Der Fluch der Tochter des Schmieds - Anne Koch-Gosejacob - E-Book

Der Fluch der Tochter des Schmieds E-Book

Anne Koch-Gosejacob

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Beschreibung

Osnabrück, zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Die Bevölkerung leidet, was der machthungrige Bürgermeister Peltzer ausnutzt, um sich durch die Verfolgung von Hexen als staken Mann zu präsentieren. Währenddessen wächst die schöne Schmiedetochter Greta wohlbehütet auf und verliebt sich in einen Rittmeister der schwedischen Besatzungsmacht. Ihre Liebe beruht auf Gegenseitigkeit. Aus Eifersucht verleumdet ihre beste Freundin Ludeke sie als Hexe. Gretas Leidensweg beginnt, doch ihre Rache ist schrecklich. Nach ihrem Tod, aus dem Zwischenreich heraus, holt sie sich daraufhin jeden männlichen Nachkommen des Bürgermeisters. Bis zur Geburt des kleinen Daniels… Voller Sorge um ihren Enkel erforscht Marie nun anhand von Aufzeichnungen der Ahnen die gewaltsamen Tode innerhalb der Familie und kommt zu einer ungewöhnlichen Lösung.   Eine spannende Familiensaga vom späten Mittelalter bis in die Neuzeit.

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Anne Koch-Gosejacob

Der Fluch der Tochter des Schmieds

historischer Roman

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Hochzeit

 

Noch weiter als Sterne

in endlose Ferne

am Mond vorbei

da trafen wir uns zwei

auf immer und ewig

in Liebe vereint

 

Osnabrück, 1619.

Breitbeinig stand Johann Husmann in der großen Diele seines schmucken Fachwerkhauses, reckte den Kopf nach oben und betrachtete gedankenverloren die neue Eichenholztreppe, die zu den Schlafräumen führte.

„Was stehst du da und starrst Löcher in die Luft? Geh lieber rüber zu den Nachbarn und hilf ihnen, Tische und Stühle zu uns reinzutragen. Schließlich ist es deine Hochzeit, die ich ausrichten muss.“

„Ich mach schon, Mutter!“ Johann schnitt eine Grimasse und dachte: ,Morgen kann ich endlich meine Braut in den Arm nehmen und küssen.’ Bei dem Gedanken daran wurde er rot, drehte sich um und eilte zur weit offenstehenden Dielentür hinaus, um endlich den Nachbarn bei den Vorbereitungen zu helfen. Blindlings überquerte er die Straße und stieß dabei mit Schulten Trine zusammen, die auf dem Weg zum Apotheker war.

„Tölpel! Habt Ihr keine Augen im Kopf?“ Laut schimpfend rappelte sich die Alte wieder auf die Beine und mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb sie sich den Hintern.

„Bitte entschuldigt.“ Eilig bückte sich Johann, sammelte die verstreut herumliegenden Kräuter wieder in den kleinen Weidenkorb und reichte ihn der Alten. Die riss ihn an sich, als wären lauter Goldstücke darin.

„Ich nehm Euch schon nichts weg“, sagte Johann beruhigend.

Mit durchdringendem Blick sah ihn die Alte an und raunte: „Ihr werdet es noch schwer haben im Leben, denn Euch wird etwas genommen.“

„Unsinn, ich bekomme etwas. Morgen heirate ich die Gertraud Tängemann.“

„Dann gebt auf Euch Acht.“ Mahnend erhob die Alte den Zeigefinger und vor sich hin murmelnd verschwand sie in Richtung Marktplatz.

 

Gertraud Tängemann war die Tochter des reichen Krämers aus der Bierstraße, der mit Stoffen aus aller Herren Länder handelte, einmal im Jahr sogar auf einem Schoner nach Indien segelte, um dort neuartige Gewürze einzukaufen. Dem Apotheker am Markt brachte er immer eine Kiste von den aromatischen, holzähnlichen Zimtstangen mit, die gemahlen bei Husten und Heiserkeit helfen sollten, sowie etliche kleine Holzfässer mit dottergelben Safran zum Färben von Speisen und Kuchen.

Die neunzehnjährige Gertraud half dem Vater liebend gerne im Kontor, konnte sie doch hier an den vielen, ihr oft unbekannten würzigen Proben riechen, die ausländische Geschäftsleute dem Vater zukommen ließen. In letzter Zeit hatte sie aber mehr der Mutter zur Hand gehen müssen, um die vielen hausfraulichen Tätigkeiten zu erlernen.

Gertraud war eine gute Partie, ihre Aussteuer konnte sich sehen lassen. Außerdem war sie hübsch. Die langen weizenblonden Haare trug sie zu einem lockeren Knoten aufgesteckt.

Lesen, Schreiben und sogar Rechnen hatte ihr der Hauslehrer Jonathan Mausbock beigebracht, was sich für Johann als sehr vorteilhaft erwies, denn die junge Frau konnte ihm nun die Buchführung der Schmiede abnehmen und auch die anfallenden Rechnungen ausstellen.

Johanns Vater Ewald – Gott hab ihn selig – war vor einem halben Jahr gestorben. Kurz vorher hatte er noch den Ehevertrag mit dem alten Tängemann, mit dem er seit Jahren befreundet war, ausgehandelt. Denn er hatte gemeint: „Gertraud ist genau die Richtige für unseren Johann!“

Nachdem sich die jungen Leute ein paar Mal in Gegenwart ihrer Eltern getroffen hatten, fand Gertraud Gefallen an dem kräftigen Mann, der ihr zu Recht als gutmütig, rechtschaffen und fleißig angepriesen worden war. Verlegen hatte Johann dagesessen und auf seine großen, schwieligen Hände gestarrt, sich vorgestellt, wie es sein würde, seine Braut zu streicheln.

Am Hochzeitsmorgen erhob sich Johann frühzeitig, öffnete das Fenster, stieß die grünen Holzklappen, die zur Verdunkelung von außen angebracht waren, weit auf und warf einen Blick nach draußen. Rötlich schimmerte die aufgehende Sonne hinter der dicken, mit Moos bewachsenen Stadtmauer hervor und ließ einen schönen Tag erahnen. Genießerisch sog er die kühle Morgenluft ein, strich sich kurz durchs struppige Haar, drehte sich um, nahm seine graue Arbeitshose vom Schemel und zog sie an. Pfeifend verließ er den Schlafraum und schritt die Treppe hinunter.

Auf der Diele begrüßten ihn fröhlich zwitschernd einige Schwalben. Sie flogen durch die offen stehende Klappe der Dielentür ein und aus, um ihre Jungvögel in den Nestern oben am dicken Querbalken des Dachbodens zu füttern.

Johann wandte sich zum anderen Ende der Diele, öffnete die schmale, vom Rauch geschwärzte Hintertür, lief über die ausgewetzten Stufen nach unten und marschierte gut gelaunt über den sauber abgefegten Hof zum Stall. Die schwarzbunte Kuh und das Pferd bekamen eine Mistgabel frisches Heu vorgelegt, die beiden Schweine einen Eimer klein geschnittener Rüben und Wasser, in das er etwas Mehl einrührte.

Auf dem Rückweg sah er, dass der Hahn mit seinen bunten, sichelförmig herunterhängenden Schwanzfedern wie ein Pascha zwischen den Hühnern herumlief, welche schon wieder eifrig in den Gemüsebeeten seiner Mutter scharrten und kratzten.

„Blöde Viecher, verschwindet!“ Kräftig klatschte er ein paar Mal in die Hände, und laut gackernd stob das freche Federvieh auseinander. Johann nahm sich fest vor, in der nächsten Woche einen Verschlag zu bauen oder wenigstens den Garten einzuzäunen. Er wollte endlich Ruhe vor seiner Mutter haben, vor ihrem ewigen Gezeter wegen der frei herumlaufenden Hühner.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang er die Treppe hoch, lief in die Diele und holte sich aus der schweren Wäschetruhe ein sauberes Leinentuch. Draußen schöpfte er mit dem alten Ledereimer, der immer am Haken unter der Treppe hing, Wasser aus der dicken Regentonne und goss es sich prustend über den Kopf. Anschließend rubbelte er seine störrischen roten Haare trocken und versuchte, sie mit dem grobgezinkten Kamm zu bändigen.

„Guten Morgen, Johann!“ Im Festtagskleid stand Mutter Frieda oben in der Tür, hob den Kopf und schaute prüfend zum blauen Spätsommerhimmel. „Nicht eine Wolke zu sehen. Wird warm heute. Das richtige Hochzeitswetter!“

„Ja, Mutter! Ein Glück, dass ich auf Euch gehört habe und mir der Schneider Hose und Jacke aus dem leichten grauen Baumwolltuch genäht hat.“ Dankbar nickte er ihr zu. Dann bückte er sich, ergriff den Ledereimer und hing ihn wieder unter die Treppe, schnappte sich im Vorbeigehen das feuchte Handtuch, klemmte es sich unter den Arm und stieg die Stufen hoch. Er zwängte sich an seiner Mutter vorbei, lief zur Schlafkammer und zog sich die Hochzeitskleidung an.

Als er herunterkam, stellte die Mutter ihm einen Becher frische, warme Milch, die sie in der Frühe gemolken hatte, auf den sauber gescheuerten Eichentisch und legte einen großen Kanten Schwarzbrot dazu, dick mit Butter bestrichen. Johann setzte sich auf die Bank, nahm das Brot und biss kraftvoll hinein.

Wohlwollend betrachtete Frieda ihren Sohn. Sechsundzwanzig Jahre alt war er jetzt, hatte viel Ähnlichkeit mit seinem Vater. Sie liebten die gleichen deftigen Witze und verstanden es zuzupacken. ,Hoffentlich zeigt sich die Schwiegertochter anstellig, damit ich gut mit ihr auskomme’, dachte Frieda.

Als nach dem Frühstück allmählich alle Gäste bei Husmanns eingetroffen waren, machten siesich gemeinsam mit dem Bräutigam auf den Weg in die Bierstraße, um die Braut abzuholen und zur Kirche zu geleiten.

Wie üblich hatten die Marktbeschicker am Rathaus den Dreck von den Ständen und Tischen einfach auf die Erde gekehrt und liegen gelassen. Die Frauen mussten ihre langen Röcke raffen, hielten sich die Nase zu und schimpften auf die zeternden Spatzen, die in den stinkenden Resten herumpickten, als wären sie völlig ausgehungert. Die Leute waren froh, als sie einigermaßen sauber die Marienkirche betraten. Hier roch es nach Bienenwachskerzen und Weihrauch. Durch den mit Tannengrün geschmückten Gang schritten sie nach vorne und nahmen ihre Plätze ein.

Vater Tobias stand in vollem Priesterornat am Hochaltar und wartete, bis das Brautpaar vor ihn hintrat. Salbungsvoll erhob er seine Stimme. „Wir haben uns hier zusammengefunden, weil Johann Husmann und Gertraud Tängemann den heiligen Bund der Ehe schließen wollen. Wenn einem von euch ein Hindernis bekannt ist, so zeige er es jetzt an.“

Nachdem niemand etwas einzuwenden hatte, wies der Priester dem Vater der Braut an, zum Altar zu kommen. Er solle vor Zeugen erklären, welche Mitgift der Bräutigam zu erwarten habe. Statt laut aufzuzählen und um keinen Neid zu erwecken, hatte Berthold Tängemann alles fein säuberlich aufgeschrieben und reichte das Schriftstück Vater Tobias zum Lesen.

Zu der Zeit eine übliche Praxis, da viele Menschen Angst um ihre Wertsachen hatten. Es war nämlich des Öfteren vorgekommen, dass Diebe an einer Trauung teilnahmen, genau zuhörten, dann eilig die Kirche verließen und dreist in das Hochzeitshaus eindrangen, während die Hochzeiter nichts ahnend in der Kirche saßen.

Vater Tobias las das Schreiben genau durch und nickte anerkennend: „Alles in Ordnung!“ Er reichte es Berthold zurück. Dann bat er das Brautpaar niederzuknien, umschloss mit der Stola die Hände der beiden und fragte sie nacheinander: „Johann Husmann, willst du diese Jungfrau zu deinem dir angetrauten Eheweib nehmen, sie lieben und ehren, bis dass der Tod euch scheidet?“

„Ja, ich will!“

„Und willst du, Gertraud Tängemann, den Johann zu deinem dir angetrauten Ehemann nehmen, ihm gehorchen und angehören, ihn lieben und ehren, bis dass der Tod euch scheidet?“

„Ja, ich will!“

Johann steckte seiner Frau einen hübschen, schmalen Reif, den er beim Goldschmied am Markt hatte anfertigen lassen, an den Ringfinger und Vater Tobias erteilte ihnen den Segen: „In nomine patris et filii et spiritus sancti. Amen!“

Der Orgelspieler griff noch mal ordentlich in die Tasten und unter Glockengeläut verließen Gertraud und Johann Arm in Arm die Kirche, gefolgt von den Hochzeitsgästen. Draußen winkten beide fröhlich etlichen neugierigen Weibern zu, die in den Fenstern hingen und sich die Hälse nach ihnen verdrehten.

 

Zu Hause wurde das Brautpaar von den jubelnden und herumspringenden Nachbarskindern empfangen. Aufgeregt führten die Kleinen das frisch vermählte Ehepaar zu ihrem Ehrenplatz in der mit vielen grünen Zweigen geschmückten Diele.

Lachend, manchmal auch mit derben Sprüchen, überreichten die Hochzeitsgäste ihre Geschenke, wünschten dem jungen Paar viel Glück und ein langes, gemeinsames Leben.

Pünktlich um elf Uhr stand das Essen auf dem Tisch: Suppe, frisches Brot, Butter, allerlei Gemüse und ein leckerer, saftiger Schweinebraten, der anerkennend beklatscht wurde. Die junge Frau musste das Tischgebet sprechen, blickte anschließend verlegen in die Runde und wünschte allen einen guten Appetit. Nach der Suppe stand Johann auf und erhob seinen Bierkrug.

„Danke, dass Ihr alle gekommen seid und nochmals Dank für die vielen Geschenke. Damit Ihr alle reichlich trinken könnt, habe ich ein großes Fass Grünsing kommen lassen!“

„Dieses Kräuterbier ist der reinste Höllentrank!“, rief Ludwig und prostete seinem Bruder wohlgelaunt zu.

 

Gertrauds Schwester hatte sich so vollgestopft, dass sie nach dem Essen unbedingt Bewegung brauchte. Bereitwillig schlossen sich ihr ein paar Frauen an und gemeinsam mit Frieda begutachteten sie den Gemüsegarten hinten im Hof.

„Viel Arbeit, alles in Ordnung zu halten. Aber jetzt ist Gertraud ja da“, meinte Frieda. „Sie soll demnächst auch die Rechnungen ausstellen, meinem Johann damit ’ne Menge Arbeit abnehmen. Berthold sagte doch, dass sie gut rechnen kann. Johann muss nach Feierabend für die Meisterprüfung lernen, damit ihm die Gilde endlich erlaubt, den Betrieb selbstständig zu leiten und einen Lehrling einzustellen.“

Gegen Abend wurde noch einmal aufgetischt und reichlich Bier floss durch die durstigen Kehlen. Ein paar mutige Frauen probierten Friedas blutroten Johannisbeerlikör. Das Rezept dafür hatte sie nach langen Überredungskünsten von Ameling, dem Apotheker am Markt, bekommen, der allerhand Früchte mit Alkohol, Zucker und anderen Essenzen ansetzte, um so den Kunden verschiedene Likörsorten anbieten zu können.

„Na, dann zum Wohle.“ Frieda stieß mit den neuen Verwandten an, hob den Becher in Richtung Brautpaar.

Liebevoll legte Johann den Arm um seine Frau und gab ihr einen schmatzenden Kuss, worauf diese unter den anzüglichen Reden der Männer errötete. Als ihr Ehemann sie später unter Gelächter und Gejohle schwankend die Treppe zur Schlafkammer hinauftrug, barg sie ihr Gesicht verschämt an seiner Schulter.

 

Die Hochzeitsnacht verlief allerdings anders, als Gertraud es sich vorgestellt hatte. Nur mit Müh und Not konnte Johann sich ausziehen, fiel rückwärts auf das breite Bett und schlief sofort ein. Schnarchte dabei, als wolle er einen ganzen Wald absägen.

Im Grunde war Gertraud froh, dass er schlief, denn ihre verheirateten Freundinnen hatten ihr hinter vorgehaltener Hand zugetuschelt, dass es sehr unangenehm sei, was der Ehemann verlange. Schnell zog sie sich aus, legte das schöne Hochzeitskleid ordentlich in die geschnitzte Eichentruhe, die sie als Erbstück mitgebracht hatte, und schloss leise den Deckel. Dann löste sie die zur Krone aufgesteckten, schweren Haarflechten und schlüpfte zu ihrem Mann ins Bett, dankte Gott für das schöne Fest und schlief traumlos bis zum anderen Morgen durch.

 

Eine Tür knarrte. Schlaftrunken reckte sich die junge Frau, hörte leise Schritte, die an der Kammer vorbei zur Treppe tappten. Es musste Frieda sein. Bestimmt ging sie die Tiere füttern.

Da die Läden nicht geschlossen waren, blinzelte Gertraud nach draußen. Vor dem Fenster tanzten die Sonnenstrahlen. Es war, als würden sie sagen: „Raus aus den Federn. Komm an die frische Luft.“ Sie schaute zu Johann, der noch tief und fest schlief und dachte dabei: ,Dieser Mann ist jetzt mein Mann. Ich werde mir Mühe geben, ihm eine gute Ehefrau zu sein.’

Behutsam schlug sie die Bettdecke zurück und stand auf, goss Wasser aus der bunten Emaillekanne in die Schüssel und wusch sich. ,Gut, dass ich gestern Abend schon das braun karierte Kattunkleid auf den Schemel gelegt habe!’ Sie streifte es über, knöpfte es flink zu, nahm vorsichtig die Holzschuhe hoch und schlich auf Zehenspitzen hinaus. Unten in der Diele stellte sie die Stühle zusammen und begann, den Boden zu fegen.

„Schon so früh auf, mein Kind?“

Erschrocken blickte Gertraud sich um. Frieda war durch die schmale Hintertür, die zum Hof hinunterführte, hereingekommen und stellte einen vollen Eimer frisch gemolkener Milch neben den Herd. Sie wollte nachher Butter stampfen.

„Die Sonne hat mich geweckt, Mutter. Wenn Ihr mir zeigt, wo alles steht, können wir gleich essen.“

„So ist’s richtig! Schau, hier hinten ist die Vorratskammer. Sei vorsichtig, sie liegt ein paar Stufen tiefer.“ Frieda ging voran und zeigte der jungen Frau ihre Schätze. Auf dem langen Holzbord lagen rote und grüne Äpfel, daneben stand ein Topf mit Butter und ein weiterer mit Salzgurken. Dann folgte ein Korb mit goldgelben Zwiebeln und einer mit frischen Eiern. Zwei große Brote fanden auf dem Brett daneben Platz. Verschiedene Gemüsesorten lagerten in einer Holzkiste. Eine größere, leere Kiste stand in der Ecke.

„Was kommt da denn rein?“ Neugierig sah Gertraud die Schwiegermutter an. Frieda zögerte einen Moment, doch dann sagte sie: „Die ist für Kartoffeln.“

„Oh, Ihr pflanzt auch welche an?“

„Pssst! Es braucht keiner zu wissen.“ Frieda hielt sich den Finger vor den Mund. „Die Nachbarn sind nämlich der Meinung, dass es Teufelswurzeln sind und dass man blind wird, wenn man die unterirdisch wachsenden Knollen isst.“

„Aber das ist doch Unsinn! Wir essen sie schon seit zwei Jahren und sie sind uns immer gut bekommen. Allerdings war Mutter zuerst auch dagegen, als sie die bräunlichen Klumpen sah, die Vater von einem Geschäftspartner aus Holland bekommen hatte. Angeblich stammen sie ja aus der neuen Welt. Irgend so ein Seefahrer soll sie nach Spanien und dann nach Irland gebracht haben, um sie dort anzubauen. Aber mir ist es egal, woher sie kommen. Ich mag sie!“

„Wir mögen sie auch, und wenn man genau weiß, was man von den Pflanzen essen kann, ist es in Ordnung. Aber Menken Liese, die ein paar Häuser weiter wohnt, hat das Kraut gegessen. Einen Tag später bekam sie keine Luft mehr und ist elendig zu Grunde gegangen. Seitdem will hier in der Straße keiner mehr Kartoffeln anpflanzen.“ Verständnislos schüttelte Frieda den Kopf und meinte: „Wir haben sie von deinem Vater bekommen. Er hat mir genau erklärt, was man essen kann und wie man sie zubereitet. So, nun habe ich aber genug geschwatzt. Komm, wir gehen nach oben!“

Als sie wieder in der Diele standen, sagte Frieda: „Du musst die Tür immer fest verschließen, damit es drinnen kühl bleibt!“

Zustimmend nickte Gertraud. Dann machte sie ein paar Schritte in Richtung Dielenmitte und sah sich suchend um. „Wo ist denn das Geschirr untergebracht?“

Frieda ging zu einem schlichten, hohen Schrank und öffnete die Tür. „Sieh, hier steht alles schön geordnet nebeneinander. Du kannst gleich Becher und Teller herausnehmen und zum Tisch bringen. Die Messer und Löffel sind in der Tischlade.“

Als alles gerichtet war, stieg Gertraud die Treppe hoch und weckte Johann. Der streckte die Arme nach ihr aus und zog sie aufs Bett. „Na, wie gefällt es dir so als Ehefrau?“

„Noch fühle ich mich nicht als richtige Ehefrau“, erwiderte sie scheu und schlug die Augen nieder.

Johann drückte sie an sich und gab ihr einen Kuss. Dann grinste er und meinte: „Die Hochzeitsnacht holen wir nach, jetzt gibt es erst was zu essen und dann muss ich in die Schmiede, mich ans Tagwerk begeben.“

 

Die Ehepflichten waren gar nicht so schlimm, wie Gertrauds Freundinnen erzählt hatten. Sie mochte es, wenn Johann sie berührte, den Liebesakt vollzog.

Nach einigen Wochen kam es ihr vor, als hätte sie schon immer hier im Haus gelebt. Morgens stand sie als Erste auf und kümmerte sich um das Vieh. Frieda bereitete die Mahlzeiten zu und befasste sich jetzt vorwiegend mit dem Gemüsegarten.

Gestern hatte sie sich allerdings verhoben, klagte über starke Rückenschmerzen. Deshalb musste Gertraud heute Morgen zum Markt gehen, um frisches Obst einzukaufen.

Auf dem Rückweg rebellierte ihr Magen und nur mit viel Mühe konnte sie den schweren Weidenkorb tragen. Ab und zu stellte sie ihn ab, holte ein paar Mal tief Luft, doch es half nicht. Notgedrungen nahm sie ihn wieder hoch und schleppte sich weiter. Als sie am alten Rathaus vorbeikam, in dem die Schlachter im Erdgeschoss ihren Fleischscharren, eine Art Verkaufsstand, hatten, wurde ihr vom Geruch des frischen Blutes erst recht übel. Schnell lief sie weiter, blieb dann aber stehen und lehnte sich ermattet gegen eine Hauswand. Es flimmerte wie tausend Sterne vor ihren Augen und alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

Heinrich Schomaker, der mit seiner Familie neben Husmanns wohnte, kam gerade vom Gerber in der Lohstraße. Er hatte feines schwarzes Rindleder für die neuen Schuhe der Frau Bürgermeister erstanden, vorher stundenlang mit dem Gerber um einen guten Preis gefeilscht, bis sie sich endlich geeinigt hatten. Der Schuhmacher sah seine Nachbarin kreidebleich an der Hauswand lehnen und eilte auf sie zu. „Gott zum Gruße, werte Frau Husmann. Kann ich Euch helfen?“

Gertraud winkte ab. „Es geht schon wieder. Hab’ mir wohl den Magen verdorben.“

Heinrich betrachtete sie mitleidig, dann schüttelte er den Kopf und lächelte mild. „Dieses Unwohlsein kenne ich von meiner Frau. Berta geht es in der ersten Zeit auch immer so.“

„In der ersten Zeit?“ Erstaunt sah Gertraud ihn an.

„Nun schaut nicht so. Ihr bekommt ein Kind. Wusstet Ihr das nicht? Kommt, reicht mir Euren Arm. Der Korb ist viel zu schwer für Euch, ich trage ihn nach Hause. Ihr dürft jetzt keine schweren Sachen mehr heben. Wisst Ihr, bei unseren Söhnen, Jacob und Anton, hat Berta besonders gelitten, aber jetzt, beim dritten Kind, geht es ihr gut. In vier Wochen ist es so weit. Hoffentlich wird es ein Mädchen.“ Er redete und redete.

Gertraud hörte gar nicht richtig zu, war viel zu sehr mit sich beschäftigt.

,Hoffentlich bekomme ich auch ein Mädchen!’ Sie überlegte, wann ihr Kind wohl zur Welt kommen würde. Im Januar hatte sie für Johann die Bücher fertig gemacht, die Rechnungen zugestellt und ihm beim Entwurf für das Gitter, seinem ‚Meisterstück’, geholfen. Vor lauter Arbeit war ihr nicht aufgefallen, dass ihr monatliches Unwohlsein ausblieb.

Im Februar erging es ihr ähnlich. Der Metzger schlachtete die fettgefütterte Sau und sie half tagelang mit, das Fleisch einzupökeln. Bis spät in die Nacht wurde gekocht, gewurstet und anschließend die Würste, der Speck und der Schinken in den Rauch gehängt. Zum Schluss mussten Töpfe und Pfannen gewaschen und die Diele geschrubbt werden.

Vorsichtig, ohne, dass Heinrich es bemerkte, strich Gertraud sacht mit der Hand über den Leib. ,Es müsste Ende September kommen!’

Gelangweilt stand Johann in der Hofeinfahrt und wartete auf einen Kunden, als seine Frau Arm in Arm mit dem Schuhmacher ankam.

„Nanu, hast du Heinrich als Träger angeheuert?“

„Nein, nein, das habe ich freiwillig übernommen. In ihrem Zustand sollte man nicht so schwer tragen!“ Er griente und drückte Johann den vollen Korb in die Hand. Verdutzt schaute Johann beide an. Das sah so komisch aus, dass Gertraud hell auflachte, sich aber sofort die Hand vor den Mund hielt und ins Haus eilte. Allmählich dämmerte es Johann. „Ich danke dir, Schuster!“

„Nichts für ungut.“

Ehe der Schuster sich versah, war Johann im Haus verschwunden. Eilig stellte er den Korb ab, lief auf Gertraud zu, umarmte sie und schwenkte sie freudig umher. „Wir bekommen ein Kind. Wir bekommen ein Kind!“

„Mir ist schlecht! Lass mich sofort runter, verrückter Kerl.“

„Tut mir leid!“ Schuldbewusst sah Johann zu Boden.

„Weißt du, eigentlich hätte ich es dir lieber selbst gesagt.“ Zärtlich strich Gertraud ihm über die Wange.

„Ach, was soll’s. Wann ist es denn so weit?“

„Ich glaube, Ende September.“

„Das ist ja noch lange hin!“ Johann nahm Gertraud in den Arm, drückte sie vorsichtig an sich und küsste sie innig.

 

Gertrauds Schwangerschaft verlief ohne Komplikationen. Frieda war überglücklich und freute sich auf das Enkelkind.

Wenn Johann sonntags Zeit hatte, nahm er seine Frau an die Hand, und sie spazierten durch das alte Stadttor, weiter über Felder und blühende Wiesen zum Westerberg. Die frische, gesunde Waldluft tat Gertraud gut und ihre bleichen Wangen wurden wieder rosig. An einer kleinen Lichtung machten sie Rast, setzten sich auf den warmen, mit dickem Moos bewachsenen Waldboden und beratschlagten, wie das Kind heißen sollte. Johann war überzeugt, dass es ein Junge würde, denn der Schuhmacher hatte ihm neulich beim Bier im Wirtshaus erklärt, woran man das feststellen könnte.

Wichtigtuerisch sagte Johann zu Gertraud: „Wenn die Frau aufgedunsen und rundum dick ist, womöglich noch Pickel im Gesicht hat, wird es ein Mädchen. Wenn sie rosig aussieht und das Kind vorne im Bauch trägt, wird es ein Junge!“

Gertraud lachte und meinte: „Versteif dich nur nicht darauf, nachher wird es ein Mädchen.“

„Ach was, Frau. Schau dich doch an, du wirst sehen, ich hab Recht! Schließlich brauche ich jemanden, der in der Schmiede mitarbeitet und sie später übernimmt, so wie ich sie vom Vater übernommen habe. Übrigens, Mutter glaubt auch, dass es ein Junge wird. Sie hat Schulten Trine befragt. Die weiß immer alles. Manchmal liest sie sogar die Zukunft aus der Herdasche.“

„Die soll bloß vorsichtig sein. Du weißt doch, durch irgendwelche Rederei ist man plötzlich als Hexe verschrien. Gerade letzte Woche haben sie wieder eine verbrannt, weil sie angeblich starke Hagelschauer auf die Kornfelder vor der Stadt heraufbeschworen hatte. Zwei Tage nach ihrem Tod stellte sich heraus, dass die arme Frau dort gar nicht gewesen sein konnte.“

Gertraud erhob sich. „Komm, Johann! Lass uns von was anderem reden, lass uns zurückgehen. Wir fragen deine Mutter, wie ihr Enkel heißen soll.“

 

Der Herbst setzte in diesem Jahr sehr früh ein. Tagelang regnete es. Die engen Straßen der Stadt standen unter Wasser, sodass kleine Seen und Flüsschen entstanden, in denen der ganze Dreck schwamm. Die Kinder störte es nicht, im Gegenteil: Sie reckten die Hände gen Himmel, sprangen mit bloßen Füßen vergnügt in den riesigen Pfützen herum und spritzten sich gegenseitig nass.

Johann hatte vorsichtshalber Sand aufgeschüttet und dicke Steine in die Hofeinfahrt gelegt, damit das Wasser nicht hinunter in die Ställe und in die Schmiede floss.

 

Ende September war es dann so weit. Gertraud hatte die ganze Nacht leichte Wehen gehabt. Als kurz vor Mittag die Fruchtblase platzte, ließ Frieda nach der Hebamme schicken. Dann setzte sie sich zu der jammernden Gertraud ans Bett, nahm ihre Hand und streichelte sie beruhigend. „Das wird schon, Kind.“

Es dauerte Stunden, bis die Wehen in regelmäßigen Abständen kamen. Gertraud biss vor Schmerz in die Bettdecke, stöhnte laut auf. Frieda wischte ihr die Schweißperlen von der Stirn, reichte ihr zu trinken und redete ihr gut zu.

Johann hatte die Arbeit in der Schmiede eingestellt, wanderte unruhig in der Diele auf und ab. Als die Hebamme das Haus betrat, atmete er erleichtert auf. Catharina Grothe war eine ältere, resolute Frau aus der Lohstraße.

„Wo ist die Gebärende?“

Johann zeigte nach oben und zuckte zusammen, als er Gertrauds schmerzvolle Schreie hörte.

„Stellt Euch nicht so an, Schmied. Ihr wisst doch, in der Bibel steht schon: Sie hat mit Freuden empfangen und muss unter Schmerzen gebären! Geht rüber in die Schenke, hier seid Ihr nur im Wege.“ Energisch griff sie nach ihrer Tasche, hob mit der anderen Hand den langen Rock samt Schürze und stieg die Treppe hoch.

 

Frieda hatte schon heißes Wasser und etliche Tücher nach oben gebracht. Die Wiege, von Schomakers geliehen, stand sauber bezogen in der Ecke. Schomakers kleine Elsche – sie hatten tatsächlich ein Mädchen bekommen – war inzwischen ein halbes Jahr alt und zu groß, um darin Platz zu finden.

Als die nächste Wehe einsetzte, rang Gertraud nach Atem, glaubte zu ersticken. Die Hebamme schob ihr das Hemd hoch und tastete den Bauch ab. „Ich glaube, es ist gleich so weit. Komm, Frieda, halt sie mit fest!“ Sie schlug die Bettdecke zur Seite und redete lautstark auf die Gebärende ein. „Los, los! Pressen! Vergiss das Atmen nicht.“

Endlich war das Kind da. Ein Mädchen! Liebevoll strich Frieda der Schwiegertochter die feuchten Haarsträhnen aus der Stirn. Die Hebamme nabelte das Neugeborene ab, hielt es an den Füßen hoch und gab ihm einen Klaps auf den Po. Krebsrot fing die Kleine an zu brüllen. Nachdem die Grothe das Kind gewaschen hatte, wickelte sie es in ein Leinentuch und legte es Gertraud in den Arm.

„Ich werde meinem Sohn Bescheid sagen!“ Frieda sammelte die schmutzigen Tücher ein und eilte hinunter.

Johann kam gerade zur Dielentür herein. Aufgeregt fuhr er sich mit allen zehn Fingern durch die borstigen Haare. Frieda sah ihn an und lachte. „Du hast eine Tochter, Johann. Geh’ nach oben und schau sie dir an!“

Das ließ er sich nicht zweimal sagen, lief eilends die Treppe hoch und dachte dabei: ,Schade, ich hätte lieber einen Sohn gehabt!’ Doch als er seine Tochter in Gertrauds Arm liegen sah, hatte er nur noch einen Gedanken: ,Lieber Gott, ich danke dir, dass mein Weib alles gut überstanden hat und dass die Kleine gesund ist.’ Er beugte sich über die beiden, strich dem Kind zärtlich über die roten, verschrumpelten Wangen und meinte: „Hübsch sieht sie ja nicht gerade aus.“

Gertraud lächelte schwach. „Sie hat auch viel mitgemacht. Warte ein paar Tage, dann wird es besser.“

„Wenn du meinst!“ Bedachtsam setzte er sich auf die Bettkante und fragte: „Was für einen Namen soll sie denn bekommen?“

„Wenn es dir recht ist, nennen wir die Kleine nach deiner Schwägerin: Greta Marie. Sie könnte auch Taufpatin sein.“

„Das ist gut! Nach den fünf Buben wünscht sie sich ja sehnsüchtig eine Tochter. Als Patin hat sie sozusagen leihweise eine. Mutter freut sich sicher auch darüber. Du weißt doch, wie sehr sie an Ludwigs Frau hängt. Die wird dann, trotz der vielen Arbeit auf dem Bauernhof, bestimmt öfters zu Besuch kommen.“

Das kleine Mädchen begann zu weinen, reckte seine winzigen Händchen, die es zu Fäusten geballt hatte, und strampelte kräftig.

„Ich glaube, die Kleine hat Hunger.“ So wie es die Hebamme ihr gezeigt hatte, legte Gertraud das Kind an die Brust. Johann erhob sich und ging auf Zehenspitzen hinaus. An der Tür drehte er sich noch einmal um, nahm das Bild in sich auf: seine Frau, das zufrieden saugende Kind und die Sonnenstrahlen, die schräg durchs Fenster auf das breite Bett fielen.

Drei Tage später wurde die Kleine in der Marienkirche von Vater Tobias auf den Namen Greta Marie getauft.

Gertraud erholte sich rasch und wie es üblich war, lud sie nach ihrem ersten Kirchgang die Nachbarfrauen zu einer kleinen Tauffeier ein.

 

 

Gretas Kindheit

Die kleine Greta war ein goldiges Kind. Jeder, der sich über die Wiege beugte, bekam ein Lächeln geschenkt. So gewann sie auch das Herz ihres Vaters. Johann stahl sich zwischendurch immer wieder Zeit und schaute nach der Kleinen. Wenn niemand in der Nähe war, erzählte er ihr, was er gerade in der Schmiede arbeitete. Er freute sich, wenn sie ihm mit ihren Lauten antwortete. Welchen Stolz er verspürte, als er das erste Mal so etwas Ähnliches wie Papa hörte. Als Greta einigermaßen laufen konnte, tapste sie zur Schmiede. Mit wackeligen Beinchen stand sie auf dem Hof und sah mit großen Augen aus einiger Entfernung zu, wie der Vater an der Esse hantierte.

Johann hatte sich inzwischen in seine kleine Tochter verliebt. Ein liebes, rotblondes, plapperndes Wesen.

Als sie größer wurde, nahm er sie mit in die Schmiede und setzte sie in die hintere Ecke auf einen dicken Strohballen. Mit hocherhobenem Kopf saß sie dort wie eine Königin auf ihrem Thron und verfolgte jede Handbewegung.

Geduldig zeigte ihr Johann, wie man den großen Blasebalg bediente, damit die Kohlen im Feuer der Esse ein „rotes Gesicht“ bekamen, um viel Hitze abzugeben. Das Flacheisen, das er mit einer langen Zange ins Feuer hielt, musste glühen, erst dann legte er es auf den Amboss und hämmerte so lange darauf herum, bis es die passende Form hatte. Anschließend nahm er es mit der Zange auf und hielt es in den hölzernen Wassertrog neben dem Amboss, um es abzuhärten. Brodelnd und zischend stieg Wasserdampf hoch.

Johann war ein geschickter Schmied. Er fertigte Tür- und Fensterbeschläge, ab und zu sogar gedrehte, mit Rauten und Vierecken besetzte Eisengitter für Gartentore, doch die meiste Zeit verbrachte er damit, Pferde zu beschlagen.

„Bekommen sie neue Schuhe, Vater?“

„Ja, Prinzessin.“

„Tut es ihnen nicht weh, wenn das heiße Eisen drauf kommt?“

„Nein, mein Kind.“

„Brrr, es stinkt und qualmt aber so!“

„Das macht nichts, es ist nur die Hornschicht, die leicht angebrannt wird. Und die ist ganz unempfindlich.“ Stets erklärte er ihr alles haargenau.

„Schickt die Kleine lieber ins Haus zur Mutter, Meister Johann. Dort ist sie besser aufgehoben.“ Missbilligend schüttelte der Apotheker Ameling, Stammkunde in der Schmiede, den Kopf.

Doch Johann ließ sich nicht beirren. Wenn er einem Pferd neue Hufeisen verpasst hatte, nahm er seine Tochter auf den Arm und sie durfte vorsichtig über die Nüstern des Tieres streichen.

Nach Feierabend saß Johann oft mit dem Schuster Heinrich zusammen im Hof und sie unterhielten sich über den Krieg, der nun schon über acht Jahre dauerte, überall Plünderungen und Verwüstungen hinterließ, und als Dreißigjähriger Krieg in die Geschichtsbücher eingehen sollte.

„Hast du gehört, Johann, der Rat der Stadt hat vorsichtshalber Söldner angeworben und eine schlagkräftige Bürgerwehr aufgestellt, aber Gott sei Dank brauchte sie bislang nicht eingesetzt werden.“

„Wäre aber preiswerter, denn die Stadt erkauft sich doch mit viel Geld ihre Neutralität von dem jeweiligen Feldherrn, der sie gerade belagert. Sei es nun die Katholische Liga oder die Protestantische Union.“

„Du hast ja Recht! Wir Bürger müssen dafür höhere Steuern zahlen, während die reichen katholischen Domherren sich meistens den Pflichten gegenüber der Stadt entziehen. Kein Wunder, dass so Unmut unter der Bevölkerung entsteht.“

Zustimmend nickte Johann.

Um die Menschen zu beruhigen, hatte Bischof Franz Wilhelm von Wartenberg 1626 im Augustiner-Kloster am Neuen Markt eine katholische Hochschule gegründet. Genau wie die Domschule stand sie unter der Leitung der Jesuiten.

„Ich werde meinen Jungen demnächst auch auf die neue Hochschule schicken. Er begreift schnell und lernt immer fleißig!“ Conrad Tängemann betonte das jedes Mal, wenn er seine Schwester Gertraud nebst Ehemann Johann in der Hegerstraße besuchte.

Im Geiste sah Conrad den Knaben schon als Bischof oder Bürgermeister von Osnabrück. Einen Bauernhof zu bewirtschaften wie Johanns Bruder Ludwig, käme überhaupt nicht in Frage!

Ludwig lebte mit seiner Familie auf einem relativ großen Hof draußen vor der Stadt, nahe der Eversburg. Bisher hatten die herumziehenden, plündernden Soldaten seinen Hof verschont, obschon er direkt an der Heerstraße lag, die vorbei an der alten Landwehr mit dem Wachhäuschen und weiter durchs Natruper Tor direkt zum Rathaus führte.

Greta Marie, Ludwigs Ehefrau, lebte vor der Heirat auf einem kleinen, einsam gelegenen Hof im Tecklenburger Land. Sie freute sich immer, wenn sie anlässlich eines Besuches der Familie des Schwagers Gelegenheit hatte, die Stadt zu erkunden. Wenn zufällig Markttag war, schob sie sich durch die dichte Menschenmenge, konnte das Gewimmel kaum fassen und meinte staunend: „Die Leute der ganzen Welt sind hier in Osnabrück versammelt. Und was es alles zu kaufen gibt!“

Mit großen Augen betrachtete sie am Kräuterstand eine ihr unbekannte, eigenartig geformte Wurzel.

„Es ist Ingwer, kommt aus Indien“, erklärte ihr der Händler. „Der frische, etwas beißende Geschmack ist genau das Richtige für die Durchblutung und stärkt die Liebeskraft Eures Ehemannes. Nehmt es für ihn mit.“

Abwehrend hob Greta-Marie die Hände. So ein Teufelszeug würde sie nie kaufen.

Bedächtig ging sie durch die vielen Straßen und engen Gassen der Stadt, blieb ab und zu stehen und betrachtete die farbig gestrichenen, mit Sprüchen und Psalmen verzierten Balken in den Giebeln der Fachwerkhäuser. Seit dem letzten großen Brand waren fast alle mit einem roten Ziegeldach gedeckt, das mit Kalk unterstrichen war. Die zum Teil sehr alten Häuser waren schmal und hoch, standen dicht aneinandergeschmiegt und sahen aus wie eine lange, bunte Kette.

Mitten in den Gassen befand sich eine Ablaufrinne, in der allerlei Unrat lag. Jeder war froh, wenn der Himmel einen starken Regenguss schickte, sich das Wasser dort sammelte und den ganzen Dreck in die Hase spülte.

Für kurze Zeit war dann die Luft frisch und sauber, doch sobald die Sonne wieder hervorkam, dampften die Misthaufen wieder auf den Böcken unter den Fenstern und der widerlich ekelige Gestank kehrte zurück.

Husmanns Haus lag in der Nähe des Stadttores, an der Hegerstraße. Diese hatte ihren Namen von den Handwerker-Gilden bekommen, da die Straße außerhalb der Stadt zum Hegerholz führte, in dem jede Gilde ein Waldstück besaß, das sie hegte und pflegte.

Malermeister Joseph Steinbrink wohnte direkt gegenüber von Husmanns. In seinem Betrieb waren zwei Lehrlinge und ein Geselle angestellt. Links neben Husmanns hauste ein Schneider aus Iburg. Vor Jahren hatte er das kleine Haus gekauft, weil er sich in der Nähe des Stadttores ein besseres Geschäft versprach. Inzwischen war die Familie zahlreicher geworden, die Menge der Kunden jedoch nicht.

Der Schuhmacher zur Rechten verstand es besser, sein Geschäft zu führen. So machte es ihm auch nichts aus, dass seine Berta nach Anton noch Elsche, Trine und Marie bekam. Jacob, der Älteste, war vor einem halben Jahr an Fieber gestorben.

Vom Frühjahr bis zum Winter spielten die Kinder draußen. Elsche und Trine, manchmal auch Anton und Husmanns Greta jagten mit kleinen Stöcken die fetten, grunzenden Schweine, quiekenden Ferkel und die verbiesterten Hühner die Straße rauf und runter. Ein herrlicher Spaß, von dem sie nie genug bekamen!

Wenn jedoch ein Kutscher fürchterlich fluchte, weil er mit seinem schwer beladenen Fuhrwerk nicht weiterkam, da er gegen einen der stinkenden Misthaufen gefahren war, und wütend die Peitsche schwang, weil die Pferde vor den aufgescheuchten, flatternden Hühnern scheuten, waren die Kinder wie vom Erdboden verschluckt. Sie standen dann herumalbernd bei Steinbrinks hinter dem wuchtigen braunen Hoftor und lugten kichernd um die Ecke.

„Nun schubs mich nicht zurück.“ Trine ließ nicht locker und kroch unter dem Arm der größeren Schwester hervor, wollte auch etwas sehen. Doch diese zog sie unsanft an den dünnen Zöpfchen, die wie Rattenschwänze aussahen.

„Auaaa ... Lass das!“

„Psst! Sei leise. Sonst gibt’s Ärger. Und du, Anton, hör auf zu kichern! Du weißt genau, dass dein Vater dir den Hosenboden stramm zieht, wenn er mitbekommt, dass die Mistböcke wieder umgekippt sind.“ Augenblicklich waren alle still, nur der dünne schwarze Kater vom Schneider strich maunzend um Trines Beine. Elsche nahm ihn auf den Arm und streichelte ihn.

„Gib ihn mir! Er ist mein Freund!“ Trine versuchte, der Schwester das inzwischen fauchende Tier zu entreißen, bekam aber nur die scharfen Krallen zu spüren.

„Aua!“ Wutentbrannt zwickte sie Elsche in den Arm, die daraufhin den Kater fallen ließ.

„Warum zankt ihr euch? Lass ihn doch der Elsche. Immer musst du alles haben, was sie hat, Trine.“

Greta versuchte zu schlichten. Sie hasste Ungerechtigkeit.

„Davon verstehst du nichts, du hast keine Geschwister!“ Bockig sah Trine Greta an und verdrehte dabei die Augen. Die aber war gekränkt und sagte nichts mehr. Als die Gefahr vorüber war, rannte Greta hinüber zu Frieda. „Großmutter, Großmutter, warum habe ich keine Geschwister? Ich will auch welche haben!“ Ärgerlich stampfte sie mit dem Fuß auf.

Mit hochrotem Kopf stand Frieda an der Herdstelle und rührte in einem großen eisernen Topf, der an einer dicken Kette über dem Feuer hing, das Mittagessen. Heute gab es Gemös: weiße Bohnen, Wurzeln, Zwiebeln und Speck durcheinander gekocht. Damit das Ganze sämig wurde, hatte sie eine Handvoll klein geschnittene Kartoffeln dazugegeben.

Lachend drehte sich Frieda um, schaute in Gretas blitzende Augen und zuckte mit den Schultern. Aber das Mädchen ließ sich nicht beirren, bohrte weiter. Schließlich hatte Frieda genug von dem wissbegierigen Kind. „Geh zu deinem Vater, frag ihn!“

Doch der meinte nur: „Der liebe Gott wird es schon richten.“

Aber so lange wollte Greta nicht warten. „Dann soll eben die kleine Marie meine Schwester sein!“, rief sie ärgerlich und rannte zu Schomakers.

Elsche und Trine kümmerten sich herzlich wenig um den Nachkömmling, den die beiden Mädchen völlig überflüssig fanden. Dabei war Marie ein sanftes Kind, sah niedlich aus mit den langen blonden Locken. Mit der Kleinen setzte sich Greta auf die verwitterte Steinbank hinten im Hof und drückte sie zärtlich an sich. „Du siehst aus wie ein Engelchen.“

„Und du siehst aus wie eine Hexe mit deinen roten Haaren!“

Erschrocken drehte sich Greta um. Anton hatte sich von hinten angeschlichen und streckte ihr grinsend die Zunge heraus.

Allmählich wurden die endlos langen Sommertage kürzer. Bevor Greta abends einschlief, konnte sie von ihrem Bett aus die Sterne am Himmel sehen. Sie funkelten wie zackige Glitzersteine. Manchmal, wenn sie gar nicht einschlafen konnte, stand sie leise auf, schlich hinüber zur Großmutter, kroch zu ihr ins Bett und kuschelte sich an sie. Frieda nahm die Kleine dann in den Arm und erzählte ihrem Gretchen von dem großen Stern.

„Weißt du, es war 1618, kurz bevor dein Großvater starb. Da stand ein schrecklicher Komet mit einem langen, sprühenden Feuerschwanz am Himmel. Fast fünf Wochen! Ich habe sofort geahnt, dass er ein schlimmes Zeichen ist. Zuerst vertrockneten die Felder, dann regnete es wochenlang. Ratten kamen aus allen Löchern. Stell dir vor: Sie hatten ein Loch in die Hauswand genagt und saßen auf unserer Diele.“

„Und was habt ihr gemacht? Sie verjagt?“

„Natürlich! Einmal biss so eine freche Ratte Großvater beim Abendessen ins Bein. Er sprang gleich auf, stieß dabei seinen Teller mit Milchsuppe um und alles tropfte auf die Erde. Sofort machten sich die anderen Ratten darüber her. Wutentbrannt schnappte sich Großvater eine Schaufel und erschlug etliche von den widerlichen Biestern. Tags darauf entzündete sich die Wunde, eiterte. Das ganze Bein wurde rot und blau und Großvater bekam hohes Fieber. Wir haben ihn in nasse, eiskalte Tücher gewickelt, aber das nützte nichts. Am nächsten Morgen wachte er nicht mehr auf.“

„Der arme Großvater!“

„Ja, ja, das war sehr schlimm. In dem Jahr starben viele Menschen und Tiere. Der Rat der Stadt hat später etliche Hexen verbrannt, die an dem ganzen Unglück schuld waren.“

„Großmutter, der Anton hat gesagt, ich wäre auch eine Hexe, weil ich rote Haare habe.“

„Aber Kind, so einen Unsinn wirst du doch nicht glauben!“

An den langen, kalten Winterabenden saß die Familie am flackernden Herdfeuer dicht beieinander und Großmutter erzählte viele gruselige Geschichten von früher. Gott sei Dank hatte Schwager Ludwig genügend trockenes Brennholz geliefert, sodass es wenigstens in der Diele warm und gemütlich war.

Die Talglichter auf dem Tisch warfen lange Schatten an die weißgekalkten Wände. Bei dem schummrigen Licht bemühte sich Gretas Mutter geduldig, Hosen, Hemden und Kleider zu flicken. Das Mädchen hockte dann auf einem Schemel zu Großmutters Füßen und lauschte ihr mit offenem Mund.

„Tante Sarah, eine verstorbene weise Frau aus unserer Familie, hatte viele Menschen mit selbst gemachten Salben und Tees geheilt. Die Wurzeln und Heilkräuter sammelte sie stets bei Vollmond um Mitternacht, weil sie dann besonders wirksam sein sollten. Wenn die Leute zufrieden waren mit Sarahs Behandlung, gaben sie ihr freiwillig ein paar Groschen.“

„Jammerschade, dass es heute nur noch wenige Frauen gibt, die sich in der Heilkunde auskennen, und die keine Angst haben, dass ihre Tätigkeit als Hexerei ausgelegt wird. So geht das Wissen um gut wirkende Kräuter und Salben allmählich ganz verloren. Aber so mancher Quacksalber von Arzt, der sein Handwerk überhaupt nicht versteht, kommt ungeschoren davon.“ Kopfschüttelnd hob Gertraud die dicken Wollstrümpfe der Tochter näher ans Licht, um das kleine Loch am Zeh zu stopfen.