Der Freiwillige - Jack Fairweather - E-Book

Der Freiwillige E-Book

Jack Fairweather

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Beschreibung

Eine wahre Geschichte über Widerstand und den Versuch eines Mannes, den Lauf der Geschichte zu ändern.

Im Sommer 1940, nach der Besetzung Polens durch die Nazis, nahm der polnische Untergrundagent Witold Pilecki eine Mission an, um das Schicksal Tausender Menschen aufzudecken, die in einem eben erst errichteten Konzentrationslager interniert waren. Seine Mission war es, über die dortigen Verbrechen zu berichten und im Geheimen eine Truppe aufzustellen, um einen Aufstand anzuführen. Der Name des Internierungslagers – Auschwitz. In den nächsten zweieinhalb Jahren, die Pilecki im Lager verbrachte, schuf er ein Untergrundnetzwerk, dem es gelang, Beweise für die Gräueltaten der Nazis nach draußen zu schmuggeln. Die Berichte aus dem Lager prägten die Reaktion der Alliierten auf den Holocaust – doch Pileckis Geschichte geriet jahrzehntelang in Vergessenheit.

Jack Fairweather stützt sich für seine umfassende Biografie von Witold Pilecki auf unveröffentlichte Familienpapiere, neu veröffentlichte Archivdokumente und exklusive Interviews mit überlebenden Widerstandskämpfern.

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Seitenzahl: 624

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Zum Buch

Im Sommer 1940, nach der Besetzung Polens durch die Nazis, nahm der polnische Untergrundagent Witold Pilecki eine Mission an, um das Schicksal Tausender Menschen aufzudecken, die in einem eben erst errichteten Konzentrationslager interniert waren. Seine Mission war es, über die dortigen Verbrechen zu berichten und im Geheimen eine Truppe aufzustellen, um einen Aufstand anzuführen. Der Name des Internierungslagers – Auschwitz.

In den nächsten zweieinhalb Jahren, die Witold Pilecki im Lager verbrachte, schuf er ein Untergrundnetzwerk, dem es gelang, Beweise für die Gräueltaten der Nazis nach draußen zu schmuggeln. Die Berichte aus dem Lager prägten die Reaktion der Alliierten auf den Holocaust – doch Pileckis Geschichte geriet jahrzehntelang in Vergessenheit.

Jack Fairweather stützt sich für seine umfassende Biografie von Witold Pilecki auf unveröffentlichte Familienpapiere, neu veröffentlichte Archivdokumente und exklusive Interviews mit überlebenden Widerstandskämpfern.

Zum Autor

JACK FAIRWEATHER, Jahrgang 1978, ist Autor des internationalen Bestsellers »The Volunteer«, der bereits in über 25 Sprachen übersetzt und 2020 mit dem renommierten Costa Book of the Year Award ausgezeichnet wurde und seit 2021 als Grundlage einer großformatigen Ausstellung über das Leben des polnischen Widerstandskämpfers Witold Pilecki im Pilecki-Institut Berlin dient. Als Journalist war er lange Zeit als Kriegsreporter tätig, wurde bald Büroleiter des Daily Telegraph in Bagdad und berichtete außerdem regelmäßig aus dem Nahen Osten als Videokorrespondent für die Washington Post. Seine Arbeiten wurden u. a. mit dem British Press Award ausgezeichnet. Derzeit arbeitet er an einem neuen Buch über Fritz Bauer. Jack Fairweather lebt und arbeitet sowohl in Großbritannien als auch in den USA.

JACK FAIRWEATHER

Der Freiwillige

Die wahre Geschichte des Widerstandskämpfers, der Auschwitz unterwanderteDie erste umfassende Biografie über Witold Pilecki

Aus dem Englischen von Sylvia Bieker und Henriette Zeltner-Shane

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Volunteer«im Verlag Custom House, einem Imprint von HarperCollins Publishing, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe Oktober 2022

Copyright der Originalausgabe © 2019 by Jack Fairweather

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Antje Steinhäuser, München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Trevillion Images/Mark Owen

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

JT ∙ Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-27325-5V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Vorbemerkung des Verlags:

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch weitgehend das generische Maskulinum verwendet.

Der Autor verwendet Bezeichnungen, Formulierungen und Begriffe, die heute als abwertend und geächtet gelten. Diese werden in der Übersetzung wiedergegeben, da es das Anliegen des Autors ist, durch Benennung und Wiedergabe die Umstände und die Zeit der geschilderten Begebenheiten deutlich zu machen.

Für Philip und Lynn Asquith zum Dank für ihre Unterstützung und für meine Großeltern Stella und Frank Ford

Viel tut, wer viel liebt. Viel tut, wer etwas recht tut. Und recht tut, wer vor seinen eigenen Interessen der Allgemeinheit dient.

Thomas von Kempen

INHALT

Einleitung

Anmerkung zum Text

Liste der Karten

TEIL I

Kapitel 1 Einmarsch

Kapitel 2 Besatzung

Kapitel 3 Ankunft

Kapitel 4 Überlebende

Kapitel 5 Widerstand

Kapitel 6 Bomberkommando

TEIL II

Kapitel 7 Radio

Kapitel 8 Experimente

Kapitel 9 Veränderungen

Kapitel 10 Paradies

Kapitel 11 Napoleon

TEIL III

Kapitel 12 Stichtag

Kapitel 13 Schreibarbeit

Kapitel 14 Fieber

Kapitel 15 Erklärung

Kapitel 16 Zusammenbruch

TEIL IV

Kapitel 17 Folgen

Kapitel 18 Flucht

Kapitel 19 Allein

Kapitel 20 Aufstand

Kapitel 21 Rückkehr

Epilog

Dank

Personenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Bibliografie (Auswahl)

Anmerkungen

Personenregister

Einleitung

Draußen kommen Lastwagen rumpelnd zum Stehen. Schreie und Schüsse sind zu hören. Der Hauswart hämmert gegen die Tür.

»Die Deutschen sind da«, schreit er. »Versteck dich im Keller oder verschwinde nach hinten durch den Garten.«1

Der Mann rührt sich nicht.

Es ist früh am Morgen des 19. September 1940 im von Nazis besetzten Warschau. Ein Jahr zuvor sind die Deutschen in Polen einmarschiert und haben Europa in den Zweiten Weltkrieg gestürzt. Hitler hat seine Pläne zur Vernichtung der Juden noch nicht formuliert. Vorläufig beabsichtigt er, Polen zu zerstören, indem er dessen Akademiker eliminiert. Das Land wird einer brutalen Terrorherrschaft unterworfen. Tausende Menschen – Ärzte, Lehrer, Schriftsteller, Rechtsanwälte, ob Juden oder Katholiken – werden auf offener Straße verschleppt. Man erschießt oder interniert sie. Im Juni haben die Deutschen ein neues Konzentrationslager errichtet, um einige der Gefangenen zu internieren. Es heißt Auschwitz. Man weiß nur wenig darüber, was dort passiert.

Der Mann in der Wohnung weiß bereits von der morgendlichen Verhaftungswelle und dass die Festgenommenen wahrscheinlich in das neue Lager kommen. Deshalb ist er hier. Sein Auftrag für das Wirken im Untergrund lautet, sich ins Lager einzuschleusen, Widerstandszellen zu bilden und Beweise über Nazi-Verbrechen zu sammeln.

Unten fliegt krachend die Tür auf. Stiefel trampeln über die Stufen. Der Mann zieht seinen Mantel an und bemerkt erst in dem Moment, dass der dreijährige Junge im Zimmer auf der anderen Seite des Flurs mit großen Augen in seinem Gitterbett steht. Sein Teddybär ist auf den Boden gefallen. Fäuste beginnen, gegen die Wohnungstür zu hämmern. Der Mann hebt rasch den Bären auf und gibt ihn dem Jungen, während die Mutter des Kleinen die Deutschen hereinlässt.

»Wir sehen uns bald wieder«, flüstert er dem Kind zu. Dann überwindet er den Fluchtinstinkt, den er zweifelsohne verspürt haben muss, und lässt sich festnehmen.2

Witold Pilecki ließ sich freiwillig verhaften und nach Auschwitz deportieren. Diese knappste Version einer Geschichte veranlasste mich zu einer fünfjährigen Suche, um Pileckis Weg nachzuverfolgen: vom Gutsherrn im ländlichen Polen zum Untergrundaktivisten im besetzten Warschau, vom Insassen eines Viehwaggons in Richtung KZ zum Spion im Epizentrum der schlimmsten Nazi-Gräuel. Inzwischen kenne ich Witolds Lebensgeschichte ziemlich gut. Und dennoch komme ich immer wieder auf diesen schlichten Satz und den Augenblick zurück, als er dasaß und darauf wartete, dass die Deutschen in seine Wohnung stürmten. Ich frage mich, was uns seine Geschichte über unsere eigene Zeit lehrt.

Zum ersten Mal hörte ich von meinem Freund Matt McAllester, mit dem ich gemeinsam aus Kriegen im Nahen Osten berichtet hatte, bei einem Abendessen auf Long Island im Herbst 2011 etwas über Witolds Geschichte. Matt und ich hatten Mühe, uns einen Reim darauf zu machen. In der für ihn typischen forschen Art war Matt nach Auschwitz gefahren, um sich den schlimmsten Gräueltaten der Geschichte zu stellen, und hatte dort von Witolds Widerstandsgruppe im Lager erfahren. Die Vorstellung von ein paar Menschen, die den Nazis die Stirn geboten hatten, tröstete uns an jenem Abend. Doch ich war auch schockiert davon, wie wenig über Witolds Mission bekannt war. Sein Auftrag lautete: den Westen vor den Verbrechen der Nazis zu warnen und eine Untergrundarmee zu formieren, um das Lager zu zerstören.

Einige Leerstellen des Bilds füllten sich ein Jahr später, als Witolds ausführlicher Bericht über das KZ ins Englische übersetzt wurde. Die Dringlichkeit des Berichts war an sich schon bemerkenswert. Ein polnischer Historiker namens Józef Garliński bekam in den 1960er-Jahren Zugang zu dem Dokument. Allerdings stellte er fest, dass Witold alle Namen darin kodiert hatte. Es gelang Garliński, viele davon zu erraten und durch Interviews mit Überlebenden zu enträtseln. So konnte er die erste Geschichte der Widerstandsbewegung innerhalb des Konzentrationslagers veröffentlichen. Im Jahr 1991 entdeckte Adam Cyra, ein Wissenschaftler am Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, Witolds unveröffentlichte Autobiografie, einen zweiten Bericht sowie andere fragmentarische Aufzeichnungen, die seit 1948 in polnischen Archiven unter Verschluss gehalten worden waren. Zu diesem Material gehörten auch Witolds Chiffren, um seine Mitverschwörer zu identifizieren.

Der Bericht, den ich 2012 las, zeigte Witold als genauen Chronisten seiner Erlebnisse in Auschwitz. Er beschrieb sie in schmuckloser und eindringlicher Prosa. Doch es handelte sich um einen fragmentarischen und gelegentlich verzerrten Bericht. Aus Furcht, seine Mitstreiter könnten verhaftet werden, ließ er kritische Episoden weg, verschwieg erschütternde Beobachtungen und schnitt die Schilderungen der Ereignisse auf seine militärische Leserschaft zu. Viele Fragen blieben offen, darunter die schwierigste und entscheidendste: Was wurde aus den geheimdienstlichen Erkenntnissen, für deren Beschaffung er in Auschwitz sein Leben riskierte? Hatte er den Briten und Amerikanern die Information über den Holocaust geliefert, lange bevor diese öffentlich die Rolle des Konzentrationslagers anerkannten? Und wenn ja, warum wurde sein Bericht unterdrückt? Wie viele Leben hätte man retten können, wären seine Warnungen beachtet worden?

Ich empfand die Story auch als persönliche Herausforderung. Als ich mit den Recherchen anfing, war ich genauso alt wie Witold zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, hatte ebenfalls eine junge Familie und ein Zuhause. Was brachte Witold dazu, alles für eine solche Mission zu riskieren, und warum berührte es mich derart, dass er sich freiwillig ausgeliefert hatte? Ich sah in ihm eine Rastlosigkeit, die mir nicht unbekannt war. Meine Kriegsberichterstattung hatte mir von jeher Probleme bereitet. Was konnte ich von Witold über mich selbst lernen?

Im Januar 2016 flog ich nach Warschau, um mit der Suche nach Antworten auf diese Fragen zu beginnen. Als Ersten wollte ich Witolds Sohn treffen. Andrzej. Vor der Begegnung war ich nervös. Denn was berechtigte mich, plötzlich in der Geschichte seines Vaters herumzustochern? Andrzej war fast noch ein Kind, als man Witold exekutierte. Fünfzig Jahre lang hatte man ihm erzählt, sein Vater sei ein Staatsfeind gewesen. Und obwohl er das nie geglaubt hatte, erfuhr er alle Einzelheiten der Mission seines Vaters erst in den 1990er-Jahren, nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft, als die Archive geöffnet wurden.

Natürlich war meine Sorge unbegründet. Andrzej war reizend und entgegenkommend, allerdings warnte er mich auch: »Ich bin mir nicht sicher, was du sonst noch finden wirst und wo du mit der Suche beginnen solltest.«

Da erklärte ich ihm: bei dir.

Weil über seinen Vater so wenig bekannt war, wusste ich, dass jede Einzelheit, die mir Andrzej mitteilen konnte, wichtig war. Über Witolds Gedanken wusste ich nur das, was er aufgeschrieben hatte – und was Menschen wie Andrzej mir über seine Denkweise sagen konnten. Ich war begeistert zu erfahren, wie viele Menschen, die Witold gekannt hatten, immer noch am Leben waren. Einige hatten ihre Erinnerungen noch nie zuvor mit anderen geteilt – entweder weil sie es unter der Herrschaft des Sozialismus nicht wagten, oder einfach, weil niemand sie danach gefragt hatte.

Ich wollte nicht nur Augenzeugenberichte sammeln, sondern auch Witolds Weg selbst nachvollziehen. Der Krieg hatte so viel zerstört, aber ein paar der damaligen Schauplätze existierten noch. Keiner war mir wichtiger als die Wohnung, in der man ihn verhaftet hatte. Die Orte mit eigenen Augen zu sehen, das würde mir helfen, Szenen zu schildern. Doch es war sogar noch besser, wenn ich diese Erfahrung gemeinsam mit Augenzeugen machen konnte. Wie sich herausstellte, lebte der Dreijährige von damals noch, sein Name war Marek. Er und seine Mutter, Witolds Schwägerin, hatten den Krieg überlebt und wurden anschließend von den Kommunisten aus ihrem Zuhause vertrieben. Zum ersten Mal nach siebzig Jahren brachte ich Marek dorthin zurück. Durch den Besuch kam bei ihm die Erinnerung an die Sache mit dem Teddy zurück. Für mich war das ein beredter Verweis auf Witolds Fähigkeit, selbst in einem Augenblick außergewöhnlicher Anspannung noch andere Menschen im Blick zu haben.

Natürlich würde ich, um dieses Buch schreiben zu können, Hunderte, wenn nicht Tausende solcher Details benötigen. Bei meinem Besuch des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau wurde mir klar, wo ich sie finden würde. Das Museum verfügt über mehr als 3500 Zeugenaussagen von Überlebenden des Lagers. Hunderte davon erwähnten Witolds Arbeit oder schilderten Ereignisse, die er miterlebt haben musste. Die meisten dieser Zeugnisse waren noch nie zuvor übersetzt oder veröffentlicht worden. Hier gab es das Material, das ich brauchte, um Witolds Reaktionen besser zu verstehen. Denn genau das wollte ich schließlich – mich in seine Denkweise hineinversetzen und versuchen, Antworten auf die Frage zu finden, was ihn in den Widerstand getrieben hatte.

Menschen, die sich mit dem Holocaust beschäftigen, erfassen rasch, dass es sich nicht nur um die Geschichte der Ermordung von Millionen unschuldiger Europäer handelt, sondern auch um das kollektive Versagen, diesen Horror wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Die Beamten der Alliierten hatten Mühe, die Wahrheit zu erkennen. Und als sie mit der Realität konfrontiert wurden, schreckten sie vor dem moralischen Sprung zurück, der nötig war, um zu handeln. Doch es war nicht nur ein politisches Versagen. Auch die Häftlinge in Auschwitz hatten Mühe, sich das Ausmaß des Holocaust vorzustellen, während die Deutschen das Lager von einem brutalen Gefängnis in eine Todesfabrik verwandelten. Viele erlagen dem menschlichen Impuls, die Massenmorde zu ignorieren, zu rationalisieren oder auszublenden, sie von ihrem eigenen Überlebenskampf zu trennen. Doch Witold tat das nicht. Er riskierte stattdessen sein Leben, um den Schrecken des Konzentrationslagers ans Licht zu bringen.

Im Verlauf meiner Recherchen versuchte ich zu verstehen, welche Eigenschaften Witold von anderen unterschieden. Doch als ich mehr von seinen Schriften aufdeckte und diejenigen traf, die ihn gekannt und, in wenigen Fällen, an seiner Seite gekämpft hatten, wurde mir klar: Das vielleicht Bemerkenswerteste an Witold Pilecki – diesem Gutsbesitzer und Vater von zwei Kindern, Ende dreißig und, soweit man weiß, nicht politisch engagiert oder fromm – ist, dass er sich zu Beginn des Krieges eigentlich nicht von Leuten wie dir und mir unterschied. Diese Erkenntnis rückte eine neue Frage in den Mittelpunkt. Was sollte diesen offenbar ganz normalen Mann dazu bringen, seine moralische Kapazität derart zu erweitern, dass er die schlimmsten Verbrechen der Nazis erkannte, benannte und darauf reagierte, während andere wegsahen?

Mit diesem Buch möchte ich der Geschichte von Auschwitz ein provokatives neues Kapitel hinzufügen und davon Zeugnis ablegen, warum jemand alles riskiert, um seinen Mitmenschen zu helfen.

Charlotte, im Jahr 2020

Anmerkung zum Text

Dieses Buch ist kein fiktionaler Text. Jedes Zitat, jedes Detail geht auf eine Primärquelle, Zeugenaussage, Autobiografie oder ein Interview zurück. Der Großteil der über 2000 Primärquellen, auf denen das Buch basiert, sind polnische oder deutsche Quellen. Alle Übersetzungen ins Englische stammen, wenn nicht anders angegeben, von meinen brillanten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Marta Goljan, Katarzyna Chiżyńska, Luiza Walczuk und Ingrid Pufahl. Die Übersetzerinnen ins Deutsche, Sylvia Bieker und Henriette Zeltner-Shane, haben, wo es sich nicht eindeutig um eine auffindbare deutschsprachige Quelle handelte, aus dem Englischen ins Deutsche rückübersetzt.

Es gibt zwei anerkannte Quellen zu Witolds Leben im Lager: den zwischen Oktober 1943 und Juni 1944 in Warschau verfassten Bericht und eine Autobiografie, die er im Sommer und Herbst 1945 in Italien verfasste. In Anbetracht der Umstände, unter denen sie geschrieben wurden – auf der Flucht und ohne Zugang zu seinen Notizen –, haben sich bemerkenswert wenige Fehler in seine Aufzeichnungen eingeschlichen. Aber Witold ist kein perfekter Erzähler. Wo immer es möglich war, habe ich versucht, seine Darstellungen zu untermauern, Irrtümer zu korrigieren und Lücken zu füllen. Die Sammlung von 3727 Berichten ehemaliger Häftlinge im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau war mir eine unersetzliche Quelle. Andere Archive, die wichtige Einzelheiten und Kontext lieferten, waren: das Archiwum Akt Nowych, das das Archiwum Narodowe w Krakowie, das Centralne Archiwum Wojskowe, das Instytut Pamięci Narodowej, das Ossolineum, die British Library, das Polish Institute und das Sikorski Museum, der Polish Underground Movement Study Trust, die Chronicle of Terror Archives am Witold Pilecki Institute, die Nationalarchive in Kew, die Wiener Library for the Study of the Holocaust & Genocide, das Imperial War Museum, die National Archives in Washington, D. C., das United States Holocaust Memorial Museum, die FDR Presidential Library, die Hoover Institution, die Archive von Yad Vashem, die Central Zionist Archives, die Deutschen Bundesarchive in Koblenz und Berlin, das Schweizerische Bundesarchiv, das Archivum Helveto-Polonicum und das Archiv des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.1

Im Zuge meiner Recherchen hatte ich auch Zugang zu den Unterlagen der Familie Pilecki. Darin stieß ich auf Briefe und Aufzeichnungen von Familien seiner engsten Mitstreiter, die Aufschluss über seine Entscheidungen gaben. Witolds Kinder, Andrzej und Zofia, verbrachten Stunden damit, mir von ihren Erinnerungen an ihren Vater zu erzählen. Unglaublicherweise waren einige, die an Witolds Seite gekämpft hatten, noch am Leben, als ich mit meinen Recherchen begann, und sie schilderten mir ihre Eindrücke.

Beim Schreiben orientierte ich mich an Witolds eigenem Grundsatz für die Schilderung des Konzentrationslagers: »Nichts soll ›übertrieben‹ werden; denn schon die kleinste Flunkerei würde die Erinnerung an die anständigen Menschen, die dort ihr Leben verloren haben, entweihen.« Nicht immer war es möglich, mehrere Quellen für manche Ereignisse zu finden, was in den Anmerkungen erwähnt wird. An anderen Stellen habe ich Einzelheiten aus dem Lager ergänzt, die Witold eindeutig miterlebt haben muss, auch wenn er sie in seinen Berichten nicht erwähnt. In den Anmerkungen zitiere ich Quellen in der Reihenfolge, in der sie im jeweiligen Abschnitt vorkommen. Wo ich aus Gesprächen zitiere, ist die Quelle jedes Sprechenden einmal angegeben. Bei sich widersprechenden Berichten habe ich, sofern nicht anders vermerkt, Witolds Schriften den Vorrang gegeben.2

Polnische Namen sind wunderschön, wenn auch für englischsprachige Leser manchmal eine Herausforderung. Für Witold und seinen inneren Zirkel verwende ich Vornamen oder Koseformen, so wie diese Menschen sich untereinander angesprochen haben. Um die Verwendung von Abkürzungen zu reduzieren, bezeichne ich beispielsweise die wichtigste Widerstandsgruppe in Warschau als den »Untergrund«. Bei Ortsnamen benutze ich die Bezeichnungen von vor dem Krieg. Oświęcim bezeichnet die Stadt, Auschwitz das Konzentrationslager.

Liste der Karten

Abb. 1 – Karte von Sukurcze

Abb. 2 – Polen, 1939

Abb. 3 – Warschau, 1939

Abb. 4 – Konzentrationslager Auschwitz, 1940

Abb. 5 – Weg des Berichts zur Bombardierungsaufforderung, 1940

Abb. 6 – Verbindungen innerhalb des Lagers, 1941

Abb. 7 – Erweiterungsplan für das Stammlager, 1941

Abb. 8 – Erweiterung Birkenau, 1941

Abb. 9 – Weg der Berichte über Vergasungen sowjetischer Kriegsgefangener

Abb. 10 – Verbindungen innerhalb des Lagers, 1942

Abb. 11 – Stefans und Wincentys Fluchtweg, 1942

Abb. 12 – Jasters Fluchtweg, 1942

Abb. 13 – Napoleons Route, 1942/43

Abb. 14 – Grundriss der Bäckerei

Abb. 15 – Witolds Flucht, 1943

Abb. 16 – Warschau, 5. August 1944

Soweit nicht anders angegeben, wurden alle Karten von John Gilkes entworfen und umgesetzt.

TEIL I

KAPITEL 1 EINMARSCH

Krupa, Ostpolen26. August 1939

Witold stand auf den Stufen des Herrenhauses und sah, wie das Auto eine Spur aus Staub aufwirbelte, als es die Lindenallee zum Hof herauffuhr und in einer weißen Wolke neben dem knorrigen Kastanienbaum zum Stehen kam. Der Sommer war so trocken gewesen, dass die Bauern schon davon gesprochen hatten, Wasser auf das Grab eines Ertrunkenen zu schütten oder eine Jungfrau vor den Pflug zu spannen, damit es regnen sollte. Solche Bräuche gab es damals in Kresy, im östlichen Grenzgebiet Polens. Ein heftiges Gewitter hatte schließlich das, was von der Ernte noch übrig gewesen war, flach zu Boden gedrückt und die Storchennester herabgefegt. Doch Witolds Sorgen kreisten in jenem August nicht um Getreide für den Winter.1

Knisternd lieferte das Radio Nachrichten von deutschen Truppen, die an der Grenze zusammengezogen wurden, und von Adolf Hitlers Drohung, das Gebiet zurückzuholen, das man nach Ende des Ersten Weltkriegs an Polen hatte abtreten müssen. Hitler glaubte, das deutsche Volk befände sich in einem brutalen Kampf um Ressourcen gegen andere, von den Nationalsozialisten sogenannte Rassen. Am 22. August hatte er Offizieren auf dem Obersalzberg erklärt, dass nur durch die »Vernichtung Polens … Beseitigung seiner lebendigen Kraft« die deutsche Rasse expandieren könne. Am nächsten Tag unterzeichnete Hitler einen geheimen Nichtangriffspakt mit Josef Stalin, welcher der Sowjetunion Osteuropa garantierte und den Deutschen den Großteil Polens. Wenn die Deutschen ihre Pläne erfolgreich umsetzten, würde Witolds Zuhause und sein Grundbesitz ihm genommen werden und Polen zu einem Vasallenstaat degradiert oder gänzlich vernichtet.2

Ein Soldat stieg aus dem staubigen Wagen und überbrachte Witold den Befehl, seine Männer zu sammeln. Polen hatte die Mobilisierung von einer halben Million Reservisten angeordnet. Witold, ein Unterleutnant der Kavalleriereserve und Angehöriger der örtlichen Oberschicht, hatte achtundvierzig Stunden Zeit, seine Einheit zu den Kasernen in der nahen Stadt Lida zu bringen, von wo der Truppentransport nach Westen erfolgte. Den Sommer über hatte er sein Bestes gegeben, um neunundneunzig Freiwillige auszubilden. Doch die meisten seiner Männer waren Bauern, die noch nie ein Gefecht erlebt oder im Zorn eine Waffe abgefeuert hatten. Einige besaßen kein eigenes Pferd und hatten vor, die Deutschen vom Fahrrad aus anzugreifen. Immerhin war Witold in der Lage gewesen, sie mit Acht-Millimeter-Kammerverschluss-Karabinern der Marke Lebel auszurüsten.3

Witold zog eilig seine Uniform und Reitstiefel an. Dann holte er seine Handfeuerwaffe der Marke Vis aus einem Eimer in der alten Räucherkammer. Dort hatte er sie versteckt, nachdem er im selben Sommer seinen siebenjährigen Sohn Andrzej dabei erwischt hatte, wie er damit vor seiner kleinen Schwester herumfuchtelte. Seine Frau Maria war mit den Kindern zu Besuch bei ihrer Mutter in der Nähe von Warschau. Er musste sie nach Hause kommen lassen. Hier im Osten wären sie sicherer, weil weiter weg von Hitlers Angriffslinie.4

Karte von Sukurcze aus den Erinnerungen von Witolds Schwester

Mit freundlicher Genehmigung des PMO – (Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau w Oświęcimiu – dt.: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau in Oświęcim)

Witold hörte, wie der Stallbursche sein Lieblingspferd Bajka auf dem Hof bereit machte, und nahm sich einen Moment, um seine khakifarbene Uniform zurechtzurücken. Dazu blickte er in einen der Spiegel, die auf dem Flur neben den verblassten Drucken von glorreichen, aber verlorenen Aufständen hingen, bei denen seine Vorfahren mitgekämpft hatten. Er war achtunddreißig Jahre alt, von mittlerer Statur und durchaus gutaussehend: mit blassblauen Augen, dunkelblondem Haar, das er aus der hohen Stirn zurückgekämmt trug, und einem Mund, der immer ein wenig zu lächeln schien. Wegen seiner zurückhaltenden Art und weil er gut zuhören konnte, hielt man ihn fälschlicherweise manchmal für einen Priester oder einen wohlmeinenden Beamten. Er konnte warmherzig und überschwänglich sein, doch häufiger vermittelte er den Eindruck, er würde etwas für sich behalten. Einen Knoten in seinem Inneren, den er nicht löste – ob aus Förmlichkeit oder aufgrund anhaltender Spannung – den Wunsch, sich noch zu beweisen – es war schwer zu sagen. Er stellte hohe Anforderungen an sich selbst und konnte auch anderen viel abverlangen, doch er übertrieb es nie. Er vertraute Menschen, und sein stilles Zutrauen brachte andere dazu, im Gegenzug ihm zu vertrauen.5

Witold Pilecki und ein Freund in Sukurcze, ca. 1930

Mit freundlicher Genehmigung der Familie Pilecki.

Als junger Mann hatte er Künstler werden wollen und an der Universität von Wilno Malerei studiert. Doch in den chaotischen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hatte er das Studium aufgegeben. 1918 erklärte Polen nach dem Zusammenbruch Russlands, des Deutschen Kaiserreichs und Österreich-Ungarns seine Unabhängigkeit, wurde jedoch beinahe sofort von der Sowjetunion besetzt. Witold lieferte sich zusammen mit seiner Partisanentruppe Scharmützel mit den Bolschewiken und kämpfte später in den Straßen von Wilno. Diese Erfahrung machte ihm Angst. Er verlor einen Freund, der in einem Fluss ertrank. Doch im Eifer des Gefechts gerieten diese Gefahren leicht in Vergessenheit. In den aufregenden Tagen nach dem Sieg war Witold nicht nach Malen zumute, doch er konnte sich auch für nichts anderes entscheiden. Eine Zeitlang arbeitete er als Bürokraft in einem militärischen Versorgungslager und für einen Bauernbund. Dann stürzte er sich in eine leidenschaftliche, aber unerwiderte Liebesgeschichte. 1924 erkrankte sein Vater, und Witold schien beinahe erleichtert, dass das Schicksal für ihn entschied: Er würde das heruntergekommene Familiengut Sukurcze übernehmen. Ein baufälliges Gutshaus mit verwilderten Obstgärten und 550 Morgen wogender Weizenfelder.6

Plötzlich fand Witold sich in der Rolle des Oberhaupts der örtlichen Gemeinschaft wieder. Bauern aus dem Dorf Krupa arbeiteten auf seinen Feldern und suchten seinen Rat bei der Bestellung ihres eigenen Lands. Er gründete eine Molkereigenossenschaft7, mit der bessere Preise zu erzielen waren, und gründete, nachdem er einen beträchtlichen Teil seines ererbten Vermögens für eine preisgekrönte Araberstute ausgegeben hatte, die örtliche Reservisteneinheit.

Witold und Maria Pilecki kurz nach ihrer Hochzeit, ca. 1931

Mit freundlicher Genehmigung der Familie Pilecki.

1927 lernte er seine spätere Frau Maria kennen, als er die Kulissen für ein Theaterstück im neuen Schulhaus von Krupa malte. Anschließend warb er mit Fliedersträußen um sie, die er ihr am Fenster ihres Schlafzimmers überreichte. Die beiden heirateten 1931 und innerhalb eines Jahres kam ihr Sohn Andrzej zur Welt, weitere zwölf Monate später Tochter Zofia. Die Vaterschaft brachte Witolds fürsorgliche Seite zum Vorschein. So versorgte er die Kinder, als Maria nach Zofias Geburt das Bett hüten musste. Später brachte er ihnen das Reiten und im Teich neben dem Haus auch das Schwimmen bei. Abends führten sie oft kleine Stücke auf, wenn Maria von der Arbeit nach Hause kam.

Witold, Maria, Andrzej und Zofia, ca. 1935

Mit freundlicher Genehmigung der Familie Pilecki.

Doch sein ruhiges Familienleben war nicht abgeschnitten von den politischen Strömungen, die das Land in den 1930er-Jahren erfassten und Witold Sorgen bereitete. Im Großteil seiner tausendjährigen Geschichte war Polen eine der pluralistischsten und tolerantesten Gesellschaften Europas gewesen. Doch das Land, das 1918 nach 123-jähriger Teilung wiederauferstanden war, hatte um eine Identität gerungen. Der Nationalismus war, wie andernorts in Europa, auf dem Vormarsch. Manche Politiker und Kleriker forderten eine zunehmend enge Definition von Polentum, basierend auf ethnischer Zugehörigkeit und Katholizismus. Die Regierung zerschlug und unterdrückte Gruppierungen, die sich für die Rechte ukrainischer und weißrussischer Minderheiten einsetzten. Die Juden, die vor dem Krieg etwa ein Zehntel der Bevölkerung Polens ausmachten, wurden in der Presse als wirtschaftliche Konkurrenz bezeichnet und im Bildungswesen wie im Geschäftsleben diskriminiert. Zugleich rief man sie dazu auf, das Land zu verlassen. Manche Nationalisten nahmen die Sache gleich selbst in die Hand, setzten Boykotte jüdischer Geschäfte durch und griffen Synagogen an. In Witolds Heimatstadt Lida hatten Schlägertrupps eine jüdische Konditorei und die Kanzlei eines Rechtsanwalts verwüstet. Am Hauptplatz befanden sich lauter geschlossene Geschäfte, die Juden gehört hatten, welche aus dem Land geflohen waren.8

Witold lehnte diese Politik ab und die Art, wie Politiker Differenzen ausschlachteten. Seine Familie stand für die alte Ordnung, als Polen noch unabhängig und ein kulturelles Vorbild gewesen war. Er war ein Mann seiner Zeit und seiner Gesellschaftsschicht. Wahrscheinlich stand er den einheimischen polnischen und weißrussischen Bauern paternalistisch gegenüber und teilte einige der verbreiteten antisemitischen Ansichten. Doch letztlich umfasste sein Patriotismus jede Gruppe und Ethnie, die für die polnische Sache einstand. Sie würden alle zusammenhalten müssen, um die Bedrohung durch die Nazis abzuwehren.9

*

Nachdem er sein Pferd bestiegen hatte, ritt Witold atemlos ins gut anderthalb Kilometer entfernte Krupa, wo er wahrscheinlich Maria von einem der weniger Häuser, die über ein Telefon verfügten, anrief. Als Nächstes ritt er zum Übungsgelände neben dem Gutshaus, um seine Männer zu sammeln und Ausrüstung zusammentragen zu lassen. Munition und Notrationen erhielt Witold vom Regimentshauptquartier in Lida, doch alles andere musste aus dem Dorf kommen: Brot, Grütze, Würste, Speck, Kartoffeln, Zwiebeln, Kaffee in Dosen, Mehl, getrocknete Kräuter, Essig und Salz. Die Pferde benötigten etwa 30 Kilo Hafer pro Woche. Nicht jeder im Dorf trug bereitwillig etwas bei, weil man kaum genug für den eigenen Bedarf besaß. Es war ein langer, heißer Tag, an dem im Hof des Gutshauses die Wagen beladen wurden.10

Witold hatte das Gutshaus als Unterkunft für die Offiziere zur Verfügung gestellt und war nicht da, als Maria und die Kinder am folgenden Abend endlich, verschwitzt und erschöpft, nach Hause zurückkehrten und schlafende Soldaten in ihren Betten vorfanden. Maria war, gelinde gesagt, verärgert. Die Reise war lang gewesen und der Zug dermaßen überfüllt, dass man Kleinkinder durch die Fenster hereingereicht hatte. Ständig hatten sie anhalten müssen, um Militärtransporten Vorrang zu gewähren. Sie ließ Witold rufen, und er musste die Männer anweisen, das Haus wieder zu verlassen.11

Wie immer vor dem Zubettgehen beteten Witold und Maria gemeinsam, aber sie war immer noch aufgebracht, als sie am Morgen erfuhr, dass ein paar Bauern Vorräte aus einem der gepackten Wagen gestohlen hatten. Trotzdem zog sie für die Verabschiedung in Krupa eines von Witolds Lieblingskleidern an und sorgte dafür, dass auch Andrzej und Zofia ihren Sonntagsstaat trugen. Die Dorfkinder versammelten sich vor der Schule, und die einzige Straße von Krupa war voller Menschen, die zum Lebewohl Taschentücher oder Fähnchen schwenkten. Jubel brandete auf, als Witold seine Abteilung von Reitern die Straße herunter anführte. Er trug eine khakifarbene Uniform und eine Pistole und hatte einen Säbel umgeschnallt.12

Witold ritt an seiner Familie vorbei, ohne sie anzusehen. Doch sobald der Trupp die Straße passiert hatte und die Menge sich zu zerstreuen begann, kam er mit gerötetem Gesicht zurückgaloppiert und blieb bei ihnen stehen. Er ließ Maria nur mit seiner Schwester und der alten Józefa, der kettenrauchenden Haushälterin, zurück. Dabei waren die Deutschen noch vom letzten Krieg berüchtigt dafür, Gräuel an der Zivilbevölkerung zu verüben. Er umarmte und küsste die Kinder. Maria, die ihr widerspenstiges braunes Haar hochgesteckt und Lippenstift aufgetragen hatte, bemühte sich, nicht zu weinen.13

»In zwei Wochen bin ich zurück«, versicherte er ihnen. Die Aussage war gewagt, denn schließlich ritt er davon, um sich der mächtigsten Militärmaschinerie Europas zu stellen. Er könnte von Glück sagen, wenn er die nächsten paar Tage überlebte. Hitler befehligte eine Armee von 3,7 Millionen Männern, fast doppelt so viele Soldaten wie Polen. Dazu zweitausend Panzer mehr und knapp zehnmal so viele Kampfflugzeuge und Bomber. Noch dazu verstärkten keine natürlichen Gegebenheiten die gemeinsame Grenze zwischen den beiden Ländern, die von den Bergen der Tatra im Süden bis zur Ostseeküste im Norden reichte. Bestenfalls konnte Polen darauf hoffen, so lange durchzuhalten, bis seine Verbündeten, Großbritannien und Frankreich, von Westen her angriffen und den Deutschen einen Zwei-Fronten-Krieg aufzwangen.14

Witold auf seinem Pferd Bajka bei einer Parade in den 1930er-Jahren

Mit freundlicher Genehmigung der Familie Pilecki.

Als Nächstes besuchte Witold noch das Grab seiner Eltern nahe dem Gutshaus. Sein Vater war schon Jahre zuvor gestorben, die Mutter erst vor wenigen Monaten. Witold band das Pferd an einem Baum fest, nahm den Säbel ab und salutierte. Dann brach er auf und stellte sich die Frage, ob er diese Lindenallee wohl noch einmal wiedersehen würde. Ob ein Teil von ihm insgeheim von der Rückkehr in die Schlacht begeistert war? Von ihrem Sog aus Notwendigkeit und Leidenschaft?15

Witold holte seine Männer ein, als diese die Kasernen in Lida erreichten. Zusammen mit anderen Einheiten formierten sie sich auf dem Exerzierplatz, wo ein Priester durch die Reihen ging und alle mit Weihwasser besprengte. Witold sah hinter der Menschenmenge, die sich zu ihrem Abschied versammelt hatte, auf den Gleisen daneben schon den Zug, der sie transportieren sollte. Die meisten seiner Männer waren begeistert von der Vorstellung, zu Pferd in den Krieg zu ziehen. Witold selbst war gerührt. Der Regimentskommandant hielt eine erhebende Ansprache, und das Regimentsorchester spielte. Doch nachdem Witolds Einheit ihre Pferde und Vorräte verladen und auf dem Stroh in den Güterwaggons für sich selbst Platz gefunden hatte, war die Musik längst verstummt, und die Einheimischen waren nach Hause gegangen.16

Endlich ratterte ihr Zug in die Dunkelheit. Auf der 386 Kilometer langen Reise nach Warschau mussten sie unzählige Male anhalten. So kamen sie dort erst am 30. August kurz vor Mitternacht an. Aus seinem Waggon konnte Witold flüchtige Blicke auf die Stadt werfen: In Erwartung deutscher Luftangriffe hatten Cafés und Bars ihre Scheiben verdunkelt; die Straßen waren voller Menschen mit Gasmasken über der Schulter. Sie mochten zu nervös zum Schlafen sein, oder es war ihnen zu heiß. Viele winkten den vorbeifahrenden Truppen zu.17

Die Hauptstadt mit ihrer Million Einwohner gehörte zu den am schnellsten wachsenden Städten Europas. Die barocken Paläste und die pastellfarbene Altstadt mit Blick über die Weichsel standen für Warschaus Vergangenheit, die Kräne, Baugerüste und unfertigen Straßen, die im Grünen endeten, kündeten von einer noch halb imaginären Zukunft. Die Stadt galt nach New York als reichstes Zentrum jüdischen Lebens. Es gab eine umtriebige Musik- und Theaterszene, die durch aus Nazi-Deutschland geflohene Künstler noch deutlich angewachsen war. Jiddische und hebräische Zeitungen erschienen. Es existierte eine Vielzahl politischer und religiöser Bewegungen, von säkularen Zionisten, die von einem Staat Israel träumten, bis hin zu Chassiden, die von Wundern in Polen sprachen.18

Am Warschauer Hauptbahnhof wimmelte es von Soldaten, die sich in Züge drängten oder auf dem Boden an ihre Rucksäcke gelehnt zu schlafen versuchten. Die schiere Logistik der Verlegung von Hunderttausenden polnischen Soldaten an Sammelpunkte entlang der deutschen Grenze überforderte das Eisenbahnsystem. Witold und seine Männer erreichten drei Tage nach ihrem Aufbruch in Lida und weiteren knapp fünfzig Kilometern weiter westlich die Haltestelle Sochaczew. Von hier mussten sie nochmals 112 Kilometer zurücklegen, um ihre Stellungen in der Nähe der Kleinstadt Piotrków Trybunalski zu erreichen, wo sie die Hauptstraße nach Warschau schützen sollten. Der lange Zug mehrerer Tausend Männer wurde ständig durch defekte Wagen aufgehalten. Witolds Einheit konnte zu Pferd durchs Gelände abkürzen, doch der Rest der Truppe musste den ganzen Tag und bis in die Nacht hinein marschieren, ohne sein Ziel schon zu erreichen. »Neidisch schauen wir auf die Kavallerie – die wie bei einer Parade galoppiert, gerade im Sattel sitzend und mit forschen Mienen«, bemerkte einer der Soldaten, der marschieren musste.19

Am nächsten Morgen, es war der 1. September, sah Witold erste Wellen deutscher Bomber der Marken Heinkel, Dornier und Junker am Horizont auftauchen. Ihre Rümpfe schimmerten in der Sonne. Die meisten Maschinen blieben hoch in der Luft, da sie Warschau ansteuerten. Nur eine flog niedrig über die Straße und zog Beschuss auf sich. Ein glücklicher Treffer ließ sie mit dumpfem Dröhnen auf eine nahe Wiese krachen, was die Stimmung kurz hob. Doch am Abend marschierten die Männer immer noch, genau wie am darauffolgenden Tag. Die Männer sahen bald ebenso derangiert aus wie die Flüchtlinge, die ihnen entgegenkamen. Schließlich schlugen sie am Abend des 4. September – über eine Woche nach der Mobilmachung – in den Wäldern nahe Piotrków Trybunalski ihr Lager auf. Es gab wenig zuverlässige Meldungen von der Front, dafür reichlich Gerüchte über das schnelle Vorrücken der Deutschen. Der Boden vibrierte von fernem Artilleriedonner.20

Witolds befehlshabender Offizier, Major Mieczysław Gawryłkiewicz, erschien am nächsten Morgen in seinem offenen Fiat-Geländewagen und befahl den Truppen, eine Stellung im Süden der Stadt einzunehmen. Gawryłkiewicz ordnete an, sie sollten auf den Straßen marschieren, nicht im Wald. Witold war klar, dass sie sich damit zu Zielscheiben machten, doch er befolgte den Befehl. Kaum waren sie aufgebrochen, brummte schon ein deutscher Flieger über ihnen. Einige Minuten später kehrte er mit einem halben Dutzend Bomber zurück, um die Kolonne zu attackieren. Witolds Einheit floh von der Straße und zerrte ihre Pferde in den Graben, als die Bomben fielen. Die Flugzeuge kehrten nochmals zurück, um sie mit Maschinenpistolen unter Beschuss zu nehmen, dann verschwanden sie. Zwar war niemand verletzt worden, doch sie hatten einen Vorgeschmack auf das erhalten, was kommen sollte.21

*

Als er an jenem Abend mit seinen Männern vorbeizog, wurde Witold Zeuge des Infernos, welches das Zentrum von Piotrków Trybunalski zerstörte. Er ließ das Lager ein paar Kilometer entfernt an einer kleinen Erhebung in Richtung der Front im Westen aufschlagen. Dann brach er mit acht seiner Soldaten als Spähtrupp auf. Aus dem Schutz des Waldes erblickte er erstmals die Deutschen: Eine bewaffnete Späheinheit war in einem Dorf jenseits eines schmalen Flusses stationiert. Witold ritt zurück, stellte eine Wache auf und beobachtete, wie die Flammen der brennenden Stadt den Himmel leuchten ließen. Die Schlacht würde am nächsten Tag beginnen. Weil sie wussten, dass es ihre letzte Nacht sein konnte, sprachen seine Männer von ihren Familien und Freunden zu Hause. Dann legte sich einer nach dem anderen schlafen.22

Witold konnte nicht wissen, dass seine Einheit genau dort positioniert worden war, wo die Erste und die Vierte Panzerdivision der Deutschen den Hauptvorstoß auf Warschau plante. Die Panzer hatten die polnischen Linien schon an der Grenze bei Kłobuck durchbrochen und waren an den ersten Tagen der Kämpfe knapp hundert Kilometer weit vorgedrungen. Die Polen hatten der neuartigen Blitzkrieg-Taktik der Deutschen – massive Konzentrierung von Panzern mit Stuka-Bombern als enge Unterstützung aus der Luft – nichts entgegenzusetzen. Über sechshundert Panzer rollten auf die Männer aus Lida zu. Schneller, als deren Pferde sie vorantragen konnten.23

Im Morgengrauen erhielt Witold Befehl, sich in den Wald nahe Proszenie zurückzuziehen, ein kleiner Weiler knapp zehn Kilometer nordöstlich von Piotrków Trybunalski, wo die Division ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte und sich der Tross zur Versorgung befand. Kurze Zeit später begann der deutsche Angriff. Artillerie feuerte in den Wald, zerfetzte Bäume und durchbohrte Menschen und Pferde mit Ästen wie Speere. Weiter östlich war das Bombardement noch schlimmer. Hier war ein einziges Regiment zurückgelassen worden, um den Zugang zur Stadt zu sichern. Die Soldaten gingen in Deckung, so gut es ging, doch dann verbreitete sich die Meldung vom Durchbrechen der Panzer, und das Hauptquartier begann eilig den Rückzug über die Hauptstraße Richtung Warschau. Witold bildete mit dem Versorgungstross die Nachhut. Schon nach ein paar Kilometern kam der Zug bei dem Versuch, eine schmale Brücke in der Kleinstadt Wolbórz zu überqueren, zum Erliegen. Immerhin hörte mit Einbruch der Dunkelheit die Bombardierung auf.24

Kurz nach 20 Uhr hörten sie plötzlich das Rasseln von Panzerketten, und noch bevor sie reagieren konnten, rasten die Panzer mit solcher Wucht in sie hinein, dass die hintersten Reiter von ihren Tieren gestoßen und die übrigen im Kugelhagel niedergemäht wurden. Witolds Pferd Bajka brach, von Kugeln durchsiebt, unter ihm zusammen. Er konnte sich befreien und in den Graben rollen. Dort lag er neben dem noch zuckenden Tier, während die 7,92-Millimeter-Geschütze der Panzer Körper zerfetzten und die Gehöfte neben der Straße unter Beschuss nahmen.25

Sein Instinkt riet ihm, regungslos liegen zu bleiben, aber es war eine Qual, die Schreie und das Stöhnen seiner Männer zu hören, die massakriert wurden. Schließlich schwiegen die Waffen, und Witold schlich von dem Blutbad fort. Auf den dunklen Feldern hinter der Stadt stieß er auf ein Dutzend überlebender Soldaten und Pferde. Der Angriff hatte nur wenige Minuten gedauert, aber er hatte die meisten seiner Männer verloren – tot, verletzt oder gefangen genommen. Mit den anderen Überlebenden machte er sich auf den Weg nach Warschau, denn er wusste, wenn sie die Hauptstadt nicht halten könnten, wäre alles verloren.26

Zuerst schienen sie sich hinter der Front zu befinden. Gemäß Hitlers Befehl, die Polen zu vernichten, bombardierte und beschoss das deutsche Militär flüchtende Zivilisten. So lagen entlang der Straße Leichen neben Wagen, die die Menschen mit Möbeln und anderem Gepäck hoch beladen hatten. Als sie sich am kommenden Tag Warschau näherten, füllten die Straßen sich wieder mit Lebenden. Da wurde Witold klar, dass er die Deutschen überholt haben musste. Scharenweise Männer, die Bündel auf dem Rücken trugen oder Tiere vor sich hertrieben. Frauen zogen Kinder an der Hand mit sich. Und alle blickten immer wieder nervös in den Himmel.27

*

Witold ritt auf einem neuen Pferd am Abend des 6. September in die Stadt Warschau. Er hatte nicht Radio gehört und keine andere Möglichkeit gehabt, etwas über das Ausmaß der Katastrophe zu erfahren, die sich andernorts ereignet hatte. An zahlreichen Stellen hatten die Deutschen die polnischen Linien durchbrochen, und sie drangen rasch vor, um Warschau einzukesseln. Jeden Augenblick wurde mit Aufklärungseinheiten gerechnet. Briten und Franzosen hatten den Deutschen zwar den Krieg erklärt, aber es gab kein Anzeichen für aktives Eingreifen. Die polnische Regierung war bereits geflohen, und die britische Delegation in der Hauptstadt traf Vorbereitungen, das Gleiche zu tun.28

»In der Botschaft lagen leere Weinkisten des Botschafters im Flur, sein Butler war in Tränen aufgelöst, und auf der Treppe lagen verstreut alle möglichen persönlichen Dinge, darunter ein makelloses Paar Polo-Stiefel«, erinnerte sich Peter Wilkinson, einer der Angehörigen der Delegation. Er sorgte dafür, dass der Bestand des ausgezeichneten Weinkellers auf einen Fünftonner verladen wurde, bevor man aufbrach.29

Die einzigen Abwehrmaßnahmen, die Witold sah, als er ins Stadtzentrum ritt, waren ein paar umgestürzte Straßenbahnwaggons, die als Barrikaden dienen sollten. Einwohner rannten an ihm vorbei und sahen aus, als hätten sie ihre ganze Garderobe übereinander angezogen oder als würden sie mitten im Sommer in grellbunten Hosen und Schals zum Skifahren aufbrechen. Soldaten, direkt von der Front, kauerten auf dem Pflaster. Der erschöpfte, desinteressierte Ausdruck, den sie vermittelten, genügte, um zu wissen, was passiert war. Sogar die Luftschutzsirenen waren verstummt. Als er anhielt, um einen Mann mit Jagdmütze und Zigarre nach dem Weg zu fragen, erhielt er auf Deutsch Antwort, garniert mit einem Grinsen. Offenbar gehörte der Mann zur ziemlich großen deutschen Volksgruppe, die von der Nazi-Führung aufgefordert worden war, sich gegen ihre polnischen Nachbarn zu stellen. Wutentbrannt schlug Witold ihm mit der flachen Klinge seines Säbels ins Gesicht und ritt davon.30

Endlich fand Witold das militärische Hauptquartier von Warschau nahe dem königlichen Schloss. Dort erfuhr er von dem Plan, die Stadt zu verteidigen und Zivilisten zum Bau von Barrikaden sowie zur Vorbereitung einer Belagerung zu verpflichten. Witold bekam Hafer und Heu für sein Pferd, aber keine klaren Instruktionen, welcher Einheit er sich anschließen sollte. Daher beschloss er, dass es besser wäre, wenn sie sich wieder zurückziehen und welchen polnischen Kräften auch immer anschließen würden, die sich im Osten zum Gegenangriff neu formierten.

Als am 9. September die Deutschen Warschau fast komplett eingeschlossen hatten, erreichten Witold und seine Leute die Stadt Łuków, knapp hundert Kilometer südöstlich von Warschau. Dort, so hatte man ihm gesagt, würde er das polnische Oberkommando antreffen. Bei ihrer Ankunft war die Kleinstadt bereits bombardiert worden und bestand nur noch aus rauchenden Ruinen. Neben einem Krater lag eine tote Bäuerin, deren Röcke hochgeweht wurden, sodass ihre blassen Schenkel darunter sichtbar wurden. Neben ihr ein zerfetztes Pferd.31

In Łuków erfuhr Witold, dass die Kommandanten sich in die benachbarte Stadt zurückgezogen hatten, doch als er dort eintraf, war es wieder genauso. Auf diese Weise ging es von Ort zu Ort, alles war zerbombt und verlassen. Die Strategie der Deutschen bestand darin, Städte und Infrastruktur weit vor ihren Bodentruppen zu zerstören, weil man die Polen daran hindern wollte, sich neu aufzustellen. Sogar der Bahnhof in Witolds ferner Heimatstadt Lida wurde angegriffen. Die Straßen waren verstopft mit Zivilisten und Soldaten, die auf ihrem Weg nach Osten von Sturzkampfbombern verfolgt und gehetzt wurden. »Wir sind jetzt keine Armee mehr, keine Abteilung, keine Batterie«, erinnerte sich ein Soldat, »sondern Individuen, die kollektiv auf irgendein völlig undefiniertes Ziel zu marschieren«.32

Die Wahrheit war unvermeidlich. Witold wusste, dass Polen seine Unabhängigkeit wieder einmal verloren hatte. Die Frage, die sich ihm – und jeder Polin und jedem Polen – stellte, lautete, ob man aufgeben oder weiterkämpfen sollte, auch wenn man wusste, dass es vergeblich sein würde. Die erste Option konnte Witold niemals akzeptieren. Am 13. September erwischten deutsche Bomber ihn und seine Leute erneut, und zwar in der Stadt Włodawa, etwa 240 Kilometer östlich von Warschau. Doch immerhin stieß Witold hier auf einen Offizier, den er noch aus dem polnisch-sowjetischen Krieg kannte. Major Jan Włodarkiewicz bereitete den Widerstand vor. Der kleine, kräftig gebaute Major, der sich wie ein Boxer bewegte, hatte den Befehl zum Sammeln an der ungarischen Grenze erhalten. Wie Witold hatte er versprengte Soldaten um sich geschart, und gemeinsam bildeten sie eine Kompanie. Dann stießen sie auf dem Weg Richtung Grenze auf Major Gawryłkiewicz, der sogar noch chauffiert wurde, sowie andere Männer aus dem Führungsstab in jeweils eigenen Fahrzeugen. Die Offiziere wirkten erstaunlich gelassen und erklärten, sie planten, sich außerhalb des Landes zu sammeln und den Kampf von dort fortzusetzen. In Witolds Augen kam das einer Desertion gleich. Doch als er protestierte, zuckten die anderen nur mit den Achseln und fuhren davon.33

Folglich mussten Witold und Jan sich selbst einen Plan überlegen. Es ergab keinen Sinn, sich weiter Richtung Grenze zu bewegen, was mit Sicherheit früher oder später die Aufmerksamkeit der Deutschen erregt hätte. Also zogen sie sich in die Wälder zurück, von wo aus sie überfallartige Angriffe ausführen und vielleicht genügend Gleichgesinnte finden könnten, um eine größere Operation zu planen. In den darauffolgenden Tagen griffen sie mehrere deutsche Konvois an und sogar einen kleinen Feldflugplatz, wo sie ein Flugzeug in die Luft jagten. Doch Witold wusste, dass solche Attacken nicht viel bewirkten. Überall schossen deutsche Kontrollposten aus dem Boden, was sie zwang, im Dickicht oder in den Sümpfen zu bleiben und Nahrung in den Wäldern zu suchen oder auf einsam gelegenen Gehöften zu beschaffen. Dauerregen verschlimmerte die Lage noch zusätzlich. Sie waren triefnass und bewegten sich durch knöcheltiefen Schlamm.34

Ende September erfuhren sie, dass sowjetische Streitkräfte von Osten her nach Polen eingedrungen waren. Stalin behauptete, das diene dem Schutz der Minderheiten in Polen, aber seine Absicht war den meisten Polen klar: Der sowjetische Diktator hatte beschlossen, sich seinen Teil der Beute zu schnappen. Jegliche Hoffnung, die Witold noch darauf gesetzt hatte, genügend Männer für eine größere Aktion zu sammeln, löste sich schlagartig in Luft auf. Nun musste er sich mit anderen Problemen beschäftigen: Da seine Familie bekanntermaßen gegen die Russen gekämpft hatte, waren Maria und die Kinder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Gefahr.35

Am 28. September kapitulierte Warschau. Nachdem Witold von dort aufgebrochen war, hatte die Stadt noch zwei Wochen durchgehalten. Sehr zum Ärger von Hitler, der seinen Generälen befohlen hatte, den Himmel über Warschau mit Bomben zu verdunkeln und die Bevölkerung in Blut zu ertränken. Die daraufhin erfolgte Bombardierung aus der Luft und durch schwere Artillerie tötete 40000 Menschen und zerstörte oder beschädigte ein Fünftel aller Gebäude schwer. Schulen, Krankenhäuser und Kirchen wurden unterschiedslos bombardiert. Die Altstadt lag in Trümmern, und vom neuen Opernhaus, dem größten Europas, standen nur noch ein paar Säulen. Zehntausend obdachlos gewordene Menschen hausten in Ruinen.36

Witold hörte nur Gerüchte über die Zerstörung der Stadt. Während er sich mit Jan schmutzig und unrasiert irgendwo im Wald bei Lubartów versteckte, wurde ihm klar, dass der Kampf zur Zurückeroberung des Landes nicht dort, sondern im Machtzentrum Warschau beginnen würde. Sie befahlen ihren Männern, die Waffen zu vergraben, und tauschten ihre Uniformen gegen Zivilkleidung von Einheimischen. Witold kam auf diese Weise zu einer alten Schaffelljacke.37

Während die beiden sich zurück nach Westen aufmachten, traten die Männer jeweils einzeln oder zu zweit den Heimweg an. Bevor sie Warschau erreichten, beschloss Witold, einen Umweg über Ostrów Mazowiecka zu nehmen. In der Stadt, etwa hundert Kilometer nördlich der Hauptstadt, lebte Marias Mutter Francziska. Er hoffte, Maria und die Kinder dort anzutreffen. Jan und er gaben sich die Hand und verabredeten, sich in ein paar Wochen in der Wohnung seiner Mutter in Warschau wiederzutreffen. »Wir werden zu Ende bringen, was wir begonnen haben«, versprach Jan.38

*

Witold schlug sich mehrere Tage querfeldein durchs Gelände, um den Fluss Bug in der Nähe von Ostrów Mazowiecka zu erreichen. Das schnell fließende Gewässer war zur neuen Grenze zwischen den deutschen und sowjetischen Streitkräften geworden. Russische Soldaten patrouillierten auf Witolds Seite. Er versteckte sich bis zum Einbruch der Dunkelheit und überredete dann einen einheimischen Fischer, ihn mit seinem Ruderboot zwischen zwei Patrouillen hinüberzubringen. Das Boot schaukelte auf den Wellen und in Strudeln, doch sie schafften es ans gegenüberliegende Ufer. Dort hatten die Deutschen Stacheldraht gezogen. Witold überwand auch den und setzte eilig seinen Weg nach Ostrów Mazowiecka fort, das nur wenige Kilometer entfernt lag.39

In der Stadt war es unheimlich still. Die Hälfte der 17000 Einwohner waren Juden, und die meisten davon hatten sich in die sowjetisch besetzte Zone geflüchtet. Ihre Geschäfte und Wohnungen waren geplündert und in manchen Fällen von polnischen Familien besetzt worden. Francziska wohnte in einem Bauernhaus am Stadtrand. Als Witold dort eintraf, sah er deutsche Fahrzeuge auf dem Hof der Brauerei gegenüber. Diese war zum Hauptquartier der Gestapo umfunktioniert worden. Sicherheitshalber betrat er das Haus von der Rückseite. Francziska war da – am Leben und unversehrt –, doch sie hatte keine Nachricht von Maria. Witold legte sich auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen, während Francziska sich einen Schnaps einschenkte.40

Das Haus der Familie Ostrowski

In den folgenden Tagen erfuhr Witold von den brutalen neuen Rassengesetzen, die die Nazis über die Stadt verhängt hatten. Die Deutschen hatten mehrere Hundert Bewohner zusammengetrieben, in der Schulturnhalle eingesperrt und dann nach Polen und Juden sortiert. Die meisten Katholiken wurden rasch wieder freigelassen, die Juden dagegen zur Zwangsarbeit eingeteilt. Die Deutschen stifteten die Polen an, die Juden zu misshandeln und zu schlagen und ihre Geschäfte zur Plünderung anzugeben. Als jüdische Familien aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben wurden, wurden sie von einigen katholische Nachbarn verhöhnt. Die meisten Bewohner weigerten sich jedoch, dem deutschen Vorbild zu folgen. Der Bürgermeister der Stadt versteckte eine jüdische Familie in seinem Keller. Marias Eltern taten das Einzige, wozu sie sich imstande sahen – sie erlaubten den aus der Stadt fliehenden Juden, sich Äpfel aus ihrem Garten zu nehmen.41

Witolds Berichte sagen nicht viel über seine Zeit in Ostrów Mazowiecka. Wahrscheinlich war er bestürzt über den Antisemitismus der Einheimischen, der den Deutschen in die Hände spielte. Jeden Morgen betete er beim Aufwachen darum, dass Maria mit den Kindern durch die Tür treten würde, und jeden Abend befürchtete er, wenn er zu Bett ging, das Schlimmste.42

Schließlich vermutete er wohl, dass Maria in Krupa geblieben war und sich vielleicht bei Freunden versteckte. Er musste sich entscheiden, ob er weiter auf seine Familie warten oder den Kampf gegen die Deutschen wieder aufnehmen wollte. Die Chance, sie und die Kinder zu finden, falls sie aufgebrochen waren, war angesichts der großen Zahl von Flüchtlingen, die über die Grenze strömten, gefährlich gering. Doch wie auch immer stand sein Entschluss fest: zuerst das Land, dann die Familie. So lieh er sich am Morgen des 1. November ein Fahrrad und machte sich auf den langen Weg nach Warschau, um Jan zu treffen. Es war Allerheiligen, der Tag, an dem die Friedhöfe voller Kerzen waren und die Lebenden für die Toten beteten. Doch dazu hatte Witold keine Zeit: Er wollte nach Warschau, um zu kämpfen.43

KAPITEL 2 BESATZUNG

Warschau1. November 1939

Witold näherte sich der Stadt auf seinem klapprigen Fahrrad, ohne zu wissen, was ihn erwartete oder wie sein Widerstand aussehen mochte. Die Hauptstraße nach Warschau war mit deutschen Kontrollpunkten versehen, sodass Witold nur über Dorfstraßen fuhr und dabei die eine oder andere Neuigkeit aufschnappte. Kein Wort war von britischen oder französischen Angriffen zu hören, doch er vermutete, dass sie bevorstanden. Die beste Chance zur Vertreibung der Deutschen war die Inszenierung eines Aufstands, zeitgleich mit einer alliierten Offensive. Witold wusste, dass es andere geben musste, die genau fühlten wie er, und dass er anfangen musste, ein Netz zu knüpfen.1

Witold mischte sich unter die Menge, die die Weichsel überquerte. Der Anblick von Warschaus zerstörter Silhouette am anderen Ufer muss ihn getroffen haben. Das Stadtzentrum hatte den Großteil der deutschen Bomben abbekommen. Eingestürzte Gebäude blockierten Straßen und die Menschen mussten sich auf Trampelpfaden durch den Schutt bewegen. Hunderte blieben an der Kreuzung von Marszałkowska-Straße und der Aleje Jerozolimskiestehen, um Kerzen vor einem riesigen Berg aus Ziegeln und Mauerwerk zu entzünden, der das größte Massengrab der Stadt markierte. Das Glas zerborstener Scheiben knirschte unter den Füßen. Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels, der die Stadt um diese Zeit herum besuchte, stellte fest, dies sei die Hölle, eine in Ruinen verwandelte Stadt. Bomben und Granaten hätten ganze Arbeit geleistet. Und sogar an den wenigen Stellen, wo Warschau, unbeschadet geblieben war, hatte eine Veränderung stattgefunden. »Auf den ersten Blick sah alles aus wie zuvor, doch irgendwie war es anders, geprägt von der seltsamen Atmosphäre einer Stadt in Trauer«, erinnerte sich ein Augenzeuge.2

Witold gelangte zur Wohnung einer Freundin im Süden der Stadt. Sein Schock und seine Bestürzung über die Zerstörung wurden von der zweckdienlichen Notwendigkeit gedämpft, Hitlers entsetzliche Pläne für das Land zu verstehen. Im September hatte dieser den Anschluss Westpolens an das Deutsche Reich befohlen und mehr als fünf Millionen katholische und jüdische Polen vertreiben lassen, um Platz für deutsche Siedler zu schaffen. Das übrige Gebiet, das Warschau und Krakau einschloss, sollte eine deutsche Kolonie werden. Hitler hatte seinen ehemaligen Rechtsanwalt Hans Frank zum »Generalgouverneur für die besetzten polnischen Gebiete« ernannt und deren rücksichtslose Ausbeutung sowie die Einführung einer brutalen Rassenhierarchie befohlen.3

Die Deutschen waren in diesem Schema die damals sogenannte Herrenrasse, zusammen mit denjenigen Polen, die deutsche Vorfahren nachweisen konnten. Sie erhielten Posten in der Verwaltung, Eigentum, das man Juden weggenommen hatte, und durften als Einzige die Parks, die öffentlichen Fernsprecher und Taxis benutzen. Öffentliche Verkehrsmittel und Kinos waren nach Rassen getrennt, und an Geschäften hingen Schilder, die Polen oder Juden den Zutritt verboten.4

Menschen mit polnischer Volkszugehörigkeit wurden als Angehörige der minderwertigen slawischen Rasse betrachtet und sollten als ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter dienen. Hitler hielt sie für Arier mit germanischem Blut, das durch die Vermischung mit anderen Rassen verdünnt worden war. In jenem Herbst wurden Zehntausende Polen zur Zwangsarbeit im Deutschen Reich verpflichtet. »Einsatzgruppen« genannte Killerkommandos kamen dem Widerstand zuvor, indem sie ungefähr 50000 Akademikerinnen und Akademiker – Juristen, Lehrer, Ärzte, Journalisten und einfach jeden, der irgendwie intellektuell aussah – erschossen und in Massengräbern verscharrten. Zeitungen wurden zensiert, Radiosender verboten, weiterführende Schulen und Universitäten geschlossen, weil die Polen ja nur »Bildungsmöglichkeiten, die ihnen ihr rassisches Schicksal demonstrierten«, brauchen würden.5

Ganz unten, am Ende der Skala, rangierten die Juden, die Hitler nicht einmal als Rasse betrachtete, sondern als parasitäre menschliche Unterart, die es darauf abgesehen habe, das deutsche Volk zu zerstören. Noch zu Beginn des Jahres 1939 hatte Hitler den europäischen Juden mit ihrer Vernichtung gedroht, für den Fall, dass »internationale jüdische Finanziers« einen erneuten Weltkrieg provozieren würden. Doch in jenem Herbst arbeitete die Nazi-Führung noch an ihren Plänen. Die Besetzung Polens hatte zwei Millionen Juden – zehnmal so viele, wie damals im Deutschen Reich lebten – in die Gewalt der Nazis gebracht. Der Obergruppenführer der SS, Reinhard Heydrich, empfahl bereits im September, dass man das »Judenproblem« stufenweise angehen müsse. So erteilte er Befehle, Juden in Städten für ihre Deportation in ein Reservat an der neuen Grenze zur Sowjetunion zusammenzutreiben. Inzwischen zwang man die Juden, einen Davidstern am Ärmel oder auf der Brust zu tragen, und markierte ihre Geschäfte und Betriebe gleichermaßen. Sie waren ständigen Schikanen ausgesetzt. Es sei ein Vergnügen, der jüdischen Rasse endlich zu Leibe rücken zu können, erklärte Frank in einer Rede im November. »Mit den Juden nicht viel Federlesens machen! Je mehr sterben, umso besser.«6

Polnische Frauen auf dem Weg zu ihrer Erschießung, 1939

Mit freundlicher Genehmigung des Narodowe Archiwum Cyfrowe

Witold hat ziemlich sicher Franks offizielle Verordnungen bemerkt, die überall an den Laternenpfählen der Stadt hingen. Er muss begriffen haben, dass die Deutschen vorhatten, Polen zu zerstören, indem sie das soziale Gefüge zerstörten und ethnische Gruppen gegeneinander ausspielten. Aber er sah auch ermutigende Zeichen des Widerstands: angeklebte Zettel, auf denen stand »Ihr könnt uns mal« (wörtlich übersetzt bedeutet die polnische Redewendung »Wir haben euch tief in unserem Arsch«) und ein riesiges Hitlerplakat im Stadtzentrum, auf das man kringelige Barthaare und lange Ohren gemalt hatte.

Am 9. November kontaktierte Witold seinen Mitverschwörer Jan Włodarkiewicz und organisierte ein Treffen mit potenziellen Rekruten in der Wohnung seiner Schwägerin in der nördlichen Vorstadt Żoliborz. Witold eilte durch die verregneten Straßen und versuchte, rechtzeitig vor der Ausgangssperre um 19 Uhr an Ort und Stelle zu sein.7

Seine Schwägerin Eleonora Ostrowska bewohnte eine Zweizimmerwohnung im dritten Stock. Żoliborz war von den Bomben relativ unversehrt, auch wenn die Fensterscheiben der meisten Wohnungen geborsten waren und es keinen Strom mehr gab. Eleonora empfing ihn an der Tür mit ihrem zweijährigen Sohn Marek. Witold hatte sie zuvor nur kurz getroffen. Sie war eine charmante, toughe Dreißigjährige mit hochgestecktem dunkelblondem Haar, schmalen Lippen und hellblauen Augen. Ihr Mann Edward, Marias Bruder, war Kavallerieoffizier und seit Kriegsbeginn vermisst. Jetzt musste sie sich allein um Marek kümmern und ihrer Arbeit im Landwirtschaftsministerium nachgehen, eine der wenigen Regierungsabteilungen, welche die Nazis nicht abgeschafft hatten.8

Jan traf als Nächster ein und kam schnaufend die Treppe herauf. Auf seinem Weg nach Warschau hatte er eine Kugel in die Brust abbekommen, die allerdings seine lebenswichtigen Organe verfehlt hatte. Seither hatte er bei seiner Mutter zu Hause gelegen. Ihm folgte ein halbes Dutzend weiterer Verschwörer. Die meisten waren von Jan ausgesuchte Offiziere und studentische Aktivisten. Eleonora hatte die Fenster zwar mit Packpapier zugeklebt, aber es war trotzdem kalt, und alle behielten ihre Mäntel und Jacken an. So saßen sie um den Wohnzimmertisch, auf den Eleonora eine brennende Kerze stellte.9

Eingang zur Wojska Polskie Avenue 40

Mit freundlicher Genehmigung des PMO.

Jan hatte einige schonungslose Schlüsse hinsichtlich ihrer Lage gezogen: Polen hätte verloren, weil es seinen Anführern nicht gelungen wäre, eine wahrhaft katholische Nation zu gründen oder die Quelle des Glaubens im Land gegen die Besatzer zu nutzen. Jan war der Ansicht, sie müssten Polens Niederlage als Chance sehen, ein Land auf christlichen Überzeugungen neu aufzubauen und den religiösen Eifer der jüngeren Generation zu wecken. Er hegte Absichten, an rechtsgerichtete Gruppen zu appellieren, aber für den Moment war er für breiten, gemeinsamen Widerstand gegen die doppelte Besatzung des Landes.10

Eleonora Ostrowska, 1944

Mit freundlicher Genehmigung von Marek Ostrowski.

Witold teilte mit Sicherheit Jans Zorn auf die polnische Regierung, der in Warschau weit verbreitet war, doch ihm war nur selten daran gelegen, seinen Glauben mit anderen zu teilen. Außerdem fürchtete er, eine erklärtermaßen religiöse Mission würde potenzielle Verbündete anderen Glaubens abschrecken. Im Augenblick konzentrierte er sich wahrscheinlich eher darauf einzuschätzen, ob es möglich war, einen geheimen und effektiven Widerstand zu entwickeln.11

Bis spät in die Nacht diskutierten sie über eine gemeinsame Strategie, bevor es um ihre individuellen Aufgaben ging. Jan würde die Sache anführen, Witold als wichtigster Anwerber fungieren. Sie wollten sich Tajna Armia Polska, Polnische Geheimarmee, nennen. Im Morgengrauen schlichen sie aus der Wohnung zur Feldkathedrale der polnischen Armee, einer Barockkirche am Rand der Altstadt. Sie kannten dort einen Priester und baten ihn, ihren Eid zu bezeugen. So knieten sie schließlich am schwach erleuchteten Altar, um Gott, der polnischen Nation und einander die Treue zu schwören. Sie empfingen den Segen des Priesters, bevor sie mit müden Augen, aber ermutigt auseinandergingen.12

*

Der Winter kam früh in diesem Jahr, während Witold begann, Mitstreiter zu rekrutieren. Es gab Schneegestöber, und die Weichsel fror komplett zu, während in der ganzen Stadt Hunderte Widerstandszellen entstanden. Es gab weitere ebenfalls von Offizieren angeführte Gruppen, aber auch kommunistische Agitatoren, Gewerkschafter, Künstlerkollektive und sogar eine Gruppe Chemiker, die einen biologischen Kampfeinsatz planten. Die Deutschen hatten beliebte Treffpunkte wie das Hotel Bristol und das Adria in Beschlag genommen, doch rasch fand man neue Orte, die als Treffpunkte des Untergrunds bekannt wurden. Im U Elny Gistedt – dem Restaurant, das nach einer schwedischen Opernsängerin benannt war, die es einst gegründet hatte, um ihre arbeitslosen Künstlerfreunde anzustellen – saßen Verschwörer gruppenweise in Pelzmänteln über die Tische gebeugt. Die meisten kannten einander und tauschten neueste Nachrichten aus der ganzen Stadt aus oder Nachrichtenfetzen aus illegal gehörten Radiomeldungen über die für den Frühling erwartete Gegenoffensive der Alliierten.13

Zur selben Zeit florierte ein Schwarzmarkt in der Nähe des Hauptbahnhofs. Dort wurde mit Kleidung und Lebensmitteln, Dollars, Diamanten und gefälschten Papieren gehandelt. Bauern vom Land schmuggelten Waren in den Säumen oder in versteckten Taschen ihrer Kleider und Büstenhalter in die Stadt.14

»Nie zuvor habe ich so riesige Oberweiten gesehen wie damals in Polen«, erinnerte sich der Untergrundkämpfer Stefan Korboński. Ein findiger Schmuggler transportierte geschlachtete Schweine in Särgen in die Stadt. Die Deutschen, eifrig damit beschäftigt, ihre Verwaltung aufzubauen, kontrollierten nur oberflächlich. Und selbst wenn etwas gefunden wurde, ließen sie einen vielleicht mit einer Bestechung oder, in seltenen Fällen, mit einem Witz davonkommen. So wie einen Schmuggler, der versuchte, ein Pferd als Bäuerin zu verkleiden. »Als die Gendarmen dahinterkamen, starben sie, obwohl ihnen sonst jeglicher Humor fehlte, beinahe vor Lachen«, schrieb Korboński.15

Witold mied Treffen in der Öffentlichkeit und suchte Rekruten, die ähnlich zurückhaltend und verschwiegen waren wie er. Dabei hielt er sich an eine fundamentale Regel der Widerstandsarbeit. Nationalität, Sprache und Kultur waren wichtige Gemeinsamkeiten in jeder Gruppe, doch letztlich basierte sein Netzwerk auf einer einfacheren Eigenschaft: Vertrauen. Die Rekrutierung bedeutete, dass er sein Leben in die Hand der von ihm Angeworbenen gab und umgekehrt. Manchmal schienen diejenigen, die Witold aussuchte, von seinem Zutrauen überrascht.16

»Warum vertrauen Sie mir?«, fragte ihn ein junger Mann.17

»Mein lieber Junge, du musst den Menschen vertrauen«, antwortete Witold.18

Nicht immer war seine Einschätzung eines Temperaments richtig. Und so sorgte er sich ständig, dass ein übereifriges Mitglied seiner Gruppe sie alle auffliegen lassen würde. Im Winter gab die Tajna Armia Polska ein Handbuch heraus, in dem Ratschläge für neue Rekruten standen. Diese wurden gewarnt, dass »Leute mit Widerstandsaktivitäten ganz verrückt geworden sind und viel zu leicht gefasst werden … Wenn wir unsere Rache an den Deutschen nehmen wollen, dann müssen wir dafür lange genug überleben«.19