Der Fluch von Rosegarden Manor - Marlies Lüer - E-Book
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Der Fluch von Rosegarden Manor E-Book

Marlies Lüer

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Beschreibung

Weil ihre Mutter eine neue Karriere in Kalifornien startet, wird die sechzehnjährige Melly bei Tante Hazel in Rosegarden Manor ‚geparkt’. Obwohl das Anwesen in der Nähe von Inverness liegt und dieser Landstrich eher für robuste Flora geeignet ist, gedeihen unter den Händen der Tante die wundervollsten Pflanzen und köstlichsten Obstsorten. Was ist Tante Hazels Geheimnis?

Melly findet heraus, dass Hazel einen entsetzlichen Preis für ihren Erfolg zahlt – und dass ihr dasselbe grausame Schicksal bevorsteht, wenn sie nicht den Fluch bricht, der alle Erbinnen von Rosegarden Manor ins Verderben schickt.

Sie zögert. Ist der Rosenprinz der wahre Feind?

(Spin-Off zur Dandelia-Dorca-Reihe)

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Der Fluch von Rosegarden Manor

Fantasyroman

(Spin off der Dandelia-Dorca-Reihe)

©2021 Marlies Lüer

 

 

 

Impressum

 

©2021 Marlies Lüer Esslinger Str. 22 70736 Fellbach

 

www.Silberworte.de

 

Cover: Renee Rott Dream Design

Buchsatz: Rike Moor, Lektorat Nordlicht

 

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Epilog

Die Dandelia-Dorca-Reihe

Danksagung

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

„Nein, diese Entscheidung treffe ich, du bleibst bei Tante Hazel. Wir haben das doch durchdiskutiert, es ist für dich das Beste.“

Für dich das Beste … Wie sehr ich diese Worte hasste! Wieso glaubte jeder zu wissen, was für mich das Beste sei? Meine Mum konnte so hart sein. Ich musste aber zugeben, dass sie mich nur selten vor vollendete Tatsachen stellte. Meistens bekam ich meinen Willen. Doch dieses Mal offenbar nicht.

Wir saßen mit gepackten Koffern und meinen Zimmerpflanzen im Auto auf dem Weg von Edinburgh nach Inverness. Dafür brauchte man meist so um die dreieinhalb Stunden auf der A9. Danach ging es noch weiter nach Lochardil, ganz durch den Ort hindurch, und dann mitten hinein ins Nichts. Na ja, ich will nicht unfair sein. Tante Hazels Anwesen war durch eine Art Landstraße angeschlossen an die sogenannte Zivilisation. Aber rein vom Gefühl her war dort nichts. Gar nichts. Nichts, was eine knapp Siebzehnjährige gebrauchen konnte. Als ich noch klein war, da war es okay, Tantchen zu besuchen. Für Kinder ist es dort paradiesisch. Wiesen, Felder, ein Wäldchen … ich weiß noch, wie ich süße Erdbeeren gegessen habe, bis sie mir zu den Ohren wieder rauskamen. Die Bienenstöcke waren auch toll, damals für mich das reinste Abenteuer. Die Schaukel in der alten Eiche, die Kapelle, in der die Leute sich die Hand fürs Leben reichten – alles schöne Erinnerungen. Seit damals wünsche ich mir, auch eines Tages ein weißes, bodenlanges Brautkleid mit langem Schleier zu tragen und auf Rosegarden Manor zu feiern und tiefrote Erdbeeren im Champagner schwimmen zu lassen.

Ich hatte eine tolle Kindheit. Wirklich! Bis ich ungefähr fünf Jahre alt war, dann kam es Mum in den Sinn, unbedingt ihr Elternhaus verlassen zu müssen, um in eine große Stadt zu ziehen. Okay, Edinburgh ist jetzt nicht so riesig wie London oder Birmingham, aber eben um einiges größer als Inverness, so ziemlich genau um zehnmal so viele Einwohner größer. Das war eine große Umstellung für mich, vom gefühlten Nichts in eine Mega City zu ziehen und dort eine Schule mit mehr als 1600 Schülern zu besuchen. George Hariot’s School, ähnlich wie Hogwarts von der Architektur her. Nur eben ohne die Magie. Der helle Wahnsinn. Nun ja, das Thema lassen wir jetzt mal lieber. So war es mir damals eben vorgekommen, inzwischen sah ich Edinburgh mit anderen Augen. Mehr City als Mega. Mein Traum ist ja, eines Tages mal Tokio zu besuchen. Das nenne ich eine Mega City! Ungefähr 38 Millionen Einwohner. Mehr als alle Einwohner Kanadas! In einer einzigen Stadt! Muss ich sehen. Und überleben. Denn, wenn ich das geschafft habe, dieses Bad in der absoluten Menge, dann bin ich gewappnet für den Rest meines Lebens.

„Hast du gehört, was ich sagte? Gib deiner Mutter mal eine Antwort.“

Verdammt! Ich war schon wieder weit weggedriftet in meinen Gedanken, sodass ich Mum und den Nissan, den sie steuerte, gar nicht mehr wahrgenommen hatte. Völlig losgelöst … typisch.

„Äh, sorry, ich …“

Nervös rutschte ich auf dem Sitz hin und her. Mum machte am Ende noch ihre Drohung wahr, mich zum Neurologen zu schicken, wenn ich nicht besser aufpasste! Aus irgendeinem Grund war sie der Überzeugung, dass es nur eine Form der Epilepsie sein könne – denn: so ‚desinteressiert und abwesend‘ könne ein Mensch nicht sein. ‚Nicht in meinem Alter‘… Nun ja.

„Du warst wieder mal weit, weit weg, dort, wo noch nie ein Mensch zuvor gewesen ist. Habe ich gemerkt. Also, nochmal. Du wirst dich am Ende der Sommerferien mit deiner neuen Lehrerin treffen. Sie will sehen, wo du stehst, wo du vielleicht etwas Unterstützung brauchst. Und sie zeigt dir die Schule, bevor der Unterricht wieder los geht. Sie hat mir versprochen, dich möglichst neben eine ruhige und freundliche Mitschülerin zu setzen.“

Ah, das Thema also! Innerlich verdrehte ich die Augen, obwohl ein Teil von mir durchaus dankbar war. „Ähm, ja. Mach ich. Geht klar.“

Sorgenvoll schaute Mum mich an und lenkte ihren Blick dann wieder auf die Straße. Wir mussten bald zur Abfahrt kommen, die nach Inverness führte. Wäre nicht gut, die zu verpassen.

„Ich bleibe für eine Nacht und morgen werde ich mit einer Taxe zum Flughafen fahren. Bitte versprich mir, dass ich mir um mein großes Mädchen keine Sorgen machen muss.“

„Versprochen. Du kannst dich darauf verlassen. Ich geb‘ mir Mühe in der Schule. Du kannst dich ganz auf deinen Job in Kalifornien konzentrieren. Und nein, du musst nicht jeden Tag mit mir skypen und mir ‚Gute Nacht‘ sagen. Tante Hazel ist cool. Ich komm schon klar.“

Mum setzte den Blinker und fuhr von der Schnellstraße herunter auf die Longman Road. Ein entgegenkommender Rover musste unseretwegen bremsen; der Fahrer hupte wütend und drohte mit der Faust. Mum fühlte sich nicht mal angesprochen. Tja, ich war nicht der einzige Sonderling in dieser Familie. Eigentlich waren wir alle etwas … anders.

Je näher wir Rosegarden Manor kamen, umso mehr freute ich mich nun doch. Tante Hazels Erdbeerbisquitrolle war unübertrefflich. Ich zückte mein Handy und schrieb ihr eine WhatsApp. Sind jetzt gleich in Inverness. Kannst langsam schon mal den Kaffee aufsetzen! Ich tippte auf den Pfeil und wartete auf das Blauwerden des Häkchens. Kurzentschlossen, weil ich es wirklich wissen wollte, fragte ich sie noch, welchen Kuchen es geben würde. Wir waren schon fast in Lochardil, als sie endlich antwortete. Es gibt Erdbeerkuchen, Bisquitrolle. Denkst du, das könnte ich je vergessen? Freu mich, dass ihr bald da seid. Hab euch lieb. Erleichtert schob ich das Handy zurück in meine Jackentasche.

„Hol es noch mal raus und sag ihr, sie soll die Schlagsahne nicht vergessen“, sagte Mum.

Während ich tippte, beschlich mich ein Gedanke. Wie zum Geier hatte sie sehen können, was ich genau schrieb? Sie hatte doch stets auf den Verkehr geachtet. Misstrauisch schielte ich sie von der Seite an. Kannte sie mich und Hazel denn so gut? Sie schien meinen Blick zu spüren und meinte, sie hätte es im Gegensatz zu ihrer Schwester nicht nötig, auf die schlanke Linie zu achten und würde sich einfach über eine anständige Sahne freuen. „Solltest du auch mal probieren. Wird dir nicht schaden.“

Na, und ob mir das schaden würde! Im Gegensatz zu ihr geriet ich mehr nach der molligen Tante Hazel und Granny Ashley. Beide rund, aber gesund. Abgesehen davon, dass Granny ziemlich früh gestorben war.

„Wenn das alles klappt mit dem Job, dann hole ich dich in einem halben Jahr nach. Stell dir vor – wir beide jeden Tag am Strand! Du könntest einen Hund haben. Wir könnten Surfen lernen, was meinst du? Und ich werde uns sicher in absehbarer Zeit ein eigenes Haus kaufen können. Du gehst dort noch ein weiteres Jahr auf die High School und dann suchen wir dir einen netten Job. Vielleicht finde ich sogar was für dich in der Firma.“

„Ich und die Werbebranche? Nie und nimmer. An welche Art Job hast du gedacht, soll ich die Putzfrau sein? Zu mehr reicht es ja nicht“, wies ich sie voller Bitterkeit zurecht.

„Aber nein, natürlich nicht. Ich hatte mehr an die Poststelle und das Archiv gedacht, Briefe und Akten verteilen und so. Dann kommst du im Gebäude rum, hast Bewegung und triffst ganz unverbindlich lauter Leute.“

„Mum, wach auf. Heutzutage werden moderne Firmen weitgehend papierfrei geführt.“

„Entschuldige bitte, du hast ja recht. Es war nur so ein Gedanke. Vielleicht möchtest du ja auch Floristin werden oder was mit Tieren machen?“

Total genervt schlug ich meine Handflächen auf meine Oberschenkel und stieß meinen Atem aus. „Hör auf, mein Leben zu verplanen! Was ich beruflich mal werde, weiß ich noch nicht und ich habe verdammt noch mal genug Zeit, darüber nachzudenken. Liefere mich einfach bei Tante Hazel ab und mach du deinen Superjob in Amerika und lass mich in Ruhe! Sieh endlich ein, dass ich nicht so bin wie du.“

Schweigen. Nur der Motor und die Reifen auf dem Asphalt machten noch Geräusche.

Ich fuhr mit den Fingernägeln über den Jeansstoff meiner Hose auf und ab und starrte aus dem Fenster. Mir tat es sofort leid, dass ich die Fassung verloren hatte. Aber in letzter Zeit hatte ich einfach nicht mehr die Nerven für sowas. Alle zerrten an mir herum. Nur weil ich extrem schüchtern war, hieß das nicht, dass ich keine Menschen mochte. Im Gegenteil! Doch viele auf einmal machen mich einfach fertig. Jeder riecht anders, hat seine eigene Stimmlage und Mimik, überschüttet mich vielleicht mit einem Berg Informationen, die ich gar nicht will, und, und, und … Menschen gut und schön – aber bitte wohldosiert. Sonst verliere ich mich nämlich selbst. Also, nicht wirklich. Aber es fühlt sich für mich so an! Ich kann mich kaum noch spüren nach einem langen Schultag. Wenigstens schlage ich mich nicht mehr selbst, um ein Gefühl für die eigenen Grenzen zu bekommen. Und nun tat ich es schon wieder – abdriften! Ich holte tief Luft und entschuldigte mich bei meiner Mutter für den Ausbruch.

„Schon gut, Kleines. Mir tut es auch leid. Ich wollte dich nicht bedrängen. Lass uns jetzt an Erdbeeren und Schlagsahne denken, ja?“

„Gern.“

Dieser Gedanke sorgte tatsächlich für Entspannung. Der Rest der Fahrt verflog im Nu und dann bog Mum auf den breiten Zufahrtsweg zu Rosegarden Manor ein. Schon von Weitem konnte man sehen, dass es der Familie MacArran finanziell gutging. Rosegarden Manor war eine Schönheit! Man sagte meiner Tante Hazel nach, dass ihre Rosen und Gartenerzeugnisse viel besser seien als die von Findhorn und ein mindestens ebenso großes Wunder. Angeblich sei sogar Eileen Caddy neidisch auf Tante Hazels Rosenstöcke gewesen. Zu Lebzeiten, versteht sich. Findhorn liegt etwa eine Autostunde von hier entfernt, hat also dasselbe Klima. Abgesehen davon, dass es direkt an der Nordsee liegt. Unser Anwesen lag geschützter. Das mochte den Unterschied erklären.

Endlich waren wir da!

Mum stellte den Motor aus und atmete einmal tief durch. Dann lächelte sie mich aufmunternd an und sagte: „Das Gepäck und die Blumen holen wir später rein.“

Im nächsten Moment stürmte Tante Hazel uns entgegen. Ihr Haar war nussbraun und ihre Figur ähnelte in gewisser Weise tatsächlich einer Haselnuss. In meinen Augen sah sie wie ein entzückendes, dickes Eichhörnchen aus. Mums Name, Willow, war auch so überaus passend. Sie war groß, anmutig und biegsam wie eine Weide. Und schon fiel mir Tantchen um den Hals und erdrückte mich fast mit ihrer Liebe. Was ich ungemein genoss!

„Melly, du bist ja schon wieder gewachsen! Du wirst noch so groß wie die Esche hinterm Haus.“

„Ich hoffe nicht, Eschen werden bis zu 40 Meter hoch“, sagte ich trocken und löste mich behutsam aus ihrer Umarmung. „Ich freue mich, dich zu sehen.“

Tantchen gab mir einen Kuss auf die Stirn und wandte sich dann meiner Mutter zu. „Willow, schön, dich zu sehen. Ich wünschte, du würdest länger bleiben. Musst du wirklich schon morgen in den Flieger steigen?“

„Das hatten wir doch alles besprochen, Hazel. Kurzfristige Termine! Lass uns lieber die Zeit genießen, die wir haben.“

„Ja! Kommt rein, ihr zwei. Wo sind eure Koffer?“

„Die können wir später holen. Jetzt brauche ich eine Tasse Kaffee.“

„Sollst du haben, Schwesterlein. Und Schlagsahne mit echter Vanille! Jede Menge. Nathan kann euer Gepäck ins Haus bringen. Leg einfach deinen Autoschlüssel auf die Treppe. Der versteht den Wink.“

Nathan war das Faktotum von Rosegarden und vermutlich 100 Jahre alt. Er gehörte schon zum Anwesen und zur Familie, als meine Großmutter noch jung war. Ein dürrer Kauz, knorrig wie eine alte Eiche und mit einem etwas düsteren, schrägen Humor gesegnet. Irgendwie war er weder richtig Männlein noch Weiblein, einfach ein altes Etwas.

Und dann endlich saßen wir drei zusammen am Tisch und ich machte mich über den Erdbeerkuchen her. Nach dem dritten Stück stellte ich fest: da war noch Platz für ein viertes. Mum versuchte krampfhaft, mich nicht vom Essen abzuhalten. Ihr Lächeln sah etwas eingefroren aus.

„Noch etwas Sahne in deinen Kaffee, Liebes?“

Ich wusste erst nicht, wen von uns beiden Hazel meinte, aber Mum hielt ihr sofort die Tasse entgegen. Die Schlagsahne war fest und glänzend und duftete herrlich nach Vanille. Ich stellte mir eine Badewanne voll Sahne vor, in die ich mich hineingleiten ließ, um dann mit offenem Mund unterzutauchen. Herrje! Ich war wirklich verfressen. Aber dafür noch relativ schlank. Vielleicht drei Kilo zu viel in der Mitte. Oder fünf. Im Vergleich zu der schlanken Weide in unserer Familie war ich stämmig, aber mein Gott. Es gab Schlimmeres. Heimlich öffnete ich den Knopf meiner Hose. Puh. Nach dem vierten Stück musste aber Schluss sein.

„Wann ist die nächste Hochzeit?“, fragte ich.

„Bald schon. Am Samstag. Du kannst mir helfen, die Kapelle vorzubereiten.“

„Sehr gern.“ Ich nahm den letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse vorsichtig auf die Untertasse. Das Service war von Wedgwood, original Jugendstil. Kostbar. Tante Hazel holte es nur für wichtige Gäste aus der Vitrine. Ich fühlte mich geehrt.

„Der Kuchen war wieder ein Traum, Tante. Danke. Ist es für euch okay, wenn ich jetzt etwas an die frische Luft gehe?“

„Aber sicher doch.“ Tante Hazel winkte lässig und auch Mum nickte. Sicherlich hatten die beiden noch einiges zu besprechen und würden mich nicht vermissen. Es drängte mich jetzt raus an die frische Luft. Ich ging um das Haus herum und nahm den Weg durch den Gemüsegarten, hin zum Haselhain, wo ich mir als Kind kleine Höhlen aus Zweigen und Ästen gebaut hatte.

Für schottische Verhältnisse war das Wetter heute großartig. Ich beschloss, noch einen Spaziergang durch den Rosengarten zu machen und auch dem Erdbeerfeld einen Besuch abzustatten. Obst war schließlich gesund! Als mein Rundgang beendet war, schaukelte ich in der alten Eiche, nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass die Seile noch intakt waren. Das Brett, auf dem ich saß, hatte ich eigenhändig glattgeschliffen. Mit Sandpapier. Ich schliff es damals in meinem handwerklichen Eifer so glatt, dass ich beim Schaukeln immerzu runterfiel, woraufhin Nathan eine Art Gummimatte aufklebte.

Ja, dieses Fleckchen Erde, dies war mein wahres Zuhause. Nicht die Wohnung in Edinburgh. Ich erinnerte mich an jedes einzelne wilde Tier, das ich hier gesundgepflegt hatte – das Kaninchen mit dem halb abgerissenen Ohr und dem gebrochenen Hinterlauf, eine freilebende Hauskatze, kleine Vögel mit gebrochenem Flügel, sogar ein Kauz hatte sich von mir helfen lassen. Ich hatte ein Händchen dafür. Vielleicht mein einziges, wahres Talent. Ich hielt sie so oft es ging in meinen Händen auf Herzhöhe und stellte mir vor, wie sie sein würden, wenn sie wieder gesund wären und vergaß die Welt um mich herum. Pures Glück!

Plötzlich hatte ich keine Lust mehr, allein zu sein, und ging durch die Hintertür ins Haus zurück. Als ich an der Küche vorbeikam, hörte ich, wie Mum leise sagte: „Du darfst ihr nie die Wahrheit sagen, Hazel. Schwöre es!“

„Ich schwöre es dir. Vorerst. Irgendwann muss ich es ihr sagen.“

„Nein! Wenn du das tust, lege ich eigenhändig die Axt an, verstanden? Und ich rede nie wieder ein Wort mit dir.“

„Das kannst du nicht tun, Willow!“

„Und ob ich kann.“

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich den Abend überstanden habe. Warum auch immer, in mir war die Gewissheit, dass ich damit gemeint gewesen war. Nicht irgendwer. Mum kümmerte sich nicht groß um andere Leute. Für sie gab es nur die Familie, also wir drei, und ihre Karriere. Nur wer auf irgendeine Art nützlich oder hilfreich war in diesen zwei Bereichen, Familie und/oder Job, der fand Beachtung. Aber auch nur so lange wie nötig. Mir war das lange normal erschienen, bis ich dann, als ich etwas älter und selbstsicherer wurde, bei anderen Familien Anschluss suchte; auch Fernsehserien, so blöd das jetzt auch klingen mag, halfen mir, mein Weltbild zu vervollständigen.

Welche Wahrheit könnte das sein? Und warum logen mich die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben an?

Mum fiel es natürlich auf, dass ich mich sehr zurückzog und kaum an den Gesprächen beteiligte. Ich schickte Kopfschmerzen vor und wollte ins Bett. Sie konnte sich nicht verkneifen, mir Bauchschmerzen zu unterstellen wegen der vier Stück Kuchen. Sollte sie doch denken, was sie wollte! Ich wünschte den beiden eine gute Nacht und verschwand in mein altes Zimmer. Es hatte etwas enorm Tröstliches, dass Tante Hazel meine alten Möbel nicht entsorgt hatte. Alt war hier übrigens wörtlich zu verstehen. Massives Holz! Bett, Tisch und Schrank für mehr als nur ein oder zwei Generationen gebaut. Mein Bett war ein Himmelbett, so herrlich altmodisch. Leider ist der originale Stoff des Himmels schon vor Jahren den Motten zum Opfer gefallen. Seitdem hängt dort ein Netz aus kleinen LED-Lichtern, mit einem Zeitschalter versehen. Punkt 19 Uhr hatte es sich immer eingeschaltet, um exakt um 20 Uhr wieder auszugehen. Das Lichtermeer war mein Startsignal gewesen zum Zähneputzen und Schlafanzug anziehen, nochmal aufs Klo gehen und dann verschwand ich unter meiner Bettdecke, gemeinsam mit dem aktuellen Buch. Ich war ständig am Lesen gewesen und das hat sich bis heute im Grunde nicht geändert, nur dass ich jetzt mehr eBooks lese. Leider war ich heute erst nach 20 Uhr ins Zimmer gegangen, aber die Hoffnung, dass frische Batterien für einen Sternenhimmel sorgten, nach all den Jahren, war zwar albern und kindisch, doch nicht völlig unbegründet. Ich freute mich auf den nächsten Abend und auf den Moment, wenn vielleicht die Lichter blinken würden. Ja, ich traute es meiner Tante zu, dass sie mir diese Freude machte. Sie war herzlicher als Mum. Einfallsreicher, was kleine Zeichen der Liebe anging. Ich hätte ja nachschauen können, ob das Batteriefach leer war, doch das wollte ich nicht. Das hätte den neu aufkommenden Zauber zerstört. Es reichte völlig, wenn ich morgen Abend down wäre, das musste ich nicht jetzt auch noch haben.

Ich schlurfte zum Koffer, um meine Schlafsachen und die Kosmetiktasche herauszuholen, und lag wenig später im Bett, das frisch und sauber duftete. Tante Hazel legte immer Kernseife und Lavendel in den Wäscheschrank. Warum hatten wir das eigentlich nicht für unsere Wohnung in Edinburgh übernommen? Ich nahm mir vor, das in Angriff zu nehmen, sobald wir in Amerika leben würden. Oder eben wieder in Edinburgh. Die Wohnung war vorerst untervermietet. Die wenigen Dinge von Wert hatten wir gut verpackt und vorab durch eine Spedition nach Rosegarden Manor geschickt. Es war mir unangenehm, dass Fremde unsere Möbel anfassen und nutzen würden. Ich nahm mir vor, Mum um eine neue Matratze zu bitten, falls wir in die Wohnung zurückgingen.

All diese Gedanken, die ich mir machte, dienten im Grunde nur dazu, mich von der Frage abzulenken, welches Geheimnis Hazel und Mum teilten und weshalb sie mich ausschlossen. Ich war ja wohl alt genug, um alles zu wissen! Als ich dann im Bett lag und an die Decke starrte, hörte ich, wie ihre Stimmen lauter wurden. Stritten die etwa? Das musste ich genauer wissen. Ich sprang aus dem Bett und wollte mich eine halbe Treppe tiefer auf die Stufen setzen und lauschen. Leider hatte ich nicht bedacht, dass die Dielen knarrten. So hörte ich nur noch: „… ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, sie da rauszuhalten. Das hätte ich schon viel eher tun sollen.“ Dann verstummte meine Mutter. Ich konnte förmlich spüren, wie sie den Kopf zur Seite legte und nach oben lauschte. Der Tarnung halber huschte ich ins Bad, das meinem Zimmer gegenüber lag und drückte nach einigen Sekunden die Spülung der Toilette, machte die Tür extra mit leichtem Wumms zu und ging zu meiner Zimmertür, öffnete sie und schloss sie wieder, blieb aber davor stehen, um noch mehr zu hören. Leider führte mein kleines Täuschungsmanöver nicht zu neuen Erkenntnissen. Mum wünschte ihrer Schwester eine gute Nacht und verließ das Wohnzimmer. Mir blieb nichts anderes übrig, als in mein Refugium zu huschen, wenn ich nicht beim Lauschen erwischt werden wollte.

Stundenlang grübelte ich, döste ein, wachte wieder auf und grübelte weiter. Wenn ich mutiger wäre, hätte ich zu meiner Mutter gehen können, um sie zur Rede zu stellen. Doch es bestand die Chance, dass mein Mangel an Courage hier ein Vorteil war. Sie hätte sicherlich alles abgestritten und wäre in Zukunft noch vorsichtiger gewesen mit dem, was sie sagte. Gegen zwei Uhr morgens war ich so genervt von der ganzen Situation, dass ich an meine Tasche ging, mir eine Schlaftablette herausnahm und sie mit ein paar Schlucken Wasser auf ihre Reise in meine Blutbahnen schickte. Der Schlaf kam schnell. Und blieb … als ich am nächsten Tag erwachte, war es schon später Vormittag und meine Mutter war längst abgereist.

 

 

„Ich soll dich von Willow grüßen. Sie meldet sich, sobald sie im Hotel ist.“

„War sie sauer auf mich?“

Tante Hazel schüttelte den Kopf. „Melly, mach dir deswegen keine Gedanken. Sie meinte, es wäre wohl besser, dass du verschlafen hast, so blieb euch der Abschied erspart.“

Das stimmte durchaus. Ich war nicht scharf auf einen emotionalen Abschied gewesen, aber ich war dennoch etwas enttäuscht, dass es bei Mum offenbar auch der Fall gewesen war.

„Hunger? Im Kühlschrank ist Rührei, mach dir Toast dazu. Kaffee steht auf dem Tisch. Ich muss jetzt in die Rosen gehen. Der Florist holt die Blumen in seiner Mittagspause ab und verarbeitet sie. Für die Hochzeit morgen! Ich freue mich so sehr auf die Braut. Sie soll eine echte Schönheit sein.“

„Super. Dann esse ich schnell was und komm dann zu dir und helfe beim Schneiden.“

„Und in der Kapelle! Da brauche ich jede helfende Hand. Vergiss nicht, dir Handschuhe aus dem Schuppen zu holen.“

Der Tag verging schnell. Wir hatten so viel zu tun. Nachdem der Florist mit Ware versorgt war, ging ich in die Erdbeeren und pflückte drei große Spankörbe voll, um daraus Marmelade zu kochen und Erdbeersirup. Für sowas hatte ich echtes Talent. Und der Gedanke an die Hochzeitsgesellschaft beflügelte mich. Tante Hazel bejubelte das Ergebnis meiner Bemühungen, aus den Beeren etwas wahrlich Köstliches zu zaubern und schlug mir allen Ernstes vor, nach der Schule bei ihr anzuheuern, mit Vertrag und Sozialversicherung, was zu einem echten Job eben alles dazugehört. Mum würde toben, denn sie duldete keine Einmischung in ihre Pläne. In ihren Vorstellungen lag unsere Zukunft in Kalifornien.

Tante Hazel bemerkte mein Zögern und tätschelte meine Schulter. „Ist ja alles noch lange hin. Denk einfach drüber nach. Ist ja nicht so, dass du deiner Mutter ein Leben lang gehorchen musst. Du hast ein Recht auf deinen eigenen Weg. Was ich meine, ist: Ehre deine Mutter. Sie arbeitet hart für eine bessere Zukunft als ihr sie in Edinburgh je haben könntet. Doch vergiss nie, dass du kein Abklatsch von Willow bist. Du bist ein ganz eigener Mensch, mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen.“

Ich nickte nur stumm. Dann holten wir die Körbe mit den weißen Stuhlhussen und farbigen Schleifen aus dem Lager und ließen uns dabei von Nathan helfen. Für sein Alter war er total fit, ich konnte nur staunen und mir wünschen, als alte Oma später auch so agil und kräftig zu sein. Er hatte die Kapelle schon ausgefegt und die Bänke feucht abgewischt, was man eben alles so machen muss vor einer Hochzeit. Es würde eine kleine Trauung sein, erklärte Hazel. Nur neun Personen, der engste Kreis, und der Geistliche. „Die Feier selbst findet natürlich auf Aldourie Castle statt“, ergänzte sie. Ich nickte, denn die Location war bekannt für die wunderschönen Festsäle, die man mieten konnte.

„Ja, ich erinnere mich. Das Hotel liegt direkt am Loch Ness. Wir haben da mal ein Wochenende lang gewohnt in einem der Cottages, du, Mum und ich.“

„Und weißt du, was das Beste ist?“, fragte mich meine Tante mit leuchtenden Augen. „Der Hausherr selbst ist der Bräutigam. Ronald Todd! Es ist eine große Ehre, dass er seine Heather auf Rosegarden Manor zum Traualtar führt. Darum muss alles perfekt sein. Ich will, dass alles hier für die Hochzeitsgesellschaft unvergesslich schön wird, auch wenn sie nur für eine Stunde hier sind.“

Dann hieß die schönste aller Bräute also Heather. Mit dem Namen hätte sie gut in unsere Familie gepasst. Es gab seit langem bei uns die Tradition, die Mädchen nach Blumen oder Bäumen zu benennen. Nur ich tanzte aus der Reihe. Amelia! Grauenvoll. Das klang so alt und spießig, weshalb ich mich Melly rufen ließ. Darin war wenigstens ein Hauch Natur, denn das lateinische Wort für Honig heißt „Mel“ und Honigbienen gab es hier, seit meine Tante das Sagen auf Rosegarden Manor hatte. Meine Gedanken begannen wieder abzudriften und ich legte die letzten Schleifen wie in Trance um die Hussen der Stühle. Zum Heiraten gehörten immer zwei. Ob es einen Mann gab, der zu mir passte? Einen, der mich vor der wuseligen Welt abschirmen würde und sie mir gleichzeitig zu Füßen legte? Egal, wie er das anstellte, Hauptsache, er liebte mich, wie ich war. Und ich, ich würde ihn genauso sehr lieben. Mein Herz war begierig zu lieben, und doch hinderte ich mich selbst daran, weil ich jungen Männern aus dem Weg ging. Die, die ich kannte, traten immer im Rudel auf und machten nur dumme Sprüche.

Ein Klopfen an der offenen Tür der Kapelle ließ mich aufschrecken und ich fiel zurück in die Gegenwart. Meine Hände waren leer, ich hatte die letzte Schleife gebunden, ohne es zu merken.

„Artan!“, rief Tantchen erfreut. „Kommen Sie herein, mein junger Freund. Ihre Mutter hat sie mir angekündigt.“

„Ich bringe die Hochzeitskelche. Wo soll ich die Kiste abstellen?“

„Die werde ich aus Sicherheitsgründen über Nacht im Haus unterbringen. Der Wert der Kelche ist sicher hoch, ich will kein Risiko eingehen.“

Er nickte mir freundlich zu, als er mich entdeckte. Ich lächelte, brachte aber kein Wort heraus. Mein Herz schlug schneller, er sah nämlich gut aus. Sehr gut. Verlegen schaute ich zu Boden, als ich merkte, dass ich ihn anstarrte.

„Melly zeigt Ihnen den Weg in die Küche. Die Kiste soll auf die Kochinsel, ich kümmere mich später darum. Die Kelche müssen doch sicher noch abgestaubt werden?“

Er zuckte mit den Schultern und meinte, das wüsste er nicht. Tante Hazel fragte mich zuckersüß, worauf ich denn noch warten würde, und zwinkerte mir heimlich zu. Oh, wie peinlich! Hoffentlich hatte er das nicht gesehen. Ich riss mich zusammen und bat ihn, mir zu folgen. Der Weg von der Kapelle bis zum Wohnhaus war relativ weit. Worüber sollte ich nur mit ihm reden? Oder sollte ich gar nichts sagen? Zum Glück nahm er mir die Entscheidung ab, indem er drauflosplauderte.

„Ich habe dich hier noch nie gesehen. Machst du ein Sommerpraktikum oder so?“

„Hazel MacArran ist meine Tante. Ich wohne für eine Weile bei ihr.“

„Von wo kommst du denn?“

„Edinburgh.“ Verdammt, ich war so einsilbig!

„Ah, auch schön. Aber hier ist es schöner. Ich wohne direkt am Loch Ness.“

„Ja. Aldourie Castle, ich weiß. Schön dort.“

„Wir stammen aus Exeter, sind ungefähr vor elf Jahren hergezogen“, führte er den Dialog fort.

Ich nickte nur, während ich krampfhaft überlegte, mit welchem Gesprächsthema ich ihn nicht langweilen würde. Zu meinem Glück war er wirklich redselig und ich musste nur ab und zu lächeln, abnicken, Ah! und Aha! an den richtigen Stellen sagen.

Nathan lief uns über den Weg und er schaute Artan böse an. Ich verstand gar nicht warum, denn ich kannte den Alten als einen merkwürdigen, aber freundlichen Kauz und Einzelgänger. Mit einem Achselzucken tat ich es ab. Warum mir über ihn Gedanken machen, wenn neben mir die Sonne auf zwei Beinen einherging? Ja, so empfand ich ihn. Dass er blond und hochgewachsen war und gut duftete, spielte natürlich auch eine Rolle. Und erst sein strahlendes Lächeln! Er schien so glücklich zu sein, so selbstbewusst – als würde die Welt ihm gehören. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass Angst und Unsicherheit für ihn nur Fremdwörter waren. Mittlerweile waren wir im Haus und ich führte ihn in die Küche. Dort fühlte ich mich wohler und selbstsicherer.

„Ey, Wahnsinn! Was für ein herrlicher Duft hier!“ Artan blieb für einen Moment stehen, umarmte die Kiste mit den Hochzeitskelchen etwas fester und zog genießerisch den Duft ein. „Erdbeeren! Unverkennbar. Mein Lieblingsobst.“

„Ich habe gestern Erdbeersirup und Marmelade gekocht.“

„Du? Super! Ich liebe Frauen, die am Herd stehen“, sagte er und zwinkerte mir zu.

Irritiert und empört über dieses Retro-Macho-Ding wollte ich aufbegehren, aber ehe ein Wort über meine Lippen kam, lachte er lauthals und stellte die Kiste auf der Kücheninsel ab. „Hey, das war doch nur ein Spaß! Du kannst deine Stirn wieder entrunzeln. Ich liebe gutes Essen, das ist alles. Sag, darf ich was probieren? Das riecht wirklich gut.“

Der Kerl musste ein enormes Riechvermögen haben, ich hatte doch gestern die Erdbeeren verarbeitet. Lag der Geruch wirklich noch so deutlich in der Luft? Weil sein blöder Spruch nicht ernst gemeint war, hatte ich nun doch Lust, die Zeit in seiner Gesellschaft etwas auszudehnen.

„Wie wäre es mit einer üppigen Kostprobe? Tante Hazel hat immer Vanilleeis im Froster. Dazu Erdbeersirup und Sahne, und man ist im Himmel.“

Ich wartete seine Antwort gar nicht erst ab, denn ich hatte jetzt selber Lust darauf und würde mir eine Zwischenmahlzeit gönnen, mit ihm oder ohne ihn.

„Dazu sage ich nicht Nein.“

Minuten später herrschte Schweigen zwischen uns. Aber nicht, weil wir uns nichts mehr zu sagen hatten … Nach dem letzten Löffel stellte er sein Schälchen fast schon ehrfurchtsvoll auf dem Tresen ab.

„Danke! Das war besser als alles, was man in einer Eisdiele bekommt. Unfassbar gut. Überhaupt haben die Erdbeeren und Rosen und auch die Nüsse von Rosegarden Manor einen überaus guten Ruf. Jetzt weiß ich, dass das keine Übertreibung ist. Was ist euer Geheimnis? Hier wachsen ja sogar Zitronen, Wahnsinn! Ein Superdünger oder so?“

„Ich weiß es nicht. Hier wächst einfach alles gut. Das habe ich immer schon einfach so hingenommen.“

„Was meinst du?“

„Na ja, ich bin hier aufgewachsen. Als Kind nimmt man vieles einfach als gegeben hin. Meine Mutter und ich zogen fort von hier, da war ich noch klein. In Edinburgh oder anderswo habe ich nie wieder so gute Erdbeeren oder Nüsse gegessen.“

Artan schaute mich verblüfft an. „Wie kann man nur von so einem Ort wegziehen? Warum seid ihr gegangen, wenn ich das fragen darf?“

Gute Frage. Im Grunde wusste ich das gar nicht. Was mir auch jetzt erst auffiel! Irgendwie dämlich. Aber so war ich eben.

„Das müsstest du meine Mutter fragen. Die ist allerdings jetzt gerade in Kalifornien, startet eine neue Karriere.“

„Bist du deshalb hier? Wolltest du nicht mit?“

Ich zögerte mit der Antwort. Mum hatte mir gar nicht die Wahl gelassen, genaugenommen.

„Ich muss ja noch zur Schule gehen, weißt du? Und eben mal so für einige Zeit das Schulsystem wechseln ist ja auch nichts, was leicht wäre. Jedenfalls nicht für mich. Meine Mutter ist sich auch noch nicht sicher, ob das mit dem Job so klappt, wie sie sich das wünscht. Die Werbebranche ist hart und duldet kein Versagen, behauptet sie immer. Ich denke, sie möchte sich dort erst einen gewissen Stand erarbeiten, bevor wir für immer umziehen. Sie will sich ein halbes Jahr die Sache da anschauen. Unsere Wohnung in Edinburgh ist untervermietet, falls das alles nicht klappt.“

„Verstehe. Dann wirst du also länger hierbleiben? Gehst du auf die Inverness High School?“

„Ja! Sag bloß, du auch?“

Artans Augen blitzten. „Allerdings. Hey, dann kannst du ja meine Erdbeer-Fee sein und hin und wieder ein Körbchen mitbringen. Oder ich kaufe bei dir diesen herrlichen Sirup, den wir eben auf dem Eis hatten.“

Ich grinste ihn an. „Denk bloß nicht, dass ich mich für dich abschleppe.“

In dem Moment klingelte sein Handy. Er nahm mit einem entschuldigenden Blick den Anruf an. „Ja, Dad. Ich denke daran, nein, ich habe es nicht vergessen. Hab mich hier nur etwas verquatscht. Ich komme gleich. Keine Panik.“

Artan steckte es in die Jackentasche zurück.

„Schade. Muss los. Dad kommt nicht ohne mich klar. Er ist so nervös, als würde er selbst morgen heiraten und nicht mein Onkel. Wir haben noch viel zu erledigen.“

„Tja, dann solltest du jetzt wohl besser gehen“, sagte ich und wünschte mir, er würde bleiben.

„Danke fürs Eis und so. Ich denke, wir sehen uns morgen?“

„Ich werde hier sein. Ob Tante Hazel mich beim Service einteilt, weiß ich nicht. Sie hat ja für sowas ihr Personal. Aber ich will unbedingt die Braut sehen.“

„Heather wird jede Königin dieses Planeten an Schönheit übertreffen, wenn man meine Mum reden hört. Sie hat mit ihr zusammen das Brautkleid ausgesucht. Seit Wochen reden sie über nichts anderes mehr als über die Hochzeit. Ehrlich gesagt, bin ich froh, wenn alles vorbei und wieder normal ist. Tja, ich muss dann jetzt los. Man sieht sich!“

„Ja. Man sieht sich. Spätestens nach den Sommerferien.“

„Ich finde selber raus.“

Er stand immer noch da. Starrte mich an. Nein, er sah ganz knapp an mir vorbei. War was mit meinen Haaren? In seinen Augen sah ich, dass er nicht gehen wollte. Er machte den Mund auf, sagte dann aber doch nichts, drehte auf dem Absatz um und verschwand. Mit ihm verschwand auch das gute, sonnige Gefühl, das ich in seiner Gesellschaft gehabt hatte. Ich fühlte mich sehr allein. Nein, regelrecht verlassen, nicht nur von meiner Mutter. Ich schloss die Augen und beschwor die gute Stimmung wieder herauf. Morgen würde ich ihn wiedersehen. Und nach den Ferien in der Schule. Wir würden uns sicher irgendwann im Gebäude oder auf dem Schulhof treffen. Und ich hoffte inständig, dass er mir auch dann, inmitten von vielen anderen Mädchen meines Alters, dieselbe Aufmerksamkeit schenken würde.

Vielleicht sollte ich mir eine Lotion zulegen, die nach Erdbeeren duftete?

Als ich nach der Abendmahlzeit mein Zimmer aufsuchte, war mein Himmelbett hell erleuchtet. Die brennenden Lichterketten nahm ich als gutes Omen. Für alles. Ich hatte das Gefühl, dass ich in der kommenden Zeit jede Unterstützung brauchen würde, und seien es nur die LED-Lichter aus meinen Kindertagen.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3

Am nächsten Morgen lernte ich meine Tante von ihrer anderen Seite kennen. Bis zu diesem Moment war mir nie aufgefallen, wie sehr sie Geschäftsfrau war.

„Schade, Schätzchen, dass Willow es nicht für nötig befunden hat, dir was Anständiges zum Anziehen zu kaufen. So bist du einfach nicht vorzeigbar. Ich kann dir auch nichts von mir leihen, du bist einen ganzen Kopf größer als ich.“

Ich war maßlos enttäuscht. Zum Backen der Scones und zum Schlagen der Sahne war ich also gut genug, und überhaupt hatte ich gestern noch bis zum Abend überall mitgeholfen, damit das Anwesen die perfekte Kulisse abgab für die Promi-Hochzeit und die Presseleute. Und jetzt sollte ich mich verstecken, weil ichnicht vorzeigbar war? Ich hatte mir so viel Mühe gegeben, meine halbkrausen Haare glatt zu föhnen, sogar die Nägel waren lackiert. Mein dezentes Make-up war dank der Tipps auf YouTube perfekt gelungen! Und was gab es an meiner besten Jeans und der weißen Bluse auszusetzen? Ich wollte doch Artan wiedersehen, mehr noch als die Braut.

Meine Enttäuschung war so groß und tief wie der Loch Ness. Ich brach in Tränen aus und lief in mein Zimmer. Tante Hazel rief noch etwas hinter mir her, ich verstand ihre Worte aber nicht und sie waren mir auch egal. Mit Kraft knallte ich meine Tür zu und schloss sie ab. In spätestens einer halben Stunde würden sie kommen! Um nichts in der Welt wollte ich das verpassen. Nachdem ich meine größte Wut und Enttäuschung aus mir rausgeheult und -gerotzt hatte, beschloss ich, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Tante war Tante, und nicht die Mutter. Überhaupt, ich sollte von nun an immer meine eigenen Entscheidungen treffen und echte Pläne machen für die Zeit nach der Schule. Niemand konnte mich zu einem Studium oder so zwingen. Wenn ich nach diesem Schuljahr einen Job suchte, der mir nicht zu viel abverlangen würde, dann könnte ich auf eigenen Beinen stehen! Es gab ja wohl irgendwo ein Zimmer zu mieten, es musste nicht gleich eine eigene Wohnung oder gar ein Haus sein. Mit neuer Kraft ging ich zum Waschbecken und schminkte mich gründlich ab und kühlte mein Gesicht mit dem kalten Wasser aus dem Hahn. Für ein neues Make-up war keine Zeit mehr. Es musste auch so gehen, immerhin würde Artan mich ja nicht zu Gesicht bekommen, also war das egal. Ich schlich die Treppe hinab, aber Tante Hazel war gar nicht mehr im Haus, wie ich merkte. Also konnte ich durchstarten. Eilig verließ ich das Haus durch die Hintertür, schlug den Weg zum Haselhain ein und durchquerte ihn, dann arbeitete mich näher an die Kapelle heran. Dort versteckte mich hinter dem Gewächshaus, in dem Nathan Rosen züchtete.

Ich überlegte, ob ich mich nicht doch einfach unters perfekt gestylte Personal mischen sollte, das die von mir gebackenen Leckereien anbieten würde, sobald alle die Kapelle verlassen hatten. Aber das sähe nach Trotz aus, oder?

Auf einem hohen Tisch aus Ebenholz standen auf einem Silbertablett Champagner und die Hochzeitskelche für das Brautpaar und die Trauzeugen bereit. Sie sahen aus, als hätten früher Könige daraus ihren Wein getrunken. War der Lord von Aldourie denn so reich?

Tante Hazel stand in der Nähe der historischen Kapelle und gab letzte Anweisungen. Ich musste zugeben, in ihrem Kostüm sah sie großartig aus, obwohl sie eine eher rundliche Frau war. Die großen Ohrringe standen ihr fantastisch, waren auch gar nicht protzig, sondern elegant. Sogar die hochhackigen Schuhe wirkten an ihr, als würde sie täglich dermaßen hochwertiges Schuhwerk tragen.

Ich wurde abgelenkt vom Korso der blumengeschmückten Autos, die nun die Auffahrt hochfuhren. Einige ausgewählte Presseleute standen schon mit ihren Kameras bereit. Es war die Hochzeit des Jahres in Inverness, wenn nicht des Jahrzehnts! Und dann sah ich sie – die Braut war wirklich atemberaubend schön. Ihr Haar war pechschwarz und sie trug einen dunkelroten Rosenkranz über dem Schleier, der sich um ihre nackten Schultern schmiegte. Sie war gertenschlank und von eher zierlicher Statur, ganz das Gegenteil zu ihrem Mann. Ich konnte selbst von hier aus sehen, wie unfassbar glücklich und stolz er war, sie zum Altar zu führen. Und ihr Kleid – ach, dafür fehlen mir schier die Worte. Es war fast, als würde der Stoff aus Licht bestehen, so schön schimmerte er.

Zwei kleine Mädchen im Schulalter, ebenso blond wie Artan, gingen vorweg und streuten Rosenblätter über den Weg. Irgendwas saß auf ihren Schultern, auch bei Artan und den Trauzeugen, die vermutlich seine Eltern waren. Die sahen sich alle recht ähnlich, das musste eine Familie sein, auch die beiden alten Herrschaften mochten dazugehören. Waren das kleine Blumengebinde auf den Schultern? Aber warum waren die so hochstehend an der Kleidung befestigt? Die anderen Gäste, die den feierlichen Zug vervollständigten, hatten nichts dergleichen. Als sie näherkamen, konnte ich das besser erkennen – aber, das war doch unmöglich! Ich schnappte nach Luft und …

„Na, Kleine, hat die Rosenkönigin dich in die hintere Reihe verbannt?“, fragte eine raue Stimme, die mich erschrocken zusammenfahren ließ. Ich fühlte mich beim Spähen ertappt.

„Nathan! Sie haben mich erschreckt.“

„Hast du dich nicht gefragt, weshalb sie dich nicht dabeihaben will?“

Unangenehm berührt schaute ich ihn an. Was wusste er? Er wartete meine Antwort gar nicht ab und sagte: „Sie duldet keine echte Schönheit neben sich, es sei denn, es bringt ihr einen Batzen Geld ein.“

„Schönheit, ich?“ Ich machte einen verächtlichen Laut.

„Ja. Du wirst ihm gefallen.“

Verwirrt schaute ich den alten Mann an. „Was? Wem?“

Er grinste auf eine unschöne Art und ließ mich einfach stehen. Weil ich so abgelenkt gewesen war, sah ich Artan nur noch von hinten, wie er mit den anderen die Kapelle betrat. Er drehte sich noch einmal kurz um und hielt Ausschau. Nach mir? Ich wünschte mir von Herzen, es wäre so.

Meine Gedanken konzentrierten nun sich wieder auf das, was ich gesehen hatte. Etwas, das aussah wie eine Kreuzung aus Fledermaus und Gecko. Sitzend auf Schultern und überaus lebendig. Und völlig unmöglich!

 

 

Die Trauung fand natürlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Tantchen stand in der Nähe der Hochzeitskelche und bewachte sie wie Zerberus persönlich. Ein Sonnenstrahl brachte ihren Ring zum Funkeln. Ich wusste nichts Rechtes mit mir anzufangen und ich kam mir blöd vor, mich zu verstecken und den Zaungast zu spielen.

---ENDE DER LESEPROBE---