Immer das siebte Jahr - Anne Koch-Gosejacob - E-Book

Immer das siebte Jahr E-Book

Anne Koch-Gosejacob

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Christa Tiedemann stellt an ihrem 28. Geburtstag fest, dass im Abstand von sieben Jahren stets etwas Schlimmes in ihrem Leben passiert ist: sexuelles Gewalterleben, Mord an ihrem Vater und an einem Bekannten. Außerdem hat sie seit einigen Jahren sehr wenig Kontakt zu ihrer Mutter, leidet darunter. Alle sieben Jahre hört sie an ihrem Geburtstag eine wispernde Stimme, die ihr einen unheimlichen Reim zuflüstert, sie zu einem Handeln veranlasst, an das sie sich später nicht mehr erinnern kann. Was wird heute wohl Schreckliches geschehen?  

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Anne Koch-Gosejacob

Immer das siebte Jahr

Kriminalroman

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

1. Kapitel

 

 

Roter

Wein rotes Blut

tut keinem Mädchen gut

rotes Kleid rote Rosen und

das Gift der Herbstzeitlosen

 

enge Wände dunkle Schatten

die mal eine Seele hatten

schöner Traum böser Traum

unbewusst mit anzuschauen

 

warme Hände kalte Hände

wenn ich doch nur

die Erinnerung

fände

 

 

Am späten Nachmittag hatte sich die blassgelbe Sommersonne hinter einer bedrohlich aufgetürmten grauschwarzen Wolkenwand versteckt. Es war heiß und schwül, unerträglich schwül, sodass man kaum atmen konnte.

Kein Wind, kein Lufthauch war zu spüren. Es war, als würde die Natur den Atem anhalten und auf etwas Furchtbares warten. Von Ferne war ein dumpf grollendes Geräusch zu hören, welches langsam, aber stetig näher kam gleich einem Pulk schwerer Bomber, die einen Angriff auf die Stadt flogen, um sie in Schutt und Asche zu legen.

Trotz laufender Ventilatoren in Küche und Wohnzimmer war es in Christinas Wohnung in diesem Altbau vor Hitze kaum auszuhalten, dabei hatte sie schon Bluse und Jeans ausgezogen, stand nur mit BH und Slip bekleidet in ihrer kleinen Single-Küche. Diese Kleinküche war eine praktische Lösung, bot sie doch alles, was sie zum Vorbereiten, Kochen, Spülen und Entsorgen benötigte, zudem hatte sie nur einen geringen Reinigungsaufwand, was bei ihren oft langen Arbeitstagen ein nicht zu unterschätzender Vorteil war.

Mit dem feuchten Handrücken wischte Christina sich die Schweißperlen von der Stirn und konzentrierte sich auf die neue Kaffeemaschine, die sie am Tag zuvor erstanden hatte. Der Garantiezettel versicherte einen einzigartigen Kaffeegenuss, ausgewogen und vollaromatisch im Geschmack. „Mal abwarten, ob die Maschine hält, was sie verspricht“, murmelte sie, als sie die Maschine in Betrieb setzte.

Als sie sich bückte, um im Kühlschrank nach der Dosenmilch zu greifen, waren sie plötzlich da, diese eigenartigen starken Kopfschmerzen, mit denen sie in gewissen Zeitabständen immer wieder zu kämpfen hatte. Sie spürte den Schmerz, wie er von ihrem Nacken heraufrollte, sich über den gesamten Hinterkopf bis in den Stirnbereich ausdehnte. Die Intensität, mit der sie der Anfall diesmal überkam, raubte ihr fast den Atem. Langsam, wie in Zeitlupe, erhob sie sich aus der gebückten Haltung, ging zur Spüle und ließ kaltes Wasser über ihre Handflächen laufen, um diese dann kühlend vor ihre Stirn zu pressen.

Statt der erwarteten Linderung nahm das Pochen in ihrem Schädel jedoch immer mehr zu. Es war, als ob irgendetwas gewaltsam in ihr Gehirn eindringe, von ihr Besitz ergriffe, sie ganz überflutete und auch ihr Denken beeinflusste.

War in der bedrohlich aufziehenden schwarzen Wolkenwand, die sie vom Küchenfenster aus gesehen hatte, vielleicht ein Ufo gewesen? Waren gar Marsmenschen oder andere außerirdische Wesen gelandet, die sich durch sie hindurch in ihr Innerstes fraßen? Die ihr Gehirn auseinanderrissen, in kleine Stücke zerteilten, die keiner mehr zusammensetzen konnte?

Mit aller Kraft versuchte Christina, sich gegen den Schmerz zu wehren, doch es gelang ihr nicht. Zusätzlich machte sich nun auch noch eine leichte Übelkeit bemerkbar.

Was sollte sie dagegen unternehmen? Vielleicht ein Schmerzmittel schlucken? Nein, auf keinen Fall. Das würde ihren Magen noch mehr durcheinanderbringen. Chemische Mittel waren im Moment nicht das Richtige für sie. Wie hieß es immer so schön in der Werbung: „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“

Notgedrungen schüttete Christina den frisch aufgebrühten starken Bohnenkaffee in den Abfluss, stellte die hohe Porzellantasse, die einmal ihrer Großmutter gehört hatte, in den Geschirrspüler, verließ die kleine Singleküche und ging ins relativ große Wohnzimmer, das ganz in Lindgrün gehalten war.

Dort legte sie sich behutsam aufs Sofa, ein grün-geblümtes Erbstück aus ihrer frühen Kindheit, das schon ein paar Umzüge mitgemacht hatte und das sie trotz einiger verschlissener Stellen noch immer liebte. Dem stechenden Schmerz versuchte sie, mit Entspannungsübungen entgegenzuwirken. Sie schloss die Augen, atmete ganz gleichmäßig, so, wie sie es neulich bei einem Kurs für autogenes Training in der Volkshochschule an der Bergstraße gelernt hatte. Der Leiter des Kurses hatte den Teilnehmern erklärt, dass diese Art Selbstentspannung, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Hypnose habe, 1932 vom Nervenarzt J. H. Schultz entwickelt wurde und dabei helfen solle, Krankheiten zu lindern sowie Probleme des Alltags oder der eigenen Persönlichkeit zu verarbeiten.

„Ich bin ganz ruhig, meine Arme sind schwer, ganz schwer.“ Immer wieder murmelte sie die Formel vor sich hin und mühte sich, ihren Körper zu entspannen. Sie versuchte in Gedanken, ihren Atem von der Stirn über den Kopf in den Nacken, weiter über Rücken, Po, Zehenspitzen und darüber hinaus fließen zu lassen, um so den Schmerz wegzuspülen. Doch sie konnte sich einfach nicht konzentrieren.

‚Ich glaube, ich bin überarbeitet! Leide an einem Stress-Syndrom. Wie heißt das noch

gleich ...? Ach ja: Burnout!’

Im Internet hatte sie recherchiert und gelesen: „Burnout ist ein Zustand ausgesprochener emotionaler Erschöpfung mit reduzierter Leistungsfähigkeit, der über frustrierende Erlebnisse und Depressionen zu Desillusionen führt, also ein Problem der Lebensbewältigung ist und zum mentalen oder physischen Zusammenbruch führen kann.“

‚Es könnte auch sein, dass ich zu hohen oder zu niedrigen Blutdruck habe! Oder habe ich womöglich etwas Verkehrtes gegessen? Vielleicht war es ja das harte Stück Schweizer Käse, das ich vorhin im Kühlschrank gefunden und viel zu schnell verzehrt habe. Aber nein ... Bestimmt nicht!’

Vorsichtig, ohne sich viel zu bewegen, drehte sich Christina auf den Rücken und starrte teilnahmslos zur hohen Fensterfront des Wohnzimmers.

Der graue Himmel hatte sich inzwischen noch mehr verdunkelt. Einzelne grell zuckende Blitze erhellten die nachtschwarze Umgebung und das direkt darauf einsetzende starke Donnergrollen zeigte ihr, dass sich das Gewitter direkt über dem Haus befand.

Vielleicht war das ja der Auslöser für ihre extrem starken Kopfschmerzen. ‚Tiere spüren auch, wenn sich das Wetter ändert, wenn Gefahr im Verzug ist ... ‚Blöde Kuh, du bist doch kein Tier’, ermahnte sie sich selbst.

Dann fiel ihr ein, dass sie neulich in der Apothekenzeitung gelesen hatte, dass Schokolade oder Alkohol Kopfschmerzen und eine starke Migräne auslösen könnten.

Sie überlegte. Von ihrer mit Cognac gefüllten Lieblingsschokolade hatte sie heute noch kein Stück gegessen und an alkoholischen Getränken konnte es auch nicht liegen. Das letzte Bier und ein paar hochprozentige Liköre hatte sie vor vierzehn Tagen auf einer Grillfete bei einer Freundin getrunken, die ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag mit vielen Gästen im Garten ihrer Eltern gefeiert hatte. Die dabei entstandenen Kopfschmerzen hatte sie am nächsten Tag mit einem aufgelösten Aspirin im Wasserglas vertrieben.

So konnte sie stets den nächsten Tag, trotz der stressigen Arbeit in der großen Anwaltskanzlei, die sich an der Johannisstraße, schräg gegenüber der Johanniskirche befand, überstehen. Getreu nach dem Motto ihres geliebten Großvaters, Paul Landwehr: „Wer trinkt, kann auch arbeiten!“

In der letzten Zeit hatte keiner der anderen Angestellten wegen eines gewonnenen Prozesses nach Feierabend ein Bier oder ein Glas Sekt für die Kollegen ausgegeben.

„Früher war so etwas an der Tagesordnung!“, schwärmte Ulli Brockmeier immer. „Aber heute kann man sich nicht mehr erlauben, am nächsten Tag blau zu machen!“ Ulli war ein gewiefter Anwalt und Christina hatte so einiges von ihm gelernt. Immer humorvoll und stets gut aufgelegt, merkten seine Gegner meistens zu spät, dass er ein knallharter Bursche war, stur seine Strategien durchzog und selten einen Prozess verlor. Schade, dass er im nächsten Jahr in den Ruhestand ging!

Christina überlegte hin und her, suchte nach weiteren Ursachen für ihre eigenartigen Kopfschmerzen, aber es kam nichts Gescheites dabei heraus.

Der Schmerz blieb, verstärkte sich. Obschon kein Radio oder Fernseher im Wohnzimmer eingeschaltet war, hörte sie plötzlich eine wispernde Stimme, die ihr etwas zuflüsterte. Doch sie verstand es nicht.

Langsam glitt sie in eine Art Dämmerzustand, sah auf einmal schemenhaft dunkle Gestalten. Die undefinierbaren Schatten, die sich schlangenartig hin und her bewegten und miteinander rangen, überforderten sie, stürzten sie ins Chaos. Die ganze Szene wirkte auf sie wie ein unklarer Schwarzweiß-Film, doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte niemanden erkennen. Ein Traum, der weder Sinn noch Verstand hatte. Und das ausgerechnet heute, an ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag.

Plötzlich lag eine Person auf dem Rücken, hob abwehrend die Arme empor und schrie, immer lauter, immer entsetzlicher. Kalt rieselte es ihr den Rücken herunter.

Mit einem Mal war sie hellwach, lag schweißgebadet auf dem Sofa, zitterte am ganzen Körper und wagte nicht, sich zu bewegen. Ihr Herz schlug rasend schnell, pochte bis zum Hals, kaum bekam sie Luft.

„Es war nur ein Traum, nur ein Traum“, murmelte sie immer wieder vor sich hin und versuchte, sich damit selber zu beruhigen.

Trotzdem hatte sie das Gefühl, in diesen seltsamen Traum verwickelt zu sein. Alles war so lebensecht, so greifbar nah. So, als wäre es gerade geschehen. So, als ob auch sie in diesem Traum dabei gewesen wäre!

‚Was für ein Unsinn! Wie kann ich nur so etwas Eigenartiges träumen?’

Doch die quälenden Gedanken, die nebelartige Wand in ihrem Albtraum nicht durchdringen, nicht auflösen zu können, flößten ihr Angst ein. Am liebsten wäre sie jetzt aufgestanden, hätte sich zur Beruhigung eine große Tasse Fenchel-Tee aufgebrüht, ihn eilig getrunken, um sich danach schnell wieder auf das Sofa zu legen, um noch ein bisschen zu ruhen.

Doch würde ein neuer Albtraum mit solch beklemmendem Gefühl sich aufs Neue ihrer bemächtigen? Wollte sie diese Träume vielleicht sogar erleben und sie auf ihre Wirklichkeit hin befragen?

Ja, sie wollte endlich Gewissheit haben! Doch zugleich hatte sie panische Angst davor. Angst davor, was in der Tiefe ihres Unterbewusstseins tatsächlich verborgen sein könnte. Ahnte sie es vielleicht bereits? Wenn das Schreckliche wie eine giftspeiende Spinne an die Oberfläche krabbeln würde und ihr einen Spiegel vorhalten, in dem sie vielleicht ihr wahres ‚Ich‘ erkennen würde, was dann ...?

Bei dem Gedanken, was alles sein könnte, begann sie erneut zu schwitzen, um nur wenige Sekunden später wieder zu frösteln. Sie hielt sich die Hand vor die Stirn um zu fühlen, ob sie erhöhte Temperatur haben würde. Aber ihre Stirn fühlte sich eher kühl an. Keine Sommergrippe im Anmarsch!

Christina erhob sich vom Sofa. Immer noch benommen stolperte sie zur Fensterfront, zog die dünne Gardine ein Stück zur Seite und sah hinaus. Das Gewitter hatte sich verzogen, doch der Ausblick in den weitläufigen Garten wirkte nicht gerade aufmunternd.

Windböen hatten den in der letzten Woche von einem Gärtner gepflanzten Ahornbaum entwurzelt und im Blumenbeet viele der gelb blühenden Sommermargeriten abgeknickt. Ein trauriger Anblick.

Noch immer brauste der Wind um das alte Patrizierhaus mit seinem vorgebauten, grün angestrichenen Erker und der grünen Eingangstür und peitschte die dicken Regentropfen gegen das große, breite Wohnzimmerfenster. Fröstelnd rieb sich Christina die nackten Arme. Sie hätte ihren neuen blauen Jogginganzug anziehen oder sich auf dem Sofa wenigstens mit der flauschigen Wolldecke gegen die Kälte schützen sollen. Doch irgendwie war sie wie paralysiert.

Bibbernd beobachtete sie, wie die dicken Regentropfen langsam an der Scheibe herunterliefen, sich auf der breiten Fensterbank sammelten, um sich dann wie ein kleiner Wasserfall auf die rot gepflasterte Terrasse im Erdgeschoss zu stürzen und nach allen Seiten wegzuspritzen.

‚Perlende, spritzende Regentropfen ...! Wie Sekt’, kam es ihr plötzlich in den Sinn.

Die perlenden Tropfen erinnerten sie an ihre erste eigene Wohnung in Berlin. Zur Einweihung der Räume hatte sie an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag dort mit einem Glas Sekt am Fenster gestanden. ‚War es wirklich Sekt ...? Nein, es ist dunkelroter Wein gewesen!‘

Als sie damals das Glas geleert hatte, setzten genau die gleichen eigenartigen Kopfschmerzen ein, von denen sie heute gequält wurde.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Kapitel

 

„Berlin ist die eigentliche Hauptstadt Deutschlands“, sagten die, für die Bonn nichts anderes als eine Provinzstadt war. Nur schwer konnten sie sich offensichtlich damit abfinden, dass sich der Sitz der Bundesregierung Deutschland in dem kleinen gemütlichen Städtchen befand, an beiden Ufern des Rheins gelegen und im Süden und Westen von den Ausläufern der Eifel umschlossen. Im Nordosten stellt die Sieg die Grenze dar, im Südosten das Siebengebirge. Man bemängelte vor allem auch die relativ hohe Luftfeuchtigkeit, die sich belastend auf die dort lebenden und arbeitenden Staatsbeamten auswirken würde.

Voll Stolz reckten alle diese Bonn-Gegner die Brust, als der Bundestag nach langer Diskussion und dramatischer Abstimmung mit einer knappen Mehrheit 1999 nach Berlin zog und im Oktober die erste Sitzung im umgebauten Reichstagsgebäude stattfand.

Doch schon vor der Verlegung des Regierungssitzes galt Berlin – trotz seiner jahrzehntelangen Teilung – als Weltstadt der Kultur, der Politik, der Medien etc., ja als Stadt der fast unbegrenzten Möglichkeiten. Forschungseinrichtungen, Museen und Universitäten genossen einen internationalen Ruf. Touristen erstanden bei C & A ein Schnäppchen, oder wenn sie besser betucht waren, kauften sie in den Shops von Chanel, Escada, Jil Sander, Lagerfeld oder Diesel ihre Designer-Garderobe ein. Studenten und jugendliche Touristen saßen im ‚Hard Rock‘-Café, während die betagten Herrschaften im ‚Café Kranzler‘ ihren Kaffee tranken und auf demonstrierende Studenten am Kranzler-Eck warteten.

Wenn man ‚Glück‘ hatte, konnte man auf dem 3,5 km langen Ku’damm, der zu den berühmtesten Straßen der Welt gehört, ausländische Stars und Sternchen bewundern, die auf den breiten Gehwegen flanierten oder in einer der Boutiquen einkaufen gingen. Manch Berliner munkelte allerdings, die Boutiquen würden Sterne und Sternchen gegen gutes Geld bestellen. Natürlich gab es auch genügend Prominenz in einem der Kinos zu sehen, wenn die neuesten Spielfilme vorgestellt wurden.

Christinas Lieblingsfilm war zu jener Zeit ‚Pretty Woman‘, die moderne Aschenputtel-Geschichte mit Richard Gere und der über Nacht zum Star gewordenen Julia Roberts, die eine ‚gute‘ Prostituierte verkörperte. Eine Herz-Schmerz-Geschichte mit Happy End, von der so manche junge Frau träumte.

Damals hatte Christina einen langen und erbitterten Kampf mit ihrer alleinerziehenden Mutter ausgefochten. Die wollte absolut nicht, dass sie mit neunzehn Jahren in eine Großstadt zog und ein Jurastudium an der Freien Universität in Berlin-Dahlem begänne. Schließlich hatte ihre Mutter aber doch nachgegeben, jedoch auf ein Zimmer im Studentenwohnheim bestanden, damit sich ihre Tochter, wie sie glaubte, unter moralisch anständigen Studenten aufhalten, nicht unter die Räder kommen und nicht den Verlockungen einer alles bietenden Großstadt erliegen würde.

Die einzelnen Zimmer in dem Block des Studentenwohnheims waren nur etwa zehn Quadratmeter groß und mit einem einfachen Schrank, Bett und Schreibtisch eingerichtet. Spartanisch! Vielleicht eigens so gebaut und eingerichtet, um nicht vom Wesentlichen abzulenken. Bei Christina verursachte das Zimmer aber eher Platzangst.

Küche und Bad wurden von fünf Studenten gemeinschaftlich genutzt. Zusätzlich gab es für alle einen großen Clubraum mit reichlichem Getränkeangebot und zumeist von den aus vielen Ländern stammenden Studenten selbst zubereiteten Speisen, die einigermaßen schmackhaft und preiswert waren. Dieser Raum war auch zugleich der Film- und Fetenraum, beides Veranstaltungen, die häufig und mit reichlich Alkohol veranstaltet wurden.

Die Bausubstanz dieser einfachen zwei- bis dreistöckigen Gebäude war alt und abgewohnt. Eigentlich musste dringend renoviert oder abgerissen und ganz neu aufgebaut werden. Letzteres hätte sich wahrscheinlich als effektiver und kostengünstiger erwiesen als jede Renovierung.

Aber leider fehlten dazu die staatlichen und privaten Gelder. Der Berliner Senat war permanent pleite und private Investoren legten ihr Geld lieber in gewinnträchtigere Anlagen wie offene Immobilienfonds, australische Dollars oder in Rohöl an.

 

Zwei Jahre später konnte Christina über eine kleine Annonce in der Berliner Tageszeitung eine günstige Wohnung mieten. Im kargen Studentenheim mit den winzigen Zimmern gefiel es ihr überhaupt nicht mehr.

Ihr neues, gemütliches Zweizimmer-Apartment befand sich in einem etwas heruntergekommenen Mehrfamilienhaus in Zehlendorf, Ortsteil Schlachtensee, in der Nähe des Grunewalds, ganz im Westen von Berlin. Dort in Zehlendorf hatte sie ganz allein mit dem Glas Rotwein am Fenster ihrer neuen Wohnung gestanden und auf ihr eigenes, bescheidenes Reich angestoßen.

Der Blick hinunter in den Garten war damals genauso trostlos gewesen wie im Moment hier in Osnabrück. Nur konnte man den Garten in Berlin nicht als solchen bezeichnen, denn es war eine öde, im Sommer vertrocknete Grasfläche, die die Kinder als Bolzplatz benutzten. Am äußeren Rand befanden sich ein paar grüne Büsche und Sträucher, deren Zweige meistens abgeknickt nach unten hingen, weil sie dem Aufprall der Bälle nicht gewachsen waren.

Die kleine Wohnung in der siebten Etage des Hauses in Berlin, das eher einem dieser hellhörigen DDR-Plattenbauten glich und an dem die dünne Außenfarbe abblätterte, war damals ihr neues Zuhause. Dort, wo alles anonym zuging, wo keiner die Mitbewohner näher kannte, jeder sich nur um sich selbst, wenn es hoch kam noch um die eigene Familie kümmerte.

Wenn Christina mit den ihr fremden Menschen im engen Fahrstuhl des Hauses stand, tasteten sich oft vorsichtige, neugierige oder abschätzende Blicke an ihr herunter, so als gehöre sie nicht dorthin. Es war schon fast eine Auszeichnung, wenn jemand zustieg und ihr einen ‚Guten Tag’ wünschte. Sprach derjenige laut genug, erkannte sie möglicherweise die raue Stimme eines Mitbewohners aus den Stimmen heraus, die sie nachts manchmal aus den Wohnungen hören konnte.

So der alte Nachbar aus der verqualmten Wohnung zur linken Seite, es roch bis auf den Flur nach dem Zigarettenqualm, der nachts immer so laut hustete. Wahrscheinlich ein Kettenraucher, denn seine braunen Fingerkuppen ließen darauf schließen. ‚Auch einer von denen, die mit ihrer Sucht die großen Gewinne der deutschen Zigarettenindustrie mehren, die Umwelt verschmutzen, die Mitmenschen belästigen und ihr eigenes Krebsrisiko damit erhöhen’, dachte sie nicht zum ersten Mal. Christina war jedes Mal froh, wenn der Fahrstuhl ohne noch einmal anzuhalten bis nach unten durchfuhr, sie nach draußen gehen und frische Luft einatmen konnte.

Die zwei oder drei Kinderwagen, die im Erdgeschoss im verwinkelten Eingangsbereich abgestellt waren, stellten offensichtlich eine enorme Belästigung für die meisten Bewohner dar, wenn man ihrem Schimpfen Glauben schenken sollte. Für die jungen Mütter war es natürlich praktischer, die etwas sperrigen Wagen hier im Eingangsbereich abzustellen, als sie in die eigenen, viel zu engen Wohnungsflure mitzunehmen. Aber die Kinderwagen versperrten nun einmal wirklich den Eingang. Jeder musste um sie herumgehen, damit er ins Treppenhaus und somit in seine Wohnung kam. Das rief natürlich dauernd Ärger hervor. Besonderes die beiden alten Damen aus der vierten Etage, die einen Rollator benutzen mussten, hatten so ihre Probleme.

Früher war das Treppenhaus sicherlich einmal sehr schön gewesen, aber jetzt war es nur noch schmutzig, wirkte fast asozial. Das ehemals weiße Geländer war inzwischen grau und völlig verkratzt. An den mit Rauputz bedeckten Wänden prangten grellbunte Graffiti-Zeichnungen unterschiedlicher Möchtegernkünstler.

An einen lächerlichen Vorfall, einen Streit mit dem dürren pingeligen Hausmeister, erinnerte sich Christina auch heute noch genau. Bepackt mit vollen Einkaufstüten aus dem Lebensmittelmarkt war sie langsam die Treppe hinaufgestiegen und hatte sich dabei die bunten Schmierereien auf der Flurwand angesehen. Der Hausmeister war ihr nachgekommen und hatte sie darauf angesprochen. Er hielt sie wohl für eine der gestressten Mütter, die die Wandmalereien ihrer Sprösslinge betrachtete. Leider konnte sie ihm diesen Irrtum nicht ausreden. Bis zur Wohnungstür marschierte er stur hinter ihr her und wartete, bis sie aufschloss und hineinging. Sie bekam allerdings noch mit, dass er umständlich seine Brille aus der schmutzigen blauen Kitteltasche kramte, sie aufsetzte, um ihren Namen auf dem schmalen Klingelschild zu entziffern. Wahrscheinlich wollte er in der Mieterkartei nachsehen, ob sie wirklich keine Kinder hätte. Damals musste sie über seinen enormen Ergeiz, die Übeltäter zu erwischen, oft lachen.

Wenn er tatsächlich einmal das Glück hatte, einen der Jungen auf frischer Tat zu ertappen, sodass die Treppenhauswand von den Eltern neu gestrichen werden musste, hielt der Anstrich meistens nur ein paar Tage. Wie von Geisterhand waren über Nacht mit Sprühflaschen neue farbige Wandmalereien entstanden. So etwas passierte zumeist nur in den großen Wohnblocks, in denen viele kinderreiche Familien mit heranwachsenden Jugendlichen wohnten. Hausbesitzer oder Mieter, die in einem Ein- oder Zweifamilienhaus lebten, hatten da weniger Probleme. Doch manchmal gingen auch von ihnen Anzeigen wegen irgendwelcher Sachbeschädigungen bei der örtlichen Polizei ein, die aber selten aufgeklärt werden konnten.

Christina kümmerte sich nicht um solche Erscheinungen. Ihr war es egal. Für sie war nur wichtig, eine Wohnung mit genügend Platz zu haben, preiswert und nicht zu weit entfernt von der Uni. Eine teure Wohnung hätte sie sich nicht leisten können, da ihr monatliches Einkommen, das aus der Überweisung ihrer Mutter und dem eigenen kleinen Nebenverdienst bestand, sehr gering war.

Ein guter Ausgleich für das triste und einfache Wohnen in dieser Gegend war der Grunewald. Ein circa 3.000 Hektar großes Waldgebiet, das nach Westen von der Havel begrenzt wird und von kleinen Seen durchzogen ist, so etwa durch die Krumme Lanke und den schlauchartigen, grünlich schimmernden Schlachtensee, einem der größten Seen im Berliner Stadtgebiet, der ganz in ihrer Nähe lag. Wenn ihre Zeit es erlaubte, nutzte sie den breiten, gut befestigten Uferweg zum Joggen. Im Sommer konnte sie sich auf der großen Liegewiese am Schlachtensee ein gemütliches Plätzchen suchen, die Sonne genießen oder ins kühle, blau-grüne Nass springen. Ihr See, wie sie immer betonte, war zwar nicht so bekannt wie der Wannsee, dafür aber auch nicht so überlaufen, sodass auf der Liegewiese stets genügend Abstand zum nächsten sich sonnenden Badegast vorhanden war.

Manchmal kam auch ihre beste Freundin, Mia Rillker, mit, die sie im Studentenwohnheim kennengelernt hatte und die dort immer noch eines der kleinen Zimmer bewohnte.

 

 

3. Kapitel

 

Als Mia das letzte Mal für ein paar Tage bei ihr in Osnabrück zu Besuch gewesen war, hatten sie sich angeregt über diese Berliner Zeit unterhalten. Wenn sie jetzt daran zurückdachte, musste sie schmunzeln, da ihr wieder der genaue Wortlaut des Gesprächs einfiel. „Kannst du dich noch an diesen extrem heißen Sommer erinnern, Mia? Wir waren einundzwanzig oder zweiundzwanzig und sind abends oft gemeinsam zum Schlachtensee gefahren. Deine Eltern hatten dir doch diese schicke rote Vespa geschenkt.“ Fragend hatte Christina ihre Freundin angesehen.

„Lass mich nachdenken, was war denn damals?“

„Du warst doch in Johannes Goldbeck verknallt. In diesen großen, schlanken Jungen, der immer so höflich und zuvorkommend war. Erinnerst du dich, Mia?“

„Vage! Aber das war doch nichts Außergewöhnliches. Hinter dem waren die meisten Mädchen her.“

„Aber an einem dieser lauen Sommerabende, als Johannes auf der karierten Baumwolldecke neben uns auf der Liegewiese am See lag und wir zusammen die neuesten Schlager aus seinem Kofferradio hörten, hast du mich nach einer Stunde mit einer Ausrede nach Hause geschickt. Aber ich bin nicht wirklich gegangen. Ich habe geahnt, was du vorhattest, und habe mich hinter dem Holunderbusch am Uferweg versteckt.“

Mia hatte sich rückwärts aufs Sofa fallen lassen und aufgestöhnt.

„Genau, gestöhnt hast du damals auch, nur dass er dabei auf dir lag.“

„Hör auf. Daran will ich mich nicht mehr erinnern. Das war der größte Reinfall meines Lebens!“

„Wieso? Du hast ihn doch regelrecht verführt. Bist mit wiegenden Hüften um ihn herumspaziert und hast dabei langsam dein Kleid aufgeknöpft. Einen BH hattest du nicht drunter. Der arme Kerl wusste gar nicht, wie er sich verhalten sollte. Zielstrebig hast du dich neben ihn auf die Decke gesetzt, ihn umarmt und geküsst. Johannes ist ganz rot geworden. Dann hat er deine großen Brüste vorsichtig wie kleine zerbrechliche Kunstwerke gestreichelt. Wahrscheinlich hat er dabei an die Jungfrau Maria gedacht, denn soweit ich mich erinnere, wollte er doch damals schon Priester werden.“

Mia hatte nach Luft geschnappt, war aufgesprungen und hatte gerufen: „Du bist gemein!“

„Aber warum denn? Ich wollte dir nur beweisen, dass du in der Studentenzeit auch nicht besser warst als all die anderen Mädchen. Obschon du das immer bestritten hast. Weißt du was, du solltest morgen etwas früher aufstehen und zur Kirche gehen, damit wieder etwas mehr Abwechslung in dein Leben kommt.“

„Wieso das denn?“

Christina hatte Mia angesehen, süffisant gelächelt und ihr erklärt: „Die Messe in der Elisabeth-Kirche hält Johannes Goldbeck. Er ist tatsächlich Pfarrer geworden und lebt seit zwei Jahren hier in Osnabrück!“

Wie auf Kommando hatte Mia angefangen zu lachen, konnte gar nicht mehr aufhören, sodass Christina sie irritiert angesehen hatte. Immer noch lachend hatte ihr Mia berichtet: „Ich war damals noch Jungfrau! Kannst du dir das vorstellen? Ich wollte endlich wissen, wie sich Sex anfühlt, wollte mitreden können und nicht mehr das Dummchen vom Land, aus der Provinz sein. Wie du weißt, waren meine Eltern in Bezug auf junge Männer, auf meine Freunde, immer sehr streng. Das hat mir den Umgang mit den männlichen Wesen bis heute ziemlich verleidet. Ich steh nicht so drauf.“

„Na, so was. Komm her, dann nehme ich dich halt in den Arm“, hatte Christina ihr geantwortet.

Prompt war Mia der Aufforderung gefolgt und hatte sich von ihr umarmen lassen, sich liebevoll an sie geschmiegt, was bei Christina ein leichtes Kribbeln im Bauch verursachte. Sie schob daraufhin Mia ein wenig von sich weg, dann aber wieder an sich, da sie ja schließlich gute Freundinnen waren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4. Kapitel

 

Wenn im Winter auf den vielen Gräsern und dichten Büschen am seichten Ufer des Schlachtensees dicker Raureif lag und der stille, zugefrorene See im fahlen, milchigen Sonnenlicht wie ein riesiger Diamant glitzerte, dann hielt sie an den Wochenenden nichts mehr in ihrem bescheidenen Zweizimmer-Appartement. Schon früh am Morgen, wenn die meisten Menschen noch eingekuschelt in ihren Federbetten lagen und schliefen, hüllte sich Christina in ihre dicken, warmen Wintersachen und marschierte zum See zum Schlittschuhlaufen. Die riesige vereiste Fläche vermittelte ihr ein Gefühl von Freiheit, von Weite und war der perfekte Ausgleich für ihre kleine Wohnung.

Oft musste sie dabei an ihren geliebten Großvater denken, der ihr, als sie sechs Jahre alt war, auf dem Teich hinter seinem Bauernhaus mit unendlicher Geduld das Schlittschuhlaufen beigebracht hatte.

Ihre Freundin Mia besaß keine Schlittschuhe, weigerte sich auch konsequent, den zugefrorenen See zu betreten, da ihr die riesige Eisfläche nicht geheuer schien, nicht genügend Sicherheit bot. Vor allem, da man an manchen Stellen durch die klare Eisschicht bis auf den Grund des Sees schauen konnte, aber nie wusste, wie tief es dort war.

Einmal war Mia Christinas Überredungskünsten tatsächlich gefolgt, hatte ein paar Schritte auf Schlittschuhen gewagt, aber als es unter ihren Füßen knackte und knisterte, hatte sie fluchtartig die eisige Fläche verlassen und sich lieber vom sicheren Ufer aus die Schlittschuhläufer angesehen. Sie bewunderte Christina, wenn diese elegant an ihr vorbeiglitt und sogar einige Sprünge und grazile Drehungen versuchte.