Der Geiger und der Regenwald - Michael Schnitzler - E-Book

Der Geiger und der Regenwald E-Book

Michael Schnitzler

0,0

Beschreibung

Ein Leben für Musik und Natur "Sind Sie verwandt mit Arthur Schnitzler?" Diese Frage hat Michael Schnitzler oft gehört, obwohl er seinen berühmten Großvater nie gekannt hat. Als Sohn von Heinrich Schnitzler und Lilly Strakosch wächst er in den USA auf und studiert Violine in Wien. Seine unvergleichliche Musikkarriere führt ihn mit verschiedenen Orchestern und Ensembles auf internationale Konzertbühnen rund um die Welt. Doch sein persönliches Paradies entdeckt der begeisterte Reisende 1989 im Regenwald von Costa Rica, wo er die sanften Klänge der Violine gegen die Rufe von Brüllaffen und Papageien tauscht. Der von ihm initiierte "Regenwald der Österreicher" ist heute sein zweites Zuhause, wo er sich leidenschaftlich für den Erhalt der Natur und der Artenvielfalt einsetzt. Mit einem Vorwort von Petra Hartlieb und zahlreichen Privatfotos in Farbe Die außergewöhnliche Lebensgeschichte des Enkels von Arthur Schnitzler

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 309

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MICHAEL SCHNITZLER

DER GEIGER UND DER REGENWALD

ERINNERUNGEN

Mitarbeit und Vorwortvon Petra Hartlieb

Mit 80 Abbildungen

Gefördert von der Stadt Wien Kultur

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

© 2021 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Johanna Uhrmann

Umschlagabbildungen: Archiv Michael Schnitzler

Lektorat: Helene Breisach

Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

Gesetzt aus der 10,5/14,05 pt Sabon und der Transat

ISBN 978-3-99050-204-4

eISBN 978-3-903217-77-5

Inhalt

Vorwort von Petra Hartlieb

Prolog

Haydns Kaiserquartett zum Abschied

Amerika

Pfadfinder, Baseball und der Enkel von Buffalo Bill

Cook Little Pot

Land of Demel

Für eine Triostunde 100 Kilometer hin und zurück

Blaskapelle statt Turnunterricht

»Ton, wo ist er?«

Herr von Karajan und Doktor Böhm

»Haben Sie Ihren Großvater gekannt?«

Zwölf Streicher – »ein bewegtes Getreidefeld«

Ein kleptomanischer Pianist

Die Vision eines »armen Krüppels«

»Mann nix arbeiten, immer nur spielen?«

»Das ist eine große, große Problem«

Dienste, Überstunden und ein frustrierter Cellist

Von Dirigenten und anderen schrägen Vögeln

Kegeln und Grappa mit Claudio

Stradivaris im Rolls-Royce

Das Solistenleben ist hart und einsam

Die Wiederauferstehung des Haydn-Trios

Mit Mr. Cello in der Business-Class

Die Escuela de Música Papageno

Vogerltanz und Radetzkymarsch

»Wenn du den Russen nimmst, nehme ich die Koreanerin.«

Granny, Oma und »die Lady«

»Wiener Maestro geigt Kripo ein Dankeslied«

Der Globetrottel

Das Paradies auf Erden

Golfito – der Wilde Süden von Costa Rica

Ein Regenwald um drei Cent pro Quadratmeter

Forschung mit Plumpsklo, Kakerlaken und Skorpionen

Die Aras über meiner Terrasse

Ein Hotel mitten im Dschungel

Wiener Schnitzel am Campingkocher

Michael Schnitzler – Geldwäscher und Drogenhändler

Musiker, Umweltschützer und jetzt auch noch Hotelier

»Herr Professor, zwei Campari-Orange aufs Zimmer!«

Epilog

Dank

Weblinks

Bildnachweis

Namenregister

Vorwort

von Petra Hartlieb

»Michael?«

»Hm?«

»Ich habe eine dumme Frage.«

»Was denn?«

»Wie ist das eigentlich mit den Dirigenten?«

»Wie meinst du das?«

»Na, schaut ihr Musiker da eigentlich hin?«

»Das ist keine dumme Frage. Das ist sogar eine sehr berechtigte Frage.«

Wenn eine Laienkonzertgeherin wie ich, ohne jegliche musikalische Vorbildung, einem ehemaligen Konzertmeister der Wiener Symphoniker eine solche Frage stellt, dann geht das nur in einem sehr entspannten, privaten Setting, so etwas ist schließlich ein wenig peinlich.

In dem Fall war der Schauplatz dieses Gesprächs die Bucht vor Golfito in Costa Rica, wir lagen in kurzen Hosen und T-Shirts in Hängematten und tranken sieben Jahre alten Rum, aufgepeppt mit Grapefruits, die wir kurz davor im Garten geerntet hatten.

Und dann begann Michael Schnitzler zu reden, erzählte über verrückte Dirigenten und geniale Musiker, über gestohlene Geigen und Klaviere, die mitten im Konzert auseinanderbrachen, über einbeinige Schiffskapitäne und Drogenschmuggler. Die Sonne war längst untergegangen, der Regenwald still geworden, und in der Rumflasche befand sich nur noch ein kleiner Rest.

Als ich vor sechs Jahren mit meiner historischen Romanreihe, in der Arthur Schnitzler eine gewisse Rolle spielt, begonnen habe, wusste ich natürlich, dass der große Schriftsteller einen Enkel hat und dass dieser in Wien, ganz in der Nähe der alten Schnitzler-Villa, wohnt. Schließlich hatte ich gründlich recherchiert.

Einige Male bin ich bei meinen Spaziergängen im Wiener Cottage-Viertel um das Haus gestrichen, als ich an einem düsteren Winternachmittag einmal Licht brennen sah, hatte ich fast schon den Finger am Klingelknopf. Gedrückt hab ich ihn nicht.

Und dann stand eines Tages die Frau dieses Enkels in meiner Buchhandlung, kaufte Bilderbücher, lächelte mich an und erzählte mir, dass sie sich auf den nächsten Band meiner Romanreihe freue. Kurz darauf folgte eine Einladung zum Kaffeetrinken.

Suse Schnitzler ist es auch zu verdanken, dass ich beim Smalltalk auf dem Sofa im großen Wohnzimmer vor lauter Ehrfurcht nicht völlig verstummte, und als Michael Schnitzler damals sagte: »Ich hab Ihr Buch gelesen«, fiel mir die Kaffeetasse fast aus der Hand. Doch dann lachte er und meinte: »Meine Großmutter haben Sie gut getroffen, die hab ich genauso in Erinnerung.« Keine Feuilleton-Besprechung der Welt hätte mich glücklicher machen können.

Natürlich hatte ich vorher alles nachgelesen und war gut informiert: Michael Schnitzler, geboren im Exil, aufgewachsen in Kalifornien, mit fünfzehn Rückkehr nach Wien, wo sein Vater – also der kleine Heini in meinen Büchern – ein wichtiger Theaterregisseur wurde. Michael strebte eine Musikerkarriere an und spielte viele Jahre als Konzertmeister bei den Wiener Symphonikern. Er gründete das Haydn-Trio Wien, mit dem er Jahrzehnte auf den Bühnen der Welt aufgetreten war. Laut Wikipedia hat er unfassbare 3000 Konzerte gespielt.

Da saß ich nun, großer Schnitzler-Fan und begeisterte Konzertgeherin, im Wohnzimmer von Michael Schnitzler, doch nach zehn Minuten redeten wir weder über den berühmten Großvater noch über Bach, Mozart oder Schubert. Denn Michael Schnitzlers Leidenschaft liegt ganz woanders. Costa Rica und der Regenwald, Artenvielfalt und Naturschutz, das sind die Themen, die seine Augen zum Strahlen bringen. Und gut vorbereitet, wie ich war, wusste ich natürlich auch darüber Bescheid: Regenwald der Österreicher, Tropenstation La Gamba, Grundstücksankäufe und Wiederbewaldung. Das alles war irgendwann in den 90er-Jahren, während ich als alleinerziehende, feministische Studentin beim Lichtermeer gegen Rechts gekämpft hatte und Grüne für mich die Ökos mit selbstgestrickten Pullis und gesunden Schuhen waren. Ja, Hainburg und so, eh auch wichtig, aber damals fand ich Bäume-Retten nicht so dringlich wie den Kampf gegen Rechts.

Bald darauf folgte ein zweiter Besuch, ich entspannte mich zunehmend, und irgendwann, es dauerte nicht lange, da fiel der Satz: »Komm uns doch in Costa Rica besuchen.«

Was genau mich bewegt hatte, »Ja« zu sagen, weiß ich nicht, was meinen Mann, der Europa noch nie ernsthaft verlassen hat und für den ein Wienerwald-Ausflug bereits Abenteuer bedeutet, dazu veranlasst hat, mich zu begleiten, weiß ich noch viel weniger. Wir buchten einen Flug und es gab kein Zurück mehr.

Die ersten Tage unserer Reise besuchten wir die Esquinas Rainforest Lodge, fernab der Küste mitten im Regenwald, deren Eigentümer Michael Schnitzler ist.

»Das ist einfacher zum Ankommen und Angewöhnen«, meinte Suse Schnitzler, »ein bisschen Zivilisation mitten im Dschungel, mit bequemen Betten, drei Mahlzeiten am Tag und einer gut ausgestatteten Bar.« Für die zwölf Kilometer lange Schotterstraße brauchten wir über eine halbe Stunde, obwohl die Piste in einem guten Zustand war, wie uns die Gastgeber versicherten.

Michael Schnitzler in kurzen Hosen, Poloshirt mit dem Emblem der Esquinas Rainforest Lodge und einer Kappe der nationalen Biermarke Imperial wird von den Angestellten der Lodge »Don Maikol« genannt, und es schien, als würden sich alle freuen, ihn zu sehen.

Im Speisesaal, der ein überdachter, nach allen Seiten offener Platz ist, wurde ein Tisch für uns gedeckt, aufs Essen konnte ich mich leider nicht konzentrieren, denn ständig musste ich aufspringen und die Tiere anschauen, die direkt davor immer wieder auftauchten, wie in einem großem Zoo. Agutis, Waschbären, auf einer Palme ein Tukan.

Wir besichtigten die Tropenstation der Uni Wien, unternahmen eine Regenwaldführung im Morgengrauen, und an den Kaiman, der im Teich vor unseren Schlafräumen lebte, gewöhnten wir uns rasch.

Michael Schnitzler wurde einmal in einem Artikel als »Robin Wood« bezeichnet, und wenn man mit ihm durch den Regenwald geht, weiß man auch, warum. Mit leuchtenden Augen erzählt er von wandernden Palmen, wie Bäume und Ameisen miteinander in Symbiose leben und welch einzigartiges Ökosystem ein sich selbst überlassener Regenwald sei. Er weiß genau, wie viel CO2 ein Hektar Regenwald bindet und wie lange es dauert, um die brachen Stellen aufzuforsten.

Nach drei Tagen Eingewöhnung in der »Zivilisation« ziehen wir in die private Strandhütte um und teilen uns ab sofort mit dem Ehepaar Schnitzler einen Schlafraum und einen Wohnraum. Unter uns das Meer, hinter uns der Regenwald, Michael und ich saßen uns am großen Küchentisch gegenüber, jeder seinen Laptop vor sich, und hauten in die Tasten. Ich schrieb am letzten Teil meiner historischen Reihe und ließ Michaels Großvater im Jahr 1931 sterben. Und er?

»Ich hab begonnen aufzuschreiben, was ich alles so erlebt habe …«, verriet er mir. »Magst du es vielleicht lesen??«

Ja, mag ich. Natürlich mag ich.

Das war der Beginn einer Freundschaft und einer intensiven Zusammenarbeit.

Das Ergebnis ist die Geschichte, die nun vor Ihnen liegt und auf die Sie sich freuen können!

Wien, Juli 2021

Petra Hartlieb

Prolog

Der Bus hält am Bühneneingang der Orchard Hall in Tokio, ich steige aus und folge meinen Musikerkollegen. In einer Hand halte ich meine Notenmappe und ein frisches Hemd, in der anderen den Kasten mit meiner Bergonzi-Geige. Wieder einmal mal frage ich mich, ob es noch irgendeinen anderen Beruf gibt, zu dessen Ausübung man eine 250 Jahre alte Antiquität benötigt? Der Raum hinter der Bühne ist groß und schlecht beleuchtet. In einem der portablen Kleiderschränke mit der Aufschrift »Wiener Johann Strauss Orchester« finde ich meinen Fracksack und suche mein Zimmer. »Concertmaster« steht auf einem Schild, gleich neben dem Raum mit der Bezeichnung »Conductor«. Das Konzertmeisterzimmer hat das Privileg einer Toilette und einer Dusche, Seife und Handtuch suche ich vergeblich. Aus einer roten Lackschachtel nehme ich einen Beutel mit Tee und brühe ihn in der blau-weißen Keramikschale auf. Die in Zellophan verpackten Wattebrotsandwiches werde ich wohl nicht anrühren. Hinter der Bühne hört man das übliche dissonante Gemisch von Klängen: Ein Flötist wiederholt immer dieselben Takte eines Strauss-Walzers, ein Hornist hält lange Töne aus, und ein Geiger spielt viel zu schnell eine Paganini-Caprice. Und dann stehen wir alle auf der riesigen Bühne der ausverkauften Orchard Hall – die Herren im Frack mit weißem Hemd, weißer Masche und schwarzer Bauchbinde, die Damen in langen schwarzen Kleidern. Zweitausend Besucher applaudieren verhalten, doch ich weiß: Spätestens beim Radetzkymarsch verlieren die Japaner ihre Zurückhaltung und klatschen rhythmisch mit. Wie immer rauscht das Adrenalin durch meinen Körper. Als alle Kollegen Platz genommen haben, stehe ich auf und bitte den Oboisten, den Stimmton »A« anzugeben. Im Saal wird es totenstill, man spürt die Spannung. Dann tritt der Dirigent auf, und wir beginnen das Konzert mit der mitreißenden Fledermaus- Ouvertüre.

Im Marmorsaal des Unteren Belvedere in Wien gratuliert mir der Umweltminister und spricht belanglose Worte. Soeben ist die Laudatio des Direktors des Naturhistorischen Museums zu Ende gegangen. Unter den Festgästen befinden sich Biologen und Ökologen, aber kein einziger Musiker. Ich stehe auf der Bühne, aber diesmal halte ich statt einer Geige eine Urkunde in den Händen: »In Anerkennung um den Schutz der Umwelt, insbesondere zum Thema Einsatz für das Unwiederbringliche in der Natur«. Mein ganzes Leben habe ich Musik gemacht, nun bekomme ausgerechnet ich einen Staatspreis für Umwelt, den Konrad-Lorenz-Preis. Ich denke an den Nobelpreisträger mit weißem Bart und weißer Mähne, der nicht nur den Graugänsen, sondern auch dem NS-Regime nahestand, und beende meine Dankesrede mit dem Satz: »Der Regenwald der Österreicher ist zwar nur ein winziger Fleck auf dieser Erde, aber es gibt unzählige genauso wertvolle Flecken, die durch Aktionen wie unsere noch gerettet werden könnten. Wer nur kopfschüttelnd zusieht und über die fortschreitende Zerstörung der Natur durch die Menschen philosophiert, bewirkt jedenfalls nichts.« Mit dem Preisgeld können wir wieder 100 Hektar costa-ricanischen Regenwald vor der Zerstörung retten.

Fernando erklärt mir wortreich, dass wir dringend eine neue Waschmaschine brauchen. Wir sitzen in der offenen Lobby der Esquinas Rainforest Lodge, und ich versuche mit dem Lodge-manager alle offenen Fragen zu klären, bevor ich morgen wieder nach Europa abreise. Probleme gibt es genug: Ein Baum droht auf das Dach eines unserer Häuser zu stürzen, die Blattschneiderameisen haben sich für einen Weg mitten durch das Restaurant entschieden, und einer unserer Gärtner hat plötzlich gekündigt. Auf einer Palme sitzt ein Tukan und ruft pausenlos »Dios-te-de, te-de … Dios-te-de, te-de …«. Das Zirpen der Zikaden wird bald vom Quaken der Frösche abgelöst werden. Es ist warm und schwül, in der Ferne donnert es. Die neuen Gäste, die gerade eingecheckt haben und zum Mittagessen Platz nehmen, sind sofort als britische Birdwatcher zu identifizieren: halblange Khakihosen, praktische Hemden in gedeckten Farben, kleine Bauchumhängetaschen und diese lächerlichen Hüte. Wie immer, wenn sich eine neue Gruppe zum Essen setzt, gehe ich kurz zu den Tischen, stelle mich vor und sage ein paar launige Willkommensworte. Diesmal bitte ich um Vorsicht beim Überqueren der Ameisenstraße. Nach dem Essen zerstreut sich die Gruppe, nur ein älterer Herr steht unschlüssig herum. »Entschuldigen Sie«, sagt er mit britischem Akzent, »sind Sie wirklich Mr. Schnitzler?« »Ja, ich bin Michael Schnitzler. I hope you enjoy your stay.« Automatisch habe ich in meine Muttersprache gewechselt und strecke ihm die Hand entgegen. »Mein Name ist David Wilcox«, er bleibt dennoch beim Deutsch. »Ich bin pensionierter Germanist und mit der österreichischen Literatur vertraut. Sind Sie nicht zufällig verwandt mit Arthur Schnitzler?« – »Doch, er war mein Großvater.« Mr. Wilcox vergisst plötzlich auf seine Deutschkenntnisse und ruft aufgeregt: »What for God’s sake is Arthur Schnitzler’s grandson doing in the Costa Rican rainforest?« – »Das ist eine lange Geschichte«, sage ich. »Wollen wir uns nicht setzen?«

Haydns Kaiserquartett zum Abschied

Am 13. März 1938, dem Tag des sogenannten »Anschlusses« und einen Tag nach dem Einmarsch von Hitlers Truppen, verließ eine junge Frau Österreich. Offiziell besuchte sie ihren Ehemann, der sich beruflich als Filmregisseur in Belgien aufhielt, deswegen besaß sie ein gültiges Ausreisevisum. Sie reiste mit wenig Gepäck – nur eine kleine Reisetasche und einen Geigenkasten trug sie bei sich. Auf der Suche nach Schmuck oder Geld schlitzten die SS-Soldaten am Grenzübergang Feldkirch das Futter des Geigenkastens auf, nicht ahnend, dass das Instrument wertvoller war als das Haus in Wien, das die Frau gerade verlassen musste. Alle anderen jüdischen Insassen des Waggons wurden abgewiesen und nach Wien zurückgeschickt, die junge Frau durfte passieren. Die Violine hatte einst mein Großvater Siegfried Strakosch in Brünn gekauft, die junge Frau war seine Tochter, meine Mutter.

In ihren Erinnerungen schrieb sie: »An dem Abend des 11. März spielten wir Quartett bei meiner Mutter. Sie kam plötzlich hereingestürzt und erzählte uns, sie hätte gerade Schuschniggs Abschiedsrede im Radio gehört. Unser Schock war unglaublich. Wir entschlossen uns, als Abschied, Haydns Kaiserquartett zu spielen. Später wurde unsere zweite Geigerin in einem Konzentrationslager ermordet.« Meiner Mutter war rasch klar, dass sie das Land verlassen musste. Doch es gab ein großes Problem: Ihr elf Monate alter Sohn, mein Bruder Peter, war nicht in ihrem Pass eingetragen, er konnte keine Grenze passieren. So musste er in der Obhut des Dienstmädchens Poldi in Wien zurückgelassen werden. Der Familienanwalt Dr. Gustav Rinesch, der sich selbst als »Renommier-Goi unter vielen Judenfreunden« bezeichnete, konnte bewirken, dass der kleine Peter einen Pass bekam, bewilligt für die »einmalige Ausreise nach Schweiz und Rückreise Deutsche Reich (sic!)«. Unter dem Foto von Peter befanden sich gleich zwei Hakenkreuzstempel.

Peters Reisepass mit Hakenkreuzstempeln

Und so brachte das nichtjüdische Dienstmädchen Poldi gemeinsam mit Felix Saltens Tochter Anna den kleinen Peter in die Schweiz. Annerl – so nannten sie ihre Freunde – war seit ihrer Hochzeit mit Beat Wyler Schweizer Staatsbürgerin und konnte damals trotz ihrer Herkunft unbehindert zwischen Zürich und Wien pendeln. Am 1. Juni durften meine Eltern Lilly und Heinrich Schnitzler ihren kleinen Sohn wieder in die Arme nehmen. Wohlhabende Schweizer Freunde haben sie in ihrem Haus am Thunersee untergebracht, wo sie auf ein Einreisevisum in die USA warteten. Doch diese Monate des Zurückgelassenseins beschäftigten meinen Bruder sein ganzes Leben lang, und auch meine Mutter machte sich bis ins hohe Alter Vorwürfe, ihr Baby im Stich gelassen zu haben.

Heinrich, Arthur und Olga Schnitzler, 1906

Meine Familie hatte Riesenglück. Mein Vater hätte ohnehin seinen Job als Regisseur am Deutschen Volkstheater in Wien, den er seit 1931 innehatte, verloren. Einen Monat nach dem »Anschluss« verfügte das Reichspropagandaamt der NSDAP in Österreich: »Die Fortsetzung eines Dienstverhältnisses mit einem Juden kann heute keinem Deutschen mehr zugemutet werden. Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen Volljuden sind, sind nunmehr fristlos zu kündigen, etwaige Gehaltszahlungen können unterbleiben.« Im April 1941 wurde »das gesamte stehende und liegende Vermögen sowie alle Rechte und Ansprüche des Heinrich Israel Schnitzler, dessen Ehefrau Lily Sara und dessen Kind Peter Israel aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung mit dem Ziele der späteren Einziehung zu Gunsten des Dritten Reiches beschlagnahmt« (Verfügung Nr. 2123/41 der Gestapo Wien).

Meine Großeltern lebten im großbürgerlichen jüdischen Wien der Jahrhundertwende. Arthur Schnitzler promovierte zum Dr. med. und arbeitete als Arzt in der eigenen Praxis, bevor er sich verstärkt der Schriftstellerei zuwandte und zu einem der berühmtesten Dramatiker Österreichs wurde. Nur wenige wissen, dass er auch ein erstklassiger Pianist war und jahrzehntelang fast täglich mit seiner Mutter, später mit meinem Vater, anspruchsvolle Werke vierhändig vom Blatt spielte.

Georg, Hans, Lilly, Christl und Wally Strakosch, 1915

Der Vater meiner Mutter, Siegfried Strakosch, spielte immerhin so gut Geige, dass er sich eine wertvolle Violine von Joseph Guarnerius del Gesù kaufte und öffentliche Konzerte gab. In der Kritik eines Konzertes 1890 in Brünn kann man nachlesen: »Herr Strakosch spielte mit sehr schönem warmen Ton und brillanter Technik. Wir haben es hier zweifellos mit einem sehr begabten Violonisten zu thun, von dem noch sehr viel Schönes zu erwarten ist.« Er entschied sich dennoch gegen eine Karriere als Geiger und wurde Industrieller, Landwirt, Autor von Fachbüchern und Wirtschaftspolitiker. Im Jahr 1913 wurde er zum Ehrendoktor der Hochschule für Bodenkultur ernannt. Kaiser Franz Joseph erhob ihn im gleichen Jahr in den erblichen Adelsstand »von Feldringen«.

Zwar wurde mein Großvater Arthur Schnitzler berühmt, doch auch der andere Großvater war begabt und erfolgreich, so konnten sich beide den Kauf einer Villa im vornehmen Cottage-Viertel von Wien leisten. Und obwohl meine Großeltern nur einige Häuser voneinander entfernt in der Sternwartestraße wohnten, kannten sie einander nur flüchtig. Den Dichter und den Agrarökonomen verband nicht viel, doch es gab zwei gemeinsame Nenner: die Musik und die Natur. Beide Großeltern liebten die Berge, unternahmen Spaziergänge im Wienerwald und Wanderurlaube in den Schweizer Alpen. Dieser Funken sprang auf meine Eltern über, und so war es wohl auch ein wenig vorbestimmt, dass ich Musiker und Naturschützer geworden bin.

1931 lernten sich meine Eltern kennen. Meine Mutter schrieb in ihren Erinnerungen: »Neujahr 1931 war mein Schicksalsjahr, da traf ich Heini zum ersten Mal bei einer großen Neujahrsfeier bei Salten. Heini versuchte den ganzen Abend mit mir zu sprechen, was ihm aber nicht gelang. Außerdem hatte ich ein grünes Kleid an, was Heini mir noch viele Jahre später vorwarf. Er hasste grün. Einige Abende später kam Heini gerade mit seinem Auto von der Probe. Er blieb stehen, um mit mir über meine unbegabte Freundin Susi zu sprechen. Es schneite wie wild. Wir kamen ins Gespräch, es dauerte eine Stunde und am Schluss lud er mich ein, in den nächsten Tagen zu ihm zu kommen, um zu musizieren. Er war ein sehr guter Pianist. Und so fing es an.«

Der Dichtersohn, Schauspieler und Theaterregisseur Heinrich Schnitzler und die neun Jahre jüngere, wohlbehütete Industriellentochter Lilly von Strakosch verliebten sich ineinander. Ihre Väter waren beide Anfang der 30er-Jahre gestorben. Mein Vater war nach einigen Jahren in Berlin und einer kurzen, unglücklichen Ehe nach Wien zurückgekehrt, meine Mutter war sehr musikalisch, bildhübsch, aber schüchtern. Bei langen Spaziergängen im Türkenschanzpark, Konzert- und Theaterbesuchen kamen sie einander näher. Als sie 1934 schließlich heirateten, war meine Mutter knapp 24 Jahre alt und ihr Leben veränderte sich schlagartig.

Lilly und Heinrich Schnitzler, 1934

In ihrem bisherigen Alltag hatte es eine englische Gouvernante gegeben, einen Chauffeur namens Richard Wagner, einen Butler, eine Köchin und ein Dienstmädchen. Noch nie hatte sie eine Mahlzeit selbst zubereiten müssen. Bei ihrem ersten Kochversuch warf sie gleich ein Kilo Nudeln in den Topf und wunderte sich, dass dieser überquoll.

Nach der Hochzeit zogen meine Eltern in die Villa, die mein Großvater Arthur 1910 gekauft hatte: Sternwartestraße 71, Wien-Währing. In diesem Haus lebte mein Großvater bis zu seinem Tod 1931, und in seinem Arbeitszimmer befand sich auch sein gesamter Nachlass – Manuskripte, Briefe, Skizzen, Tagebücher. Als meine Eltern quasi über Nacht fliehen mussten, ließen sie ihren gesamten Besitz zurück. Dass der wertvolle Nachlass meines Großvaters nicht den Nazis zum Opfer fiel, ist einem Studenten aus Cambridge zu verdanken. Eric Blackall, der sich 1938 in Wien aufhielt, um an seiner Dissertation über Adalbert Stifter zu arbeiten, erkannte die Gefahr und erreichte, dass das Arbeitszimmer meines Großvaters mit dem britischen Hoheitszeichen versiegelt und der Nachlass zum Eigentum der Universität Cambridge erklärt wurde. Kurz danach wurde alles in acht Kisten verpackt und abtransportiert. Meine Großmutter Olga, Arthur Schnitzlers Witwe, wurde offiziell nach Cambridge eingeladen und konnte so den Nazis entkommen. Aus Dankbarkeit schenkte sie der Universität den gesamten Nachlass, verschwieg jedoch dabei, dass sie gar nicht die rechtmäßige Erbin war und demnach auch nicht darüber verfügen konnte. Auch nachdem die Universität nach Kriegsende über die Umstände dieser Schenkung erfahren hatte, verweigerte sie die Herausgabe an meinen Vater, den rechtmäßigen Erben. Dieses Zerwürfnis zwischen meinem Vater und meiner Großmutter dauerte bis zu ihrem Tod an. Meine Großmutter wollte Dankbarkeit und Anerkennung für die Rettung des Nachlasses, mein Vater wiederum fühlte sich übergangen und betrogen. Erst 70 Jahre später wurde die Geschichte restlos geklärt. Der Germanist Wilhelm Hemecker stieß auf die Korrespondenz zwischen meiner Großmutter, meinem Vater und dem damaligen Archivar der Universitätsbibliothek und bekam rasch den Eindruck, dass es bei der »Schenkung« nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Schließlich fand er im Österreichischen Theatermuseum weitere Briefwechsel zwischen meinem Vater und der Universität Cambridge, aus denen eindeutig hervorging, dass die Schnitzlers noch immer die rechtmäßigen Eigentümer des Nachlasses waren. Auch wenn mein Bruder Peter und ich die Herausgabe der Manuskripte erzwingen hätten können, entschieden wir uns für eine einvernehmliche Lösung. Ich konnte mich bei einem Besuch in Cambridge überzeugen, dass der Nachlass dort bestens aufgehoben ist. Die lang andauernde und nicht besonders ruhmreiche Geschichte fand mit einer nachträglichen Entschuldigung der Universität, einer symbolischen Entschädigung und einer offiziellen Schenkung von unserer Familie an die Universität doch noch ein würdiges Ende.

In der Schnitzler-Villa befand sich nicht nur der Nachlass meines berühmten Großvaters, sondern auch die umfangreiche Bibliothek meines Vaters, seine Autografen, Noten und Fotoalben. Bei seiner überstürzten Abreise hatte mein Vater alles seinem Freund Joseph Gregor zur Aufbewahrung überlassen mit der Bitte, es in Kisten nach New York zu schicken, sobald meine Familie dort Fuß gefasst habe. Doch Gregor hatte andere Pläne: Nachdem er unter den Nazis zum Leiter der Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek avanciert war, ließ er die gesamte Bibliothek von der Gestapo beschlagnahmen. Er begründete den Diebstahl in einem mit »Heil Hitler« unterschriebenen Brief an den Direktor der Nationalbibliothek: »Obwohl jüdischen Ursprungs ist die Sammlung durch die Vielfältigkeit der Zusammenhänge von großem Interesse. Ich bitte, die nötigen Schritte einzuleiten, damit Bibliothek und Autographen nun an die Theatersammlung gelangen können.« Joseph Gregors Rolle ist umstritten. Die einen sehen darin den Versuch, diese bedeutsamen Bestände durchaus im Sinne ihrer Vorbesitzer vor ihrem Untergang zu retten, die anderen sehen Gregor hingegen als Kollaborateur und Nutznießer des nationalsozialistischen Regimes.

Die Bibliothek wurde »aus Gründen der öffentlichen Sicherheit« der Nationalbibliothek einverleibt und 1947 unserer Familie rückerstattet. Manche Bücher und Noten waren neu gebunden worden, alle enthielten einen Stempel mit dem Text »Aus den Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek als rechtmäßiges Eigentum des Heinrich Schnitzler ausgeschieden«. Unter den Noten befanden sich viele Partituren für Klavier zu vier Händen mit Bleistifteintragungen meines Großvaters: »10/12/1905 mit Mama, 31/1/1920 mit Heini« oder – in den Noten der fünften Symphonie von Mahler: »20/5/1911 (Mahler gestorben)«. Am Tag davor hatte Arthur Schnitzler in sein Tagebuch geschrieben: »Heute Nacht starb Gustav Mahler … Gesehn zuletzt voriges Jahr in der Kärntnerstraße, und ging ihm ein paar Schritte nach, weil mich sein Gang interessierte.«

Meine nichtjüdische Großmutter Wally Strakosch (Granny), Tochter eines Wiener Börsenmaklers, blieb mit Tante Christl, der Schwester meiner Mutter, bis Anfang 1939 in Wien, wo sie um die Freilassung von Christls Mann, Otto Patzau, aus dem KZ kämpften. Er war Direktor der Süßwarenfabrik A. Eggers Sohn und wurde bei der Konfiszierung der Fabrik inhaftiert. Sie war nach dem »Anschluss« einem treuen Parteimitglied als Belohnung versprochen worden, und der Direktor sollte dieser »feindlichen Übernahme« wohl nicht im Weg stehen. Onkel Otto verbrachte neun Monate in Dachau und Buchenwald, und auch hier konnte Anwalt Rinesch ein Wunder bewirken. Rinesch schrieb später über diese Zeit: »Die äußeren Umstände und meine alten Freundschaften mit jüdischen Familien taten das übrige dazu, dass ich Goi immer mehr und mehr Juden, ihre Firmen und Vermögen in ihren oft schrecklichen Schicksalen zu vertreten bekam. Ich wurde der ›Juden-Rinesch‹, was ein Markenzeichen war.« Während Granny und Christl in ihrer Wohnung in der Sternwartestraße auf Ottos Freilassung warteten, fuhr die Gestapo in schwarzen Autos vor und stürmte das Haus. Alles von Wert wurde beschlagnahmt: Auto, Gemälde, Silberbesteck, Antiquitäten, Porzellan, Bücher. Eine ausführliche Inventarliste wurde angefertigt und Granny musste unterschreiben, dass sie alles »freiwillig« hergab. Lediglich den Schmuck entdeckten die Offiziere nicht, so gut hatte ihn meine Großmutter versteckt. Seltsamerweise erzählte meine Granny wenig über den »Besuch« der Gestapo in ihrem Haus, aber dass sie vor dem Ersten Weltkrieg einen jungen Maler und Anstreicher beschäftigt hatte, ging in den Anekdotenschatz der Familiengeschichte ein. Dieser interessierte sich sehr für ihre umfangreiche Bibliothek, lieh sich sogar ein paar Bücher von Friedrich Nietzsche aus. Er brachte die Bücher ordnungsgemäß zurück und bedankte sich mit einer Visitenkarte, auf der stand: »Vielen Dank! Adolf Hitler«.

Siegfried Strakosch

Meine Tante Christl jedoch hatte wohl eine Vorahnung und lagerte ihre wertvollen Möbel schon vor dem Besuch der Gestapo in einem Depot ein, von wo sie schließlich über Italien nach Amerika gelangten. So blieb auch ein Hammerklavier, auf dem angeblich Beethoven gespielt hatte, im Besitz der Familie Patzau.

Die Hohenauer Zuckerfabrik der Gebrüder Strakosch, 1867 von meinem Großvater Siegfried und seinen Brüdern gegründet, war gleich nach dem Einmarsch der Nazis beschlagnahmt worden. Direktor war Georg Strakosch, Siegfrieds Sohn aus erster Ehe. Kurz nachdem Georg noch einen Großteil des Familienvermögens nach England retten konnte, verließ ihn seine amerikanische Frau, da er nicht mehr jener wohlhabende Fabrikant war, den sie geheiratet hatte. Frustriert, einsam und verbittert nahm er sich 1939 das Leben. Granny musste nun auch noch die Villa in der Sternwartestraße und zwei Drittel ihres verbliebenen Vermögens den Nazis als »Steuern« überlassen und eine steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung von Adolf Eichmann, dem Chef der jüdischen Auswanderungsbehörde, besorgen. Familienanwalt Dr. Rinesch bat um eine Audienz, die ihm auch gewährt wurde: »So stand ich eines Tages vor dem berüchtigten Endlöser der Judenfrage in der Bibliothek des Palais Rothschild. Vom Empfang des Eichmann war ich schon tief beeindruckt. Der Obersturmbannführer stand mit spärlich behaartem Schädel in einer schwarzen SS-Uniform, eine Reitpeitsche im Stiefel, hinter einem Ministerschreibtisch, davor lag ein hochrassiger Wolfshund. Eichmann hatte mein Memorandum gelesen und versicherte mir mit knappen, nicht unhöflichen Worten, dass er, wie alle Juden, auch die meinigen so rasch als möglich aus den deutschen Gauen vertreiben wolle.« Mit dem Nachweis, dass die Hohenauer Zuckerfabrik nun dem Großdeutschen Reich gehörte, bekamen Granny, ihre Tochter Christl, deren Mann Otto und die drei Kinder ihre »Judenpässe« und konnten Österreich Ende 1939 verlassen. Nach Aufenthalten in England und einer Internierung auf Kuba erreichten sie schließlich Ende 1940 Amerika.

Dass meine gesamte engere Familie den Holocaust überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Eltern, Bruder, Großmütter, Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen: Sie alle konnten vor den Nazis fliehen. Onkel Hans Strakosch, der jüngere Bruder meiner Mutter, ließ sich in Kalifornien, Tante Christl samt Familie in Philadelphia nieder. Die Kinder meines Großonkels Julius Schnitzler – Hans, Karl und Anni – schafften es nach Chicago, Sydney und Cincinnati. Die beiden traditionsreichen Wiener Familien Schnitzler und Strakosch waren auseinandergerissen und entwurzelt worden. Sie waren gezwungen, fern der Heimat neue Existenzen aufzubauen, das luxuriöse Leben in Wien gehörte der Vergangenheit an. Lebensart, Sprache und Kultur der Gastländer waren ihnen fremd.

Amerika

Bertolt Brecht 1937 schrieb aus dem Exil in Dänemark:

Aber wir wanderten doch nicht aus, nach freiem EntschlußWählend ein andres Land. Wanderten wir doch auch nichtEin in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immerSondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm …Aber keiner von unsWird hier bleiben.

Meine Eltern erzählten von der anstrengenden Überfahrt von Le Havre nach New York im Jänner 1939. Der zweijährige Peter war durch die Ereignisse seit seiner Geburt derart traumatisiert, dass er während der Überfahrt pausenlos weinte. Im Stadtteil Castle Village fand sich eine kleine Wohnung, wo die Familie gemeinsam mit einem langjährigen Freund der Familie einzog. Paul Marx war Theaterregisseur, ein enger Freund von Arthur und Olga Schnitzler und Trauzeuge meiner Eltern. Er hatte sie sogar auf ihrer Hochzeitsreise begleitet, nicht unbedingt zur Freude meiner Mutter, die mir später einmal erzählte, dass mein Vater panische Angst vor der Ehe hatte. Während Paul versuchte, Geld zu verdienen, indem er in der Küche Badener Kaffeebonbons produzierte, nutzte mein Vater jede freie Minute, um Englisch zu lernen. Auf dem Lehrplan im Wiener Gymnasium waren Latein und Griechisch gestanden, nun war er gezwungen, in Windeseile eine völlig neue Sprache zu lernen. Im Juni 1939 schrieb er an seinen Freund Felix Bressart: »So gab es im vergangenen Winter zwanzig Hoffnungen und zwanzig Enttäuschungen, hundert Pläne und tausend Möglichkeiten – der konkrete Effekt ist gleich Null gewesen. Aber auch nicht ganz: ich habe sehr viel gelesen, ich habe versucht, mich auf allen Wegen an das eigentliche ›Amerika‹ heranzuschleichen, ich habe sehr fleißig mein Englisch verbessert … es war also keineswegs ein verlorener Winter. Natürlich packt mich oft, sehr oft, die Ungeduld – aber man überwindet diese Stimmungen auch wieder. Im Übrigen hören wir noch von einigen Menschen aus Wien. Die meisten aber benehmen sich schändlich.«

Und so fasste meine Familie langsam Fuß in Amerika, in ständiger Sorge um die Kriegswirren in Europa und in intensivem Kontakt mit anderen Emigranten und Freunden aus Wien. Mein Vater schrieb 1940: »Was dort vorgeht, übersteigt wohl die grausigste Phantasie und man kann den Gedanken an das Alles oft wirklich kaum mehr ertragen.« Viele emigrierte Freunde meiner Eltern warteten in New York nur darauf, dass der Krieg zu Ende ging und fuhren mit dem erstmöglichen Schiff wieder zurück nach Europa. Meine Eltern dachten damals nicht an eine Rückkehr nach Österreich, sie hatten viele amerikanische Freunde, sprachen mit Peter nur Englisch, und mein Vater nannte sich Henry statt Heinrich. Er inszenierte am Broadway und bei Sommerfestivals, unterrichtete an kleinen Colleges und schrieb Artikel für Fachzeitschriften. Er hatte sich in kurzer Zeit einen erstaunlichen Wortschatz angeeignet. Das machte sich bezahlt, denn 1943 bekam er eine Berufung für Schauspiel und Regie an die Universität von Kalifornien in Berkeley. Er schrieb: »Universitätsleute in diesem Lande sind so ziemlich die erfreulichste Menschensorte, die man sich nur denken kann. Mit europäischen ›Professoren‹ sind sie überhaupt nicht zu vergleichen. Es ist wirklich eine andere Welt. Nichts Professorales, nichts Engstirniges – eine wirkliche Freude!«

1943 übersiedelte die Familie nach Berkeley, 163 Stonewall Road, mit Blick auf die Bay Bridge und die Bucht von San Francisco. Ich kam am 7. August 1944 im Alta-Bates-Spital in Oakland auf die Welt. Am selben Tag lautete die Überschrift auf der Titelseite der Wiener Zeitung: »Adolf Hitler: Zuversichtlich wie noch nie«.

Meine Mutter mit mir, 1944

Am Vortag meines ersten Geburtstags fiel die Atombombe auf Hiroshima. Und dann war der Krieg vorbei. Meine Eltern und Peter waren bereits amerikanische Staatsbürger. Meine Mutter, eine ambitionierte, sehr gute Amateurgeigerin, spielte im Orchester 1945 bei der Gründungsfeier der Vereinten Nationen in Berkeley. Sie erinnerte sich: »Es war einer der schönsten und aufregendsten Tage meines Lebens. Jeder glaubte, nun würde es nie wieder Krieg geben. Da ich am ersten Pult saß, konnte ich alle Reden ganz von der Nähe hören. Was für ein Tag!!!« Sie arbeitete als Krankenschwester in jenem Spital, in dem ich geboren wurde. Unterdessen führte mein Vater einen Kampf an mehreren Fronten: um die Rückgabe seiner Bibliothek, den Nachlass seines Vaters in Cambridge und die Tantiemen für Schnitzler-Aufführungen. Und wieder war es der »Juden-Anwalt« Dr. Rinesch, der sich um die Rückgabe der Schnitzler-Villa in Wien an unsere Familie bemühte.

Mein Vater unterrichtete junge Schauspieler und konnte dank seiner Beziehungen zu Bertolt Brecht die Uraufführung der Oper Das Verhör des Lukullus in Berkeley inszenieren, mit Musik von Roger Sessions und Texten von Brecht. Doch trotz seines erfolgreichen Berufslebens war er nicht glücklich und sehnte sich nach jener Zeit zurück, in der er in Wien mit professionellen Schauspielern gearbeitet hatte. 1946 schrieb er an einen Freund: »Die Rückkehr nach Europa scheint mir völlig undenkbar … ich kann mir ein Leben in Wien ganz und gar nicht vorstellen. Die Gespenster sind doch etwas allzu lebendig – sowohl die der Gemordeten als auch die der Überlebenden …« Es sollten viele Jahre vergehen, ehe er sich doch zur Rückkehr nach Wien entschließen konnte.

Meine Eltern, Peter und ich, Berkeley, 1948

Inzwischen waren alle Familienmitglieder gut in Amerika etabliert. Großmutter Wally Strakosch lebte in Los Angeles, Großmutter Olga Schnitzler in Berkeley. Die Hohenauer Zuckerfabrik war an die Familie Strakosch zurückgegeben worden. Besitzer waren zu gleichen Teilen der »Siegfried-Stamm« (benannt nach meinem Großvater) und der »Felix-Stamm« (benannt nach meinem Großonkel). Siegfried Strakoschs Nachkommen interessierten sich wenig für die Zuckerfabrik. Seit ihrer frühesten Kindheit waren sie in Amerika und hatten wenig Bezug zu Österreich. Sie sprachen kaum Deutsch. Auch ich wollte lieber Geiger werden als Zuckerbaron. So übernahmen die Nachkommen von Felix, die in Europa geblieben waren und nach dem Krieg wieder in Österreich lebten, die Verantwortung für die Zuckerfabrik. Direktor wurde Oskar Strakosch, der die Fabrik bis zu seinem Tod 1975 führte und im Wiener Musikleben als Mäzen eine wichtige Rolle spielte. Gewinne wurden selten ausgeschüttet, mein Anteil betrug ohnehin nur 1,04 Prozent. Fusionierungen, sinkende Zuckerpreise und der Fall des Eisernen Vorhangs führten schließlich dazu, dass die Strakosch-Erben die Fabrik an die AGRANA, Dachgesellschaft für die österreichische Zucker- und Stärkeindustrie, verkauften. Im Jahr 2006, 140 Jahre nach der Gründung durch meinen Großvater und seine fünf Brüder, wurde die Hohenauer Zuckerfabrik endgültig geschlossen.

Pfadfinder, Baseball und der Enkel von Buffalo Bill

Mein Vater, wohl in der Hoffnung, dass ein Tapetenwechsel seine Stimmung verbessern würde, folgte einem Ruf an die Universität von Kalifornien in Los Angeles, und 1948 übersiedelten wir dorthin. Ich war vier Jahre alt, und die Suche nach einem Haus im Westen von Los Angeles zählt zu meinen ersten Erinnerungen. Das Haus in der Greencraig Road in Brentwood war groß. Im Keller hatte mein Vater sein Studio, wo er gelesen, geschrieben und Pfeife geraucht hat. Das Studio war für Peter und mich »off limits« und wirkte auf uns beinah wie eine Höhle. Wir durften nur hinunter, um Vater zum Essen zu rufen. Ebenfalls im Keller waren zeitweise Studenten untergebracht, die gratis wohnten und dafür gelegentlich als Babysitter eingesetzt wurden. Mein Liebling war Bill, ein zwei Meter großer, entzückender Engländer, der für mich jedes Motiv zeichnete, das ich mir wünschte. Auf der Terrasse gab es einen Grill, der selten verwendet wurde, daneben ein Gartenhäuschen mit unzähligen Büchern. Unser Blick reichte (an den seltenen smoglosen Tagen) vom Pazifik über die riesige Stadt bis zum schneebedeckten Mount Baldy, die Luft roch nach Eukalyptus. Wenn in Hollywood eine Filmpremiere stattfand, konnten wir die mächtigen Schweinwerfer in den Himmel strahlen sehen. Nachts hörten wir den unheimlichen Ruf der Kojoten, gelegentlich sahen wir Rehe, und einmal fanden wir in der Garage eine große Klapperschlange. Regelmäßig fuhren kleine, gelbe Lieferwägen der Helms Bakery durch unsere Nachbarschaft, und wenn der Pfiff zweimal ertönte, liefen wir Kinder auf die Straße, eine Jalousie wurde hinaufgezogen und wir konnten Donuts und andere Süßigkeiten aussuchen, während unsere Mütter ofenfrisches Brot kauften.

Meine Mutter, Peter und ich in Brentwood, 1950

Unser Nachbar war Dr. Cody, ein Zahnarzt. Er war der Enkel des berühmten Cowboys »Buffalo Bill«, und ich war begeistert von seiner Gewehr- und Revolver-Sammlung und seinen Geschichten vom Wilden Westen und bösen Indianern. Meinen siebten Geburtstag wollte ich lieber bei Mr. und Mrs. Cody verbringen. Meine Eltern waren darüber nicht erfreut – zumal sie, im Gegensatz zu mir, wussten, dass Dr. Cody ein erzkonservativer Antisemit war. Unser Haus war Meilen entfernt von der Bushaltestelle, vom nächsten Supermarkt und jeglicher sonstiger Infrastruktur, also besaß unsere Familie zwei Autos. Während mein Vater in die Uni fuhr, brachte mich meine Mutter täglich in die Volksschule, ging dann zu ihrer Arbeit als Krankenschwester in einem Kriegsveteranenspital und holte mich mittags wieder ab.

Für meine Granny, Wally Strakosch, war die erzwungene Veränderung in ihrem Leben wohl am schwierigsten. Schließlich war sie bis 1939 Oberhaupt einer Industriellenfamilie mit fünf Dienstboten gewesen, nun lebte sie in einem fremden Land, mit einer fremden Sprache, in einem Haus, das mit ihrer Cottage-Villa nicht viel zu tun hatte. Sie lebte in Westwood, nicht weit von uns, ganz ohne Dienstboten ging es nicht, und sie leistete sich zumindest eine Köchin, denn Kochen hatte sie nie gelernt. Wally Strakosch blieb zeitlebens eine Grande Dame mit wienerisch-aristokratischem Akzent. Im Alter von 70 Jahren machte sie den Führerschein, kaufte einen blauen Chevrolet und lernte auf achtspurigen Autobahnen zu fahren – eine Notwendigkeit in einer Millionenstadt ohne öffentliches Verkehrsnetz. Sie war auch die Erste in unserer Familie, die einen Fernsehapparat besaß; ich erinnere mich an die Bekanntgabe des Endes des Korea-Kriegs, an Arturo Toscaninis letztes Konzert und an die Übertragung der Krönung von Queen Elizabeth – die war besonders eindrucksvoll, denn wir hatten sogar schulfrei bekommen. Queen Elizabeth II. und Prince Philip empfand ich seit meinem neunten Lebensjahr als Fixpunkte in meinem Leben, sie waren in all meinen Lebensepochen allgegenwärtig.

Auch wenn meine Großmutter einen Fernsehapparat hatte, gab es in den meisten Haushalten der USA lediglich ein Radio. Ein Millionenpublikum verfolgte die beliebten Radio-Shows und eine der populärsten war Arthur Linkletter’s House Party