Erwischt - Kevin Hearne - E-Book

Erwischt E-Book

Kevin Hearne

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Beschreibung

Nach zwölf Jahren geheimer Druidenausbildung ist es endlich soweit. Atticus O'Sullivan kann seine Auszubildende Granuile an die Erde binden. Auf diese Weise würde die Anzahl der Druiden auf der Welt auf einen Schlag verdoppelt werden. Unglücklicherweise fliegt auf dem Höhepunkt des Rituals Atticus' Tarnung auf. Nachdem er sich nicht länger verstecken kann, bleibt Atticus keine andere Wahl, als mit seinem treuen Wolfshund Oberon und Granuile an den Fuß des Olymps zu reisen. Dort hat allerdings der römische Gott Bacchus geschworen, Rache an ihm zu nehmen. Damit ist er aber nicht der Einzige. Er muss sich hinter einem alten Vampir und einer Horde dunkler Elben anstellen, bei denen die Ermordung von Atticus ganz oben auf der Prioritätenliste steht.

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Seitenzahl: 511

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KEVIN HEARNE

ERWISCHT

DIE CHRONIK DES EISERNEN DRUIDEN 5

Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader

Impressum

Für jene, die in der Schönheit einen Abglanz des Göttlichen erblickt haben,

oder

für alle, die schon einmal an Baseball denken mussten.

Die für die Handlung wichtigsten Götternamen sind in VERSALIEN gesetzt.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

»Trapped« und »Two Ravens and one Crow«

im Verlag Ballantine Books, New York

© 2012 by Kevin Hearne

Für die deutsche Ausgabe

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg unter Verwendung der Illustration des Originalverlags

Illustration: Priscilla Spencer

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96135-5

E-Book: ISBN 978-3-608-10017-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

1 

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Epilog

Zwei Raben und eine Krähe

Vorbemerkung des Autors

Glossar mit Hinweisen zur Aussprache

Irisch

Altnordisch

Griechisch-römisch

Dank

1

Kennt ihr dieses spastische Zucken kurz vorm Einschlafen, wenn die Muskeln dem Gehirn einen Streich spielen? Hellwach fährt man hoch und ist sofort stinksauer auf das eigene Nervensystem, weil man nicht versteht, was das jetzt wieder soll. Ich habe mich sogar schon dabei ertappt, dass ich mit ihm rede. »Verdammt noch mal, Mann.« Ja, wirklich, ich spreche es mit Mann an, und mein Nervensystem lässt es sich gefallen. »Ich hab schon fast geschlafen, und jetzt hast du alle Schafe erschlagen, die ich zählen wollte.«

So ungefähr fühlte es sich an, als ich auf dem Kaibab Plateau unterwegs war, nur dass das spastische Ganzkörperzucken von GAIA herrührte. Eigentlich war es mehr ein unangenehmes Schaudern, das sich durch meine Tätowierungen ausbreitete, so ähnlich, als wäre ich im Winter mit nackten Füßen in die Garage getapst und es hätte mir die Brustwarzen zusammengezogen. Genau wie bei diesen nervösen Muskelspasmen fragte ich mich irritiert, was los war. Natürlich war ich nicht am Einschlafen, sondern stand kurz vor dem Höhepunkt der zwölfjährigen Ausbildung meiner Schülerin, die mit Ausnahme der ersten paar Monate und eines aufreibenden Zwischenfalls nach der Hälfte der Zeit völlig friedlich verlaufen war. Granuaile, die dank Immortali-Tee genauso wenig gealtert war wie ich oder Oberon, war endlich bereit, eine vollwertige Druidin zu werden.

Und da, gerade als wir nach einem Ort suchten, um sie mit der Erde zu verbinden, spürte ich das Beben. In dem Gemisch aus Emotionen und Bildern, das Elementargeistern als Sprache dient, wandte ich mich an Kaibab: //Verwirrung / Anfrage: Was war das?//

//Verwirrung / Unsicherheit / Angst//, kam die Antwort. Mir lief es eiskalt über den Rücken. Noch nie hatte mir ein Elementargeist seine Verwirrung gestanden. Die Angst war zwar völlig normal, denn trotz ihrer fantastischen Kräfte fürchten sich Elementargeister fast vor allem, egal ob es um Bergbauminen, Baugrunderschließung oder Borkenkäfer geht. Ja, manchmal können sie richtige Hasenfüße sein. Doch im Hinblick auf GAIA kennen sie keine Unsicherheit. Granuaile und Oberon drehten sich um und musterten mich verwundert, weil ich wie angewurzelt stehen geblieben war. Ich fragte Kaibab nach dem Grund seiner Angst.

//Gefilde hinter dem Meer / Früher Tod / Feuer / Feuer / Feuer//

Das war allerdings verwirrend. Kaibab sprach nicht von einer diesseitigen Welt. Er (oder sie, wenn Granuaile sich mit dem Elementargeist unterhalten hätte) meinte ein ganzes Existenzgefilde, das irgendwo auf der anderen Seite des Globus mit der Erde verknüpft war. //Anfrage: Welches Gefilde?//

//Name unbekannt // Gott von dort sucht dich // Dringend // Anfrage: Soll ich Ort nennen?//

//Anfrage: Welcher Gott?//

Die Antwort darauf sollte mir Aufschluss darüber geben, welches Gefilde in Flammen stand. Es gab eine Pause, und ich wandte mich an Granuaile und Oberon. »Mit Kaibab stimmt was nicht. Wartet mal kurz.« Sie wussten, dass sie mich nicht stören durften, und waren so klug, meine Worte zugleich als Aufforderung zur Wachsamkeit zu begreifen. Alles, was den Avatar einer Gegend beunruhigte, in der man sich gerade aufhielt, bot Anlass für einen Zustand adrenalinbeflügelter Paranoia.

//Name des Gottes: PERUN//, meldete Kaibab schließlich.

Fast unbewusst erwiderte ich //Schock//, weil das genau mein Gefühl zum Ausdruck brachte. Das slawische Gefilde brannte und war vielleicht sogar tot? Wie war es dazu gekommen? Und warum? Ich hoffte auf Antworten von PERUN. Wenn er sie bei mir suchte, musste ich ihn enttäuschen. //Ja / Nenne PERUN Ort//

Außerdem hätte mich interessiert, wieso PERUN überhaupt auf die Idee verfallen war, nach mir zu fragen. Hatte ihm jemand verraten, dass mein Tod vor zwölf Jahren nur eine Inszenierung gewesen war? Kaibab blieb stumm, und ich erklärte Granuaile und Oberon rasch die Lage.

›Hey, ist PERUN nicht dieser haarige Typ, von dem du mir erzählt hast, der sich in einen Adler verwandeln kann?‹, fragte Oberon.

Ja, genau der.

›Hab mich schon öfter gefragt, warum er nicht Reklame macht für Rasiercreme oder Rasierer mit fünfundzwanzig ultradünnen, vibrierenden Klingen. Mit so jemand würden die massenweise Ware losschlagen.‹

//Er kommt//, sagte Kaibab. //Schnell//

»Okay, im Anflug«, sagte ich.

»Was ist im Anflug, Atticus?«, fragte Granuaile.

»Ein Donnergott. Am besten, wir stellen uns in die Nähe eines Baums, damit wir im Notfall nach Tír na nÓg wechseln können. Und wir sollten unsere Fulgurite rausholen.« Fulgurite schützten vor Blitzschlägen. PERUN hatte sie mir zu einer Zeit geschenkt, als Granuaile gerade erst ihre Ausbildung begonnen hatte. Wir hatten sie schon seit Jahren nicht mehr getragen, weil mich alle Donnergötter für tot hielten.

»Glaubst du, PERUN will uns angreifen?« Granuaile ließ ihren roten Rucksack von der Schulter gleiten und öffnete den Beutel mit den Fulguriten.

»Eigentlich nicht, aber … Ich hab keine Ahnung, was da läuft. Im Zweifelsfall soll man einen Ausweg parat haben, sag ich immer.«

»Ich dachte, du sagst immer, im Zweifelsfall soll man die Schuld auf die Dunkelelfen schieben.«

»Ja, das auch.«

›Ich finde nicht, dass das besonders praktische Lösungen für Zweifel sind‹, warf Oberon ein. ›Sie hinterlassen kein Gefühl von Zufriedenheit. »Im Zweifelsfall soll man das Mittagessen des Nachbarn verspeisen«, finde ich besser, weil man dann wenigstens einen vollen Bauch hat.‹

Wir standen auf einer Wiese mit Gras und Klee. Über uns spannte sich ein azurblauer Himmel, und die Sonne küsste Granuailes rotes Haar mit Gold – meines wohl auch. Schon seit längerer Zeit färbten wir unser Haar nicht mehr schwarz, weil inzwischen niemand mehr nach Rotschöpfen suchte. Und nach zwölf Jahren unerfreulicher Glattrasiertheit – ein Spitzbart war einfach zu auffällig und obendrein verdammt schwer zu färben – genoss ich es, mir wieder einen Bart wachsen zu lassen. Unsere Rucksäcke waren prall gefüllt mit Campingausrüstung, die wir im Peace Surplus in Flagstaff gekauft hatten, und so trabten wir, nachdem Granuaile die Fulgurite herausgenommen hatte, wankend hinüber zur nächsten Gruppe von Ponderosa-Kiefern. Ich vergewisserte mich, dass es eine funktionierende Verbindung nach Tír na nÓg gab, dann richtete ich den Blick nach oben und hielt Ausschau nach PERUN.

Granuaile tat es mir gleich und reckte ebenfalls den Hals. »Was soll denn dort sein, Sensei? Da ist doch nichts anderes als Himmel.«

»Ich nehme an, dass PERUN geflogen kommt. Da, schau mal!« Ich deutete auf einen dunklen, von Blitzstrahlen gefolgten Streifen am nordwestlichen Himmel. Dahinter, in einem Abstand von vielleicht zehn oder fünfzehn Kilometern – aus der Ferne konnte ich das nicht so genau sagen –, brannte ein orangefarbener Feuerball.

Granuaile kniff die Augen zusammen. »Meinst du das Ding, das aussieht wie das Logo der Phoenix Suns?«

»Nein, PERUN ist der davor, der mit Blitzen um sich wirft.«

»Ach, und was ist dann das dahinter? Ein Meteor oder ein Cherub oder so was?«

»Oder so was. Jedenfalls nichts Nettes. Das ist kein warmes, behagliches Lagerfeuer, an dem man sich im Kreis von Freunden Longfellow-Gedichte vorliest und Marshmallow-Kekse verspeist. Das ist eher wie Napalm mit einem Phosphorkern und einem Schuss Höllensoße.« Die Blitze und der Feuerball schlugen einen Bogen über den Himmel und steuerten dann direkt auf uns zu.

›Ähm, Atticus. Sollten wir vielleicht mal diesen Fluchtweg ausprobieren? Bloß damit wir sicher sind, dass er auch funktioniert.‹

Hab dich schon verstanden, Kumpel. Bin auf dem Absprung. Aber warten wir erst mal ab, ob wir mit PERUN reden können.

Der Himmel über uns verdunkelte sich, und es gab einen lauten Donnerschlag, der alles erbeben ließ. PERUN flog mit Überschallgeschwindigkeit. Ungefähr fünfzig Meter vor uns landete er polternd in der Wiese, und um den neu entstandenen Krater flogen große Grasbrocken durch die Luft. Ich spürte den Aufprall in den Füßen, und die Druckwelle stieß mich einen halben Schritt nach hinten. Ehe die Grasstücke zurück auf die Erde gefallen waren, stürzte mir eine muskelbepackte, dicht behaarte Gestalt mit panisch verzogenem Gesicht entgegen.

»Atticus, müssen wir aus diesem Gefilde fliehen! Ist nicht sicher! Bringst du mich weg – rettest du mich!«

Normalerweise neigen Donnergötter nicht zu Panik. Die Fähigkeit, Probleme einfach wegzubomben, verwandelt die schartigen Kanten der Furcht in flauschige Kissen der Unbekümmertheit. Wenn also ein harter Hund wie PERUN vor Angst schlottert, wird man es mir wohl nachsehen, dass ich mir fast in die Hosen machte – vor allem, als der Feuerball in den soeben von PERUN geräumten Krater krachte und mir den ganzen Sauerstoff aus der Lunge saugte.

Mit einem überraschten Aufschrei zog Granuaile den Kopf ein, und Oberon winselte. Wie ein Stuntman in einem Film von Michael Bay wurde PERUN durch die Luft geschleudert. Nach mehreren anmutigen Rollen bei der Landung sprang er gleich wieder auf und stampfte hektisch auf uns zu.

Hinter dem Donnergott breitete sich das Feuer nicht aus, sondern schrumpfte zusammen und … lachte. Ein hohes, dünnes, irres Gewieher wie aus einem unheimlichen Zeichentrickfilm. Die Flammen wirbelten ringförmig um eine vier Meter hohe Gestalt, bis sie allmählich erloschen und fünfzig Meter vor uns einen dürren Riesen mit schmalem Gesicht freigaben, dessen rotes und gelbes Haar den Schädel umrahmte wie ein Kranz von Sonnenstrahlen. Das Grinsen in seinem Gesicht war nicht von der freundlichen, umgänglichen Sorte, sondern glich eher der erstarrten Grimasse gnadenloser geistiger Umnachtung.

Am schlimmsten waren die Augen. Um die Ränder herum waren sie geschmolzen, als wären sie mit Säure verätzt worden, und wo bei normalen Menschen Lachfalten oder Krähenfüße saßen, hatte er rosige Blasen und albtraumförderndes Narbengewebe. Aus einem roten Nebel geplatzter Äderchen glotzten eisblaue, von Wahnsinn getrübte Iriden. Er blinzelte heftig, als hätte er Seife oder dergleichen in den Augen – Anzeichen eines nervösen Ticks, der seinen Kopf in unregelmäßigen Abständen nach rechts kippen und danach unsicher weiterzucken ließ wie eine Wackelpuppe.

»Lauf, mein Freund, lauf! Müssen wir fliehen!« PERUN, der es endlich schwer schnaufend bis zu uns geschafft hatte, legte sofort eine Hand auf meine Schulter und die andere an die Kiefer. Granuaile folgte seinem Beispiel; sie kannte den Ablauf, genau wie Oberon, der sich auf die Hinterbeine stellte, damit er eine Pfote an mich und die andere an den Baum drücken konnte.

»Wer zum Teufel ist das, PERUN?«, fragte ich.

Hinter ihm lachte der Riese erneut auf und erschauerte unwillkürlich. Seine Stimme war sanft und weich wie Marshmallow-Creme – allerdings mit Glasscherben versetzt. Neben seinem nervösen Tick wartete er auch mit einem breiten skandinavischen Akzent auf. »Dieser O-o-ort … ist es M-Merrica, ja?« Er zuckte, er stotterte, und er sprach gebrochen Englisch.

Allein schon vom Zuhören musste ich mit ernsten Schäden für meine Psyche fürchten. »Ja«, erwiderte ich.

»Ha? Wer? Schppt-raah!« Er spuckte einen feurigen Klumpen aus und schüttelte heftig den Schädel. Vielleicht war das doch nicht bloß ein Zucken, sondern ein ausgewachsenes Tourette-Syndrom. Oder etwas ganz anderes. Jedenfalls deuteten die Symptome auf etwas äußerst Unerfreuliches.

»Wer G-G-ott hier?« Wieder ein zufriedenes Kichern, weil er diese Frage so schön herausgebracht hatte. Direkt aus seinem Kopf drang ein verstörend hohes Kreischen wie zischendes Öl in einer Bratpfanne oder langsam aus einem Ballon entweichende Luft. Wahrscheinlich um seine Birne ein wenig zu stabilisieren, stützte der Riese die Hände auf die Knie, mit der bestürzenden Folge, dass sich sein flammenartiges Haar in echte Flammen verwandelte. Der Lärm wurde schlimmer.

Ich wagte eine begründete Vermutung. »Du bist ein Gott hier.« Mit einem Blick ins magische Spektrum hätte ich das klären können, aber das war gar nicht nötig. Etwas anderes als einen Gott hätte PERUN wohl kaum gefürchtet. »Ich weiß bloß nicht, welcher. Wer bist du?«

Der Riese warf den Kopf zurück und brüllte vor Freude. Wie ein Kind klatschte er in die Hände und sprang auf und ab, als hätte ich ihm eine große Portion Eiscreme versprochen. Mir rutschte die Kinnlade herunter, und Granuaile murmelte betroffen: »Was ist denn mit dem los?« Auch ich war ratlos. Der Kerl hatte wirklich nicht alle Tassen im Schrank.

PERUN zerrte nachdrücklich an meiner Schulter. »Atticus, ist LOKI! Hat er sich befreit. Wir müssen weg. Ist es das Beste.«

»Götter der Unterwelt!« Plötzlich lief mir eine Gänsehaut über die Arme. Genau das hatte ich befürchtet – seit meinem ersten Blick in diese Augen. Trotzdem hatte ich mich an die Hoffnung geklammert, dass es sich um ein weniger apokalyptisches Wesen handelte, zum Beispiel ein entflohenes Militärexperiment nach Art von Sharktopus. Aber nein, es war tatsächlich LOKI, der Erzschurke aus den altnordischen Eddas, dessen Befreiung aus der Gefangenschaft den Beginn des Endkampfs Ragnarök ankündigt. Jetzt stand er ohne Fesseln vor mir und schien bereit, die Welt in Schutt und Asche zu legen.

›Hör lieber auf den Haarigen, Atticus. Groß, vernarbt und feurig: Gefährlicher geht’s kaum mehr.‹

PERUN und Oberon hatten recht: Es war wirklich besser, wenn wir uns zurückzogen. Am allerbesten war es allerdings, wenn ich LOKI dazu brachte, sich ebenfalls zurückzuziehen. Ich konnte schließlich nicht einfach abhauen und Kaibab schutzlos zurücklassen. Ich musste dafür sorgen, dass LOKI so bald wie möglich aus diesem Gefilde verschwand. Höchste Zeit, den Gott der Lügen zu belügen.

»Ich bin Eldhár«, rief ich ihn auf Altnordisch an. Sein bereits nachlassendes Gelächter brach jäh ab, und er richtete seine blutig blauen Augen auf mich. Der Name bedeutete Feuerhaar, und ich hatte ihn schon einmal verwendet, als ich vor vielen Jahren nach Asgard gezogen war, um einen goldenen Apfel zu stehlen. »Ich bin ein Werk der Zwerge von Nidavellir.« Dem Adrenalin und einem älteren, primitiveren Teil meiner Psyche folgend, setzte ich ein ebenso verstörendes Lächeln auf wie der Riese vorhin. »Froh bin ich, dass du frei bist, LOKI, denn das heißt, auch deine Frau ist frei, und ich wurde eigens dafür gemacht, sie und ihre gesamte Brut zu vernichten. Ich werde die Schlange enthaupten und dem Wolf die Eingeweide herausreißen. Und was HEL betrifft: Auch die Königin des Todes kann sterben.« Ich stieß ein möglichst bedrohliches Lachen aus und fand, dass ich mir damit einen starken Abgang verschafft hatte.

Ohne ihm auch nur die geringste Chance zu einer Reaktion zu lassen, zog ich mich zusammen mit Granuaile, Oberon und PERUN sicher hinüber nach Tír na nÓg. Ich überließ es LOKI, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Vielleicht brachten ihn meine Worte dazu, in das altnordische Gefilde zurückzukehren. In diesem Fall konnte ich nur hoffen, dass die Zwerge eine gute Brandschutzversicherung hatten.

Mir lagen viele Fragen an PERUN auf der Zunge – etwa, wie sich LOKI Zutritt zum slawischen Gefilde verschafft hatte, was HEL gerade im Schilde führte und ob der Fenriswolf noch immer in Fesseln lag –, doch am meisten interessierte mich, welcher Idiot auf die hirnrissige Idee gekommen war, einem alten Gott des Unheils Englisch beizubringen.

2

In Tír na nÓg hielt ich mich nicht lange auf, sondern führte uns gleich weiter zu einer Insel mitten im Third Cranberry Lake in Manitoba – einem meiner Lieblingsschlupfwinkel, bedeckt mit immergrünen Pflanzen und nur selten von Menschen besucht.

Ich atmete schwer, obwohl ich mich nicht besonders angestrengt hatte. »Es ist einfach zu früh«, keuchte ich. »Er dürfte eigentlich noch nicht herumziehen und Sachen in Brand stecken. Wir haben noch ein Jahr bis dahin.«

»Ich verstehe kein Wort.« Granuaile kreuzte ein Bein über das andere und lehnte sich auf ihren Stab.

»PERUN erinnert sich bestimmt noch.« Ich suchte den Blick des Donnergotts. »Weißt du noch, wie wir damals vor unserem Marsch nach Asgard in Sibirien Hasenpfeffer gegessen und Geschichten erzählt haben?«

»Da, weiß ich noch. Ich sage, nächstes Mal wir essen Bär.«

›Der Mann hat die richtige Einstellung.‹

»Also, nach dem Essen hat uns Väinämöinen diese Geschichte über die Seeschlange erzählt. Ich hab nichts dazu gesagt, aber es gibt da diese alte Prophezeiung der Sirenen an Odysseus, als er an den Mast gebunden war – die einzige, die sich bisher noch nicht erfüllt hat. Und ich dachte damals, dass jetzt die Uhr zu ticken anfängt. Denn die Prophezeiung lautet: Dreizehn Jahre, nachdem ein Weißbart in Russland ein Hasengericht verspeist und von Seeschlangen erzählt, wird die Welt brennen.«

»Ziemlich schräg«, fand Granuaile.

»Ist mehr als schräg. Ist schlechter Magen von gewürgtem Essen. Ist Arsch in Flammen«, erklärte PERUN.

»Was?« Granuaile war von PERUNS kerniger Ausdrucksweise überfordert.

PERUN zuckte die Achseln und setzte noch einmal an. »Ich meine, ist sehr ungemütlich. Arsch in Flammen, ja?«

»Klar«, sagte ich. »Entscheidend ist, dass diese Sirenen exakt den Aufstieg von Dschingis Khan, die Amerikanische Revolution und die Bombardierung von Hiroshima vorausgesagt haben. Und dieses Muster lässt darauf schließen, dass sie was Größeres gemeint haben als ein kleines Feuer, ob in einem Lager oder unter einem Hintern.«

›Da fällt mir was ein! Ich wollte doch mal Reiterhorden in der mongolischen Steppe anwerben – hab ich nie gemacht.‹

»Glaubst du, meine Welt ist Welt von dieser Prophezeiung?«, fragte PERUN.

»Nein, ich glaube nicht, dass die Sirenen über ein anderes Gefilde als das hier gesprochen hätten. Außerdem sind wir ein Jahr zu früh dran. Bloß – genau das macht mir Sorgen. Die Prophezeiungen über Ragnarök sind keinen Pfifferling mehr wert, trotzdem könnten sie eintreffen, nachdem LOKI jetzt frei ist. Die Sirenen von Odysseus hatten bisher immer recht, aber vielleicht stimmen die Vorhersagen diesmal nicht – oder liegen um ein Jahr daneben. Keine Ahnung. Der Tod der NORNEN hat einfach alles durcheinandergebracht. Ich weiß nur, dass da ein Tsunami aus Scheiße direkt auf uns zurollt. JESUS hat mir damals was von schlimmen Katastrophen erzählt, und vielleicht könnten wir sie vermeiden, wenn wir LOKI und HEL loswerden, aber wer weiß, ob GANESHA und seine Kohorten mir da überhaupt freie Hand lassen, denn ich hab ihnen versprochen, dass ich warte, bis …«

»Atticus.« Granuaile berührte mich sanft am Arm. »Du redest wirres Zeug. Jetzt beruhig dich mal.«

»Äh, stimmt, danke. Ich versuch’s. Weißt du, was das Gemeine an Prophezeiungen ist?«

»Sie sagen nie was Nettes voraus«, antwortete Granuaile. »Ich möchte ein Mal einen Propheten hören, der mir erzählt, dass ich in der Lotterie einen nagelneuen Jaguar gewinne.«

»Da ist was dran, aber ich wollte auf was anderes raus. Nämlich: Es gibt sie wie Sand am Meer. Propheten sind schon genauso lange unterwegs wie Prostituierte.«

›Und oft im selben Bett.‹

»Man weiß einfach nicht, wem man glauben soll«, fuhr ich fort, »also behandelt man alle Propheten wie Kassandra, obwohl ein paar von ihnen die Wahrheit sagen. Dass man die richtigen am Schopf erwischt, bevor sich ihre Weissagungen erfüllen – darauf kommt es an. Und da stehen die Chancen schlechter als beim Roulette.«

»Packst du eine Kassandra am Schopf?« PERUNS Augenbrauen schoben sich zusammen. »Soll man einer Frau nicht wehtun, auch wenn Name hässlich.«

»Was? PERUN, ich glaube, du hast da was falsch verstanden.«

»Oh.« Er wirkte geknickt. »Bin ich oft erinnert. Englisch nicht beste Sprache für mich.«

»Ich kann inzwischen Russisch, obwohl das nicht meine beste Sprache ist«, sagte Granuaile. »Wir könnten es damit probieren, aber ihr müsst wirklich langsam und deutlich reden.«

PERUN grinste. »Da, wunderbar!«

Nach dem Wechsel ins Russische bemühte ich mich um ein gemäßigtes Sprechtempo. »Ich vermute schon länger, dass diese Prophezeiung über die brennende Welt etwas mit Ragnarök zu tun haben könnte – vor allem nach unserem Feldzug in Asgard. Deswegen finde ich es so beunruhigend, dass LOKI frei ist. Seine Befreiung war in den alten Sagen immer der Auslöser von Ragnarök.«

Granuaile runzelte die Stirn. »Ja, aber sollte er nicht in einem Totenschiff zum Feld von Wigrid fahren, in einem Schiff, das aus Zehennägeln besteht oder so ähnlich?«

»Richtig.« Ich nickte. »Aber jetzt läuft nichts mehr so wie vorhergesagt. Und unabhängig von jeder Prophezeiung ist ein freier LOKI für niemanden eine gute Nachricht. Wie ist er überhaupt auf dein Gefilde gekommen, PERUN?«

Der massige russische Gott zuckte die Achseln, und das Beben seines imposanten Pelzes brachte seine tiefe Ratlosigkeit zum Ausdruck. »Ich weiß es nicht. Ich war in Gestalt eines Adlers in Alaska und habe gerade eine Forelle gefressen, die ich in einem Fluss gefangen hatte. Plötzlich spürte ich, dass was nicht stimmt. Ich bin zu meinem Gefilde gewechselt und fand LOKI, der alles in Brand gesteckt hat. Ich habe Blitze auf ihn geschleudert – und er hat mich bloß ausgelacht. Es hat ihm überhaupt nichts ausgemacht. Er sagte, dass er auf mich gewartet hat.«

»Warum?«, fragte Granuaile.

»Er war wütend, weil ich mitgeholfen habe, THOR zu töten«, erklärte PERUN.

»Aber er hat THOR doch gehasst.« Ich schüttelte den Kopf.

»Sicher. Er erzählte, dass es sein Traum war, THOR zu töten. Ein Traum, der ihm in den Jahren, in denen er gefesselt unter der großen Schlange lag, Kraft verliehen hat. Und da ich ihm seinen Traum genommen habe, wollte er auch meinem Volk seinen Traum wegnehmen. Er hat mir eine wahre Ascheernte hinterlassen.«

»Wie schrecklich«, seufzte Granuaile.

PERUN nickte ihr zu, dankbar für ihr Mitgefühl. »Dann sagte er: ›Du bist wie THOR, also werde ich dich an seiner Stelle töten.‹ Er griff mich an, und er war sehr stark. Stärker, als ich geglaubt hatte. In meiner Panik habe ich die Erde gebeten, nach dir zu suchen.«

Das passte irgendwie nicht zusammen. »Hast du denn gar nichts von meinem Tod gehört?«

PERUN musterte mich verblüfft. »Wann willst du denn gestorben sein?« Er stupste mit dem Finger gegen meine Brust. »Jedenfalls fühlst du dich nicht an wie ein Geist.«

»Nein, ich meinte doch, ich habe meinen Tod vorgetäuscht. Davon hast du nichts mitbekommen?«

Der Donnergott schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich war ich zu lange als Adler unterwegs. Ich habe die Jahre nicht mehr wahrgenommen.«

Ich wusste genau, wovon er sprach. Es war gefährlich, sich zu lange in der Gestalt eines Tieres aufzuhalten, denn es konnte nur allzu leicht passieren, dass man sich ganz auf die Grundbedürfnisse des Überlebens konzentrierte und alle anderen Interessen aus den Augen verlor. Und wenn diese Interessen erloschen, vergaß man auch die Erinnerungen, bis selbst die eigene Identität verblasste und nichts mehr übrig blieb als die Suche nach dem täglichen Fressen im Wald. Mein Erzdruide hatte das als den letzten Wechsel bezeichnet. So begingen Druiden Selbstmord.

»Du hast also keine Ahnung, wer LOKI befreit hat?«

Bedauernd verzog PERUN das Gesicht. »Das hat er mir nicht verraten. Ich habe erst was gemerkt, als meine Welt schon gebrannt hat.«

Plötzlich räusperte sich jemand rechts von mir. Ich wandte mich um und erblickte ein geflügeltes Wesen in der pompösen grünen und silbernen Livree des Feenhofs, das knapp außerhalb meiner Würgereichweite schwebte. Götter der Unterwelt, wie hatte der Kerl mich gefunden?

»Sei gegrüßt, Siodhachan Ó Suileabháin, du vermeintlich Hingeschiedener.« Er sprach die Worte mit gemessener Genauigkeit aus, und seine Stimme triefte dabei vor Verachtung und aristokratischer Herablassung. »BRIGHID, die Oberste unter den Feen, fordert dich auf, ungesäumt zu einer Audienz an ihrem Hof zu erscheinen, damit du dort bestimmte Fragen beantwortest. Unter anderem: Warum bist du noch am Leben? Und, wichtiger noch: Weshalb hast du BRIGHID diese nicht ganz unwesentliche Tatsache verschwiegen?«

Kurz spielte ich mit dem Gedanken, den Boten einfach verschwinden zu lassen. Bei einem aus reiner Magie entstandenen Wesen wie ihm genügte schon ein Handschlag oder irgendeine andere Berührung mit meiner kalten Eisenaura, damit es zu Staub zerfiel. Allerdings konnte sich BRIGHID leicht zusammenreimen, dass ihm etwas zugestoßen war, und sie würde sofort die nächsten losschicken. Gleich, welchen Grund ihr Unmut hatte, er würde nur zunehmen, je länger ich sie warten ließ. Dennoch war es ein ausgesprochen ungünstiger Zeitpunkt für eine Einladung zum Tee – falls sie nicht eher etwas wie eine öffentliche Auspeitschung im Sinn hatte.

»Ich verstehe. Im Moment ist es mir leider nicht möglich, den Feenhof zu besuchen. Kannst du ihr eine Botschaft von mir überbringen?«

»Mitnichten. Allein dich dem Hof zu übergeben ist mir aufgetragen.«

Sein Ton – vor allem in Verbindung mit der elisabethanischen Diktion – ging mir allmählich auf den Keks. Vielleicht musste ich ihn daran erinnern, dass ich nicht BRIGHIDS Untertan war. »Besitzt du wirklich die Kraft, mich dem Hof zu übergeben? Bist du etwa immun gegen kaltes Eisen?«

Plötzlich waren Zuversicht und Hochmut dahin, und er schluckte. »Nein.«

»Dann ist das alles also bloß leeres Gerede, oder nicht?« Ich machte einen Schritt auf ihn zu, und er flatterte zurück. Ich bedachte ihn mit einem schmallippigen Lächeln.

»Ja«, bekannte er.

»Gut.« Ich fing an, seine affektierte Ausdrucksweise zu imitieren. »Nun, ich bedauere zutiefst, dass du deiner Lehnsherrin keine Botschaft überbringen darfst. Indes möchtest du ihr vielleicht eine Frage stellen, deren Antwort meiner raschen Ankunft bei Hofe förderlich wäre. Darf ich meine Gefährten – die du hier vor dir siehst, mitsamt meinem Hund – mit nach Tír na nÓg nehmen und BRIGHIDS Ehrenschutz unterstellen? Ich fordere eine Garantie auf freies Geleit für uns alle zum Hof und zurück. Ein günstiger Bescheid wird mein unverzügliches Erscheinen zur Folge haben.«

»Ich werde anfragen.«

»Ich warte nur fünf Minuten auf die Antwort.«

Ohne ein weiteres Wort berührte das Feenwesen den Baum, den auch wir zum Wechseln benutzt hatten. Dann war es verschwunden.

Ich zog mein Schwert. »Verteilt euch und seid auf der Hut. Könnte sein, dass er mit Freunden zurückkommt. Oder mit Göttern.«

›Oder mit Snacks?‹

3

Granuaile blieb stumm, doch ich bemerkte ein leises Lächeln auf ihren Lippen, als sie zu einem Wurfmesser griff. Ihr Gesicht sprach Bände: Endlich passiert was. Nach zwölf Jahren Ausbildung, in denen sie ausschließlich mit mir gekämpft hatte, bot sich hier zum ersten Mal die Gelegenheit zu einem echten Scharmützel. Kauernd suchte sie Deckung hinter einem anderen Baum.

Ich für meinen Teil hoffte, dass es nicht zu einer Auseinandersetzung kommen würde. Das war genau die heikle Phase, in der ich meinen letzten Schüler Cíbran verloren hatte: nach Abschluss der Ausbildung, aber bevor ich ihn mit der Erde verbinden und ihm Zugang zur Magie verschaffen konnte. Obwohl sich Granuaile geistig wie körperlich als äußerst gelehrige Schülerin erwiesen hatte, konnte sie unmöglich gegen Herausforderungen bestehen, wie sie mir täglich begegneten, solange sie nicht in der Lage war, ihre Bewegungen zu beschleunigen, ihre Kraft zu steigern und durch die Magie der Erde im Zeitraffer zu heilen.

PERUN und ich gingen ebenfalls in Stellung, und Oberon legte sich wie eine Sphinx auf die Lauer und starrte angriffsbereit auf den Baum mit der Verknüpfung nach Tír na nÓg.

Hör auf, mit dem Schwanz zu wedeln. So verrätst du bloß deine Position.

›Das ist eben furchtbar aufregend! Vielleicht kann ich mich gleich auf ein Feenwesen stürzen!‹

Da könnte was viel Mächtigeres durchkommen als eine Fee, also spring lieber erst, wenn du genau weißt, was du vor dir hast.

›Okay. Ich warte, bis du Fass rufst.‹

Eine ausgezeichnete Vorsichtsmaßnahme, denn der Feenbote kehrte nicht zurück. Ich spürte ein Tippen an der Schulter, doch als ich mit Moralltach in der erhobenen Hand herumwirbelte, konnte ich niemanden erkennen. Nur ein leises, amüsiertes Schnauben zeigte mir, dass da tatsächlich jemand war.

»Ruhig Blut, Atticus. Entspann dich.« Kurz darauf löste FLIDAIS, die irische Göttin der Jagd, die Bindung, die ihr Unsichtbarkeit verlieh. »Ich bin’s bloß. Ich soll dich und deine Gefährten zum Hof begleiten. BRIGHID schickt mich als Garantie, dass ihnen in Tír na nÓg nichts zustoßen wird. Zufrieden?«

Das genügte mir völlig, auch wenn FLIDAIS nicht nach ihrer üblichen Art gekleidet war, sondern sich vornehm herausgeputzt hatte. Normalerweise steckte sie in ihrem Jagdgewand aus Leder, zusammen mit Bogen und Köcher, und ihre rote Wuschelmähne war wild geschmückt mit pflanzlichen Requisiten, die man wohlwollend als Tarnung deuten konnte. Jetzt hingegen steckte sie in einer gewobenen, cremefarbenen Tunika mit einem aufgestickten grünen Flechtmuster am Kragen und an den Seiten unter den Armen. Um die Hüften war ein Gürtel gespannt, aus dem ein großes Messer mit einem Griff aus poliertem Malachit und Perlmutt ragte. Ich hatte es noch nie gesehen; entweder besaß sie es noch nicht lange, oder sie trug es nur bei Hof. Das Haar war frisch gewaschen und gebürstet, und die Blumen darin waren offenkundig nicht zufällig dort gelandet, sondern als Zierde gedacht. Mir fiel auf, dass sie in diesem gepflegten Zustand große Ähnlichkeit mit Granuaile hatte. Statt eines Rocks trug FLIDAIS eine weite Baumwollhose, fast wie die eines Judoanzugs, passend zum Gürtel braun gefärbt, und sie war barfuß. Vermutlich war das die übliche Kluft der TUATHA DÉ DANANN. Nach dem keltischen Bekleidungsideal musste man sich in den Sachen leicht bewegen können, falls ein Kampf nötig war, und sie leicht ablegen können, wenn eine schnelle Nummer anstand.

»Natürlich ist uns deine Begleitung eine Ehre«, erwiderte ich. »Aber warum hat BRIGHID dich geschickt statt ihren Boten?«

FLIDAIS zog eine Braue hoch. »Ihr habt ihm doch aufgelauert, oder? Du und deine Freunde dort. BRIGHID wollte nicht, dass er stirbt.«

»Ich hätte ihn nicht getötet.«

FLIDAIS zuckte mit einer Schulter, ein schiefes Grinsen im Gesicht. »Vielleicht nicht. Jedenfalls war es besser, mich unsichtbar zu schicken, um einen Unfall zu verhüten.« Sie blickte nach hinten. »Ihr könnt jetzt herauskommen. Es ist sicher.«

›Ist das die Lady, der wir nicht trauen können, weil man nie weiß, auf wessen Seite sie steht?‹ Oberon erhob sich und trabte zu uns herüber.

Ja. Aber am besten hältst du dich nur an eine einzige einfache Regel: Du traust niemandem außer Granuaile und mir.

›Einverstanden. Dieser BRIGHID traue ich sicher nicht. Weißt du noch, wie sie letztes Jahr deine Küche in Brand gesteckt hat?‹

Das war vor fast zwölf Jahren. Trotzdem, ich erinnere mich. Bleib lieber nah bei mir, Kumpel.

›Versprochen.‹

»Ist das der Hund, den du schon bei unserer letzten Begegnung hattest?«

»Ja.«

»Freut mich, dich wiederzusehen«, sagte FLIDAIS zu Oberon. »Vielleicht haben wir demnächst Gelegenheit, miteinander auf die Jagd zu gehen.« Plötzlich runzelte sie die Stirn; offenbar hatte sie sich soeben auf Oberons Gedanken eingestellt.

»Du hast ihm verboten, mit mir zu jagen?« Ihre Augen funkelten zornig.

»Vergib mir, FLIDAIS, aber bei unserer letzten gemeinsamen Jagd mit dir ist jemand gestorben. Noch so einen Unfall würde ich lieber vermeiden.«

»Du machst mir Vorwürfe?«, zischte sie.

Oh, ich hätte ihr schnöden Mord, wie er aufs Beste ist, vorwerfen können, aber auch ich hatte schon öfter Blut vergossen und keinen Grund zur Heuchelei.

»Nein. Ich verbiete meinem Hund einfach, mit dir zu jagen. Mit Vorwürfen hat das nicht das Geringste zu tun.«

FLIDAIS hätte es vielleicht nicht dabei bewenden lassen, wurde aber von der hünenhaft haarigen Ankunft PERUNS abgelenkt.

»Ist das Fee?«, fragte er hoffnungsvoll. Sein Blick strich über ihre Gestalt und genoss die Reise ohne jede Zurückhaltung. FLIDAIS ihrerseits musterte PERUN mit einer Schamlosigkeit, die seiner in nichts nachstand. Er war unbestreitbar ein wandelnder Berg aus Moschus und Muskeln, und FLIDAIS war berühmt für ihre Gelüste. Ich stellte sie einander vor, um die gegenseitige Verführung zu erleichtern. Besonders anstrengen mussten sich die beiden dafür sicher nicht.

Während sie ihr optisches Vorspiel fortsetzten, bemerkte ich, dass Granuaile ein paar Schritte entfernt mit versteinertem Gesicht wartete. Sie hatte FLIDAIS und BRIGHID zu Beginn ihrer Ausbildung kennengelernt. Dabei hatte sie sich zwar der Notwendigkeit des Baolach Cruatan gestellt und diese Mutprobe auch bestanden, doch das hieß nicht, dass sie dieses Ereignis in guter Erinnerung hatte.

Die Göttin der Jagd verlor sich nicht so sehr in PERUNS Augen, dass sie den Grund ihres Kommens vergaß. Ohne den Blick von ihm zu nehmen, sagte sie zu mir: »Ich hinterlasse dir ein Zeichen, dem du folgen kannst, Atticus. Es führt dich zu einem Baum unmittelbar vor dem Feenhof. Ich weiß, du bist so paranoid, dass du dich nicht ohne gezücktes Schwert nähern möchtest, aber ich bitte dich, sei achtsam. Ich werde dafür sorgen, dass dir nichts in die Quere kommt.«

›Was Essbares dürfte mir schon in die Quere kommen.‹

Ein Teil ihrer Worte drang durch den fast mit Händen greifbaren Dunst der Lust in PERUNS Kopf. »Was, du gehst schon?«

»Wir werden später Gelegenheit haben, uns zu unterhalten … ausführlich«, versprach ihm FLIDAIS. »Schon bald.«

»Sehr bald!«, forderte PERUN.

FLIDAIS gab Granuaile mit einem stummen Nicken zu verstehen, dass sie ihre Anwesenheit registriert hatte, und meine Schülerin tat es ihr nach. Dann schritt die Göttin schweigend auf den Baum zu, den wir alle beobachtet hatte. Mit einem Zwinkern in PERUNS Richtung legte sie die Hand darauf und verschwand.

»Bei Axt und Himmel, was für tolle Frau!«, knarzte PERUN, und das Aufblitzen weißer Zähne unter seinem Bart ließ ihn auf einmal wieder jung erscheinen. »Kommt, wir gehen!«

»Kannst du dich und deine Drüsen vielleicht noch ein bisschen bremsen, PERUN?«, sagte Granuaile.

Verwirrung verdrängte die Begeisterung des Donnergotts. »Was ist Drüsen? Und warum ich soll bremsen? Was heißt auf Russisch?«

Ohne ihn weiter zu beachten, wandte sich Granuaile an mich. »Atticus, wie ist es dort? Worauf muss ich mich gefasst machen?«

Ich seufzte. »Ich fürchte, darauf habe ich keine hilfreiche Antwort. Du musst auf alles achten. Ich war zwar viele Male in Tír na nÓg, aber am Feenhof war ich zum letzten Mal vor meiner Begegnung mit AIRMED – das war noch, bevor ich Fragarach gestohlen habe. Das ist über zweitausend Jahre her, und damals hatte ich noch meine normale menschliche Lebensspanne. Keine Ahnung, was uns heute dort erwartet. Die TUATHA DÉ DANANN werden sicher alle in ihrer wahren Gestalt auftreten. Aber ich kann mir vorstellen, dass jedes Feenwesen, dem du begegnest, irgendeinen Trugzauber trägt. Du darfst dich nirgends auf deine Augen verlassen. Selbst die Einrichtung eines Hauses kann eine Illusion sein. Am besten, du setzt dich auf nichts und lehnst dich auch nicht an eine Wand.«

›Haben die wenigstens richtiges Essen?‹

Wahrscheinlich nicht. »Oberon hat gerade ein wichtiges Thema angeschnitten«, sagte ich laut. »Du darfst nichts essen und trinken, solange du dort bist. Nimm keine Geschenke an, versprich nichts. Wenn du auch nur andeutest, dass du irgendwas tun wirst, nehmen sie dich beim Wort. In Tír na nÓg sind Worte bindender als irgendwo sonst. Um ganz sicherzugehen, solltest du sagen, dass ich für dich spreche. Lass dich weder durch Schmeicheleien noch durch Drohungen dazu bringen, für dich selbst zu antworten. Bestimmt wollen sie dich aus der Fassung bringen, damit du einen Fehler machst. Und wir dürfen auf keinen Fall getrennt werden. Wenn du also was Schönes siehst – schau lieber nicht so genau hin. Wenn dir jemand ein Geheimnis verraten will, hör ihm nicht zu. Es gibt genügend unter ihnen, die euch liebend gern als Geiseln nehmen würden, damit sie mich unter Druck setzen können. Also bietet ihnen keine Angriffsfläche, verstanden?«

›Scheibenkleister! Jetzt wird mir klar, warum du dich dort nie blicken lässt!‹

Vor dem Baum suchte ich nach dem Hinweis von FLIDAIS, der uns den Weg zum vereinbarten Treffpunkt erleichtern sollte. Dank dieses Zeichens konnten wir nach dem Wechsel zu der abgelegenen Stelle in Tír na nÓg, von der aus wir hierher gelangt waren, eine Abkürzung nehmen und gleich weiter zur Mitte des Gefildes springen. Schließlich entdeckte ich im magischen Spektrum ein glänzend grünes Band aus grünem Flechtwerk, das pulsierte wie ein Blinklicht.

»Also gut«, sagte ich. »Waffen bereit, Mund halten.« Ich packte mein Schwert, PERUN hob seine Axt, und Granuaile hatte die Klinge eines Wurfmessers zwischen den Fingern.

Wir wechselten nach Tír na nÓg und fanden uns auf einem Heidefeld vor einem Pulk von Feen wieder. Bei unserem Erscheinen ertönten Rufe, die gleichermaßen Freude und Bestürzung zum Ausdruck brachten, und Beutel mit Gold oder anderen Münzen wechselten den Besitzer. Offenbar ging es um die Begleichung von Schulden.

»Was sie machen?«, fragte PERUN.

FLIDAIS löste sich aus der Menge und winkte. »Sie haben gewettet, ob ihr mit gezückten Waffen landet oder nicht. Kommt mit.«

Ich folgte ihr langsam mit erhobenem Schwert. Der Nachteil von Paranoia ist, dass man manchmal zur Zielscheibe von Spott wird. Der Vorteil ist dafür, dass man am Leben bleibt.

Bei dem gemächlichen Tempo, das FLIDAIS anschlug, konnten wir uns ausgiebig umschauen. Abgesehen von den gewöhnlichen Sidhe, die sich manchmal nur schwer von Menschen unterscheiden ließen, bemerkten wir Eichengeister, tanzende Feeorin, Fir Darrigs, Geancanach, Wichtel und eine kleine Delegation der Blauen Männer vom Minch. Überall flitzten aufgeregte Pixies herum, die sich in spitzen Bemerkungen über uns ergingen und immer wieder kleinere Grüppchen von Feen zu Lachanfällen veranlassten.

Der Himmel über uns hatte genau den Blauton, den sich Reisebüros auf ihren Broschüren wünschen, und ich fragte mich unwillkürlich, welcher Nummer im Pantone-Farbspektrum auf der Erde er wohl entsprach. Hier bot er genau den Schein von Vollkommenheit, den BRIGHID erzeugen wollte: In Tír na nÓg war die Welt in Ordnung – wie hätte es bei diesem herrlichen Wetter auch anders sein können?

Der Feenhof war natürlich nicht wie die spießigen europäischen Herrscherhäuser mit Marmorböden, goldgerahmten Porträtbildern und dem menschlichen Beiwerk aus Gecken und Narren ausgestattet. Vielmehr war er eine von Heidekraut geküsste Wiese inmitten eines sorgsam gepflegten Hains. Wenn uns FLIDAIS also zu einem Baum unmittelbar vor dem Feenhof dirigiert hatte, meinte sie einen Baum am Saum dieser Wiese. Hinter uns lag der Schatten imposanter Eichen, aus dem uns zweifellos viele Augen beobachteten.

Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, befanden wir uns am südlichen Rand des Hofs. FLIDAIS führte uns nun hinüber zur Nordseite. Dort erhob sich ein kleiner Hügel – eigentlich kaum mehr als ein Buckel mit hügeligen Ambitionen –, auf dem BRIGHIDS Thron stand. Aus der Ferne konnte ich ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen; jedenfalls war sie so weit weg, dass sie keine akute Bedrohung darstellte. Allerdings sah ich schon kommen, dass uns die Feenwesen, die sich jetzt teilten, um uns durchzulassen, bald von allen Seiten umringen würden.

Das gefiel mir nicht. »FLIDAIS, bitte schärf ihnen ein, dass sie sich meinen Freunden und mir nicht nähern sollen. Wir könnten plötzliche Bewegungen als Angriff deuten und entsprechend reagieren.«

Die Göttin der Jagd blieb stehen und wandte sich zu uns um. »Hältst du uns wirklich für so feindselig?«

»Ich glaube nicht, dass mir BRIGHID im Augenblick besonders wohlgesonnen ist. Das allein zwingt mich zur Vorsicht. Du weißt genau, dass sich die Feen nach BRIGHIDS Stimmung richten.«

FLIDAIS grinste. »Wenn BRIGHID dir Böses will, wird sie es dir selber zufügen, Druide. Niemand aus dem Volk hier würde sich dieses Recht anmaßen.«

»Auch sie hat kein Recht über mich.« Alle Feenwesen in Hörweite machten Uuuuuhh. Offenbar waren sie sicher, dass ich schon bald für diese unbotmäßige Äußerung bezahlen würde.

»Das darfst du ihr gern persönlich ins Gesicht sagen.« FLIDAIS setzte sich wieder in Bewegung und rief über die Schulter: »Ich merke schon, das wird eine amüsante Audienz.«

›Was soll an einem Ort amüsant sein, wo es nichts zum Essen und Trinken gibt? Hoffentlich müssen wir nicht so lange bleiben, Atticus.‹

Diese Hoffnung habe ich auch. Ich warf Granuaile einen Seitenblick zu, und sie gab mir mit einem kurzen, schmallippigen Nicken zu verstehen, dass bei ihr so weit alles in Ordnung war. Das galt auch für PERUN – genauer gesagt, er war völlig fixiert auf FLIDAIS’ Kehrseite. Solange sie sich nicht in Luft auflöste, würde es ihn nicht von hier fortziehen.

Angelockt von Gerüchten, die auf flatternden Flügeln die Runde gemacht hatten, strömten die Feen in den Hof – oder besser auf die Wiese. Von allen Seiten drang aufgeregtes Wispern heran, und bald war das Publikum so groß wie in einem Sportstadion.

Mehrere Pixies, die vermutlich von ihren Freunden angestachelt worden waren oder schlicht keine Ahnung hatten, wer ich war und was sie von mir zu erwarten hatten, schossen zu einem schnellen Willkommenstänzchen über meinem Kopf herab – so wurde es mir später zumindest mitgeteilt. Um sie zu verscheuchen, schwenkte ich ein paarmal die Hand über dem Kopf, und plötzlich waren von den ursprünglich sieben nur noch zwei übrig. Die Überlebenden erstarrten vor Schreck, als ihre Gefährten mitten in der Luft zu Asche zerfielen, und PERUN konnte sie bequem mit kleinen Fingerblitzen erledigen.

»Große Mücken hier«, knurrte er. Aus dem Publikum zu beiden Seiten, das alles verfolgt hatte, stieg ein lautes Raunen auf.

»Das waren keine Mücken«, sagte Granuaile.

Mit grimmiger Miene war FLIDAIS herumgewirbelt. »Was ist geschehen?«

»Pixies«, antwortete ich. »Vielleicht wollte jemand meine Echtheit prüfen.«

Mit erhobener Stimme wandte sich FLIDAIS an die versammelten Feenwesen: »Ich habe euch vor ihm gewarnt. Er ist ein Eisendruide. Wer ihn belästigt, tut dies auf eigene Gefahr.«

Ein bedrohlicher Akkord zerriss die Luft: »Und wenn euch der Eisendruide nicht tötet, tue ich es.« Das war BRIGHIDS Stimme. In ihrer Rolle als Göttin der Dichtkunst konnte sie drei Töne gleichzeitig anschlagen – gern auch dann, wenn sie sich aus siebzig Metern Entfernung inmitten einer aufgebrachten Menge Gehör verschaffen wollte. Auf diese Weise musste sie nur einmal sprechen, um etwas dreimal zu sagen. Das verlieh ihr in den Reihen der Magiekundigen eine ungeheure Autorität. Allerdings durfte sie in diesem Modus nicht lügen oder Halbwahrheiten erzählen, daher benutzte sie ihn nicht oft und wählte ihre Worte sehr sorgfältig, wenn sie es tat. »Lasst ihn ungestört näher kommen, oder ihr habt euer Leben verwirkt.«

Eingeschüchtert verstummte das Feenvolk und wich in weitem Bogen vor uns zurück. FLIDAIS wandte sich wieder dem Thron zu und führte uns weiter. Es war wie bei einer Parade, bloß dass es den Zuschauern die Laune verhagelt hatte, weil die Blumen auf den Umzugswagen mit einem Schlag verwelkt waren. Das Stimmengewirr um uns herum klang jetzt nicht nur gedämpft, sondern auch verbittert. FLIDAIS schritt zuversichtlich voran, offenbar überzeugt, dass ihre Gegenwart und BRIGHIDS laute Mahnung ausreichende Gewähr für unsere Sicherheit boten. Trotzdem blieb ich argwöhnisch. Im Hof befanden sich die verschiedensten Arten von Feen, und einige von ihnen waren an die Nachfahren von AENGHUS ÓG gebunden. Waren diese Pixies vorhin losgeschickt worden, um zu klären, ob ich wirklich der Eisendruide war? Offen gestanden traute ich BRIGHID durchaus zu, dass sie selbst hinter dem Ganzen steckte. Immerhin war ich seit zwölf Jahren angeblich tot, und wenn jemand bei der Berührung mit meiner kalten Eisenaura zu Asche zerfiel, war das ein eindeutiger Beweis dafür, dass ich kein Schwindler war. Daher lag es für BRIGHID nahe, jedem mit dem Tod zu drohen, damit die Verantwortung für weitere Angriffe nicht an ihr hängenblieb. Und natürlich würde sie ihren Worten auch Taten folgen lassen – allein schon, damit ihre Handlanger nicht in allerletzter Sekunde ausplaudern konnten, dass sie sie geschickt hatte.

Die MORRIGAN hatte mir erzählt, dass BRIGHID nach AENGHUS ÓGS Tod hier in Tír na nÓg eine Art Pogrom veranstaltet hatte. Es kam zu einem Aufstand in seinem Namen, viele gehortete Zauberwaffen gelangten in zornige Hände, und eine ganze Schar von Feen kam ums Leben. Viele – wohl sogar die meisten – waren AENGHUS ÓGS Nachkommen, doch sicher waren auch andere Lager betroffen. Das hieß, in den Reihen der TUATHA DÉ DANANN herrschten Spannungen, die allein ich verursacht hatte.

Nun, vielleicht nicht ganz allein. Die MORRIGAN lag mit fast jedem im Clinch, vor allem mit BRIGHID. Diesen Streit hatte ich nicht verursacht, sondern höchstens verschärft. So oder so, ich konnte bei Hof nicht mit der gleichen Gunst rechnen wie in der Vergangenheit. Vielleicht hatte ich mir sogar neue Feinde geschaffen, und solange ich nicht wusste, wer mir einigermaßen wohlgesonnen war und wer mir im Gegenteil Rache geschworen hatte, war Misstrauen das Mittel der Wahl.

Um BRIGHIDS Thron zog sich ein leerer Kreis, außerhalb dessen sich die Feen drängten. Diese freie Fläche bot genügend Platz, damit sich die Untertanen bei ihrer Audienz klein und schwach fühlen konnten. Außerdem war so Raum für einige VIPs, die ohne Zweifel einige gehässige Bemerkungen und bissige Fragen beisteuern wollten. Rechts von BRIGHID saßen die TUATHA DÉ DANANN und links von ihr die Vertreter verschiedener Feenfraktionen.

Mit einem kurzen Blick überzeugte ich mich, dass fast alle TUATHA DÉ DANANN anwesend waren. MANANNAN MAC LIR in seinem Nebelumhang zwinkerte mir unter den buschigen schwarzen Brauen zu. Neben ihm entdeckte ich seine Frau FAND, klein, zierlich und von ätherischer Schönheit, in einer weißen Robe mit einem ähnlichen Flechtwerkmuster wie FLIDAIS an ihrem Kragen; vielleicht ein Familienerbe, da sie FLIDAIS’ Tochter war. Selbst im Sitzen strahlte sie eine fließende Anmut aus.

OGMA war da, groß und braungebrannt, neuerdings mit kahlgeschorenem Kopf und zwei großen goldenen Ringen in den Ohren. Passend dazu trug er einen goldenen Reif um den Hals und einen Kilt – sonst nichts. Er war schon immer ein wenig zu stolz auf seinen Sixpack gewesen. Sein Gesicht brachte höfliches Interesse zum Ausdruck, allerdings hatte ich das Gefühl, dass er damit bloß seine Gleichgültigkeit kaschierte. Neben ihm saß GOIBHNIU, der Meisterschmied und -brauer, der die kalten Eisenamulette für die MORRIGAN, Granuaile und Oberon angefertigt hatte. Im Gegensatz zu OGMA schien GOIBHNIU völlig gebannt davon, dass sich ein alter Druide mit seinen Freunden BRIGHIDS Thron näherte. Er grinste vor Vorfreude, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Hände dazwischen gefaltet. BRIGHID war seine Mutter, und er gehörte daher wohl zu den wenigen, die es amüsant fanden, wenn sie sich aufregte. Neben ihm räkelten sich seine Brüder CREIDHNE und LUCHTA, die sich leise miteinander unterhielten, ohne auf uns zu achten.

Hinter ihnen befand sich eine weitere Reihe, von deren Plätzen zwei leer waren. Einer war vermutlich für FLIDAIS und der andere für die MORRIGAN bestimmt, die durch Abwesenheit glänzte.

Während die meisten TUATHA DÉ DANANN schlicht – und ohne großen Ornat – gekleidet waren, hatte sich BRIGHID in Schale geworfen, als wollte sie Frank Frazetta Modell sitzen. Um ihr rotes Haar zur Geltung zu bringen, trug sie links einen hauchzarten grünen Ärmel, der am oberen Ende des Bizeps und am Handgelenk mit einem goldenen Ring befestigt war. Zwischen den Beinen hielt eine goldene Bauchkette eine weitere Kaskade aus dünnem grünen Stoff, die jedoch mehr betonte, als sie verbarg. Abgesehen von diesen rein schmückenden Textilien war sie nackt und zeigte unter anderem stolz ihre Tätowierungen an der rechten Seite. Zu ihren Füßen lagen zwei schwarze Wolfshunde mit glänzendem Fell, die unser Kommen mit erhobenen Köpfen aufmerksam beobachteten.

Kein Kommentar mehr, Oberon, warnte ich. Vergiss nicht, sie kann dich hören.

Als Antwort erhielt ich das mentale Gegenstück zu einem Brummen.

Bei meiner letzten Begegnung mit BRIGHID hatte sie sich ähnlich aufreizend präsentiert. Sie hatte mich aufgefordert, ihr Gemahl zu werden, und ich lehnte ab. Als sie gleich darauf erfuhr, dass ich Sex mit der MORRIGAN gehabt hatte, versuchte sie mich zu töten. Aus dieser Klemme hatte mir Fragarach geholfen, doch dieses Schwert hatte ich nicht mehr. BRIGHIDS Blick huschte kurz zu Moralltach, und ich schob ihn schnell zurück in die Scheide, da mir das ein wenig diplomatischer erschien, als ihr damit vor der Nase herumzufuchteln.

FLIDAIS hielt vor dem Hügelchen, auf dem sich BRIGHIDS Thron erhob. Er bestand aus Eisen, das sie selbst geschmiedet hatte. Ursprünglich eine Meisterin in der Bearbeitung von Kupfer und Bronze, übte sich BRIGHID im Umgang mit dem magieabwehrenden Metall, nachdem die Milesier es vor langer Zeit nach Irland gebracht hatten. Sie glaubten, dass sie die TUATHA DÉ DANANN unter die Erde getrieben hatten, doch in Wirklichkeit hatten sie sie dazu gezwungen, ein Gefilde der Magie zu schaffen, und waren damit indirekt verantwortlich für die Geburt einer reichen Palette an magischem kleinem Volk, das sie und ihre Nachkommen noch viele Generationen lang heimsuchen und beglücken sollte. BRIGHIDS Thron war ein greifbares Symbol ihrer Herrschaft über die Feen. Zum ersten Mal fiel mir ein, dass meine kalte Eisenaura hier, am Ort ihrer Macht, an sich schon eine Provokation darstellte. Immerhin hatte ich es in der Kunst des Eisenschmiedens ganz offenkundig weiter gebracht als sie. Außerdem konnte ich mich mit meinen Sachen bewegen, während ihr Thron unverrückbar war. Doch nach dem harten Glitzern in ihren Augen zu schließen, stand dieser Punkt auf der Liste der Hühnchen, die sie mit mir zu rupfen hatte, ziemlich weit unten.

»Majestät«, begann FLIDAIS. »Der Druide Siodhachan Ó Suileabháin ist eingetroffen, wie von dir verlangt.«

Mit einem unmerklichen Nicken bekam FLIDAIS die Erlaubnis, ihren Platz in den Reihen der TUATHA DÉ DANANN einzunehmen. Obwohl es völlig bekloppt war, fragte ich mich unwillkürlich, wen PERUN wohl jetzt gerade anstarrte. Würde er FLIDAIS zu ihrem Sitz folgen oder den Blick auf BRIGHIDS nackte Brüste richten?

Mit hochgezogener Augenbraue wartete BRIGHID darauf, wie ich sie anreden würde. Ich wusste, dass das die erste von vielen Herausforderungen war, die mir bevorstanden. Wenn ich sie Majestät nannte, erkannte ich damit an, dass sie meine Herrscherin war und mich herumkommandieren durfte. Auch ein Kniefall hätte Unterwerfung signalisiert. Beides kam also nicht in Frage. Stattdessen verneigte ich mich schnell und höflich. »Du hast mich zu einer Audienz gebeten, BRIGHID.« Konditioniert durch meine Jahre in den USA, hätte ich um ein Haar hinzugefügt: »Was kann ich für dich tun?« Das wäre ein verheerender Fehler gewesen. Ich hustete, um meinen fast begangenen Fauxpas zu kaschieren, und beschränkte mich aufs Offensichtliche: »Hier bin ich.«

»Du kommst rasch zum Kern der Sache«, spottete sie. Die Dreifachstimme war verschwunden, nur noch die Altlage war übrig. »Man hat mir berichtet, du seist vor zwölf Jahren gestorben.«

»Da muss ein Irrtum vorliegen.«

»Was den Tod angeht, irrt die MORRIGAN nie.«

»Hat sie wirklich gesagt, dass ich tot bin?«

»Ja.«

»Und hat sie meinen Namen benutzt?«

»Ja. Sie hat erzählt, der Druide Atticus O’Sullivan liege in Stücke zerhackt in der Wüste von Arizona. Das wurde von mehreren Donnergöttern bestätigt.«

»Mit Verlaub, BRIGHID, aber das ist nicht mein Name.«

BRIGHID kniff die Augen zusammen. »Man hat mich also absichtlich getäuscht.«

Ohne um Verzeihung zu bitten, hielt ich mich an die Fakten. »Es war eine notwendige List zu meinem Schutz. Ich wollte nicht bis in alle Ewigkeit von den besagten Donnergöttern verfolgt werden.«

»Warum hast du sie nicht einfach erschlagen wie THOR?«

»Ich habe THOR nicht erschlagen. Das hat jemand anders erledigt. Und da ich Fragarach zurückgegeben habe, dachte ich, dass das ein ausreichender Preis für einen harmlosen Trick ist.«

BRIGHID warf MANANNAN MAC LIR einen kurzen Blick zu, der sichtlich verwirrt mit den Schultern zuckte.

»Wiederhole, was du gerade gesagt hast, Druide«, forderte die Göttin.

»Ich habe THOR nicht erschlagen.«

»Nein, nicht das. Wie lautete deine Bemerkung über Fragarach?«

»Ich habe es zurückgegeben. Über die MORRIGAN.«

Wütend riss BRIGHID die Augen auf. »Die MORRIGAN!«, fauchte sie. »Du hast Fragarach dem Gewahrsam der MORRIGAN überlassen?«

»Sie hat versprochen, dass MANANNAN MAC LIR es von ihr wiederbekommt«, erklärte ich.

»Ich erinnere mich gut an mein Versprechen, Siodhachan«, krächzte eine kehlige Stimme links von mir. Dort stand auf einmal die MORRIGAN, nackt bis auf das Eisenamulett um ihren Hals, die Haut wie Sahne in Porzellan und das Haar dunkler als ein Minenschacht. Mit rot glühenden Augen starrte sie BRIGHID an. Kampfbereit hatte sie Fragarach über dem Kopf erhoben. »Ich habe nie gesagt, wann ich es zurückgebe.«

»Cathéide!«, rief BRIGHID und verwandelte sich plötzlich von der heidnischen Prinzessin in eine kampfbereite Ritterin in einer herrlichen Rüstung, die sie selbst geschmiedet hatte.

Eine der genialsten Bindungen, die ich je erlebt hatte. Und ich kannte diese Rüstung. Sie hatte sie ausdrücklich als unerschütterliches Bollwerk gegen die unaufhaltsame Kraft Fragarachs geschmiedet. Außerdem war sie bewaffnet: Blitzschnell hatte sie nach einem wuchtigen Bastardschwert gegriffen und im linken Panzerhandschuh einen Feuerball entzündet. Schon ging sie neben dem Thron in Verteidigungsstellung.

Die beiden hassten sich, solange ich zurückdenken konnte, aber ich hätte nie gedacht, dass sie wirklich Ernst machen würden. Zumindest hatte ich gehofft, nicht dabei zu sein, wenn es so weit war.

4

Schweigen senkte sich auf den Hof, als die MORRIGAN und BRIGHID einander gegenüberstanden. PERUN konnte seine Begeisterung nicht mehr im Zaum halten. Nach endlosen Jahren einsamer Adlerflüge hatte er in der vergangenen Stunde erlebt, wie eine Göttin hemmungslos mit ihm flirtete und wie zwei andere zuerst splitternackt auftauchten und sich dann zur Schlacht rüsteten. Mit vor Freude überschäumender Stimme rief er: »Oh, liebe ich irisches Volk!«

Die Feen hinter uns brachen in lautes Lachen aus. Die TUATHA DÉ DANANN schienen die Bemerkung nicht besonders lustig zu finden – mit Ausnahme der MORRIGAN. Glucksend ließ sie Fragarach sinken. BRIGHID bewegte sich nicht.

»Du kannst dich entspannen, BRIGHID.« Die roten Augen der MORRIGAN kühlten auf ihr normales Dunkelbraun ab. »Ich bin nicht zum Kämpfen hier, sondern um ein Versprechen zu erfüllen. Du siehst, dass ich das Schwert des Druiden halte. Es war eine ganze Weile in meinem Besitz.« Ihr Ton ließ keinen Zweifel daran, dass sie den Doppelsinn genoss. Ihre Mundwinkel zuckten nach oben.

»Der Druide ist ein ausgezeichneter Fechter, wie du dir sicher vorstellen kannst. Natürlich wird dir mehr als diese Vorstellung nicht vergönnt sein.«

Obwohl es mich danach drängte, wagte ich nicht, die MORRIGAN zum Schweigen aufzufordern. Es fehlte nicht mehr viel, und sie plauderte aus, dass sie von BRIGHIDS Antrag an mich wusste. Ich hatte BRIGHID versprochen, niemandem davon zu erzählen, aber die MORRIGAN hatte die Wahrheit erraten. Diese Feinheiten waren BRIGHID sicher ziemlich egal, sollte die MORRIGAN jetzt damit herausplatzen. Für so eine Demütigung vor allen Feenwesen hätte auf jeden Fall jemand mit seiner Einäscherung gebüßt.

BRIGHID blieb stumm und reglos, und das war das Beste, was sie tun konnte. Die MORRIGAN hatte wohl kaum Lust auf einen Angriff, solange BRIGHID über ihr auf dem Hügel stand; und auch wenn die MORRIGAN als Schlachtengöttin darüber bestimmte, wen der Tod ereilte – ein Zuckerschlecken erwartete sie nicht. Erstens würde sie in Flammen aufgehen. Ein kurzer Blick ins magische Spektrum offenbarte mir zudem, dass der Hügel umfassende Bannzauber trug und vor Abwehrfallen bloß so starrte. Nur ein Irrsinniger hätte BRIGHID dort attackiert, und die MORRIGAN mochte boshaft und kleinlich und einfach verdammt unheimlich sein, aber irrsinnig war sie nicht.

Als sie bemerkte, dass BRIGHID ihre Sticheleien ignorierte, versuchte sie es mit unverhohlenem Hohn. »Merkwürdig, dass eine Göttin der Dichtkunst so um Worte verlegen ist. Bedeutet das, dass sich auch in der Welt der Sterblichen gerade niemand mehr an seine schmutzigen Limericks erinnern kann?«

»Gib auf das Schwert wie versprochen und geh«, sagte BRIGHID.

»Na, siehst du, mit ein wenig Anstrengung geht alles!«, krähte die MORRIGAN. »Du hast einen richtigen jambischen Vierheber mit daktylischem Einschlag zustande gebracht.« Lässig wie ein Baseballspieler auf dem Weg zum Schlagmal ließ sie die Klinge mit der flachen Seite auf der Schulter ruhen. Ohne auf BRIGHID zu achten, schlenderte sie auf MANANNAN MAC LIR zu. Sie wusste genau, dass BRIGHID auf ihrem Hügel praktisch festsaß und ihn nicht verlassen konnte, weil sie damit all ihre strategischen Vorteile aufgegeben hätte – und bei einem Waffengang mit der MORRIGAN brauchte man jeden strategischen Vorteil, den man kriegen konnte.

MANANNAN erhob sich von seinem Stuhl und wartete mit hochgezogener Kapuze und unter dem Umhang verschränkten Armen. Im Hof wurde es mucksmäuschenstill, als alle die Ohren spitzten, denn MANANNAN ergriff nur selten in der Öffentlichkeit das Wort.

Die MORRIGAN blieb vor ihm stehen und bot ihm das mit beiden Händen waagrecht auf Brusthöhe gehaltene Schwert dar. Eine rituelle Geste, die an die in Japan praktizierte formelle Besitzübertragung erinnerte. »MANANNAN MAC LIR, hiermit gebe ich dir Fragarach zurück, wie ich es dem Druiden Siodhachan Ó Suileabháin gelobt habe. Seine ursprüngliche Scheide ging vor langer Zeit verloren. Willst du ihn annehmen?«

»Das will ich.« Seine Antwort war eine Enttäuschung für alle, die mehr Dramatik erwartet hatten. Auch ich hatte damit gerechnet, dass die MORRIGAN noch das eine oder andere Ass im Ärmel hatte – oder eigentlich nicht im Ärmel, denn sie war ja nackt. Dann zuckte mein Blick hinüber zu BRIGHID, und mir dämmerte mit einem Mal, was die MORRIGAN für ein Spiel trieb. BRIGHID stand noch immer da, als könnte sie jeden Moment angegriffen werden. Zu dieser Abwehrhaltung hatte sie das plötzliche Auftauchen der MORRIGAN mit dem Schwert gezwungen. Doch nun, da sich die Schlachtengöttin völlig unaggressiv und sogar höflich benahm, wirkte BRIGHID bestenfalls übernervös und schlimmstenfalls wie eine verängstigte Memme.

Die MORRIGAN legte Fragarach sanft in MANANNANS ausgestreckte Hände. »Es ist vollbracht.« Ohne Abschied oder einen Blick in BRIGHIDS Richtung verwandelte sie sich in ihre Krähengestalt und flog hinüber in den Hain, der den Hof umgab. Damit hatte sie BRIGHIDS kurze Anweisung genau befolgt, und jetzt stand diese zu allem Überfluss auch noch als ungehobelter Trampel da. Noch immer glühte der Feuerball rot in ihrem Panzerhandschuh, und niemand von den Anwesenden konnte entgehen, dass sie sich gegen eine praktisch nicht existierende Bedrohung gewappnet hatte. Als sie endlich selbst zu dieser Einsicht gelangte, murmelte sie zwei Worte, die die Rüstung und die Feuerkugel verschwinden ließen. Zu PERUNS Entzücken war sie wieder in hauchdünne, durchsichtige Gaze gewandet – wenn man es überhaupt so bezeichnen wollte.

Allerdings war sie mächtig angefressen. Ihre Augen glühten blau. »Wie lang hatte sie Fragarach in ihrem Besitz?«, knurrte sie.

»Ungefähr zwölf Jahre. Ich dachte, sie hätte ihn schon längst zurückgegeben.«

»Und was ist mit dem Amulett?«

Ich zuckte die Achseln. »Bestimmt hat sie daran gearbeitet, aber du hast ja selbst gesehen, dass es noch nicht fertig ist.«

»Das Entscheidende ist, dass es eines Tages fertig sein wird.« BRIGHIDS Augen kühlten sich ab, und nun schlug ihre Stimme wieder drei unheimliche Töne gleichzeitig an. »Und mir wäre es lieber, wenn dieser Tag nie käme.« Die unausgesprochene Bedeutung dieser Äußerung war klar: Sie wollte nicht, dass die MORRIGAN gegen die von der Göttin des Feuers geschleuderten Feuerbälle immun war, so wie ich.

Die zwei schwarzen Wolfshunde am Fuß des Hügels waren während des Besuchs der MORRIGAN ruhig geblieben und hatten keinen Laut von sich gegeben. Jetzt erhoben sie sich und knurrten mich mit gefletschten Zähnen an.

›Hey, das ist unhöflich‹, befand Oberon.

Bleib erst mal still, befahl ich ihm.

»Wenn du mir nur Drohungen hinwirfst, BRIGHID, dann nehme ich meinen Abschied.«

»Du kannst dann gehen, wenn ich es erlaube.«

»Wir sind nicht deine Untertanen, und du hast uns freies Geleit versprochen.«

»Wohl wahr, aber ich habe nicht angegeben, wie lang es dauern wird, dich hinauszugeleiten.«

Ich nahm mir vor, bei allen zukünftigen Verhandlungen mit den TUATHA DÉ DANANN auf einem festen Zeitrahmen zu bestehen. Selbst der Begriffsstutzigste lernt dazu, wenn er merkt, dass er zweimal mit dem gleichen Trick hereingelegt wurde. Jetzt kannst du knurren, sagte ich zu Oberon, und er folgte meiner Aufforderung mit Begeisterung.

Mit erhobener Stimme kämpfte ich gegen das wütende Geifern von drei Hunden an. »Du wirst dich vielleicht entsinnen, dass wir einmal eine Unterhaltung über die Feinheiten der Gastfreundschaft geführt haben.« Darauf waren zwei Reaktionen möglich. Entweder sie erinnerte sich daran, dass ich sie damals nach allen Regeln der Kunst ausmanövriert hatte, und machte einen Rückzieher, weil sie ähnliche Schachzüge fürchtete. Oder sie hörte auf ihren bereits von der MORRIGAN verletzten Stolz und explodierte. Das blaue Aufflammen in ihren Augen deutete auf die zweite Möglichkeit, und mir wurde schwer ums Herz, als ich begriff, dass ich vielleicht gleich jemanden umbringen musste, um meine Haut zu retten.

›Der volle Wahnsinn‹, bemerkte Oberon. ›Wenn ich nicht mittendrin stecken würde, hätte ich jetzt gern eine Tüte Popcorn.‹

5

»Bwah-ha-ha!« Aus den Reihen der TUATHA DÉ DANANN kam ein unterdrücktes Prusten. Alle gafften MANANNAN MAC LIR an, der sich die Hand über den Mund geschlagen hatte. FLIDAIS folgte mit mädchenhaftem Gekicher, und dann erlegten sich die anderen Götter ebenfalls keinen Zwang mehr auf. Im nächsten Moment brachen auch die zahlreich versammelten Feen in schallendes Gelächter aus, obwohl sie gar nicht wissen konnten, was so komisch war. Ich stutzte, dann dämmerte es mir. Die TUATHA DÉ DANANN hatten Oberons Bemerkung »gehört«. Mein Blick glitt zurück zu BRIGHID, um deren Mundwinkel es ebenfalls zuckte. Prompt beruhigten sich ihre Hunde und hockten sich wieder hin.

Ich forderte Oberon auf, ihrem Beispiel zu folgen. Ich glaube, du hast uns gerade den Schinken am Arsch gerettet.

›Du hast Schinken für uns mitgebracht?‹ Oberon klang hoffnungsvoll. ›Und ich hab ihn gerettet? Ich bin der Schinkenretter! Atticus, bitte stell mich ab jetzt als Oberon, der Schinkenretter vor.‹

»Würdest du mir bitte erklären«, sagte BRIGHID