ich, als Fintan Pens Scheinbild auflöste. Ich würde in die Bibliothek gehen und nachsehen müssen, ob dort das Blattlied zu finden war.
»Ich glaube, die Bibliothek hat nur zwei übersetzte Ausgaben des Blattlieds vorrätig«, sagte Fintan, wie zur Antwort auf meinen Gedanken, auf den zweifellos auch viele andere gekommen waren. »Aber wer eine Ausgabe besitzt und sie gerne mit anderen teilen würde, hat bestimmt keine Schwierigkeiten, dafür Abnehmer zu finden. Doch jetzt würde ich gern mit einem eurer liebsten Lokalhelden fortfahren, einverstanden?«
Er nahm die Gestalt des Grynekjägers Gerstad du Löngren an, und die Menge auf dem Feld der Überlebenden brach in tosenden Jubel aus.
Meinem Gesuch um ein Treffen mit Farlen du Cannym, der Quartiermeisterin von Fornyd, wurde nicht sofort stattgegeben. Ich musste ein paar Tage warten, was ich durchaus nachvollziehbar fand. Schließlich hatte sich die militärische Lage erheblich verändert, und sie musste sich mit ganz anderen Problemen herumschlagen, als damit, was ein Trupp gebeutelter Jäger von ihr wollte.
Dennoch ärgerte es mich ein wenig. Natürlich war es nötig, wieder Ordnung zu schaffen – die im Norden liegenden Leichen mussten flussabwärts geschickt werden, wenn die Städte je wieder bewohnbar sein sollten –, aber ich sehnte mich nach einer anderen, nicht ganz so vernünftigen Aufgabe.
Und den restlichen überlebenden Grynekjägern ging es genauso. Da wir uns Tag für Tag mit den Verlusten konfrontiert sahen, die uns die Knochengiganten beigebracht hatten, schliefen wir schlecht, hatten Albträume und behandelten einander besonders höflich – in dieser offensichtlich gequälten Weise, die nicht verhehlen konnte, dass wir unsere Kameraden eigentlich lieber erdrosseln als mit ihnen sprechen wollten. Und als wäre all das nicht schon schlimm genug, hatte sich auch noch unser langjähriger Kumpan, die Schnelle Sören du Hyller, seiner Trauer ergeben.
Vor unserer letzten Aufräumaktion in Grynek hatte er mir geschrieben, dass er nicht mehr weitermachen könne. Seit er entdeckt hatte, dass seine Familie von Knochengiganten getötet worden war, habe sein Leben jeden Reiz für ihn verloren. Er sei dankbar für die Freude, die ich ihm bereitet habe, als er sie noch empfinden konnte, doch nun müsse er leider ins Meer zurückkehren. Ich wusste noch, wie wir gemeinsam die sterblichen Überreste seiner Familie in Tücher gewickelt und auf das Begräbnisschiff gebracht hatten. Dabei hatte er keine einzige Träne vergossen. Er hatte mir versichert, dass er auf seine eigene Weise trauere, und ich hatte es ihm geglaubt. Doch nun wünschte ich, ich hätte gemerkt, wie verzweifelt er gewesen war. Vielleicht hätte ich etwas sagen oder tun können, um ihn zum Bleiben zu bewegen.
Oder zumindest etwas anderes gemacht, als immer wieder zum Ursprung unserer Pein zurückzukehren. Und so nickte ich zwar, als mir ein Brandungsmann der Quartiermeisterin erklärte, dass ich warten müsse, bis sie Zeit für mich habe, doch gleichzeitig mahlte ich mit den Zähnen.
Als sie mich zwei Tage später endlich zu sich rief, bemühte ich mich gerade, das Bewusstsein zu verlieren, und hatte zu diesem Zweck bereits zwei starke Getränke geleert. Es war mir zwar zuwider, in diesem Zustand vor der Quartiermeisterin zu erscheinen, doch ich wollte die Chance keinesfalls ungenutzt verstreichen lassen. Schließlich wusste ich nicht, wann sie wieder Zeit für mich finden würde.
Also ging ich geradewegs in den Quellenraum. Zumindest hoffte ich, dass ich gerade ging.
Obwohl unsere letzte Begegnung nur einen Monat her war, sah Farlen deutlich gealtert aus. An ihren Schläfen und auf ihrem Kopf sah ich graue Strähnen. Kamen sie vom Stress und Schlafmangel, oder hatte sie ihr Kenning überstrapaziert? Hygieniker hatten nur selten Aufgaben zu erfüllen, die sie altern ließen, doch wenn es je eine Situation gegeben hatte, in der so etwas vorstellbar war, dann diese.
Ich fragte mich, ob ich in ihren Augen ebenfalls älter wirkte. Auf jeden Fall fühlte ich mich so. In letzter Zeit knirschten und schmerzten meine Gelenke und Muskeln beim Aufwachen immer intensiver.
»Gerstad. Ich danke Euch, dass Ihr so geduldig gewartet habt, während ich mich um ein paar dringende Aufgaben kümmern musste. Und vielen Dank auch, dass Ihr Euch so tatkräftig an den Aufräumarbeiten beteiligt habt. Euer Trupp hat Brynlön einen sehr großen Dienst erwiesen.«
Verdammt. Sie war so nett, dass ich einfach nicht dauerhaft wütend auf sie sein konnte. Und das sanfte Gurgeln und Plätschern der Quelle war vermutlich dazu gedacht, Besucher friedlich zu stimmen. »Gern geschehen, Quartiermeisterin«, sagte ich und machte mir sogleich Sorgen, dass das die falsche Antwort gewesen war. Gute Manieren waren mir zwar nicht völlig fremd, aber auch nicht gerade meine größte Stärke.
Ihr kurzes Schweigen und verhaltenes Lächeln verrieten mir, dass ich mir deswegen zu Recht Sorgen gemacht hatte, doch sie ließ mir meinen Fauxpas durchgehen. »Wie kann ich helfen?«, erkundigte sie sich.
»Ich habe mich gefragt, was aus den Dokumenten geworden ist, die ich letzten Monat nach unserem Überfall auf das Lager der Knochengiganten im Norden mitgebracht habe. Enthielten sie irgendwelche Hinweise auf ihre weiteren Pläne?«
»Ich habe sie umgehend zur genaueren Untersuchung weitergeleitet, aber noch kein Ergebnis erhalten. Ich weiß nicht, wieso es so lange dauert – vielleicht ist der Übersetzer nicht abkömmlich, oder es wurde bereits eine Antwort losgeschickt, aber der Kurier ist damit noch nicht zu uns durchgedrungen. Ich verspreche, Euch alles zu sagen, sobald ich etwas erfahre.«
»Vielen Dank.«
»Gibt es sonst noch etwas?«
»Ja.« Ich hielt kurz inne, um einen unangemessenen Rülpser zu unterdrücken, bevor ich ihr meinen Vorschlag unterbreitete. »Da wir nicht über genügend Informationen verfügen, schlage ich eine Erkundungsmission zur Nordküste vor«, fuhr ich schließlich fort. »Sie sollte mehrere Ziele verfolgen. Erstens: sicherstellen, dass sich im nahen Wald keine Knochengiganten versammeln. Zweitens: eine geeignete Stelle für eine Hütte auskundschaften, die als Unterkunft für Jäger und Wachposten dienen kann – für den Fall, dass die Knochengiganten nach Süden vordringen. So könntet Ihr gleichzeitig die Sicherheit verbessern und für wirtschaftliches Wachstum sorgen.«
Die Mundwinkel der Quartiermeisterin zuckten. »Na so was, wie süß Ihr von meinen sehnlichsten Wünschen zu singen versteht.«
Ich stutzte, denn das klang wie etwas, was ich nur tun würde, wenn ich zu viel getrunken hatte. »Habe ich … habe ich gerade gesungen?«
»Nur im übertragenen Sinne. Und ich neige dazu, Euch diesen Wunsch zu erfüllen, da er sich mit meinen Wünschen deckt und Ihr uns so vortrefflich gedient habt. Aber Euer Trupp ist gerade ein bisschen schwach besetzt, wenn ich mich recht erinnere.«
»Ja. Wir bräuchten eine neue Schnelle und einen Hygieniker und außerdem ein oder zwei weitere Schwertkämpfer.«
»Eine neue Schnelle? Was ist denn mit eurer alten passiert?«
»Er ist letzte Woche ins Meer gegangen. Er konnte seinen Kummer nicht mehr ertragen.«
»Davon habe ich noch gar nichts gehört. Mein Beileid.«
»Er war ein guter Mann, der uns ehrenvoll gedient hat.«
»Ja. Dann sind wir uns einig, Gerstad. Kommt morgen früh mit Eurem Trupp zurück und meldet Euch in der Kaserne. Dort werden eine Schnelle, ein Hygieniker und zwei Matrosen auf ihren Dienstantritt bei den Grynekjägern warten. Und außerdem ein Bezugsschein für Proviant. Ihr werdet jagen, das nördliche Waldgebiet erkunden und einen geeigneten Platz für eine Hütte suchen.«
»Vielen Dank.«
»Dankt mir noch nicht. Schließlich schicke ich Euch in den Grabwald.«
»Worüber ich mich sehr freue.« Mir ist alles recht, solange wir nicht noch mal aufräumen müssen, fügte ich in Gedanken hinzu.
Ich verließ den Quellenraum so gut gelaunt wie schon lange nicht mehr. Es gab viel zu tun und keinen Grund mehr, mich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken – tatsächlich würde meine erste Aufgabe darin bestehen, die übrigen Mitglieder meines Trupps aufzuspüren und dafür zu sorgen, dass sie ebenfalls nicht zu tief in ihre Becher schauten. Vielleicht würde ihnen der Sinn nach einer extralangen Ruhepause stehen, nachdem sie gerade eine besonders übel riechende Ladung Leichen flussabwärts geschafft hatten. Doch das traf inzwischen auf jeden Transport zu, da die Toten im Laufe der Zeit immer stärker verwesten. Außerdem würden sie etwas anderes sogar noch mehr wollen – nämlich die Chance, ein paar von ihren eigenen Kameraden zurückzuholen, egal, wie gering sie war.
Gyrsön du Neddell, der Koch, war ganz leicht zu finden. Er half als Küchenmeister in einem Restaurant aus, das sich auf die Zubereitung von Wildgerichten spezialisiert hatte. Als er hörte, dass wir am kommenden Morgen zu einer richtigen Expedition aufbrechen würden, kniff er fröhlich die Augen zusammen, und sein großer Schnurrbart zuckte vor Vergnügen.
»Hast du daran gedacht, Proviant anzufordern?«, fragte er.
»Das musste ich gar nicht. Die Quartiermeisterin meinte, dass in der Kaserne ein entsprechender Bezugsschein auf uns warten würde.«
»Wirklich? Bei Bryns salzigem Schwert, diese Frau versteht sich wirklich auf ihr Geschäft. Ich habe sie noch nie gesehen, aber ich glaube, ich liebe sie. Weißt du, ob sie verheiratet ist?«
»Keine Ahnung, ganz sicher aber mit ihrem Beruf.«
»O Gott, Daryck, hör auf«, stöhnte er und presste sich eine Hand aufs Herz. »Extreme Kompetenz und grenzenlose Hingabe? Ich habe keine Ahnung, wie sie aussieht, aber sie muss wirklich heiß sein.«
»Tatsächlich sind ihre Haare vor Stress ein bisschen ergraut – über den Ohren und in einer kleinen Strähne auf ihrem Kopf, ein wenig links von der Mitte.«
»Gnnn. Sag mal, willst du mich eigentlich provozieren?«
»Nein, sie hat wirklich graue Strähnen.«
»O Gott, ich will etwas für sie kochen.«
»Wenn ich das nächste Mal mit ihr spreche, richte ich es ihr aus.«
»Versprichst du das?«
»Ich schwöre es. Wir sehen uns morgen.«
Die anderen waren weniger leicht aufzuspüren und davon zu überzeugen, dass sie sich am Morgen in der Kaserne einfinden sollten, da ich ihnen vor dem nächsten Einsatz einen freien Monat versprochen hatte. Doch bei Tagesanbruch tauchten alle mit gepackten Taschen und gestriegelten, satt aussehenden Pferden auf. Ein Brandungsmann wartete bereits auf uns, zusammen mit ein paar anderen, die er uns nacheinander vorstellte.
»Gerstad du Löngren, das ist Lörry du Bört, eine Schnelle, die der Pelenaut jüngst Fornyd zugewiesen hat und die nun den Grynekjägern zugeteilt wird.«
Lörry versuchte zu verbergen, wie nervös er war – ein junger Mann mit schmalen Lippen und einer scharfkantigen Nase, der vermutlich geglaubt hatte, der Sprung in Bryns Lunge wäre sein Ende. Stattdessen war er nun gesegnet, und man erwartete von ihm, dass er sich nützlich machte.
»Willkommen«, sagte ich und nickte ihm lächelnd zu. »Ihr werdet sehr gut in unseren Trupp passen.«
Als Nächstes deutete der Brandungsmann auf eine auffällige Frau in einer weichen blau-grauen Robe. »Das ist Eure neue Hygienikerin, Vera du Göslyn.«
Sie nickte mir zu. »Die Quartiermeisterin konnte mir nicht sagen, ob ich bei Euch in Sicherheit sein würde, aber ich hoffe es sehr.«
»Ich auch. Aber dafür müssen wir Euch als Erstes festere Kleidung besorgen. Die Krallen der Kreaturen dort draußen schlagen lange Wunden, aus denen Ihr verblutet, bevor wir etwas dagegen unternehmen können. Es wäre gut, wenn Ihr vor unserem Aufbruch noch den Mynstad aufsucht, der die hiesige Waffenkammer leitet.«
»Wie Ihr wünscht. Entschuldigt mich bitte.«
Zuletzt machte mich der Brandungsmann mit unseren beiden neuen Soldaten bekannt. Ich begrüßte sie kurz und gab sie in die Obhut meines Pferdemeisters, Mynstad Luren.
»Und hier habe ich noch einen Bezugsschein für Proviant«, sagte der Brandungsmann und gab mir das entsprechende Schriftstück. Ich reichte es umgehend an Gyrsön weiter. Der überflog es kurz und flüsterte: »Ich liebe sie.«
Den restlichen Vormittag verbrachten wir damit, Wagen zu beladen und eine Fähre aufzutreiben, die uns über den Fluss zum Nordufer bringen würde. Während Gyrsön die anderen anwies, Mehlsäcke und Eimer voll Schmalz durch die Gegend zu schleppen, bedeutete ich Lörry, ein paar Schritte mit mir zu gehen.
»Hast du schon mal als Schnelle in einer Militäreinheit gedient?«, fragte ich ihn mit gesenkter Stimme.
»Nein, ich bin gerade erst gesegnet und ausgebildet worden. Das hier ist mein allererster Einsatz.«
»Gut, er wird sicher nicht ganz leicht, aber auch nicht furchtbar schlimm. Du wirst für mich töten müssen.«
»Wie bitte?«
»Mit den meisten Gefahren werden wir selbst fertig, aber wenn ein Gruftschlund, ein Tannenaffe oder irgendetwas anderes auftaucht, das für unsere Speere zu groß oder zu tödlich ist, musst du dich stattdessen darum kümmern.«
»Gut. Wie?«
»Was meinst du mit ›wie‹? Haben dir das deine Ausbilder denn nicht erklärt?«
»Nein, von töten war nie die Rede.«
Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um. »Willst du mich verarschen? Wir befinden uns mitten in einem Krieg, und keiner hat dir gesagt, dass es dabei auch mal zur Sache geht?«
»Nein, ich schwöre es.«
»Und was ist mit Trockenem Lenken? Haben sie dir das wenigstens beigebracht?«
»Ja.«
»Gut. Um einen Gruftschlund – oder sonst irgendetwas – unschädlich zu machen, nimmst du das Wasser in dessen Kopf und reißt es ruckartig in irgendeine beliebige Richtung. Damit verursachst du eine tödliche Hirnblutung. So einfach ist das. Du bist eine der meistgefürchteten Mordmaschinen der Welt, mein Junge. Mit keinem anderen Kenning kann man jemandem so schnell und so unwiderruflich den Garaus machen.«
Der arme Junge riss die Augen auf. »Oh«, sagte er ganz leise, fast im Flüsterton. Er hatte bislang offenbar ein sehr behütetes Leben geführt.
»Aber zerbrich dir deswegen jetzt nicht den Kopf, und auch nicht, wenn wir dich brauchen. Wenn du möchtest, kannst du darüber nachgrübeln, nachdem du uns den Hintern gerettet hast. Denn wenn du es nicht tust, sind wir alle tot. Ein einzelner Gruftschlund kann leicht unsere ganze Kompanie auslöschen.«
»Dann … brauchst du mich also nur für große Tiere, die uns fressen wollen, oder?«
»Wir sprechen vom Grabwald, Lörry. Da drinnen will dich alles fressen, egal, wie groß oder klein. Das meiste davon können wir wie gesagt auch ohne dich bewältigen. Ein paar Kreaturen aber nicht, und vor allem keine Gruftschlünde. Wenn einer von denen auftaucht – und das passiert fast immer – , musst du ihn töten, bevor er uns kaltmacht. Wenn du zögerst, wird ziemlich sicher jemand dran glauben müssen.«
»Oh … also gut.«
»Und falls wir irgendwelchen Knochengiganten begegnen, dann zaudere auch nicht. Schalte so viele wie möglich von ihnen aus. Warte dazu nicht extra auf meinen Befehl. Den erteile ich dir hiermit im Voraus.«
»Gut.«
Ich klopfte ihm auf den Rücken. »Kopf hoch. So schlimm wird’s schon nicht werden. Meistens ist es sogar gut. Gyrsön dort drüben ist einer der besten Köche, die es gibt. Und ich bin ein ganz passabler Poet.«
»Ja, wirklich?«
»Ich habe mal einen beliebten Band mit Schniedelsonetten verfasst.«
»Das warst du?«
»Ah, es ist immer schön, einem Fan zu begegnen.«
»Wirst du noch weitere schreiben?«
»Waren hundertsechsundachtzig denn noch nicht genug? Aber von mir aus, Junge. Falls wir lebendig aus dieser Sache herauskommen, schreibe ich noch ein paar und widme sie dir.«
»Das würdest du tun? Aber wieso? Glauben die Leute dann nicht, wir wären ein Liebespaar?«
»Das wird keinen interessieren. Vielmehr werden alle den Schniedel von dem Jungen sehen wollen, dem ein ganzes Buch voller Sonette gewidmet wurde. Ich tue dir damit einen Gefallen.«
»Oh! Das klingt toll.«
»Guter Junge. Genieße diesen Traum und lebe ihn später. In der Zwischenzeit tötest du für mich.«
»Ja, Gerstad.«
Ach, wäre es nicht schön, noch einmal so jung und einfach gestrickt zu sein?
Damit brachte der Barde uns alle zum Lachen, was schön war. Die Heiterkeit der Menge brach sich in zwei Wellen Bahn, einmal als spöttische Reaktion auf die Bemerkung des Barden, und dann noch einmal, als sich die Jüngeren im Publikum darüber empörten, dass man sich über sie lustig machte – das war sogar noch witziger. Fintan löste sein Scheinbild auf und versprach, am nächsten Tag mit Pens und Darycks Geschichten fortzufahren.
Als wir uns vom Feld der Überlebenden abwandten, entschuldigte er sich bei mir schon mal vorab dafür, dass er am nächsten Tag vielleicht wieder nicht mit mir arbeiten könne, da er sich noch mal mit Eimear zusammensetzen müsse. »Sie hat wirklich viel zu berichten.«
»Das glaube ich. Hat sie zufällig erwähnt, ob Melishev Lohmet noch lebt?«
»Während der Ereignisse, die sie bisher geschildert hat, war er noch am Leben. Ich habe sie aber nicht gefragt, ob sich daran etwas geändert hat. Sie erzählt mir von Dingen, die sich im letzten Herbst zugetragen haben, und inzwischen haben wir den Monat Blüte.«
»Ah, ich verstehe. Würde es Euch etwas ausmachen, sie für mich danach zu fragen? Ich würde es wirklich gern wissen.«
»Na klar. Kein Problem.«
»Vielen Dank. Dann sehen wir uns morgen zum Mittagessen, egal, ob wir arbeiten oder nicht.«
Damit musste ich also noch eine weitere Nacht auf meine Antwort warten. Ein Teil von mir wünschte sich, Melishev wäre tot, und ein anderer wollte, dass er lebte und litt. Falls es irgendeinen Teil in mir gab, der bereit war, ihm zu vergeben, machte er sich nicht bemerkbar.
Der Mann in der Hütte
Während ich mich zum Mittagessen mit Fintan begab, das eine ziemlich karge Angelegenheit zu werden drohte, ließ ich meinen Gehstock kreisen. Trotz des drohenden Hungers ging ich so beschwingt, wie mein marodes Knie es zuließ. Endlich würde ich auf die Frage, die mich schon seit Monaten beschäftigte, eine Antwort erhalten. Die Leute auf der Straße, auf die meine gute Laune offenbar ansteckend wirkte, lächelten mir zu, und ich wünschte ihnen einen fantastischen Tag. Obwohl ich nicht sicher war, wie ich mich fühlen würde, sobald Melishevs Schicksal feststand, sagte mein Bauchgefühl mir, dass etwas zu wissen immer besser war, als im Dunkeln zu tappen. Der Einsturz des Granittunnels und die darauffolgende Revolution in Ghurana Nent hatte uns alle neugierig gemacht, was dort vor sich ging. Wir wussten im Grunde nur, was der Barde uns erzählte, da die Nentianer selbst nicht freiwillig mit Informationen herausrückten.
Als Letztes hatten wir gehört, wie Melishev Lohmet die fornische Botschafterin Mai Bet Ken töten wollte. Wegen seiner Krankheit war er jedoch ohnmächtig geworden, bevor er dieses Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Zum ersten Mal fragte ich mich, wie Fintan von dieser Geschichte erfahren hatte. Wahrscheinlich von den Fornern, die in gutem Kontakt mit uns standen. Was bedeutete, dass die Botschafterin – sofern Fintan sich bei seiner Erzählung nicht gewaltige künstlerische Freiheiten herausgenommen hatte – überlebt haben musste.
In Bechars Fischlokal war so wenig los wie auf einem Schiff bei Flaute. Die Fischsuppe, die man uns mit einer Entschuldigung servierte, verdiente diesen Namen nur bedingt, da sie ziemlich salzig und sehr dünn war. Sie enthielt lediglich ein winziges Stückchen Muschelfleisch und jeweils einen Bissen Kartoffel und Karotte.
»Also!«, sagte ich zu Fintan. »Habt Ihr daran gedacht, Eimear nach Melishev zu fragen?«
»Natürlich. Ich vergesse nie etwas.«
»Richtig, das war eine dumme Frage. Verzeiht. Was hat sie gesagt? Lebt diese Schietschlange noch?«
»Das kann ich Euch nicht sagen.«
»Wusste sie es nicht?«
»O doch, sie wusste es, und sie hat es mir auch gesagt. Ich kann es Euch bloß nicht verraten.«
»Warum nicht?«
»Das ist nicht meine Entscheidung. Ich habe den Befehl erhalten, es Euch nicht zu verraten.«
»Befehl von wem?«
»Dem Pelenauten. Die Lunge hat ihn mir überbracht.«
Ich blinzelte verständnislos. »Die Lunge hat Euch den Befehl vom Pelenauten übermittelt, mir nicht zu sagen, ob Melishev Lohmet noch lebt oder nicht?«, hakte ich schließlich nach.
»So ist es. Es tut mir leid, aber ich fürchte, ich muss diesen Befehl befolgen, da ich nur als Gast hier bin und jederzeit des Landes verwiesen werden könnte.«
»Das verstehe ich natürlich. Was ich nicht begreife, ist, warum sie Euch so einen Befehl geben?«
Der Barde zuckte die Achseln. »Die Lunge hat es mir nicht erklärt.«
»Natürlich nicht. Aber könnt Ihr Euch einen Grund vorstellen? Ich meine, was immer mit ihm geschehen ist, egal, ob es gut oder schlecht um ihn steht, werdet Ihr doch in den kommenden Tagen ohnehin erzählen, oder?«
Fintan nickte eifrig. »Auf jeden Fall. Ihr werdet es zum gleichen Zeitpunkt erfahren wie alle anderen.«
»Es muss also einen Grund geben, diese Information noch ein paar Tage lang geheim zu halten. Und ich kann mir nicht vorstellen, welcher das sein könnte. Was für einen Unterschied würde es denn schon machen? Es ist ja nicht so, dass ich es rumerzählen und allen die Überraschung verderben würde.«
»Ich kann es Euch leider nicht sagen«, entgegnete Fintan.
»Ich verstehe.« Die Fischsuppe vor mir sah aus, als würde sie sich danach sehnen, wie eine veritable Brühe aus früheren Zeiten zu gerinnen, aber leider fehlte ihr das dafür nötige Fett.
»Dervan?«
»Hmm? Ja?«
»Geht es Euch gut? Ihr starrt schon seit einer ganzen Weile in Eure Schüssel.«
»Ach, äh, tut mir leid, Fintan. Meine Gedanken schwimmen wie ein verirrter Fischschwarm. Gestern habt Ihr erwähnt, dass wir heute vielleicht wieder zu nichts kommen werden, weil Ihr noch mehr Zeit mit Eimear verbringen müsst. Bleibt es dabei?«
»Leider ja.«
»Das macht nichts. Ich glaube ohnehin nicht, dass mir heute nach Arbeiten zumute wäre. Ich weiß, dass wir dadurch noch weiter in Rückstand geraten, aber es besteht ja keine Gefahr, dass Ihr irgendetwas vergesst, richtig?«
»Nein, wir können später weitermachen und die verlorene Zeit wieder reinholen.«
»Hervorragend. Verzeiht, aber ich habe den Appetit verloren. Würdet Ihr mich bitte entschuldigen?«
»Ja, natürlich. Sehen wir uns später auf der Mauer?«
»Ganz sicher. Das würde ich mir auf keinen Fall entgehen lassen.«
Vor dem Barden war es mir gelungen, Ruhe zu bewahren, doch als ich kurz danach im Palast den Pelenauten zu sehen verlangte und erneut abgewiesen wurde, spürte ich Zorn in mir aufsteigen. Röllend hatte mich sozusagen in eine Hummerfalle gesperrt und in der Tiefsee versenkt, und das tat weh – vor allem, weil ich nicht wusste, womit ich das verdient hatte.